Distanzierte Nähe

Inklusive Beschulung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler an Regelschulen in Zeiten von Corona

Ein Interview mit Brigitte Betz (im Folgenden BB), Oberstudienrätin an der Blista und Beratungslehrerin für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler an Regelschulen.
Das Interview führte Dörte Severin (im folgenden DS), pensionierte Studienrätin und Beratungslehrerin an der Blista.

DS: Liebe Gitte, wir kennen uns durch unsere langjährige Zusammenarbeit am Überregionalen Beratungs- und Förderzentrum der Blista, eines von vier hessischen Förderzentren, an denen blinde und sehbeeinträchtigte Schülerinnen und Schüler an Regelschulen unterstützt werden. Heute möchte ich gern von Dir wissen, ob und wie sich Deine Beratungstätigkeit während der Coronapandemie verändert hat.

Bitte erläutere doch den Leserinnen und Lesern zunächst aber kurz einmal, wie sich eine solche Unterstützung grundsätzlich gestaltet.

BB: Wir unterstützen blinde, hochgradig sehbehinderte und sehbeeinträchtigte Kinder aller Schularten und -stufen sowie deren Eltern und Lehrerinnen und Lehrern.

Wir beraten auch sehgeschädigte Schülerinnen und Schüler mit weiteren Behinderungen (z. B. Hör-, Körper- oder geistigen Behinderungen). Daher ist die Beratungsarbeit sehr vielfältig.

Wenn ich jetzt mal von einem „normalen“ sehbehinderten Kind ausgehe, so beginnt meine Beratung bereits, bevor das Kind eingeschult wird, um die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen: geeignete Hilfsmittel müssen erprobt und angeschafft und die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort müssen methodisch-didaktisch fortgebildet werden. Ist das Kind eingeschult, beobachte ich fortlaufend den Unterricht und gebe den Beteiligten Hilfestellungen.

Außerdem wird im Vorfeld in der Regel eine Assistenz für das Kind beantragt, die ich dann auf ihre Arbeit vorbereite: Sie hat die Aufgabe, das Kind direkt im Unterricht zu unterstützen, indem sie zum Beispiel kurze Arbeitsblätter adaptiert oder sehbehindertengerechte Materialien erstellt. Ziel soll es dabei sein, das Kind in seiner Selbstständigkeit so weit wie möglich zu fördern.

DS: Was sind häufige Themen der Elterngespräche?

BB: Inhalt der Beratungsgespräche mit Eltern ist z. B. die Beantragung einer Rehamaßnahme oder eines Schwerbehindertenausweises. Vor allem aber gebe ich den Eltern Raum, sich darüber mit mir auszutauschen, wie es Ihnen damit geht, ein behindertes Kind zu haben, und wie es ihr Familienleben beeinflusst.

DS: Da viele der DVBS-Mitglieder selbst blind sind und eine Förderschule besucht haben, interessiert es sie vermutlich, wie Du ein blindes Kind an einer Regelschule unterstützt.

BB: Sie können sich vorstellen, dass gerade bei der Einschulung eines blinden Kindes die Vorbereitung sehr wichtig ist; ich muss beispielsweise dafür sorgen, dass die Schulbücher in Blindenschrift ausgedruckt oder digital zu Beginn des neuen Schuljahres vorliegen. Diese Aufgabe übernimmt in Hessen übrigens das Medienzentrum der Blindenschule in Friedberg für alle inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler in Hessen.

Weiterhin vermittle ich den Regelschullehrerinnen und –lehrern sowie der Assistenz vor Ort die Arbeitstechniken des blinden Kindes: Wenn ein blindes Grundschulkind beispielsweise gerade selbst die Punktschrift erlernt, sollten z. B. Regelschullehrkräfte und die Assistenz zumindest die Basis-Brailleschrift beherrschen.

Vor allem bei blinden Schülerinnen und Schülern umfasst meine Arbeit auch den Einzelförderunterricht in dem sogenannten „dualen Curriculum“, das sind Dinge, die das Kind zusätzlich zum Unterrichtsstoff lernen muss: z. B. Tastaturbefehle am Notebook oder die Latex-Mathematikschrift ab der Mittelstufe der Sekundarstufe I (die sollte natürlich auch die Mathematiklehrerin bzw. der Mathematiklehrer können!).

Welches dieser Schriftsysteme eine Schülerin bzw. ein Schüler erlernen soll, richtet sich nach ihren bzw. seinen speziellen Möglichkeiten und ihrer bzw. seiner Schulsituation.

DS: Man könnte meinen, für blinde Schülerinnen und Schüler ist die Assistenz unabdingbar. Worin liegen Deiner Meinung nach gerade die Herausforderungen für Assistenzen für blinde Kinder?

BB: Die Assistenz darf nicht zum „Diener“ der Schülerinnen und Schüler werden, indem ihnen Dinge abgenommen werden, die sie selbst verrichten können.

Ich habe viele Assistenzen erlebt, die sehr engagiert sind, ihre Aufgabe aber darin sehen, einer blinden Schülerin bzw. einem blinden Schüler zur Hand zu gehen und ihm so viel wie möglich abzunehmen. Auch ein blindes Kind kann beispielsweise sein Unterrichtsmaterial holen und zurückbringen und ohne fremde Hilfe mit seinen Hilfsmitteln im Unterricht mitarbeiten.

DS: Aus meiner Sicht sollte ein blindes Kind immer in der Lage sein, sich ohne fremde Hilfe in seiner Schule zurechtzufinden.

BB: Beim lauten Geräuschpegel einer großen Pause – oder, um soziale Kontakte zu pflegen – ist es natürlich oft sinnvoll, am Arm einer Mitschülerin bzw. eines Mitschülers zu gehen, aber den Weg zum Bus, in den Klassenraum etc. sollte es – sofern es die nötigen Voraussetzungen mitbringt – selbst beherrschen.

DS: Nachdem wir nun Grundsätzliches über Deine Arbeit erfahren haben, würde ich jetzt gern wissen, was sich seit Beginn der Corona-Pandemie bei Deiner Arbeit verändert hat.

Zunächst gab es ja diesen sogenannten „Lockdown“, d. h. die Schulen waren für mehrere Wochen geschlossen.

BB: Mein Einzelförderunterricht ist natürlich weggefallen. Leider konnten auch die Assistenzkräfte in dieser Zeit nicht arbeiten, da sie dafür bezahlt werden, ein behindertes Kind im Unterrichtsgeschehen zu unterstützen. Wenn z. B. ein blindes Kind von seiner Regelschullehrerin bzw. seinem -lehrer analoge Arbeitsblätter zugeschickt bekommt, wären Assistenzen sehr hilfreich gewesen, dieses Material zu digitalisieren. Jetzt waren oft die Eltern gefragt, diese Aufgaben zu übernehmen, was nicht immer möglich war.

Zu den Problemen, mit denen auch andere Eltern zu kämpfen hatten, kam bei unseren Schülerinnen und Schülern noch hinzu, dass Eltern häufig die Arbeitstechniken und Schriftsysteme ihrer Kinder nicht beherrschen und ihnen daher weniger helfen konnten.

So kam es durchaus vor, dass vor allem den blinden Kindern von Lehrerinnen und Lehrern zugesandte Arbeitsblätter nicht bearbeitet werden konnten. Anders war es mit den Schulbüchern, die in adaptierter Form vorliegen.

DS: Hast Du viele „Hilferufe“ bekommen in dieser Zeit?

BB: Eigentlich nicht. Ich unterstütze zurzeit nur sehbehinderte Schülerinnen und Schüler, dort haben die Lehrkräfte ihr Material in der Schule selbst vergrößert und verschickt.

Ich habe gestern gerade mit einer Regelschulkollegin telefoniert, die mir sagte, dass unser gemeinsamer sehbehinderter Schüler der einzige in ihrer Klasse ist, der mit einer eigenen E-Mail-Adresse selbständig mit ihr kommuniziert hat. Sie merke deutlich, dass dieser Schüler viel fitter sei im Umgang mit digitalen Medien als der Rest der Klasse. Sie war sehr begeistert.

Aufgrund der Lehrmittelfreiheit in Hessen bekommen die sehbehinderten Schülerinnen und Schüler ihre Hilfsmittel für ihre gesamte Schulzeit finanziert und über einen Pool ausgeliehen. Neuerdings werden darüber auch iPads finanziert, mit denen sehbehinderte Schülerinnen und Schüler zumindest bis zur Oberstufe gut arbeiten können. Da die Schulbuchverlage mittlerweile ihre Schulbücher als PDF zur Verfügung stellen müssen, können sich sehbehinderte Schülerinnen und Schüler diese auf ihr Tablet laden und individuell vergrößern und bearbeiten.

DS: Wie gehen die sehgeschädigten Schülerinnen und Schüler mit den Hygienebestimmungen und dem Tragen von einem Mund-Nase-Schutz um?

BB: Die Kinder haben sich daran gewöhnt, besser als die Erwachsenen aus meiner Sicht.

DS: Und die sehbehinderten Schülerinnen und Schüler haben sich nicht beschwert, dass die Maske stört bzw. die Brille beschlägt?

BB: In Hessen brauchen die Schülerinnen und Schüler an ihrem Platz im Unterricht bisher keinen Mund-Nase-Schutz zu tragen, daher war das kein Problem.

Lediglich hör-sehbehinderte Schülerinnen und Schüler haben Schwierigkeiten, andere zu verstehen, da die Aussprache unter einer Maske verwaschener ist und sie sich auch nicht nah genug anderen nähern können, um von den Lippen abzulesen. Teilweise wurde dann die Maske durch ein durchsichtiges Visier ersetzt, was allerdings nicht in dem Umfang schützt wie eine Maske.

DS: Wie geht es jetzt im neuen Schuljahr weiter?

BB: Nach den Sommerferien finden Einzelförderungen nicht im gewohnten Umfang statt, auch, weil Lehrkräfte und Assistenz nicht so nah wie gewohnt mit den Kindern arbeiten können, es sei denn, sie tragen eine Maske.

Unterrichtsbesuche sind zurzeit eingeschränkt, ich berate vornehmlich am Telefon.

Elterngespräche können mit entsprechendem Abstand und vor allem bei diesem herrlichen Wetter auch draußen im Garten oder auf dem Balkon stattfinden.

Ich habe mein letztes Beratungsgespräch bei einem guten Cappuccino draußen im Café gemacht, sehr angenehmes Arbeiten.

DS: Liebe Gitte, dann wünsche ich Dir und allen Deinen Ratsuchenden noch viele Tage Sonnenschein und danke Dir sehr für dieses Gespräch.