Zum 200-jährigen Jubiläum der Brailleschrift
Von Michael Kuhlmann
Das Jahr 1825 war ein Wendepunkt in der weltweiten Blindenbildung. Denn in diesem Jahr stellte Louis Braille seine Blindenschrift fertig. Diese Schrift hat bis heute weltweit unzähligen blinden Menschen zu eigenständigem Lesen und damit zu einer Chance auf Bildung verholfen. Da Braille als Organist auf Basis seiner Punktschrift auch eine Notenschrift erfunden hat, soll der Fokus dieses Artikels auf dieser Schrift liegen. Werfen wir also einen Blick auf die Entstehung, Verbreitung und den heutigen Status der Braillenotenschrift und lernen dabei außerdem, vier Takte eines bekannten Liedes in Blindennotenschrift zu lesen.
Die Anfänge
Die Punktschrift, wie wir sie heute kennen, ist das Ergebnis langjähriger Experimente, die Louis Braille während seiner Schulzeit in Paris durchführte. Dabei lernte er verschiedene damals übliche Schriftsysteme kennen, die ihm ungeeignet erschienen, weil sie zu kompliziert waren und nicht selbst geschrieben werden konnten. Eines dieser Systeme war ein Setzkasten, den die blinde Komponistin und Musikpädagogin Maria Theresia Paradis zum Notensetzen verwendete. Ob diese Entdeckung den Ausschlag zur Braillenotenschrift gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Klar ist allerdings, dass die Punktschrift 1825 fertiggestellt wurde und die darauf basierende Notenschrift drei Jahre später folgte. Nun war es blinden und sehbehinderten Menschen zum ersten mal möglich, selbstständig zu lesen und zu schreiben. Allerdings sollte es noch einige Jahre dauern, bis sich diese Innovation bahnbrechen und schließlich international anerkannt und standardisiert werden würde. Konkret wurde ab den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts organisiert begonnen, Musikalien in Brailleschrift zu übertragen. Heute gibt es weltweit zigtausende Musiktitel vieler Genres und Stile, weil sich mit Hilfe der Braillenotenschrift fast alles darstellen lässt. Anfänglich auf Musik für Klavier und Orgel beschränkt, verfügen wir heute über Musikalien für die unterschiedlichsten Instrumente von Klassik bis Pop.
Musik ertasten
Da wir nun wissen, wie die Notenschrift entstanden ist, wollen wir sie uns mal genauer anschauen bzw. ertasten.
Die Töne c bis h (Stammtöne) werden, angelehnt an die Solmisation (eine im Mittelalter entwickelte Technik, den Tönen einer Tonleiter bestimmte Silben zuzuordnen), mit den Buchstaben d bis j des Braille-Alphabets dargestellt.
Die C-Dur-Tonleiter sieht demnach wie folgt aus:
Ton c = Buchstabe d,
Ton d = Buchstabe e,
Ton e = Buchstabe f,
Ton f = Buchstabe g,
Ton g = Buchstabe h,
Ton a = Buchstabe i,
Ton h = Buchstabe j.
Hintereinander geschrieben: d e f g h i j
Das gerade gelesene Notenbeispiel war die C-Dur-Tonleiter in Achtelnoten. Will man Viertelnoten aufschreiben, fügt man jedem Zeichen den Punkt 6 hinzu. Für halbe Noten kommt der Punkt 3 und bei ganzen Noten die Punkte 3 und 6 dazu.
In der Reihenfolge Achtel, Viertel, halbe und ganze Noten schreibt man die C-Dur-Tonleiter also folgendermaßen auf:
Achtel: d e f g h i j d
Viertel: 4 5 6 7 8 9 w 4
halbe: n o p q r s t n
ganze: y z & % { ~ } y
Über jedem Musikstück steht als Überschrift etwas eingerückt der Titel sowie in der nächsten Zeile die Taktangabe als Bruchzahl.
my Song
#d/
Um den Beginn des Notentextes anzuzeigen, schreibt man ein Präfixzeichen, z.B. '. Am Ende jedes Stückes steht das Schlusszeichen: 2k
Innerhalb der Takte werden die Noten ohne Leerzeichen direkt hintereinander geschrieben. Der Taktwechsel ist das Leerzeichen.
Da wir nun die Grundlagen kennen, sollten wir kein Problem damit haben, das folgende kleine Musikstück zu lesen und zu erkennen. Hier kommen die ersten vier Takte:
Musikbeispiel
#d/
'.4564 4564 67r 67r2k
Lust auf mehr?
Wessen Interesse nun nach den Grundlagen geweckt ist, der kann sich auf eine spannende Reise mit der Braillenotenschrift freuen, bei der es viele tolle Musikstücke zu entdecken gibt. Außerdem lernt man durch Notenlesen, Musik zu verstehen und mit Sehenden eine gemeinsame musikalische Sprache zu sprechen.
Natürlich gibt es Leute, die nie ein Notenzeichen unter den Fingern hatten und trotzdem gute Musiker sind. Aber genauso, wie man ohne lesen und schreiben zu können Schwierigkeiten haben dürfte, einen Brief zu schreiben, so ist es ohne Notenkenntnisse schwierig, sich musikalisch auszudrücken. Zumindest hätte ich ohne Notenkenntnisse schon diverse Mitmusiker an den Rand der Verzweiflung gebracht, wenn die Probe ungefähr so abgelaufen wäre: „Fang doch bitte mal hier an!“ – „Ja wo denn?“ – „Na hier: Get down on it.“ – „Ich kann den Text nicht auswendig. Welcher Takt ist das?“ – „Weiß ich nicht.“
Solche oder ähnliche Unterhaltungen kennen Sie vielleicht. Mit Notenkenntnissen ist so etwas kein Problem, weil ja alle Beteiligten lesen und sich im Musikstück orientieren können.
Aber auch Notenschrift will gelernt sein, und glücklicherweise gibt es dafür heutzutage viele Möglichkeiten. So bietet der DBSV jedes Jahr in der Woche nach Ostern einen fünftägigen Blindennotenschriftkurs an, bei dem die Teilnehmer*innen sowohl einzeln als auch im Gruppenunterricht je nach Bedarf die Notenschriftgrundlagen lernen. Nähere Informationen dazu gibt es im Internet unter dbsv.org und dort im Jugendkalender.
Das Deutsche Zentrum für Barrierefreies Lesen (dzb lesen) ist die älteste deutsche Blindenbibliothek und vertreibt diverse Noten, die ausgeliehen oder gekauft werden können. Außerdem kann man sich beim MakeBraille-Service von dzb lesen Noten individuell übertragen lassen. Dazu schickt man die Schwarzschriftnoten per Post oder elektronisch dorthin und bekommt in der Regel innerhalb weniger Wochen die in Braille übertragenen Noten per E-Mail oder ausgedruckt zurück. Man kann sich außerdem im Internet digitalisierte Schwarzschriftnoten herunterladen und diese auf einen dzb lesen-Server hochladen, der sie dann vollautomatisch in Braille umwandelt und einem per E-Mail zuschickt. Wobei man natürlich das Urheberrecht beachten muss. Eine große und umfangreiche Musikdatenbank ist z.B. musescore.com. Nach der kostenpflichtigen Registrierung kann man dort Stücke vieler Genres im music.xml-Format herunterladen und per Server automatisch in Braille übertragen.
Die Fachgruppe Musik im DVBS steht Interessenten natürlich auch gern mit Rat und Tat zur Seite. Last but not least kann man mich bei Interesse gern kontaktieren. Als Blindennotenschriftlehrer habe ich langjährige Erfahrungen, die ich gern weitergebe.
Fazit
Bei jeder Errungenschaft gibt es Argumente dafür und dagegen. Und so ist die Diskussion pro und contra Brailleschrift und Braillenotenschrift so alt wie die Schrift selbst. Louis Braille musste sich zeitlebens mit Kritikern auseinandersetzen, die seine Schrift für zu schwierig, isolierend und für Sehende Lehrer unlernbar hielten. Unbestritten ist aber, dass es bislang kein Notenschriftsystem gibt, das für blinde Menschen so einfach und gleichzeitig so vielfältig ist wie die Braillenotenschrift. Alle bisherigen Versuche, die Braillenotenschrift an die Schwarzschrift anzugleichen, sind fehlgeschlagen.
Für mich als Berufsmusiker ist die Braillenotenschrift unverzichtbar, weil es mir immer wichtig war und ist, unabhängig von sehender Assistenz Musikstücke zu lernen und mit anderen Musikern zu kommunizieren. Die Braillenotenschrift ist von Grund auf logisch, und wer das System einmal verstanden hat und dranbleibt, wird schnell Fortschritte machen und viel Freude damit haben. Zumindest habe ich nach 16 Jahren Lehrtätigkeit noch niemanden erlebt, gewisse Blindenschriftkenntnisse vorausgesetzt, der die Noten frustriert in die Ecke geworfen hat. Deshalb empfehle ich jedem Musizierenden und besonders allen, die das obige Musikstück gelesen und nicht erkannt haben, ganz bald Braillenotenschrift zu lernen. Vielleicht begegnet man sich bei einem der nächsten Notenkurse. Ich würde mich freuen.
Zum Autor
Seit seinem Abschluss des Studiengangs Kirchenmusik arbeitet Michael Kuhlmann hauptamtlich als Kirchenmusiker und Musiklehrer. Außerdem unterrichtet er seit 2009 im Rahmen von Seminaren, die der DBSV veranstaltet, Blindennotenschrift und steht aktuell kurz vor dem Abschluss seines Tontechnikstudiums. Er ist von Geburt an blind, engagiert sich ehrenamtlich im DVBS und ist dort Mitglied im Leitungsteam der Fachgruppe Musik. E-Mail: hallo-michael@gmx.de