Von Uwe Boysen

Vorbemerkungen

Am 28. Juni dieses Jahres, also in etwa drei Monaten, tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Erstmals werden hier bestimmte private Unternehmen zur Barrierefreiheit verpflichtet. Bislang war das nach dem Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG) und den entsprechenden Landesgesetzen nur gegenüber sog. öffentlichen Stellen der Fall. Vielfach wird das Gesetz, das auf die Umsetzung des European Accessibility Act (EAA), einer Richtlinie der EU, zurückgeht, als großer Fortschritt gefeiert. Es lohnt sich aber, genauer hinzuschauen. So ist die Darstellung in den Sichtweisen, dem Magazin des DBSV, unvollständig, wenn dort in der Ausgabe 1/25 im Rahmen eines Interviews lediglich erklärt wird, das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verpflichte Hersteller von Produkten und Dienstleister dazu, ihre Angebote barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Das ist so pauschal nicht richtig. Vielmehr werden ganz bestimmte Produkte und Dienstleistungen aufgeführt, die unter das Gesetz fallen, andere also nicht. Es lohnt sich daher, einen genaueren Blick auf die Vorschriften des BFSG im Zusammenspiel mit dem EAA und inzwischen erlassenen Verordnungen zu werfen. Das wird wegen der Komplexität der Reglungen in zwei Teilen geschehen. 

Erfasste Produkte und Dienstleistungen

Zunächst lässt sich fragen, wie die Produkte ausgewählt wurden, die es ins BFSG geschafft haben. Hierzu führte die EU in Vorbereitung des EAA ein sog. Screening durch, mit dem Produkte und Dienstleistungen ermittelt wurden, die für Menschen mit Behinderungen relevant sind und zu denen in den Mitgliedstaaten unterschiedliche nationale Barrierefreiheitsanforderungen bestehen, die zu Wettbewerbshindernissen im Binnenmarkt führen können. Die Aufzählung im Gesetz ist abschließend. 

Vorliegend können nur einzelne Produkte, die mir besonders wichtig erscheinen, aufgeführt werden. 

  • Hardwaresysteme und für diese bestimmte Betriebssysteme für Universalrechner für Verbraucher (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 BFSG) (*): Umfasst sind hiervon Desktoprechner, Notebooks, Tablets und Smartphones (siehe die Begriffsbestimmung in § 2 Nr. 35). Die Regelung nennt ausdrücklich Universalrechner für Verbraucher und klammert damit Arbeitsplatzrechner aus. Auch sie in den Geltungsbereich des EAA und des BFSG einzubeziehen, wäre für eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen jedoch geboten gewesen und stellt damit keinen Fortschritt bei der beruflichen Inklusion unseres Personenkreises dar, abgesehen davon, dass die Grenzen zwischen Rechnern für Verbraucher und solchen, die zu geschäftlichen Zwecken genutzt werden, kaum exakt zu ziehen sein dürften.
  • Selbstbedienungsterminals: Genannt werden unter anderem Geld-, Fahrausweis- und Check-in-Automaten.
  • Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für Telekommunikationsdienste verwendet werden (§ 1 Abs. 2 Nr. 3): Hierzu zählen unter anderem Internetzugangsdienste und interpersonelle Kommunikationsdienste. Nicht vom Begriff der elektronischen Kommunikationsdienste umfasst sind Dienste, die Inhalte über elektronische Kommunikationsnetze und -dienste anbieten oder eine redaktionelle Kontrolle über sie ausüben. 
  • Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden (§ 1 Abs. 2 Nr. 4): Darunter fallen beispielsweise Smart-TV-Geräte.

  • E-Book-Lesegeräte (§ 1 Abs. 2 Nr. 5), die absehbar eine immer größere Rolle spielen werden. 

Dienstleistungen

§ 1 Abs. 3 enthält eine ebenfalls abschließende Aufstellung derjenigen Dienstleistungen, die für Verbraucher nach dem 28. Juni 2025 barrierefrei erbracht werden müssen:

  • Elektronische Kommunikationsdienste mit Ausnahme von Übertragungsdiensten zur Bereitstellung von Diensten der Maschine-Maschine-Kommunikation (§ 1 Abs. 3 Nr. 1).
  • Dienste, die den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten ermöglichen (§ 1 Abs. 3 Nr. 2): Nach dem Erwägungsgrund (ErwG) 31 der Richtlinie können dazu Websites, Online-Anwendungen, auf Set-top-Boxen basierende und herunterladbare Anwendungen, auf Mobilgeräten angebotene Dienstleistungen einschließlich mobiler Anwendungen und entsprechende Media-Player sowie auf einer Internetverbindung basierende Fernsehdienste gehören.
  • Bankdienstleistungen für Verbraucher (§ 1 Abs. 3 Nr. 3): Dazu bemerkt ErwG 39 des EAA, dass der unionsweite Verbraucherschutz bei Bank- und Finanzdienstleistungen mit dem EAA auch auf Menschen mit Behinderungen ausgedehnt werden soll, um ihnen die Nutzung dieser Dienstleistungen und das Treffen fundierter Entscheidungen zu ermöglichen sowie sie angemessen, in gleicher Weise wie alle anderen Verbraucher, zu schützen.
  • E-Books und hierfür bestimmte Software (§ 1 Abs. 3 Nr. 5).
  • Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr (§ 1 Abs. 3 Nr. 6): Darunter versteht der EAA nach ErwG 43 den Online-Verkauf von jeglichen Produkten oder Dienstleistungen. Damit wird vor Allem auch der Online-Handel mit umfasst, der von immer größerer Bedeutung wird. 

Einschränkungen des Geltungsbereichs 

In § 1 Abs. 4 Nrn. 1-5 werden verschiedene Inhaltsbereiche von Webseiten und mobilen Anwendungen ausdrücklich vom Geltungsbereich des BFSG ausgenommen. Wichtig ist dabei vor allem die Ausnahme für Dateiformate von Büro-Anwendungen, die vor dem 28. Juni 2025 veröffentlicht wurden (§ 1 Abs. 4 Nr. 2 BFSG). Wer also den Vorschriften des BFSG in diesem Bereich entrinnen will, der kann das erreichen, indem er kurz vor dem Stichtag des 28.6.2025 seine Anwendungen modernisiert. Hier hätte es einer Übergangsfrist, wie sie in der RL (EU) 2016/2102 für Websites und mobile Anwendungen öffentlicher Stellen enthalten ist, bedurft. Dort müssen auch ältere Formate der öffentlichen Stellen ab einem Stichtag die Voraussetzungen der Barrierefreiheit erfüllen. 

Bei Online-Karten und Kartendiensten sind diese von den Anforderungen zur Barrierefreiheit ausgenommen, sofern bei Karten für Navigationszwecke wenigstens „wesentliche Informationen“ digital barrierefrei bereitgestellt werden (§ 1 Abs. 4 Nr. 3). Häufig nutzen die nach dem BFSG verpflichteten Wirtschaftsakteure Inhalte von Dritten, die von ihnen weder finanziert oder entwickelt werden, noch deren Kontrolle unterliegen. Auch für sie gelten dann EAA und BFSG nicht (§ 1 Abs. 4 Nr. 4). Um sie doch in den Geltungsbereich des BFSG einbeziehen zu können, müssen Marktüberwachungsbehörden oder Menschen mit Behinderungen, die versuchen wollen, gegen sie vorzugehen, Detailkenntnisse über etwa vorhandene wirtschaftliche Verflechtungen besitzen, was wohl nur selten der Fall sein wird, mit der Folge, dass die Bestimmung weitgehend leerlaufen dürfte, wenn es um eine Ausnahme von der Ausnahme gehen soll. 

Allgemeine Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen

Die Mitgliedstaaten müssen hierzu gewährleisten, dass die Wirtschaftsakteure nur Produkte in Verkehr bringen und nur Dienstleistungen anbieten, die den Anforderungen der Barrierefreiheit genügen. Das BFSG nimmt in § 3 Abs. 1 Satz 2 zutreffend Bezug auf die Definition der Barrierefreiheit in § 4 des BGG, nachdem der Referentenentwurf hier noch eine eher schwammige Formulierung enthielt. 

Wie die Anforderungen an Barrierefreiheit im Einzelnen aussehen sollen, wird nach § 3 Abs. 1 Satz 3 durch eine Rechtsverordnung geregelt. Sie wird nach § 3 Abs. 2 Satz 1 vom Bundesarbeitsministerium im Benehmen mit weiteren Bundesministerien und mit Zustimmung des Bundesrates erlassen. 

Abweichungen von den Barrierefreiheitsanforderungen

Kleinstunternehmen sind nach§ 2 Nr. 17 Unternehmen, die weniger als zehn Personen beschäftigen und entweder einen Jahresumsatz von höchstens 2 Mio. EUR erzielen oder deren Jahresbilanzsumme sich auf höchstens 2 Mio. EUR beläuft. Das BFSG nimmt zunächst in § 3 Abs. 3 Satz 1 nur Dienstleistungserbringer von den Anforderungen zur Barrierefreiheit aus. Für Kleinstunternehmen, die Produkte in Verkehr bringen, ergeben sich Erleichterungen bei der Pflicht zur Dokumentation ihrer Beurteilung, warum sie meinen, die Anforderungen an Barrierefreiheit nicht erfüllen zu müssen (§ 16 Abs. 4). 

Einschränkung der Barrierefreiheitsanforderungen bei grundlegenden Änderungen und unverhältnismäßigen Belastungen

Sehr kritisch sind §§ 16, 17 zu betrachten. Hier gelten Barrierefreiheitsanforderungen nur insoweit, als deren Einhaltung keine wesentliche Änderung eines Produkts oder einer Dienstleistung erfordert, die zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung führt (vgl. § 16), und für die betreffenden Wirtschaftsakteure keine unverhältnismäßige Belastung darstellt (§ 17). 

Die Beurteilung, ob das der Fall ist und eine Abweichung von den Barrierefreiheitsanforderungen vorliegt, überlässt das BFSG zunächst den Wirtschaftsakteuren selbst (§ 16 Abs. 1 Satz 2). Damit diese Beurteilung nachvollziehbar wird, haben die Wirtschaftsakteure ihre Beurteilung jedoch zu dokumentieren und alle einschlägigen Ergebnisse für einen Zeitraum von fünf Jahren ab der letzten Bereitstellung eines Produkts auf dem Markt oder nach der letzten Erbringung einer Dienstleistung aufzubewahren (§ 16 Abs. 2 Satz 1).

Absehbar wird es bei Streitigkeiten über die Einhaltung der Pflicht zur Gewährleistung von Barrierefreiheit häufig darum gehen, ob es sich für sie um eine unverhältnismäßige Belastung handelt. Die Versuchung, sich darauf zu berufen, dürfte groß sein, zumal der fragliche Wirtschaftsakteur auch hier zunächst eine Selbstbeurteilung vornimmt (§ 17 Abs. 1 Satz 2). Sinnvoll und dringend erforderlich wäre es hier gewesen, den Ausnahmecharakter dieser Vorschrift auch schon im EAA bzw. im BFSG stärker hervorzuheben. Den Begriff der Ausnahme verwendet auch ErwG 66 zum EAA. Kriterien hierfür lediglich in einer Rechtsverordnung festzulegen, reicht bei dieser zentralen Norm nicht aus. Beruft sich ein Wirtschaftsakteur auf die Ausnahmeregelung, muss ihn stattdessen die Darlegungslast für das Vorliegen einer unzumutbaren Belastung treffen. 

Im zweiten Teil dieses Beitrages wird es vor allem um die Möglichkeiten der Marktüberwachung und der Rechtsdurchsetzung bei fehlender Barrierefreiheit gehen. 

(*) Paragrafen ohne Gesetzesangabe beziehen sich auf das BFSG, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt 2021 I S. 2970. 

Wonach suchen Sie?