Inklusion für alle?
Ein Erfahrungsbericht von Jana Eichstädt
Mein mittlerweile 21jähriger Sohn Mirko ist hochgradig sehbehindert. Er ist einäugig und hat eine Sehkraft von etwa 10 % sowie einen Pendelnystagmus. Bereits im Alter von wenigen Wochen wurde uns durch eine Oberärztin die Diagnose „Optikuskolobom“ mitgeteilt, verbunden mit den „aufmunternden“ Worten: Solche Kinder werden sowieso erst später laufen lernen und sind dazu meist geistig eingeschränkt.
Aber mein Sohn konnte mit einem Jahr laufen und entwickelte sich altersentsprechend. Zeitig stellten wir eine Vorliebe für Zahlen und Musik fest. In der Feinmotorik hatte er einige Schwierigkeiten, drückte beispielsweise Stifte recht stark auf. Vor Schulbeginn konnte er Fahrrad fahren, lernte schwimmen und besuchte eine Tanzschule. Mit vier Jahren begann er mit dem Schachspiel.
Mit sechs Jahren kam er in die wohnortnahe Regelschule. Mit Hilfe einer Sonderpädagogin im Bereich Sehen wurden ihm auf Grund des Förderschwerpunkts Sehen vier Stunden wöchentlich zur Unterstützung in der Schule gewährt. Allerdings wurde er dazu aus dem regulären Unterricht genommen. Wer und was mit ihm – er durfte noch einen Freund mitnehmen – dort geübt wurde, wurde mir nie mitgeteilt. Außerdem wurden die Stunden schnell abgeschafft, d.h. ich gehe im Nachhinein davon aus, dass diese Stunden zur Förderung anderer Kinder eingesetzt wurden. Von der Grundschule wurde meinem Sohn ein Tisch mit geneigter Tischplatte zur Verfügung gestellt, er saß vorn. Außerdem stellte die Sehbehindertenbeauftragte eine große Tischlampe zur Verfügung, um seinen Arbeitsplatz besser ausleuchten zu können. Zusätzlich nutzte er eine Handlupe. Ich selbst fuhr zu Beginn der ersten beiden Schuljahre zur Blindenschule nach Königs Wusterhausen. 2004/2005 war es dort noch möglich, Schulmaterialien für Kinder in Brandenburg, die Regelschulen besuchten, vergrößern zu lassen. Das Kollegium von Königs Wusterhausen bot auch Lehrern in Regelschulen Fortbildungen zum Umgang mit blinden und sehbehinderten Schülern an, jedoch bestand daran beim Kollegium unserer kleinen Grundschule (ca. 200 Schüler in den Klassen 1 bis 6) kein Interesse. In der Grundschulzeit hat mein Sohn somit kaum besondere Unterstützung erfahren, es wurde von Seiten der Schule betont, dass er ja keine Probleme beim Lernen zeige. Materialien, wie die Anlauttabelle, wurden durch die Schule nicht vergrößert, er hatte eine kleine Handlupe. Nur eine Lehrerin zeigte starkes Interesse. Auf Grund der besonderen Vorliebe für Mathe durfte Mirko in der dritten Klasse den Mathematikunterricht der vierten Klasse besuchen. Nachdem aber klar war, dass wir uns für einen Schulwechsel interessieren, wurde das Drehtürmodell nicht mehr gewährt.
In Brandenburg dauert die Grundschulzeit i. d. R. sechs Jahre. Etwas über 30 Klassen, so genannte Leistungs- und Begabungsklassen, bieten den Wechsel in die weiterführende Schule bereits nach vier Jahren an. Zu Zeiten des Abiturs nach 13 Jahren wurde in diesen Klassen das Abitur nach nur 12 Jahren abgelegt. Mittlerweile haben diese Klassen trotz eines einheitlichen Abiturs nach zwölf Jahren einen hohen Zulauf, da hier meist lernwillige Schüler vereint sind. Auf den Gymnasien bekommen die Kleinen i. d. R. die besten Lehrer und haben nur wenig Unterrichtsausfall.
Für diese Klassen muss man sich mit dem Halbjahreszeugnis der vierten Klasse und einem Schulgutachten bewerben. Dann wurde landesweit gleichzeitig im April ein prognostischer Test an den Wunschschulen durchgeführt. Trotz entsprechender Noten wurde durch die Grundschule meines Sohnes eine „Nichteignung“ attestiert. Dazu ist zu sagen, dass für die Grundschule zur damaligen Zeit mit der Gefahr einer Schließung bestand. Durch den Weggang mehrerer Schüler im gleichen Jahrgang wurden die beiden Klassen später im fünften Jahrgang zusammengelegt.
Auf Grund des Testergebnisses entschied sich der Direktor des Gymnasiums trotz Negativprognose der Grundschule für die Aufnahme unseres Sohnes in Klasse 5. Hier erfuhren wir starkes Interesse an seiner Sehbehinderung. Die wöchentlich zusätzlich gewährte Stunde nutzte die Klassenlehrerin beispielsweise für Kartenarbeit in Geographie. Der neue Direktor setzte sich für eine besondere Beleuchtung am Arbeitsplatz des Klassenraumes ein. Mirkos Klasse wechselte nur für Fachunterricht – wie Chemie oder Physik – den Raum. Die Klasse nutzte ausschließlich Räume mit grünen Tafeln, da Smart- oder White-Boards Mirko blenden. Außerdem half der Direktor bei der Auswahl einer Tafelbildkamera, die von der Krankenkasse finanziert wurde. In den höheren Klassen durfte er dann einen Laptop für Mitschriften und Arbeiten nutzen. In einigen Fächern, insbesondere in Mathematik, gab es eine größere Exaktheitstoleranz für zeichnerische Aufgaben. Häufig – leider nicht bei allen Lehrern – wurden Arbeitsblätter vergrößert. Mirko hat stets die gleichen Aufgaben wie alle anderen bekommen. Er musste das gleiche Pensum erfüllen, obwohl er sicher mehr Kraft aufwenden musste. Gerade bei Bildern und Schemata war das sicher nicht immer einfach.
Es waren sicher kleine erste Schritte, die aber durch den Schulalltag halfen. Mirko war sicher einer der ersten Sehbehinderten, die in Brandenburg das Abitur an einer Regelschule ablegten. Daher gab es keine klaren Vorgaben. Die Zeitzugaben bei Klausuren und im Abitur waren schriftlich im Rahmen des Nachteilsausgleichs fixiert. Aber selbst solche Festlegungen stellen in der Praxis häufig ein Problem dar. Für das Deutschabitur waren 2014 für die Abiturienten eine Zeit von 300 min vorgesehen. Für diese Abitur-Klausur bekam Mirko einen Zeitzuschlag von 30 %. Das bedeutete eine Zeit von 6,5 Stunden Schreibzeit am Laptop. Ich denke, dass jeder Sehende unser Problem verstehen kann – sechseinhalb Stunden konzentrierte PC-Arbeit ohne Pause! In der Vorklausur kam er mit hochroten Augen nach Hause. Ein durchgängiges Schreiben oder gar Korrekturlesen war nicht möglich. Trotzdem er sicher in der deutschen Rechtschreibung ist, verlor er durch die fehlende Kontrollmöglichkeit zwei Notenpunkte. Das stellt eine Benachteiligung gegenüber den anderen dar. Und vom damaligen Behindertenbeauftragten des Landes erhielt ich auf meine Nachfrage nur den Hinweis, „dass man trotz Nachteilsausgleiche eine Behinderung nicht völlig kompensieren kann.“
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine gute Inklusion nur dort möglich ist, wo es auch gewollt ist. Es kommt auf die Personen im unmittelbaren Umfeld an. Mirko musste sicher mehr Zeit und Kraft aufbringen, wir Eltern waren mehr gefordert – als Helfer, Verbindung zur Schule, Fahrer, Besorgung digitaler Schulmaterialien usw. Und ich glaube, dass der Erfolg in der Schule auch durch seine hohe Intelligenz geprägt war. Aber ich denke, dass die Regelschule Mirko geholfen hat, in der „Welt der Sehenden“ zurechtzukommen und bei Problemen beim Studium und im weiteren Leben nicht aufzugeben. Er studiert jetzt Mathematik und ist an seiner Uni der erste Sehbehinderte in diesem Fach.