Von Andrea Katemann

Vorbemerkungen zur Studie über die Zukunft der Brailleschrift (ZuBra-Studie) 

Von 2015 bis 2018 wurde die Studie zur Zukunft der Brailleschrift (ZuBra-Studie) durchgeführt. Fabian Winter war an der Studie als wissenschaftlicher Mitarbeiter beteiligt. In dem Interview, das ich mit ihm geführt habe, wird diese Studie mehrfach erwähnt. Daher vorab eine kurze Einführung dazu. 

Die ZuBra-Studie wurde von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg durchgeführt. Sie erfasste schriftsprachliche Kompetenzen sowie die Nutzung von Schriftsystemen und Technologien bei hochgradig sehbehinderten und blinden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. 

Ziele der Studie

Nutzungsverhalten: Erfassung der Verwendung von Brailleschriftsystemen (Vollschrift, Kurzschrift, Eurobraille) und assistiven Technologien.

Einflussfaktoren: Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Alter, Grad und Zeitpunkt der Sehschädigung sowie schulischen Rahmenbedingungen und dem Nutzungsverhalten.

Kompetenzen: Analyse der Lese- und Schreibfähigkeiten und Kompetenzen des Hörverstehens sowie der Nutzung assistiver Technologien.

Methodisches Vorgehen

Die Studie umfasste drei Etappen:

  1. Eine quantitative Online-/Offlinebefragung von Braille Nutzenden aller Altersstufen 2015.
  2. Eine Kompetenzerhebung von 190 Braille Nutzenden in der Altersgruppe 11-22 Jahre in den Jahren 2016 bis 2017.
  3. Mehrere Fokusgruppen-Interviews mit Expertinnen und Experten zum Thema Brailleschrift im Jahr 2018. 
Ergebnisse
  • Nutzung der Brailleschrift: Die Studie zeigt, dass die Brailleschrift weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen auch, dass Brailleschrift und assistive Technologien nicht als Entweder-Oder, sondern als sich ergänzende Optionen betrachtet werden. In der ersten Erhebung zeigte sich, dass die Kurzschrift von den jüngsten Teilnehmenden deutlich seltener genutzt wurde als von der gesamten Gruppe, die Vollschrift hingegen häufiger.
  • Schriftsprachliche Kompetenzen: Gute Kenntnisse in der Brailleschrift gehen einher mit guten schriftsprachlichen Kenntnissen, z.B. einer besseren Rechtschreibfähigkeit.
  • Pädagogische Angebote: Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung angepasster Bildungsangebote, die sowohl traditionelle Brailleschrift als auch moderne Technologien integrieren, um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden.

In horus 2/2019 wurde ein längerer Artikel zu den Forschungsergebnissen abgedruckt, der zuvor in der Zeitschrift „blind – sehbehindert“ erschienen ist. 

Interview 

Andrea Katemann (AK): Vielen Dank, Fabian, dass du dich als Experte zu einem Interview für die Brailleschrift bereit erklärt hast. Du warst an der großen Studie zur Zukunft der Brailleschrift (ZuBra) maßgeblich beteiligt und erlebst dieses Braille-Jahr an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Wir feiern das 200-jährige Jubiläum der Brailleschrift. Gibt es spezielle Veranstaltungen oder Projekte in der Schweiz, die zu diesem Anlass geplant sind?

Fabian Winter (FW): Ja, definitiv. Wir haben an der Hochschule ein größeres Weiterbildungsprogramm namens „CAS Brailleschrift unterrichten“ auf den Weg gebracht, das 2025 startet. Es richtet sich speziell an Lehrpersonen sowie Selbstbetroffene und umfasst 15 Weiterbildungstage mit über zehn Referent*innen. Ziel ist es, die Kenntnisse über Punktschrift zu vertiefen, didaktische Kompetenzen zu erweitern und moderne Technologien in den Unterricht zu integrieren. Wir wollen die Brailleschrift stärken und zeigen, wie wichtig sie auch in der heutigen Zeit ist.

Darüber hinaus planen wir im Juni 2026 erstmalig ein Braille-Fest bei uns an der Hochschule. Dort werden Kinder und Jugendliche aus der gesamten Deutschschweiz zusammenkommen, um sich über ihre Erfahrungen im Lernen mit Brailleschrift auszutauschen. Es wird ein Ort der Begegnung, der Motivation und des Miteinanders, bei dem speziell die Leistungen von Braille Nutzenden gewürdigt werden sollen. Dabei haben wir sowohl die Lernenden selbst als auch die Lehrpersonen im Blick.

AK: Wie steht es um die Kompetenzen von Lehrpersonen in Bezug auf die Brailleschrift? Gibt es wissenschaftliche Untersuchungen dazu? In der Praxis haben wir manchmal den Eindruck, dass einige Lehrpersonen, die blinde und hochgradig sehbehinderte Schüler*innen unterrichten, keine fundierten Kenntnisse in Bezug auf Brailleschrift besitzen. 

FW: Studien aus Nordamerika zeigen, dass Lehrpersonen mit höherem Wissen und positiver Einstellung zur Brailleschrift diese auch effektiver im Unterricht einsetzen. Gleichzeitig offenbart die Forschung, dass fehlende Kenntnisse und negative Einstellungen dazu führen können, dass die Brailleschrift im Unterricht vernachlässigt wird. In Europa fehlen vergleichbare Studien. Eine solche Untersuchung wäre wünschenswert.

AK: Um die Brailleschrift zu erlernen wird Grundschüler*innen auch im inklusiven Unterricht, so wurde es mir geschildert, durchaus bis zur dritten Klasse, das Arbeiten mit der Sprachausgabe verboten. Wie stehst du aus wissenschaftlicher Sicht zu einem solchen Ansatz?

FW: Der Grund für diesen Ansatz scheint mir zu sein, dass man erst einmal die Kompetenz auf einen Erwerb von Schriftsprache legt. Das kann durchaus sinnvoll sein. Es gibt Studien, die nahelegen, dass beim Braillelesen phonologische Prozesse im Vergleich zum visuellen Lesen eine wichtigere Rolle spielen. Gerade am Anfang geht es viel um die Zuordnung von Lauten zu Buchstaben. Eine Sprachausgabe, die zwar buchstabieren, aber nicht lautieren oder verschleifen kann, ist dabei nicht förderlich. 

Ein anderer Grund könnte sein, dass die Lehrpersonen den Fokus zu Beginn auf Lesestrategien auf Papier legen. Fragen, was ein Buch überhaupt ist, wie eine Seite aufgebaut ist und welche Lesestrategien es gibt, sind wichtige, zu erlernende Kompetenzen. 

Dazu braucht es gerade am Anfang des Schriftspracherwerbs viel Zeit und Motivation, um die Automatisierung für eine gute Leseflüssigkeit aufzubauen. Die Sprachausgabe kommt dann früh genug in Klasse zwei oder drei. Dort wird sie auch gebraucht, z.B. bei der Navigation am Computer. Prinzipiell sollte allerdings dann auch das Lesen an der Braillezeile im Vordergrund stehen, sodass die Chance besteht, es hinreichend zu üben. Dieses Üben erfordert viel Zeit, die im Unterricht gegeben sein muss, was nicht immer einfach zu realisieren ist. Letztlich hängt der Umgang mit unterschiedlichen Arbeitstechniken aber auch von den Möglichkeiten und Voraussetzungen des jeweiligen Kindes ab.

AK: Wenn ich richtig informiert bin, führt man die Kurzschrift im amerikanischen Sprachraum schon recht früh in den ersten Schuljahren ein. Sollte sie auch in Deutschland früher eingeführt werden oder hängt dieser Punkt auch stark von der Biografie und den damit einhergehenden Voraussetzungen des Kindes ab? 

FW: Das hängt einerseits von den Lernvoraussetzungen des Kindes ab, andererseits aber auch von Systemunterschieden zwischen deutscher und englischer Kurzschrift. Tatsächlich hat man in der ABC Braille Studie in den USA sehr gute Erfahrungen damit gemacht, die Kurzschrift als Erstschrift einzuführen. Kürzungen werden bei diesem Ansatz erst nach und nach eingeführt. In Nordamerika ist das kein ungewöhnlicher Lernweg. Dabei darf man allerdings nicht außer Acht lassen, dass die englische Kurzschrift deutlich weniger Kürzungen und Regeln umfasst als die deutsche Kurzschrift, die mehr Kürzungen und Regeln enthält und auch ein hohes Sprachbewusstsein, beispielsweise für Silbengrenzen oder Prä- und Suffixe, erfordert. Meines Wissens gibt es deshalb auch keine vergleichbaren deutschen Versuche, die Kurzschrift als Erstschrift einzuführen. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass ein möglichst früher Zugang zur Kurzschrift bei Schüler*innen mit entsprechenden Voraussetzungen dabei helfen kann, die Lesegeschwindigkeit und damit einhergehend die Motivation beim Lesen zu steigern.

AK: Gibt es dann Tests für Lehrer*innen zur Ermittlung der jeweiligen Voraussetzungen bei Kindern? Denn wenn ein Kind in die erste Klasse kommt, weiß man natürlich nicht, wie schnell es lesen können wird. 

FW: Prinzipiell ist jeder Schriftspracherwerb an Voraussetzungen gebunden. In der frühen Kindheit sind das Sprachbewusstsein, Wahrnehmungsfähigkeit, kognitive Fähigkeiten, aber auch frühe literale Erfahrungen in der Familie. Viele dieser Vorläuferfertigkeiten können auch mit Tests erhoben werden. Die Aufzählung macht jedoch deutlich: Viel hängt nicht nur vom Kind ab, sondern auch von der Umwelt. Also der Familie und den pädagogischen Fachpersonen. Kinder mit guten individuellen Voraussetzungen und einem unterstützenden Umfeld werden es insbesondere bei der Deutschen Kurzschrift einfacher haben. 

AK: Wenn man Kurzschrift lernt, genügt es doch in erster Näherung, dass man lernt, sie zu lesen. Das regelgerechte Schreiben ist dann eine andere Ebene, zumindest würde ich dieses behaupten, wenn ich an mich selbst denke. Ich kann Kurzschrift lesen, doch kann ich sie vermutlich nicht exakt regelgerecht schreiben. 

FW: Das ist ein spannender Punkt: Beim Schreiben der Kurzschrift kann sich durch Abweichen von den Regeln ein ganz individueller, kreativer Schreibstil bilden. Somit kann es auch bei blinden Menschen so etwas wie eine eigene Handschrift geben. Grundsätzlich scheint die Kurzschrift häufiger zum Lesen als zum Schreiben genutzt zu werden. Das zeigen jedenfalls unsere Studiendaten. Vor dem Hintergrund, dass auch immer mehr auf dem PC geschrieben wird, ist das auch plausibel. 

AK: Wenn ich es richtig weiß, konnte man in der ZuBra-Studie nachweisen, dass auf dem Papier schneller als an der Braillezeile gelesen wird. Ist es dann hilfreich, dass Brailledisplays mit mehreren Zeilen inzwischen preislich durchaus erschwinglich sind?

FW: Ja, beides stimmt. Unsere Tests haben ergeben, dass man auf dem Papier schneller liest. Das hat viel mit dem beidhändigen Lesen zu tun, welches deutlich öfter auf Papier genutzt wird. Auf der Braillezeile nutzen die meisten Personen eine Hand, um die Braillezeile zu kontrollieren, während die zweite Hand liest. Dadurch ist das beidhändige Lesen erschwert. Brailledisplays mit mehreren Zeilen könnten in diesem Zusammenhang dabei helfen, einen besseren „Überblick“ über eine Seite zu bekommen, man nähert sich also einem Zugang zur Schrift auf dem Papier etwas an, und das flüssigere Lesen mit beiden Händen könnte einfacher möglich sein. 

AK: Stimmt es, dass man prinzipiell in Braille langsamer als sehende Personen liest und auch langsamer als mit einer Sprachausgabe, dass man sich in Blindenschrift aufgenommene Dinge jedoch schneller merkt und sie besser versteht? 

FW: Das konnten wir im Grundsatz bestätigen. Die Brailleschrift wird im Schnitt ca. dreimal langsamer gelesen. In der Kompetenzerhebung zeigte sich zudem, dass Lesen besser für das Verstehen ist als Hören, letzteres jedoch Geschwindigkeitsvorteile mit sich bringt. 

AK: Bei einer Veranstaltung, bei der etwa 35 Personen anwesend waren, die gut Braille lesen können, stellte sich heraus, dass nur eine der Personen ihre Braillezeile im beruflichen Kontext auf Kurzschrift umstellt. Ich selbst nutze beruflich an der Zeile auch Computerbraille. Hängt es mit dem zum Teil nicht sinnvollen Bediensystem der Braillezeilen zusammen, oder liegt es daran, dass man das Zusammenspiel zwischen Kurzschrift und der Sprachausgabe nicht gewohnt ist? Hat vielleicht auch meine Generation die Kurzschrift stark als eigenes Medium verinnerlicht, weil man sie in der Grundschule intensiv auf dem Papier und noch gar nicht mit dem Computer genutzt hat? 

FW: All die Hypothesen, die man spontan zu dieser Thematik haben könnte, hast du genannt. Man bräuchte hierzu eigene Untersuchungen. Aus ZuBra lässt sich deine Beobachtung, dass am PC vorwiegend mit Computerbraille gearbeitet wird, tatsächlich belegen. Auf der Braillezeile war Computerbraille das mit Abstand am meisten genutzte Brailleschriftsystem. Auf Papier wurden wiederum die Vollschrift und Kurzschrift häufiger genutzt.

AK: Wer verwendet noch die Kurzschrift?

FW: Die ZuBra-Studie zeigt eine deutliche Abnahme der Kurzschriftnutzung bei jüngeren Generationen. Schon bei Personen unter 42 Jahren nimmt die Nutzung der Kurzschrift ab und bei denen unter 22 Jahren noch stärker. Dies könnte mit inklusiven Bildungssettings, konkurrierenden Lernzielen, einer Zunahme von Personen mit Deutsch als Zweitsprache oder Fremdsprache und der Dominanz neuer Technologien zusammenhängen. 

An den Lerngelegenheiten scheint es jedenfalls nicht zu liegen. Ein Großteil der besagten Teilnehmenden hat angegeben, dass er oder sie in der Schulzeit Angebote zur Kurzschrift erhalten hat. 

Neben dem Rückgang zeigt sich in den Daten jedoch auch, dass die Kurzschrift ihren grundsätzlichen Zweck erfüllt. Die Nutzenden zeigen höhere Lesegeschwindigkeiten und interessanterweise auch bessere Rechtschreibkompetenzen. Die häufig geäußerte These, dass sich Kurzschrift bei Schüler*innen negativ auf die Rechtschreibung auswirkt, bestätigt sich folglich nicht. 

AK: Lässt sich beurteilen, welchen Eingang die Ergebnisse der ZuBra-Studie in die Praxis des Unterrichtens der Brailleschrift gefunden haben?

FW: Tatsächlich können wir das so genau nicht sagen. Ich bin mir aber sicher, dass die Studie den Austausch unter Fachpersonen zum Thema Brailleschrift angeregt hat. Das haben wir schon während der Durchführung angeregt, indem wir zehn Fokusgruppen-Interviews in Österreich, Deutschland und der Schweiz gemacht haben. Dazu haben die Ergebnisse Einzug in die Ausbildungsgänge der Hochschulen und Universitäten gefunden und sind Teil von Weiterbildungen. 

AK: Vielen Dank, Fabian, für die interessanten Einblicke in die Verwendung von Brailleschrift aus wissenschaftlicher Sicht. 

Zum Autor

Dr. Fabian Winter ist Professor für Bildung bei Beeinträchtigung des Sehens an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Sein Forschungsinteresse liegt in den Bereichen der Didaktik und Diagnostik. Er forscht zum Lesen und Schreiben der Braille- und Schwarzschrift. 

Bild: Prof. Dr. Winter lächelt. Er hat grau-blaue Augen und trägt eine Brille in ähnlichem Farbton. Zum kurz geschnittenen braunen Haar trägt er einen Dreitagebart, über dem weißen Hemd ein graues Jackett. Foto: HfH-Kommunikation

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