Was bleibt, was sich ändert, was uns herausfordert
Von Jens Flach
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als die Brailleschrift erst zarte 170 Jahre alt war. Damals, Mitte der 90er-Jahre, ging ich selbst noch zur Schule – jeden Tag aufs Neue so gespannt wie die Nähte meines Rucksacks, in dem man mit viel Geduld und ein wenig Gewalt zwei Bände der Braille-Ausgabe des Englisch-Buches unterbringen konnte. Die extra Ordner für Grammatik und Vokabeln mussten trotz Hausaufgaben leider in der Schule bleiben. Dennoch habe ich es irgendwie gelernt und unterrichte heute Englisch an der blista. So ändern sich die Zeiten! Mittlerweile passen die Englisch-Bücher aller Jahrgangsstufen auf einem USB-Stick bequem in die Hosentasche und auch mein Rucksack ist wieder wesentlich entspannter. Doch was bedeutet dies für die nunmehr 200-jährige Brailleschrift? Ist sie an ihrem Endpunkt angekommen?
Um es gleich vorwegzunehmen: Meine persönliche Antwort lautet nein. Braille punktet noch immer mit zahlreichen Alleinstellungsmerkmalen im Vergleich zu den jüngeren auditiven Mitbewerbern. Es ist viel mehr als nur eine bloße Schrift – es ist der Schlüssel zu echter Teilhabe, Selbständigkeit und Bildung. Klar, Hörbücher und Podcasts sind tolle Begleiter in der Freizeit, und auch die Sprachausgabe verschafft einen ersten schnellen Überblick, aber wer den vollen Sinn eines Textes erfassen will, kommt am Lesen nicht vorbei. Braille sorgt nicht nur dafür, dass Rechtschreibkenntnisse wachsen und erhalten bleiben, es öffnet auch Türen zu anspruchsvollen Aufgaben, was gerade in beruflichen Zusammenhängen umso bedeutsamer ist: Komplexe Texte durchdringen, Fremdsprachen lernen, exaktes Arbeiten in digitalen Umgebungen – all das wird erst mit Braille wirklich möglich.
Wie es aber bei 200-Jährigen eben so ist, hat sich Braille in seinem langen, bewegten Leben immer wieder an neue Bedingungen anpassen müssen und dadurch auch einige schrullige Eigenheiten entwickelt. Ja, man könnte sogar sagen, dass es je nach Situation ein anderes seiner mindestens drei Gesichter zeigt, was uns, die wir täglich mit ihm zu tun haben, bisweilen herausfordern kann. Im Vergleich zur Schwarzschrift, die nur ein System umfasst, besteht Braille nämlich aus Vollschrift, Kurzschrift und dem 8-punktigen Eurobraille sowie spezialisierten Formen etwa für Mathematik und Musik.
Ich selbst hatte als Kind genügend Zeit, Voll- und Kurzschrift ausreichend zu festigen, bevor sich Punkt 7 und Punkt 8 plötzlich überall ins Schriftbild mischten. Heute beobachte ich, dass Lernende durch die gleichzeitige Verfügbarkeit der unterschiedlichen Schriftsysteme in Lernprozessen verunsichert werden. Auch die ZuBra-Studie betont, wie komplex das Lernen des „Dreiklangs“ der Brailleschrift ist und Komplexität bedeutet Mehraufwand – besonders für dual Schriftnutzende, die sowohl Schwarzschrift als auch Braille erlernen müssen. Es ist also nicht verwunderlich, dass das Schriftsystem die Nase vorne hat, das völlig ohne Sonderzeichen für Lautgruppen oder mehr oder weniger einprägsame Zeichenkombinationen auskommt. ZuBra zeigt: Eurobraille wird im Alltag der Teilnehmenden am häufigsten gelesen, gefolgt von Vollschrift, während Kurzschrift deutlich seltener genutzt wird. Dennoch bringt die Kurzschrift klare Vorteile: Regelmäßige Nutzung geht mit höherer Lesegeschwindigkeit und besserer Rechtschreibung einher. Gleichzeitig sehen Fachleute die Kurzschrift aber auch kritisch, da ihr komplexes Regelwerk eine Hürde darstellen kann, insbesondere im inklusiven Unterricht, wo Zeit und Ressourcen oft knapp sind. Jüngere Teilnehmende ziehen daher Eurobraille vor – nicht zuletzt wegen seiner digitalen Zugänglichkeit und der damit einhergehenden Eignung fürs gemeinsame Lernen mit Nicht-Braille-Nutzenden. [vgl. Hofer/Lang/Winter]
Es liegt also auf der Hand, dass das Erlernen von Eurobraille in der heutigen digitalisierten Zeit äußerst sinnvoll ist. Dennoch müssen wir als Lehrkräfte im Förderbereich Sehen uns genügend Zeit nehmen, den Lernenden zu vermitteln, gelegentlich auch mal nur mit sechs Punkten auszukommen. Besonders im öffentlichen Raum begegnet uns mitunter die Vollschrift mit ihren Lautgruppenkürzungen und da sollte man gewappnet sein: Ein Eurobraille-Leser könnte am Geländer eines Bahnsteigs in Mittelhessen das Wort „Gleis“ aufgrund der unterschiedlichen Darstellung von Zahlen als „gl3s“ lesen – und somit für einen Goldkurs-Ticker, 90er-Jahre Sneaker oder eine kopflose E-Gitarre halten, die allesamt die Bezeichnung „gl3s“ tragen. Und in anderen Sprachräumen ist es nicht besser: Hätte ich nicht die englische Kurzschrift bzw. das heutige UEB gelernt, hätte ich die Beschriftung „d9n“, die mir auf Malta begegnete, für den Startknopf eines 50-Tonnen-Bulldozers halten können. Da das Zeichen, das man von der Braillezeile als 9 kennt, im englischen die Kürzung für „ow“ ist, war mir aber sofort klar, dass ich lediglich den Aufzug „down“ schicken würde.
Spaß beiseite, natürlich hilft der Kontext (an einem Bahnhof oder in einem Aufzug zu stehen), unbekannte Zeichen zu entschlüsseln. Verdeutlicht man sich aber, dass alle Großbuchstaben, die Ziffern 0 bis 9, die Umlaute und das ß in Eurobraille anders dargestellt werden, so kann man sich schnell ausrechnen, dass bei einem Umstieg auf das jeweils andere Schriftsystem in jedem Falle 43 neue Zeichen zu lernen sind. Je nach Anwendungsbereich und persönlichem Interesse kommen noch zahlreiche Sonderzeichen wie z. B. eine illustre Sammlung von Strich- und Anführungszeichen, vielgestaltige Klammern und weitgereiste Akzentbuchstaben hinzu. Während das Auge in der Schwarzschrift stets treffsicher einen – (Gedankenstrich) als einen Strich, eine { (geschweifte Klammer auf) als eine Klammer und ein á (a mit Akutakzent) erkennt, ist in Braille doch einige Fingerfertigkeit gefragt, da die Zuordnung eines Zeichens zu verwandten Zeichen aufgrund seiner Gestalt nicht möglich ist.
In diesem Kontext nehme ich als Lehrkraft an einer weiterführenden Schule eine besondere Herausforderung wahr: Unsere Lernenden bringen die unterschiedlichsten Vorkenntnisse und Prägungen in Bezug auf die drei Schriftsysteme aus ihren vorherigen Schulen mit, und gleichzeitig müssen wir ihnen alle Facetten der Braille-Nutzung anbieten. Alle haben überdies einen anderen Zugang zur Braille-Welt, und darauf müssen wir flexibel eingehen. Dabei geht es nicht nur um den Umgang mit den digitalen Erscheinungsformen des Braille, sondern auch um das Lesen und Schreiben auf Papier – ein Ansatz, der auf den ersten Blick altmodisch wirken mag, aber eine erstaunliche Bandbreite an Kompetenzen vermittelt.
Man muss sich nur Folgendes vergegenwärtigen: Eine Braillezeile stellt Texte nur eindimensional dar – wie die Laufschrift eines Newstickers im Fernsehen. Strukturelemente wie Überschriften, Absätze und Tabellen gehen im eindimensionalen Zeichenstrom schnell unter. Doch das Wahrnehmen eben dieser zweidimensionalen Strukturen auf Papier ist aktive Begriffsbildung, damit die Lernenden überhaupt eine Vorstellung davon entwickeln können, was bei der eigenen Textproduktion, die dann zumeist am Computer erfolgt, von ihnen verlangt wird. Unsere Aufgabe als Schule ist es, diese unterschiedlichen Systeme in Einklang zu bringen. Nur wer eine Tabelle auf Papier erfahren hat, weiß um die Vorteile, die ihre Strukturierung bietet. Erst dann kann man die Navigationsbefehle des Screen Readers verstehen und auch auf der Braillezeile gezielt Informationen aus Tabellen entnehmen – und natürlich auch selbst welche erstellen. Lernende, die etwa Daten in einer Tabelle sauber organisieren, lernen dabei nicht nur das Werkzeug selbst, sondern auch, Informationen zu strukturieren und gedanklich zu ordnen.
Nicht zuletzt bleibt die Fähigkeit, mit Papier arbeiten zu können, ein unschlagbarer Pluspunkt beispielsweise in Präsentationssituationen. Technik kann ausfallen oder nicht wie gewünscht funktionieren. Wer auf handschriftliche Notizen zurückgreifen kann, fühlt sich sicherer, steigert die eigene Souveränität und reduziert Nervosität. Das ist ein entscheidender Faktor für Selbstwirksamkeitserfahrungen.
Ich möchte nochmals betonen, dass durch diese Besonderheiten rund um die Schriftsysteme und ihre medialen Repräsentationen ein extra Lernfeld entsteht, das dementsprechend auch extra Zeit in Anspruch nimmt. Dazu kommen oftmals weitere Fördermaßnahmen aus dem spezifischen Curriculum (z. B. O&M und LPF) – völlig klar, dass Lernende dann auch gerne mal einen bequemeren Lernkanal nutzen möchten.
Und in der Tat zeigt der Alltag, dass sich der auditive Zugang – sei es durch Sprachausgabe oder Hörbücher – als unverzichtbare Ergänzung etabliert hat. Gerade bei großen Textmengen bietet er eine effiziente Alternative. Die Kunst besteht darin, Lernende dazu zu befähigen, je nach Kontext und individuellem Bedarf das passende Medium auszuwählen. So lernen sie, wann das eigene Lesen auf Papier, wann die Braillezeile und wann der auditive Kanal die beste Wahl ist. Diese Fähigkeit zur strategischen Mediennutzung ist nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern auch eine der Selbstbestimmung.
Zusammenfassend stelle ich im Vergleich zu meiner eigenen Schulzeit fest, das Erlernen und Beherrschen der verschiedenen Schriftsysteme ist kein Selbstläufer mehr. Es gibt nicht mehr den „einen Weg“ und alte Dogmen helfen uns unter den heutigen veränderten Vorzeichen nicht weiter. Es erfordert Zeit, Geduld und individualisierte Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden, um die spezifischen Lernwege und -ziele zu beschreiten und erreichen. Doch der Aufwand lohnt sich: Denn am Ende steht nicht nur die Kompetenz, Texte zu erfassen und zu produzieren, sondern auch das Vertrauen, eigene Gedanken klar und strukturiert auszudrücken – sei es auf Papier, digital oder in freier Rede. Und so bleibt die Brailleschrift, auch nach 200 Jahren, ein unverzichtbares Werkzeug – flexibel, facettenreich und stets bereit, sich den Anforderungen der Zukunft zu stellen.
Ach so, beinahe hätte ich den wichtigsten Punkt vergessen: Die Rucksäcke der Lernenden im Jahr 2025 sind durch all diese Wandlungen auch nicht mehr bis zum Bersten gefüllt. So findet sich neben Laptop und Braillezeile noch genügend Platz für ausreichend Luftschlangen und Ballons, um den 200. Geburtstag der Brailleschrift gebührend zu feiern.
Literatur
Hofer, Ursula; Lang, Markus; Winter, Fabian: „Zukunft der Brailleschrift“: Grundlegende Erkenntnisse und notwendige Schlussfolgerungen für die Praxis aus der ZuBra-Studie (Teil 1 und 2). In: blind – sehbehindert: Fachzeitschrift des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V., 2021, S. 265-275 und 338-352.
Zur Person
Jens Flach war selbst bis 2001 Schüler der blista. Seit 2009 unterrichtet er Englisch und Ethik an der Carl-Strehl-Schule. Dort ist er Leiter des sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfelds. Jens Flach hat zusätzlich einen Master in Blinden- und Sehbehindertenpädagogik absolviert.
Bild: Jens Flach hat blaue Augen, kurzes dunkelbraunes Haar und einen Zweitagebart. Er trägt einen petrolfarbenen Pulli und lächelt. Foto: privat