Von Alexander Dörrbecker
Im 200. Jahr der Erfindung der Blindenschrift durch Louis Braille sind wir aufgerufen, uns weiterhin nachdrücklich für diese Schrift einzusetzen und öffentlichkeitswirksam für den Erhalt und die weitere Verbreitung insbesondere in der schulischen Ausbildung einzutreten.
Worum geht es heute
Worum muss es uns heute gehen, nachdem sich die Brailleschrift spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Verwendung unter Blinden durchgesetzt hat?
Ich nehme wahr, dass die Brailleschrift unter Schülern und jungen Leuten, die hochgradig sehbehindert oder blind sind, in der Verwendungsbreite abnimmt. Eine rudimentäre Kenntnis der Vollschrift für gelegentliche Braillezeilennutzung wird für ausreichend gehalten. Das schöpft die Hilfestellung, die uns diese Schrift bieten kann, bei weitem nicht aus.
Hier müssen wir entgegenwirken, um den jungen Menschen zu zeigen, welchen Nutzen die Brailleschrift für Nicht-Sehende hat und was sie zur Inklusion beitragen kann. Viele nehmen diesen Nutzen nicht wahr, weil sie ihn nicht kennen und niemand da ist, der es ihnen vermittelt.
Wir alle kennen es und erleben es zur Zeit. Blindenschriftbibliotheken schließen, Zeitschriften werden eingestellt, weil die Leserzahlen drastisch sinken. Wie auch bei Sehenden nimmt auch bei Blinden und Sehbehinderten die Nutzung anderer Medien wie sozialen Medien und Büchern über Tablets und Smartphones zu. Anders als bei Sehenden: Das Vorlesenlassen löst das Selbstlesen ab.
Probleme der Braillenutzung im Alltag
Blindenschriftbücher und Material ist natürlich nicht überall verfügbar und Blindenschriftbücher nehmen mehr Platz weg und sind schwerer zu transportieren. Auch ist die Herstellung aufwendiger und teurer. Braillezeilen wiederum, die das elektronische Lesen ermöglichen, sind nach wie vor kostspielig und technisch in ihren Anwendungsmöglichkeiten nicht mit dem allgemeinen Fortschritt der modernen Elektronik der letzten Jahre mitgegangen. Sie sind zu groß und die Mechanik ist wartungsintensiv. Braillezeilen und Notizgeräte von vor 20 Jahren konnten nicht weniger als die heutigen Modelle. Hersteller gibt es weltweit weniger als damals. Vom Ganzseitendisplay wird seit Jahrzehnten gesprochen und damit experimentiert. Aber brauchbare Geräte für den Endkonsumenten sind leider nicht auf den Markt gekommen. Die Kosten sind einfach zu hoch und die Stückzahlen zu klein.
Mit Beispielen vorangehen
Wir müssen mit guten Beispielen vorangehen und den Förder- und Pädagogikeinrichtungen nahelegen, diese Beispiele zur Kenntnis zu nehmen und das Lesen und Schreiben der Brailleschrift in Bildungseinrichtungen intensiv zu fördern. Dies ist bei inklusiver Beschulung teilweise nicht mehr so einfach wie früher, als Blindenschulen mit Fachpädagogen gut ausgestattet waren. Mir berichten junge Leute, dass ihnen die Blindenschrift zu schwer falle und gerade die Kurzschrift unzumutbar zu lernen wäre. Sie erkennen den Nutzen nicht, weil sie weder ein Beispiel vor Augen haben, wie man die Blindenschrift nutzen kann, noch einen Lehrer, der ihnen die Technik mit einer ausreichenden Stundenzahl beibringt. Bei meinem Studium in den USA traf ich bereits vor 25 Jahren einen blinden Jurastudenten, der mir damals schon sagte, dass er die Brailleschrift wegen des PCs und JAWS nicht mehr benötige. Als er später bei Vorbereitungen, um Plädoyers zu halten, Notizen machen wollte, änderte sich seine Ansicht. Ich sollte ihm die Einleitung in Braille aufschreiben und ihm meine Tafel ausleihen, damit er während der Zeugenbefragung Notizen machen könne. Der Kommilitone hat später Brailleschrift gelernt.
Brailleschrift im Alltag
Ich möchte die Brailleschrift in meinem privaten und beruflichen Alltag nicht missen und nutze sie intensiv. Zwar nicht mehr mit Tafel, Steno- oder Bogenmaschine, wie wir es früher alle gelernt haben, sondern mit Braillezeile am PC und Braillenotizgeräten. Letztere haben die mobile Nutzung erheblich vereinfacht. Gerade unterwegs ist das Gehör so ausgelastet, dass ich froh bin, Zielorte oder genaue Straßenangaben direkt unter den Fingern lesen zu können. Dabei ersetzt das Smartphone für mich noch nicht die Braillezeile, weil man dort immer nachhören muss. Unterwegs oder in Besprechungen finde ich es sehr lästig und störend, wenn ich erst einmal mit Kopfhörer oder Lautsprecher hantieren müsste. Da empfinde ich es als sehr hilfreich, auf der Braillezeile etwas schnell nachlesen zu können, ohne dass mein Gehör abgelenkt wird. Auch die Umgebung bekommt so kaum mit, dass ich etwas nachgelesen habe.
Das Berliner Integrationsamt hat mir bei der Beantragung einer neuen Braillezeile und eines Notizgeräts entgegengehalten, dass es doch nicht mehr zeitgemäß sei, so teure Geräte anzuschaffen. Blinde könnten längst mit Smartphones ohne jede Zusatzhilfe und Zusatzsoftware arbeiten. Natürlich können Smartphones und Computer heute auch mit bestimmten Einstellungen weitgehend ohne sehende Hilfe bedient werden. Aber die Schrift bedeutet zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Zahlen, Formeln, tabellarische Übersichten sind schriftlich viel schneller und leichter zu erfassen.
Gleichberechtigte Teilhabe durch Schrift
Kein Sehender käme auf die Idee, den Bildschirm des PC oder des Smartphones durch bloße Sprache zu ersetzen. Es bedarf besonderer Konzentration, alles nur mit der Sprachausgabe zu machen, und es blendet die Umgebung aus. Wenn man also in einer Besprechung oder im Unterricht sitzt und nur die Kopfhörer aufhat, wird man von den anderen Teilnehmern nicht gleichberechtigt wahrgenommen und kann unter Umständen auch nicht folgen.
Ich nutze im Arbeitsalltag auch gern ausgedrucktes Braillematerial. Bei längeren Dokumenten oder Tabellendarstellungen finde ich eine Ganzseitendarstellung sehr hilfreich. Wenn man mit Kollegen gemeinsam an Dokumenten arbeitet und diese in einer Besprechung durchspricht, kann ein Ausdruck in Brailleschrift sehr nützlich sein, weil man dann ähnlich wie die sehenden Kolleginnen und Kollegen den genauen Wortlaut stets zwar nicht vor Augen, aber unter den Fingern hat.
Auch hier bewährt es sich, wenn man als blinde Person zeigt, dass man sich in den Arbeitsprozess integrieren kann. Man wird von den Sehenden ganz anders wahrgenommen, wenn man sprichwörtlich im Text ist.
Lese- und Schreibfähigkeit
Lesefähigkeit erhöht generell die Schreibfähigkeit. Auch hier kann die Blindenschrift ihren Beitrag leisten. Literatur, Gedichte, Geschichten wollen gelesen und zwischendurch auch vorgelesen werden. Ich nutze die Brailleschrift als ehrenamtlicher Lektor in der Kirche. Und schließlich gibt es ja auch professionelle blinde Vorleser, die die Punktschrift nutzen. Aber auch fürs gemeinsame Singen und Musizieren, selbst wenn man kein professioneller Musiker ist, kann man die Brailleschrift einsetzen. Mit Braillenotizgeräten muss man dafür auch keine 20 Bände Gesangbücher mehr mit sich herumtragen.
Die Erfindung
Die Diskussion über das Für und Wider der Brailleschrift gab es von Beginn an. Die Punktschrift hatte es nicht leicht, als Louis Braille sie 1825 erfand. Unter den blinden Mitschülern und erwachsenen Blinden damals ist sie sofort aufgegriffen und intensiv genutzt worden. Die einfache Lesbarkeit und die Möglichkeit, mit einfachen Mitteln wie Stichel und Tafel die Schrift selbst zu schreiben, überzeugte sofort. Im Gegensatz zur Notenschrift hielten die Blindenpädagogen seiner Zeit aber lange daran fest, dass Blinde mit Reliefschrift in Büchern arbeiten sollten.
Als im Jahr 1840 der langjährige Direktor und Förderer Louis Brailles Dr. Pignier von seinem Stellvertreter Pierre-Armand Dufau abgelöst wurde, wurde nach jahrelanger Nutzung der brailleschen Punktschrift diese wieder in Frage gestellt. Er hielt nämlich nichts von der Blindenschrift, weil sie nach seiner Ansicht Barrieren zwischen Blinden und Sehenden aufbaute. Blinde sollten die gleiche Schrift verwenden wie Sehende. Das konnte dann aber nur eine Art Reliefschrift sein. Der Haken dabei ist, so eine Schriftdarstellung ist mit der Hand kaum zu schreiben und wesentlich schwerer mit den Fingern zu lesen als die Punktschrift. Glücklicherweise hielten sich die Schüler und Teile der Lehrer des Pariser Blindeninstituts nicht an das verordnete Verwendungsverbot. So musste der Leiter der Einrichtung 1844 anerkennen, dass die Brailleschrift nicht zu verhindern war. Eine öffentliche Vorführung bestätigte den überragenden Nutzen der Brailleschrift.
Verbreitung durch Blinde
Der Pädagogische Erfolg führte dazu, dass die Brailleschrift bereits ab den 1850er Jahren in vielen Ländern über die Schweiz, Belgien, Deutschland, Großbritannien und den USA mehr und mehr Verbreitung fand. Dies, obwohl viele Blindenpädagogen andere Schriften, Stachelschrift, Moon-Schrift oder das New Yorker Point-System bevorzugten.
Brailleschrift in Deutschland
Als im Jahr 1873 der Blindenlehrerkongress (Ein Vorläufer des heutigen Kongresses der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen) über die Frage der zu verwendenden Punktschrift beriet, konnte man sich nicht zwischen dem Point-System und der Brailleschrift entscheiden.
Erst bei einer europäischen Blindenkonferenz in Paris in Jahre 1878 legte man sich in Europa auf die Brailleschrift fest, wobei ein längerer Streit darüber entbrannte, ob jede Sprache auch die von Braille verwendeten Buchstabenkombinationen verwenden oder ob es nicht sprachspezifische Modifikationen geben sollte. Dies wurde glücklicherweise abgelehnt, so dass die Brailleschrift universal wurde.
In Deutschland wurde die einheitliche Brailleschrift auf dem Blindenlehrerkongress 1879 in Berlin beschlossen.
Es entstanden Bibliotheken wie die in Leipzig (1894), Hamburg (1905) und Marburg (1917). Die Hamburger Blindenbibliothek hatte beispielsweise 1919 einen Bücherbestand von 22101 Büchern. Aber auch die Leserzahl mit ca. 1500 war für heutige Verhältnisse beachtlich. Die Entwicklung danach kann hier nicht skizziert werden. Der Umfang von Braillebüchern nahm in Quantität und Qualität über 100 Jahre erheblich zu. Es besteht ein Reservoir an Material, das nutzlos würde, wenn die Brailleschrift nicht mehr beherrscht würde.
Nutzen der Brailleschrift wird angezweifelt
Heute diskutieren wir nicht mehr über Point oder Braille. Aber der Nutzen der Brailleschrift wird immer wieder einmal angezweifelt. Auch die Kurzschrift hat es schwer, obwohl jeder, der sie beherrscht, weiß, dass man damit nicht nur schneller schreiben, sondern auch wesentlich flüssiger lesen kann. In den USA wird selbst auf der Braillezeile die Kurzschrift verwendet, weil der Lesefluss besser ist.
Für die Beschriftungen in Bussen und Bahnen oder Aufzügen wird heute vermehrt die sog. Pyramidenschrift anstatt der Brailleschrift empfohlen. Dabei ist diese Reliefschrift nicht immer leicht zu ertasten. Die Brailleschrift signalisiert zugleich, dass man dort als Blinder etwas Lesbares finden kann.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Brailleschrift nicht nur als Kulturgut erhalten bleibt, sondern auch verbreitet wird, dass sie einen echten Mehrwert für Blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen hat. Wie früher ist es auch heute für Sehende nicht immer eingängig, dass eine so andersartige Schrift tatsächlich besser ist als ein bloßes Relief oder das Zuhören. Dies haben wir bei der Diskussion über die Kurzschrift in den letzten Jahren erlebt. Zum Glück ist es "nur" bei der Abschaffung einiger weniger Kürzungen geblieben. Es drohte Schlimmeres.
Wir sollten heute Social-Media-Plattformen, YouTube-Filme und andere Kanäle dazu nutzen, die umfangreichen Möglichkeiten der Brailleschrift, einschließlich Kurz-, Mathematik- und Notenschrift, zu verbreiten. Menschen mit Sehbehinderung und Blinde, die davon noch nichts wissen, werden es uns Danken.
Bild: Alltagshelfer: Dank der Speisekarte in Braille, die aufgeschlagen in einem Ordner auf dem Tisch liegt, sucht eine blinde Besucherin im Café in Ruhe ihre Bestellung aus. Foto: DVBS/Georg Kronenberg.