Schriftenreihe Rechtsberatung für blinde und sehbehinderte Menschen
Heft 09 der Schriftenreihe:
Blinde und sehbehinderte Menschen im privaten Rechtsverkehr
von Dr. Herbert Demmel und Karl Thomas Drerup
Stand: März 2014
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung: Übersicht über die gesetzlichen Regelungen und über den Aufbau dieses Heftes
- 2 Allgemeine Regelungen zum privaten Rechtsverkehr
- 2.1 Begriff des Privatrechts
- 2.2 Willenserklärungen
- 2.3 Verträge
- 2.3.1 Vertragsabschluss
- 2.3.2 Allgemeine Geschäftsbedingungen als Bestandteil eines Vertrages
- 2.3.3 Auswirkung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf den Zivilrechtsverkehr
- 2.3.4 Bindungswirkung, Störung der Geschäftsgrundlage
- 2.4 Haftung für Schäden
- 2.4.1 Verschuldenshaftung
- 2.4.2 Gefährdungshaftung
- 3 Privatrecht in verschiedenen Lebensbereichen
- 3.1 Erwerb von Hilfsmitteln
- 3.1.1 Erwerb von Hilfsmitteln ohne Kostenträger oder Anspruch auf Erstattung der Kosten
- 3.1.2 Erwerb von Hilfsmitteln mit Anspruch auf Kostenerstattung
- 3.1.2.1 Rechtsbeziehungen zwischen Erwerber und Lieferanten beim Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs
- 3.1.2.2 Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse
- 3.1.2.3 Kostenerstattungsansprüche beihilfeberechtigter Personen
- 3.1.2.4 Kostenerstattungsansprüche gegenüber Privatkrankenkassen
- 3.1.3 Rechtsbeziehungen bei der Hilfsmittelversorgung nach dem Sachleistungsprinzip
- 3.2 Privatrechtsfragen beim Blindenführhund
- 3.3 Inanspruchnahme von Dienstleistungen
- 3.4 Wohnen
- 3.4.1 Diskriminierungsverbot beim Abschluss des Mietvertrages
- 3.4.2 Keine Befreiung von vertraglichen Verpflichtungen
- 3.4.3 Zustimmungspflicht zu baulichen Veränderungen oder sonstigen Einrichtungen
- 3.4.4 Berechtigung zur Haltung eines Blindenführhundes in der Wohnung
- 3.4.5 Kündigungsschutz bei besonderen Härten
- 3.5 Schadensfälle im Straßenverkehr
- 3.6 Reiseverträge
- 3.7 Versicherungen
- 4 Privatrecht in verschiedenen Lebensphasen - Familienrecht, Erbrecht
- 5 Vereinsrecht
- 5.1 Satzung
- 5.2 Organe des Vereins
- 5.3 Rechte und Pflichten der Mitglieder
- 5.4 Ende der Mitgliedschaft
- 5.5 Haftungsfragen
- 6 Literaturhinweise
- 7 Impressum
1 Einleitung: Übersicht über die gesetzlichen Regelungen und über den Aufbau dieses Heftes
Gegenstand dieses Heftes sind Regelungen, die im privaten Rechtsverkehr und dort speziell für blinde und sehbehinderte Menschen von Bedeutung sind. Dabei muss sich dieses Heft, um nicht zu umfangreich zu werden, auf eine Auswahl der wichtigsten Themen beschränken.
1.1 Rechtsgrundlagen
Die zentrale Rechtsquelle für die privatrechtlichen Regelungen ist das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) mit seinen fünf Büchern: Buch 1 "Allgemeiner Teil", Buch 2 "Recht der Schuldverhältnisse", Buch 3 "Sachenrecht", Buch 4 "Familienrecht" und Buch 5 "Erbrecht".
Privatrechtliche Regelungen finden sich aber auch in zahlreichen weiteren Gesetzen. Eine Übersicht bietet der Palandt auf seinen Anfangsseiten mit seinem "Verzeichnis der abgedruckten Gesetze". Hervorzuheben ist das für dieses Heft besonders wichtige Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
1.2 Zum Aufbau dieses Heftes
Zunächst werden im Abschnitt 2 allgemeine Begriffe und Regelungen zum Privatrecht erläutert, wie z.B. Rechts- und Handlungsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, Willenserklärung, Formvorschriften, Vertretung durch Bevollmächtigte und Anfechtung von Willenserklärungen. Danach wird das Vertragsrecht behandelt. Unter 2.3.3 mit Unterpunkten wird auf das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und seine Auswirkungen eingegangen. Unter 2.3.4 mit Unterpunkten wird die Bindungswirkung von Verträgen behandelt. Unter 2.4 mit Unterpunkten werden Haftungsfragen bei Schäden besprochen.
Abschnitt 3 befasst sich mit Privatrechtsfragen in verschiedenen Lebensbereichen. Behandelt werden der Erwerb von Hilfsmitteln ohne Kostenträger bzw. mit Kostenträger, Privatrechtsfragen im Zusammenhang mit einem Blindenführhund, die Inanspruchnahme von Dienstleistungen, z.B. durch Vorlesekräfte, Patientenrechte beim Behandlungsvertrag, Fragen, welche sich im Mietrecht ergeben, Schadensfälle im Straßenverkehr, Reiseverträge sowie Versicherungsfragen.
Im Abschnitt 4 mit Unterpunkten werden Privatrechtsfragen in verschiedenen Lebensphasen aus dem Familienrecht und aus dem Erbrecht behandelt. Gegenstände sind das Adoptionsrecht, das Unterhaltsrecht, das Betreuungsrecht, die Patientenverfügung, die Vorsorgevollmacht und die Betreuungsverfügung sowie das Erbrecht und die Errichtung eines Testaments.
Im Abschnitt 5 mit Unterpunkten werden Fragen des Vereinsrechts behandelt. Unter 6. folgen noch Literaturhinweise.
2 Allgemeine Regelungen zum privaten Rechtsverkehr
Die allgemeinen Regelungen zum privaten Rechtsverkehr finden sich vor allem im Buch 1 "Allgemeiner Teil" des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Sie sind in einem hohen Grade abstrakt und enthalten Begriffe, die zunächst der Klärung bedürfen.
2.1 Begriff des Privatrechts
Das Privatrecht (meist allgemein Zivilrecht genannt) ist der Teil der Rechtsordnung, der die Beziehungen der einzelnen Rechtssubjekte zueinander auf der Grundlage der Gleichordnung und Selbstbestimmung regelt. Rechtssubjekte sind natürliche Personen (§§ 1 ff. BGB) oder juristische Personen (§§ 21 ff. BGB, z.B eingetragene Vereine). Personen sind Träger von Rechten und Pflichten. Das für den Personenbegriff des BGB entscheidende Merkmal ist damit die Rechtsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein.
Die Bezeichnungen Bürgerliches Recht oder Zivilrecht werden oft synonym zum Privatrecht verwendet, bezeichnen aber genau genommen nur einen Teil desselben. Zum Privatrecht (im Gegensatz zum öffentlichen Recht) gehören neben dem bürgerlichen Recht aus dem BGB, z.B. auch das Handelsrecht aus dem HGB, das Privatversicherungsrecht, das Wertpapierrecht, das Gesellschaftsrecht, das Arbeitsrecht und das Urheberrecht.
2.1.1 Rechts- und Handlungsfähigkeit
Von der Rechtsfähigkeit ist die Handlungsfähigkeit zu unterscheiden.
Die Rechtsfähigkeit ist die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Bei natürlichen Personen geht das BGB als Selbstverständlichkeit davon aus, dass jeder Mensch rechtsfähig ist. Die Rechtsfähigkeit muss diesen nicht erst verliehen werden, sondern ist dem Gesetz vorgegeben (Palandt Überblick zum BGB Allgemeiner Teil Rn. 2).
Die Handlungsfähigkeit ist die Fähigkeit, durch eigenes Handeln Rechtswirkungen hervorzurufen. Sie umfasst die Geschäftsfähigkeit, also die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte, wie z.B. den Abschluss von Verträgen vorzunehmen (§§ 104 ff. BGB), die Deliktfähigkeit, d.h. die Verantwortlichkeit für unerlaubte Handlungen, z.B. Körperverletzungen im Sinn von § 823 BGB (§§ 827 f. BGB) und die Verantwortlichkeit für die Verletzung von Verbindlichkeiten (§ 276 Abs. I Satz 2 BGB).
2.1.1.1 Geschäftsfähigkeit
Die Geschäftsfähigkeit ist eine Unterart der Handlungsfähigkeit. Sie ist die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte selbst voll wirksam vorzunehmen (Palandt Einführung Rn. 2 vor § 104 BGB). Für das eigene wirksame Handeln im Rechtsverkehr, z.B. bei der rechtswirksamen Abgabe einer Willenserklärung und beim Abschluss von Verträgen, etwa dem Abschluss eines Kauf- oder Mietvertrages, ist die Geschäftsfähigkeit Voraussetzung. Unterschieden werden die (volle) Geschäftsfähigkeit, die beschränkte Geschäftsfähigkeit und die Geschäftsunfähigkeit. Das Gesetz setzt grundsätzlich die (volle) Geschäftsfähigkeit aller Menschen voraus. Deshalb werden in den §§ 104 ff. BGB nur die Ausnahmefälle, nämlich die Geschäftsunfähigkeit und die beschränkte Geschäftsfähigkeit geregelt.
Voll geschäftsfähig sind Personen, die volljährig sind, also das 18. Lebensjahr vollendet haben (§ 2 BGB), sofern bei ihnen nicht nach § 104 Nr. 2 BGB Geschäftsunfähigkeit vorliegt. Nach dieser Bestimmung ist geschäftsunfähig, "wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist."
Die Rechte und Interessen geschäftsunfähiger bzw. beschränkt geschäftsfähiger Personen nehmen deren gesetzliche Vertreter wahr. Bei geschäftsunfähigen Kindern (§ 104 Nr. 1 BGB Kinder vor Vollendung des siebenten Lebensjahres) und beschränkt geschäftsfähigen Minderjährigen (§ 106 BGB) sind das die sorgeberechtigten Eltern (§§ 1626, 1629 BGB) oder ein Vormund (§ 1773 BGB) und bei geschäftsunfähigen Volljährigen ein Betreuer (§§ 1896, 1902 BGB).
Wer beschränkt geschäftsfähig ist, regeln die §§ 106 ff. BGB. § 106 BGB lautet:
"Ein Minderjähriger, der das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist nach Maßgabe der §§ 107 bis 113 in der Geschäftsfähigkeit beschränkt."
Beschränkt geschäftsfähig ist der Minderjährige von der Vollendung des 7. Lebensjahres (0 Uhr des Geburtstages, § 187 Abs. 2 BGB) bis zur Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres (§ 2 BGB).
Gem. § 107 bedarf der Minderjährige "zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters." Wenn der Minderjährige einen Vertrag ohne die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters schließt, so hängt die Wirksamkeit des Vertrags von der Genehmigung des Vertreters ab (§ 108 Abs. 1 BGB). Der Vertrag ist schwebend unwirksam. Der Mangel der zunächst fehlenden Einwilligung des gesetzlichen Vertreters kann durch die nachträgliche Genehmigung geheilt werden. Ein von dem Minderjährigen ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters geschlossener Vertrag gilt jedoch gem. § 110 BGB als von Anfang an wirksam, wenn der Minderjährige die vertragsmäßige Leistung mit Mitteln bewirkt, die ihm zu diesem Zweck oder zu freier Verfügung von dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von einem Dritten überlassen worden sind (so genannter "Taschengeldparagraph"). Die §§ 112 und 113 BGB enthalten noch Regelungen, nach denen ein Minderjähriger beim Betrieb eines selbständigen Erwerbsgeschäfts, zu dem ihn der gesetzliche Vertreter mit Genehmigung des Familiengerichts ermächtigt hat (§ 112 BGB), oder im Rahmen eines Arbeits- oder Dienstvertrages bei vorherige freier Genehmigung des gesetzlichen Vertreters (§ 113 BGB) für diese Bereiche voll geschäftsfähig ist (partielle Geschäftsfähigkeit).
§ 104 BGB bestimmt, wer geschäftsunfähig ist. Er lautet:
- wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat,
- wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist."
Die Rechtsfolge der Geschäftsunfähigkeit ist gem. § 105 Abs. 1 BGB, dass die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen nichtig ist.
Nach § 105 Abs. 2 BGB ist auch die Willenserklärung nichtig, "die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird."
Aus § 104 BGB ist klar ersichtlich, dass die Blindheit oder Sehbehinderung keinen Einfluss auf die Geschäftsfähigkeit hat. Selbst wenn für einen blinden oder sehbehinderten Menschen wegen seiner körperlichen Beeinträchtigung gem. § 1896 BGB ein Betreuer bestellt worden ist, aber keine geistige Beeinträchtigung im Sinn von § 104 Nr. 2 BGB vorliegt, fällt dadurch die Geschäftsfähigkeit nicht weg (vgl. dazu Palandt Einführung vor § 1896 BGB Rn. 13). Für den Betreuten kann dann allerdings auch der Betreuer innerhalb seines Aufgabenbereiches als gesetzlicher Vertreter handeln (Palandt Einführung vor § 104 BGB Rn. 2a).
2.1.1.2 Deliktfähigkeit
Ein Unterfall der Handlungsfähigkeit ist auch die Deliktfähigkeit. Soweit das Verschuldensprinzip gilt, ist Zurechnungsfähigkeit (Schuldfähigkeit, Deliktfähigkeit) des Schädigers Voraussetzung für dessen Haftung. Der "Verschuldensbegriff" ist im BGB nicht definiert. Nach der Systematik des BGB ist er Oberbegriff der Schuldformen Vorsatz und Fahrlässigkeit und erfordert als weiteres Verschuldenselement Zurechnungsfähigkeit (Palandt Rn. 5 zu § 276 BGB). Verschulden ist das objektiv pflichtwidrige und subjektiv vorwerfbare Verhalten eines Zurechnungsfähigen (Palandt a.a.O.). Das gilt im gleichen Maß für Leistungsstörungen wie im Deliktsrecht. Die Deliktfähigkeit besagt, dass jemand verantwortlich sein kann für unerlaubte Handlungen, z.B. Körperverletzungen im Sinn von § 823 BGB. Wie bei der Geschäftsfähigkeit geht das Gesetz auch von der Deliktfähigkeit eines Menschen aus, soweit sie nicht nach den §§ 827 f. BGB ausgeschlossen ist.
§ 827 "Ausschluss und Minderung der Verantwortlichkeit" lautet:
"Wer im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er für einen Schaden, den er in diesem Zustand widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne Verschulden in den Zustand geraten ist."
§ 828 "Minderjährige" lautet:
"(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.
(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.
(3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat."
Der Ausschluss bzw. die Einschränkung der Deliktfähigkeit der §§ 827 und 828 ist in den Fällen zu beachten, in welchen für den Schadensersatzanspruch Verschulden verlangt oder vermutet wird. Er spielt dagegen keine Rolle, wenn das Gesetz für die Verantwortlichkeit kein Verschulden voraussetzt, wie insbesondere bei der Gefährdungshaftung. Vgl. dazu Palandt Rn. 1 zu § 827 BGB.
§ 827 Satz 1 schließt die zivilrechtliche Verantwortlichkeit u.a. aus, wenn jemand in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem Anderen einen Schaden zufügt.
Wie sich aus dem klaren Wortlaut von § 827 BGB ergibt, ist Blindheit oder Sehbehinderung kein Ausschlussgrund für die Verantwortlichkeit nach dieser Bestimmung.
Bei der Beurteilung der Schuld, etwa bei der Frage, welche Anforderungen im Zusammenhang mit der Feststellung der Fahrlässigkeit gestellt werden können, ist die Situation behinderter Menschen, also auch die Blindheit oder Sehbehinderung zu beachten (Palandt Rn. 17 zu § 276 BGB). Dabei sind jedes Mal die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen und gegebenenfalls die persönlichen Fähigkeiten des Betroffenen zu bewerten.
2.1.1.3 Verantwortlichkeit für die Verletzung von Verbindlichkeiten
Die Handlungsfähigkeit umfasst als Drittes die Verantwortlichkeit für die Verletzung von Verbindlichkeiten (§ 276 Abs. I Satz 2 BGB). Verbindlichkeiten sind Leistungspflichten, z.B. die Pflicht des Verkäufers, die gekaufte Ware zu liefern und zu übereignen und die Pflicht des Käufers, den Kaufpreis zu bezahlen (§ 433 BGB). Bei der Verletzung von Verbindlichkeiten spricht man vom Leistungsstörungsrecht.
§ 276 "Verantwortlichkeit des Schuldners" lautet:
"(1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos zu entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden entsprechende Anwendung.
(2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
(3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden."
Es gilt das Verschuldensprinzip: Eine Schadensersatzpflicht des Schuldners besteht grundsätzlich nur, wenn er den Schaden durch ein vorwerfbares Verhalten (Vorsatz, Fahrlässigkeit) verursacht oder mitverursacht hat. Davon gibt es allerdings zahlreiche gesetzliche Ausnahmen (vgl. Palandt Rn. 3 zu § 276 BGB).
Der "Verschuldensbegriff" ist im BGB nicht definiert. Nach der Systematik des BGB ist er Oberbegriff der Schuldformen Vorsatz und Fahrlässigkeit und erfordert als weiteres Verschuldenselement Zurechnungsfähigkeit (Palandt Rn. 5 zu § 276 BGB). Verschulden ist das objektiv pflichtwidrige und subjektiv vorwerfbare Verhalten eines Zurechnungsfähigen (Palandt a.a.O.). Das gilt im gleichen Maß für Leistungsstörungen wie im Deliktrecht. In § 276 Abs. 1 Satz 2 wird für die Zurechnungsfähigkeit auf die §§ 827 und 828 BGB verwiesen. Deshalb gelten auch für das Recht der Leistungsstörungen die zur Zurechnungsfähigkeit unter 2.1.2.2 gemachten Ausführungen. Blindheit oder Sehbehinderung sind kein Ausschlussgrund für die Zurechnungsfähigkeit. Sie können aber für den Maßstab für das Verschulden, z.B. bei der Beurteilung der Fahrlässigkeit zu berücksichtigen sein (Palandt Rn. 17 zu § 276 BGB).
2.2 Willenserklärungen
Die Willenserklärung ist notwendiger Bestandteil eines jeden Rechtsgeschäfts. Sie ist die Äußerung eines auf die Herbeiführung einer Rechtswirkung gerichteten Willens (Palandt Rn. 1 Einleitung vor § 116 BGB). Der Wille ist auf die Begründung, die inhaltliche Änderung oder Beendigung eines privatrechtlichen Rechtsverhältnisses gerichtet.
2.2.1 Formerfordernisse für Rechtsgeschäfte
Grundsätzlich besteht für Rechtsgeschäfte Formfreiheit. Das heißt: Für die Verbindlichkeit einer Willenserklärung kommt es nicht darauf an, in welcher Weise der Wille zum Ausdruck gebracht wird. Das ist selbst durch Gesten wie z.B. zustimmendes Kopfnicken oder Stillschweigen der Fall, soweit sich der Wille nur objektiv feststellen lässt. Für eine ganze Reihe von Rechtsgeschäften ist jedoch durch Gesetz eine bestimmte Form vorgesehen. Außerdem kann eine Form für die Abgabe einer Erklärung auch vertraglich vereinbart sein. Wird diese Form dann nicht eingehalten, so regelt § 125 BGB folgendes:
"Ein Rechtsgeschäft, welches der durch Gesetz vorgeschriebenen Form ermangelt, ist nichtig. Der Mangel der durch Rechtsgeschäfte bestimmten Form hat im Zweifel gleichfalls Nichtigkeit zur Folge."
Soweit für Rechtsgeschäfte Formen vorgeschrieben sind, unterscheidet das BGB folgende Formen:
- Schriftform (§ 126 BGB), welche im Rahmen des § 126 a BGB durch die "elektronische Form" ersetzt werden kann;
- Textform (§ 126b BGB);
- notarielle Beurkundung (§ 128 BGB) und
- öffentliche Beglaubigung der Unterschrift (§ 229 BGB).
Daneben gibt es einzelne besondere Formen, z.B. für die "Auflassung" (Übereignung eines Grundstücks § 925 BGB), das ordentliche Testament in der Form des eigenhändigen Testaments (§§ 2231, 2247 BGB), die Eheschließung (§ 1310 BGB - Erklärung der Eheschließenden vor dem Standesbeamten, die Ehe miteinander eingehen zu wollen) und die Begründung einer Lebenspartnerschaft (§ 1 Lebenspartnerschaftsgesetz - persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit von zwei Personen gleichen Geschlechts gegenüber dem Standesbeamten abzugebende Erklärung, miteinander eine Partnerschaft auf Lebenszeit führen zu wollen).
Wenn keine gesetzliche Form vorgeschrieben ist, können die Vertragsparteien die einzuhaltende Form frei bestimmen. In der Regel wird aber eine der gesetzlichen Formen vereinbart (Palandt Rn. 7 zu § 125 BGB).
2.2.1.1 Schriftform (§ 126 BGB)
Die Schriftform ist in § 126 BGB geregelt. Dort heißt es:
"(1) Ist durch Gesetz schriftliche Form vorgeschrieben, so muss die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet werden.
(2) Bei einem Vertrag muss die Unterzeichnung der Parteien auf derselben Urkunde erfolgen. Werden über den Vertrag mehrere gleichlautende Urkunden aufgenommen, so genügt es, wenn jede Partei die für die andere Partei bestimmte Urkunde unterzeichnet.
(3) Die schriftliche Form kann durch die elektronische Form ersetzt werden, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.
(4) Die schriftliche Form wird durch die notarielle Beurkundung ersetzt."
§ 126 BGB gilt für alle Fälle, in denen das BGB oder andere Vorschriften des Privatrechts Schriftform verlangen. Entsprechende Vorschriften sind bei Palandt Rn. 1 zu § 126 BGB aufgelistet. Beispiele sind z.B. die Vereinbarung einer Staffelmiete in einem Mietvertrag, wonach die Miete in bestimmten Zeiträumen steigt (§ 557 a BGB), die Vereinbarung einer Indexmiete nach § 557 b BGB, wonach sich die Miete nach dem vom Bundesamt ermittelten Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte in Deutschland richtet, die Kündigung eines Mietverhältnisses gem. § 568 BGB, der Widerspruch gegen die Kündigung des Mietverhältnisses durch den Vermieter (§ 574 b BGB), die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses (§ 623 BGB).
Die Unterschrift hat den Zweck, die Identität des Ausstellers der Urkunde erkennbar zu machen. Der Aussteller muss die Urkunde eigenhändig unterzeichnen. Die Verwendung einer Schablone, die das Unterschriftsfeld begrenzt und so die Orientierung darüber ermöglicht, wo zu unterschreiben ist, kann selbstverständlich verwendet werden. Eine Schreibhilfe durch eine andere Person, z.B. Unterstützung der Hand bei vorhandener Schwäche, ist zulässig, soweit der Schriftzug von dem Willen des Unterzeichners bestimmt wird (Palandt Rn. 8 zu § 126 BGB mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Unzulässig wäre das Führen der Hand bei der Ausführung des Schriftzuges. Der Schriftzug muss auch bei Unterstützung von dem Unterzeichner selbst ausgeführt werden. Unzulässig ist die Unterzeichnung durch Stempel, Faksimile oder ein sonstiges mechanisches Hilfsmittel (Palandt a.a.O.)
Ein Vertreter muss, wenn er eine Urkunde mit seinem Namen unterzeichnet, das Vertretungsverhältnis durch einen Zusatz, z.B. i.V. zum Ausdruck bringen. Er kann aber auch mit dem Namen des Vertretenen unterschreiben. In diesem Fall muss das Vertretungsverhältnis nicht zum Ausdruck gebracht werden (Palandt Rn. 9 zu § 126 BGB; BGH 45,193, stRspr).
Für die Unterschrift genügt die Unterzeichnung mit dem Familiennamen. Auf die Lesbarkeit der Unterschrift kommt es nicht an. Sie muss aber Andeutungen von Buchstaben erkennen lassen. Erforderlich ist, aber auch ausreichend ist ein die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnender individueller Schriftzug, der einmalig ist, entsprechende charakteristische Merkmale aufweist und sich als Wiedergabe eines Namens darstellt. Vgl. zum Ganzen Palandt Rn. 10 zu § 126 BGB mit Nachweisen.
Wer selbst nach den an eine Unterschrift zu stellenden geringen Anforderungen nicht in der Lage ist, eine Urkunde zu unterschreiben, kann gem. § 126 Abs. 1 BGB mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnen. Als Handzeichen kommen Kreuze, Striche oder Initialen in Frage. Für die notarielle Beglaubigung sind die §§ 39 ff. Beurkundungsgesetz einschlägig. Blinden Menschen, die das Schreiben der Handschrift nicht gelernt haben, weil sie geburtsblind sind oder ihr Augenlicht in frühen Jahren verloren haben, sollten zumindest die Ausführung ihrer Unterschrift erlernen. Die Blindenselbsthilfeorganisationen können dazu geeignete Lehrer, z.B. Rehabilitationslehrer vermitteln. Auch die Möglichkeit, einen Vertreter zu ermächtigen, die Urkunde mit ihrem Namen zu unterzeichnen, kann in Betracht gezogen werden.
2.2.1.2 Elektronische Form (§ 126 a BGB)
Nach § 126 Abs. 3 BGB kann die in § 126 BGB geregelte schriftliche Form durch die elektronische Form ersetzt werden, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.
Die elektronische Form ist keine eigenständige Form, sondern ein Sonderfall der Schriftform. § 126a BGB lautet:
"(1) Soll die gesetzlich vorgeschriebene schriftliche Form durch die elektronische Form ersetzt werden, so muss der Aussteller der Erklärung dieser seinen Namen hinzufügen und das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen.
(2) Bei einem Vertrag müssen die Parteien jeweils ein gleichlautendes Dokument in der in Absatz 1 bezeichneten Weise elektronisch signieren."
Der Anwendungsbereich der elektronischen Form gem. § 126 a BGB entspricht grundsätzlich dem der Schriftform nach § 126 BGB (Palandt Rn. 2 zu § 126 a BGB und Rn. 14 zu § 126 BGB), soweit die elektronische Form nicht ausdrücklich durch Gesetz ausgeschlossen ist. Das ist z.B. im BGB bei den §§ 492 Abs. 1 Satz 2 (Verbraucherdarlehensvertrag), 766 (Bürgschaftserklärung), 780 (Schuldversprechen) und 781 (Schuldanerkenntnis) der Fall.
Verlangt wird in § 126 a Abs. 1 BGB, dass dem elektronisch erstellten Dokument, dem der Name des Ausstellers hinzugefügt ist, mit einer "qualifizierten elektronischen Signatur" nach dem Signaturgesetz (SigG) versehen wird.
Im SigG werden drei Formen der elektronischen Signatur unterschieden:
- (einfache) elektronische Signatur (§ 2 Nr. 1 SigG),
- fortgeschrittene elektronische Signatur (§ 2 Nr. 2 SigG) und
- qualifizierte elektronische Signatur § 2 Nr. 3 SigG).
Unter einer "einfachen elektronischen Signatur" versteht man mit elektronischen Informationen verknüpfte Daten, mit denen man den Unterzeichner bzw. Signaturersteller identifizieren und die Integrität der signierten elektronischen Informationen prüfen kann. Die elektronische Signatur erfüllt somit technisch gesehen den gleichen Zweck wie eine eigenhändige Unterschrift auf Papierdokumenten. In der Gesetzessprache ausgedrückt, sind "einfache elektronische Signaturen" nach der Legaldefinition in § 2 Nr. 1 SigG: "Daten in elektronischer Form, die anderen elektronischen Daten beigefügt oder logisch mit ihnen verknüpft sind und die zur Authentisierung dienen."
"Fortgeschrittene elektronische Signaturen" (§ 2 Nr. 2 SigG) müssen den Anforderungen für "einfache elektronische Signaturen" nach § 2 Nr. 1 SigG entsprechen und zusätzlich:
- ausschließlich dem Schlüsselinhaber zugeordnet sein,
- seine Identifizierung ermöglichen,
- mit Mitteln erzeugt werden, die der Schlüsselinhaber unter seiner alleinigen Kontrolle halten kann und
- mit den Daten, auf die sie sich beziehen, so verknüpft werden, dass eine nachträgliche Veränderung erkannt werden kann.Die qualifizierte elektronische Signatur muss zusätzlich zu den Merkmalen der "einfachen elektronischen Signatur" den Anforderungen des § 2 Nr. 2 SigG für die "fortgeschrittene elektronische Signatur" und den weiteren Anforderungen des § 2 Nr. 3 SigG für die "qualifizierte elektronische Signatur" genügen. Sie muss danach außerdem:
- auf einem zum Zeitpunkt ihrer Erzeugung gültigen qualifizierten Zertifikat beruhen und
- mit einer sicheren Signaturerstellungseinrichtung erzeugt worden sein.
Wer mit einer qualifizierten elektronischen Signatur am Rechtsverkehr teilnehmen will, muss die für die Speicherung und Anwendung des Signaturschlüssels geeignete Soft- und Hardware besitzen (§ 2 Nr. 10 SigG und § 5 Abs. 6 SigG) und bei einem Zertifizierungsdienstanbieter ein qualifiziertes Zertifikat beantragen (§ 7 SigG). Anbieter sind z.B. die Telecom, die Datev, die Bundesnotarkammer u.a. (Listen der Anbieter finden sich im Internet). Die Anbieter benötigen keine Genehmigung, müssen aber den durch die Signaturverordnung vom 16.11.2011 (BGBl I S. 3074) konkretisierten Anforderungen der §§ 4 bis 14 und 23 Signaturgesetz entsprechen.
Um das elektronisch erstellte Dokument zu signieren, muss der Aussteller des Dokuments den auf der Signatur-Chip-Karte (smart card) gespeicherten privaten Schlüssel unter Eingabe der PIN über ein spezielles Zusatzgerät in den PC einlesen.
Eine qualifizierte Signatur und damit eine Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr soll auch der neue Personalausweis nach dem Personalausweisgesetz (PAuswG) ermöglichen. Er wird seit dem 1. November 2010 im Scheckkartenformat mit Chipkarte ausgestellt und beinhaltet die gegen eine Gebühr aktivierbare Möglichkeit zur Nutzung als Signatur-Erstellungseinheit für qualifizierte elektronische Signaturen. Nach § 18 Abs. 1 (PAuswG) kann der Personalausweisinhaber, der mindestens 16 Jahre alt ist, seinen Personalausweis dazu verwenden, seine Identität gegenüber öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen elektronisch nachzuweisen. Abweichend von § 18 Abs. 1 Satz 1 ist der elektronische Identitätsnachweis nach Satz 2 ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen des § 3 a Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, des § 87 a Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung oder des § 36 a Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch nicht vorliegen.
Mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehene elektronische Dokumente erhalten den gleichen Beweiswert wie (Papier-)Urkunden im Sinne der Zivilprozessordnung (§ 371 a Abs. 1 ZPO).
Die elektronische Form des Rechtsverkehrs gewinnt zunehmend an Bedeutung. Sie würde gerade auch blinden und sehbehinderten Menschen die selbständige und selbstbestimmte Teilhabe am Rechtsverkehr erleichtern, wenn sie barrierefrei genutzt werden könnte. Das zu ermöglichen ist eine Forderung, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die seit März 2009 auch in Deutschland als verbindliches Recht zu beachten ist (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21.12.2008, BGBl II 2008, 1419), verpflichtet die Vertragsparteien, also die Staaten u.a. dazu, alle geeigneten Gesetzgebungsmaßnahmen zu ergreifen, um behinderten Menschen eine selbstbestimmte Teilhabe an allen modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, die elektronisch bereitgestellt werden oder zur Nutzung offen stehen, zu ermöglichen sowie vorhandene Zugangshindernisse und -barrieren zu beseitigen (Art. 4, 9, 19 und 21 UN-BRK).
Deshalb muss unbedingt darauf geachtet werden, dass die Erstellung eines elektronischen Dokuments auch unter Verwendung der qualifizierten elektronischen Signatur barrierefrei möglich ist.
Das ist bisher nicht der Fall. Weder im SigG noch in der auf Grund von § 24 SigG erlassenen Rechtsverordnung (SigV) findet sich eine entsprechende Verpflichtung der Signaturanbieter.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass der Verkehr mit Behörden (z.B. Stellung von Anträgen, Zugang zu elektronisch geführten Akten und die Erteilung von Verwaltungsakten) zunehmend mit Hilfe der "qualifizierten elektronischen Signatur" abgewickelt wird (E-Governement). Dasselbe gilt im Justizbereich. Auch in diesen Bereichen fehlen bisher verpflichtende gesetzliche Regelungen, die die barrierefreie Teilhabe behinderter Menschen ermöglichen.
Die Vorschriften des Signaturgesetzes, des E-Mailgesetzes und des Personalausweisgesetzes müssen in der Weise ergänzt werden, dass die für die Dienstanbieter erforderlichen Zertifikate zukünftig nur dann erteilt werden, wenn zuvor nachgewiesen wurde, dass für ihre Nutzbarkeit barrierefreie Verfahren zur Verfügung stehen.
2.2.1.3 Textform (§ 126 b BGB)
Die Textform ist eine stark vereinfachte Form für die Abgabe von Willenserklärungen im Rechtsverkehr. § 126 b BGB regelt mit der Textform einen Formtyp der lesbaren, aber unterschriftslosen Erklärung. § 126 b BGB lautet:
"Ist durch Gesetz Textform vorgeschrieben, so muss die Erklärung in einer Urkunde oder auf andere zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeignete Weise abgegeben, die Person des Erklärenden genannt und der Abschluss der Erklärung durch Nachbildung der Namensunterschrift oder anders erkennbar gemacht werden."
An die Textform werden von allen gesetzlich geregelten Formen die geringsten Anforderungen gestellt. Daher lässt sie sich durch strengere Formen wie die Schriftform (§ 126 BGB), die elektronische Form (§ 126 a BGB) oder die notarielle Beurkundung (§ 128 BGB) ersetzen (Palandt Rn. 2 zu § 126 b BGB).
Der Text kann auf Papier, aber auch auf anderen zur dauerhaften Speicherung und Wiedergabe von Schriftzeichen geeigneten Datenträgern, wie Diskette, CD-ROM oder anderen Speichermedien, geschrieben werden. Den Anforderungen werden auch E-Mails oder Computerfax gerecht (Palandt Rn. 3 zu § 126 b BGB). Bei durch E-Mails übermittelten Erklärungen genügt, dass der Empfänger sie speichern und ausdrucken kann. Nicht erforderlich ist, dass tatsächlich ein Ausdruck erfolgt (Palandt Rn. 3 zu § 126 b BGB).
Die Person des Erklärenden muss sich aus der Erklärung ergeben. Im Gegensatz zur Schriftform gem. § 126 BGB ist bei der Textform aber keine eigenhändige Unterschrift erforderlich. Es genügt also z.B. ein Faksimile-Stempel, die eingescannte oder mechanisch geschriebene Unterschrift bzw. die Angabe des Erklärenden im Kopf oder innerhalb des Textes (Palandt Rn. 4 zu § 126 b BGB). Der Text muss den Abschluss der Erklärung erkennbar machen. Eine Unterschrift ist dazu nicht erforderlich. Es genügt auch eine andere Kenntlichmachung des Endes der Erklärung z.B. durch Ortsangabe und Datum oder Grußformel (Palandt Rn. 5 zu § 126 b BGB).
Die Textform erfüllt keine der klassischen Formfunktionen (Warn-, Beweis-, Identifikationsfunktion). Sie dient insbesondere zur Übermittlung einer Mitteilung, bei welcher ein Interesse des Empfängers an der reinen Information (Informationsfunktion) besteht (Palandt Rn. 1 zu § 126 b BGB).
Gesetzlich vorgeschrieben (und dann auch ausreichend) ist die Textform nur in den im Gesetz ausdrücklich genannten Fällen, beispielsweise für:
- Informationen des Unternehmers an den Verbraucher bei Fernabsatzverträgen (§ 312 c Absatz 2 BGB),
- Widerrufsbelehrung und Rücktrittsbelehrung bei einem Verbrauchervertrag (§§ 355 Absatz 2, 356 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 BGB),
- Widerrufs- und Rücktrittserklärung bei einem Verbrauchervertrag (§§ 355 Absatz 1 Satz 2, 356 Absatz 2 BGB),
- Mitteilung einer Garantieerklärung (§ 477 Absatz 2 BGB),
- Unterrichtung des Verbrauchers über die Bedingungen für einen Überziehungskredit (§ 493 Absatz 1 Satz 5 BGB),
- Mitteilung des Vertragsinhaltes bei Teilzahlungsgeschäften, Ratenlieferungsverträgen und Darlehensvermittlungsverträgen mit Verbrauchern (§§ 502 Absatz 2, 505 Absatz 2, 665 a Absatz 1 Satz 4 BGB),
- Duldung von Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen (§ 554 Abs. 3 BGB),
- Mieterhöhungsverlangen des Vermieters gegenüber dem Mieter von Wohnraum (§§ 558 a Absatz 1, 559 b Absatz 1 BGB),
- Anpassung der Betriebskostenvorauszahlungen (§ 560 Absätze 1 und 4 BGB).
Zahlreiche weitere Beispiele, insbesondere aus dem Versicherungsvertragsgesetz, sind bei Palandt, Rn. 2 zu § 126 b BGB aufgeführt.
Für blinde und sehbehinderte Computernutzer ist die Textform - sei es als Erklärer oder Empfänger - deshalb gut geeignet, weil der Inhalt der Texte bei elektronischer Übermittlung barrierefrei zugänglich ist. Diese Form ist für sie auch deshalb interessant, weil sie gem. § 127 BGB auch vertraglich vereinbart werden kann.
2.2.1.4 Vereinbarte Form (§ 127 BGB)
Für den Abschluss von Rechtsgeschäften gilt, soweit keine Form gesetzlich vorgeschrieben ist, Formfreiheit. So können Verträge auch mündlich abgeschlossen werden. Die Vertragsparteien können aber auch eine bestimmte Form wählen. Das dient insbesondere der Beweisbarkeit des Vereinbarten (Beweisfunktion). Wenn die Parteien für eine Willenserklärung oder einen Vertrag Schriftform (§ 126 BGB, elektronische Form (§ 126 a BGB) oder Textform (§ 126 b BGB) vereinbart haben, können sie die an die Wahrung der Form zu stellenden Anforderungen - abweichend von den Regelungen in den genannten Paragraphen - frei vereinbaren. Wenn sie über die Anforderungen keine Vereinbarungen treffen und diese auch durch Auslegung nach den §§ 133 und 157 BGB nicht ermittelt werden können, greift die Auslegungsregel des § 127 BGB ein (Palandt Rn. 1 zu § 127 BGB). In diesem Fall gelten gem. § 127 Abs. 1 BGB im Zweifel für die Schriftform § 126 BGB, für die elektronische Form 126 a BGB und für die Textform § 126 b BGB entsprechend. Zu den Anforderungen an diese Formen wird auf die Ausführungen unter 2.2.1.1, 2.2.1.2 und 2.2.1.3 verwiesen. § 127 Abs. 2 und 3 enthalten zu den Anforderungen, wie sie in diesen Bestimmungen enthalten sind, einige Erleichterungen. § 127 BGB lautet:
"(1) Die Vorschriften des § 126, des § 126 a oder des § 126 b gelten im Zweifel auch für die durch Rechtsgeschäft bestimmte Form.
(2) Zur Wahrung der durch Rechtsgeschäft bestimmten schriftlichen Form genügt, soweit nicht ein anderer Wille anzunehmen ist, die telekommunikative Übermittlung und bei einem Vertrag der Briefwechsel. Wird eine solche Form gewählt, so kann nachträglich eine dem § 126 entsprechende Beurkundung verlangt werden.
(3) Zur Wahrung der durch Rechtsgeschäft bestimmten elektronischen Form genügt, soweit nicht ein anderer Wille anzunehmen ist, auch eine andere als die in § 126 a bestimmte elektronische Signatur und bei einem Vertrag der Austausch von Angebots- und Annahmeerklärung, die jeweils mit einer elektronischen Signatur versehen sind. Wird eine solche Form gewählt, so kann nachträglich eine dem § 126a entsprechende elektronische Signierung oder, wenn diese einer der Parteien nicht möglich ist, eine dem § 126 entsprechende Beurkundung verlangt werden."
Erleichterungen für die Schriftform:
Zur Wahrung der vereinbarten schriftlichen Form genügt, soweit nicht ein anderer Wille anzunehmen ist, die schriftliche telekommunikative Übermittlung, also ein Fax oder ein E-Mail oder ein Telegramm, auch wenn dieses telefonisch aufgegeben worden ist (Palandt Rn. 2 zu § 127 BGB). Blinden oder sehbehinderten Computerbenutzern ist die Einhaltung dieser Regelung ohne weiteres möglich.
Abweichend von § 126 Abs. 2 BGB ist ein formgültiger Vertragsabschluss auch durch Briefwechsel möglich. Es genügt auch z.B. ein Brief des einen Partners und ein Fax, Telegramm oder E-Mail des anderen Partners (Palandt Rn. 3 zu § 127 BGB). Jede Partei kann nach wirksamem Abschluss des Rechtsgeschäfts gem. § 127 Abs. 2 Satz 2 BGB die Nachholung einer dem § 126 BGB entsprechende Beurkundung des Rechtsgeschäfts verlangen, d.h. Erstellung einer von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichneten Urkunde. Diese nachträgliche Beurkundung dient lediglich Beweiszwecken und ist für die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts ohne Bedeutung (Palandt Rn. 4 zu § 127 BGB).
Erleichterungen bei der elektronischen Form:
Zur Wahrung der elektronischen Form genügt gem. § 127 Abs. 3 BGB auch eine andere als die in § 126 a BGB verlangte elektronische Signatur. Ausreichend ist eine einfache oder fortgeschrittene Signatur im Sinn von § 2 Nr. 1 und 2 Signaturgesetz (zu den Begriffen "einfache" und "fortgeschrittene elektronische Signatur" vgl. 2.2.1.2). Es kann sogar ein Verzicht auf eine elektronische Signatur dem Willen der Parteien entsprechen (Palandt Rn. 5 zu § 127 BGB). Abweichend von § 126 BGB ist bei einem Vertrag der Austausch von Angebots- und Annahmeerklärung, die jeweils mit einer elektronischen Signatur versehen sind, ausreichend. Wird eine solche Form gewählt, so kann nach wirksamem Abschluss des Rechtsgeschäfts nachträglich eine dem § 126 a entsprechende elektronische Signierung oder, wenn diese einer der Parteien nicht möglich ist, weil sie über keine qualifizierte Signatur verfügt, eine dem § 126 BGB entsprechende Beurkundung verlangt werden, d.h. Erstellung einer von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichneten Urkunde. Die nachträgliche Beurkundung dient lediglich Beweiszwecken und ist für die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts ohne Bedeutung (Palandt Rn. 6 zu § 127 BGB).
Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich für blinde oder sehbehinderte Computerbenutzer aus den Regelungen in § 127 BGB für den Abschluss von Rechtsgeschäften keine Probleme ergeben. Vor allem der Austausch der Willenserklärungen durch E-Mail ermöglicht ihnen die selbständige Erledigung von Rechtsgeschäften.
2.2.1.5 Notarielle Beurkundung
Die notarielle Beurkundung ist im Rechtsverkehr ein gesetzliches Formerfordernis, wonach bestimmte Verträge oder Willenserklärungen von einem Notar in einer Niederschrift abgefasst, also beurkundet werden.
Die Beurkundung ist die strengste gesetzliche Formvorschrift. Geregelt ist die Durchführung der notariellen Beurkundung im Beurkundungsgesetz (BeurkG). Welche Rechtsgeschäfte oder Willenserklärungen notariell beurkundet werden müssen, ist den materiellen Gesetzen zu entnehmen. Sie kann für ein Rechtsgeschäft, für das sie gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, von den Parteien vereinbart werden. § 128 BGB, wonach es genügt, "wenn zunächst der Antrag und sodann die Annahme des Antrags von einem Notar beurkundet wird", gilt nur für Verträge, für welche durch Gesetz notarielle Beurkundung vorgeschrieben ist. In diesem Fall kann die Beurkundung der beiden Willenserklärungen auch vor unterschiedlichen Notaren an unterschiedlichen Orten vorgenommen werden.
Gegenstand der folgenden Ausführungen ist nicht nur die Beurkundung von Verträgen, sondern die notarielle Beurkundung als solche. Die beurkundungspflichtigen Rechtsgeschäfte, wobei es sich nicht nur um Verträge handelt, sind in den Gesetzen abschließend aufgezählt. Dazu gehören u.a. der Grundstückskaufvertrag (§ 311 b Abs. 1 BGB), die Verpflichtung zur vollständigen Vermögensübertragung (§ 311 b Abs. 3 BGB), das Schenkungsversprechen (§ 518 Abs. 1 Satz 1 BGB), die Übereignung oder Belastung eines Grundstücks (§ 873 Abs. 2 BGB), der Ehevertrag (§ 1410 BGB), die Verfügung über einen Erbteil (§ 2033 BGB), das öffentliche Testament (§ 2232 BGB), der Erbvertrag ( § 2276 BGB), der Erbverzichtsvertrag (§ 2348 BGB), der Erbschaftskauf (§ 2371 BGB) oder die Abtretung/Verpfändung von Gesellschaftsanteilen an einer GmbH und die zugrunde liegende schuldrechtliche Verpflichtung (§ 15 Abs. 3 GmbHG; hierin ist nur die Abtretung geregelt). Auch einige gesellschaftsrechtliche Verträge (Gründung der AG nach § 23 Abs. 1 AktG, Gründung der GmbH nach § 2 GmbHG) bedürfen der notariellen Beurkundung.
Eine Hypotheken- und Grundschuldbestellung ist nur dann notariell zu beurkunden, wenn die Grundpfandrechtsgläubiger (meist Kreditinstitute) die sofortige Unterwerfung des Eigentümers unter die Zwangsvollstreckung verlangen (§ 800 Abs. 1 ZPO).
Für den Ablauf einer Beurkundung bestimmt das Beurkundungsgesetz (BeurkG): Willenserklärungen werden in einer Verhandlung vor dem Notar abgegeben. Der Notar soll in der Verhandlung den Willen der Beteiligten erforschen, den Sachverhalt klären, die Beteiligten über die rechtliche Tragweite des Geschäfts belehren und ihre Erklärungen klar und unzweideutig in der gem. § 8 BeurkG von ihm anzufertigenden Niederschrift wiedergeben. Bei der Belehrung soll er darauf achten, dass Irrtümer und Zweifel vermieden sowie unerfahrene und ungewandte Beteiligte nicht benachteiligt werden (§ 17 Abs. 1 BeurkG). Die Niederschrift muss in Gegenwart des Notars den Beteiligten vorgelesen, von ihnen genehmigt sowie von ihnen und dem Notar eigenhändig unterschrieben werden (§ 13 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BeurkG).
In den §§ 22 ff. BeurkG ist geregelt, wie zu verfahren ist, wenn behinderte Menschen beteiligt sind. § 22 Abs. 1 BeurkG lautet:
"(1) Vermag ein Beteiligter nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu hören, zu sprechen oder zu sehen, so soll zu der Beurkundung ein Zeuge oder ein zweiter Notar zugezogen werden, es sei denn, dass alle Beteiligten darauf verzichten. Auf Verlangen eines hör- oder sprachbehinderten Beteiligten soll der Notar einen Gebärdensprachdolmetscher hinzuziehen. Diese Tatsachen sollen in der Niederschrift festgestellt werden."
Wenn blinde oder hochgradig sehbehinderte Personen beteiligt sind, soll danach ein Zeuge oder ein zweiter Notar zugezogen werden. Das wird von vielen Betroffenen als diskriminierend empfunden. Dem Wunsch, auf die Zuziehung eines Zeugen oder zweiten Notars zu verzichten, sollte deshalb in aller Regel entsprochen werden.
Wenn ein Taubblinder beteiligt ist, ist § 24 BeurkG zu beachten. § 24 Abs. 1 BeurkG bestimmt:
"Vermag ein Beteiligter nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu hören oder zu sprechen und sich auch nicht schriftlich zu verständigen, so soll der Notar dies in der Niederschrift feststellen. Wird in der Niederschrift eine solche Feststellung getroffen, so muss zu der Beurkundung eine Person zugezogen werden, die sich mit dem behinderten Beteiligten zu verständigen vermag und mit deren Zuziehung er nach der Überzeugung des Notars einverstanden ist; in der Niederschrift soll festgestellt werden, dass dies geschehen ist."
Es muss also eine Person zugezogen werden, die sich mit dem taubblinden Beteiligten z.B. über Lormen, Gebärden oder Brailleschrift verständigen und ihm auf diese Weise den Inhalt der Verhandlung und der Niederschrift vermitteln kann. Es muss darauf geachtet werden, dass die für die Verständigung zugezogene Person durch das zu beurkundende Rechtsgeschäft keinen rechtlichen Vorteil erlangt; denn das hätte die Nichtigkeit der Erklärung zur Folge (§ 24 Abs. 2 BeurkG).
Die Regelung des § 22 BeurkG über die Zuziehung eines Zeugen oder zweiten Notars bleibt neben § 24 BeurkG bestehen. Dazu wird auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen.
2.2.1.6 Öffentliche Beglaubigung (§ 129 BGB)
Die einschlägigen Rechtsnormen für die öffentliche Beurkundung sind die §§ 129 BGB und die §§ 39 ff. Beurkundungsgesetz (BeurkG). § 129 Abs. 1 BGB lautet:
"(1) Ist durch Gesetz für eine Erklärung öffentliche Beglaubigung vorgeschrieben, so muss die Erklärung schriftlich abgefasst und die Unterschrift des Erklärenden von einem Notar beglaubigt werden. Wird die Erklärung von dem Aussteller mittels Handzeichens unterzeichnet, so ist die im § 126 Abs. 1 vorgeschriebene Beglaubigung des Handzeichens erforderlich und genügend."
Die öffentliche Beglaubigung ist das Zeugnis einer Urkundsperson darüber, dass die Unterschrift oder das Handzeichen in seiner Gegenwart zu dem angegebenen Zeitpunkt von dem Erklärenden vollzogen oder anerkannt worden ist (§§ 39, 39 a, 40 BeurkG). Sie bezeugt zugleich, dass die im Beglaubigungsvermerk namentlich angeführte Person und der Erklärende identisch sind. Die öffentliche Beglaubigung bezieht sich auf die Echtheit der Unterschrift oder des Handzeichens, nicht dagegen auf den Inhalt der Erklärung (Palandt Rn. 1 zu § 129 BGB).
§ 129 BGB setzt Schriftform für die Erklärung, wie sie in § 126 BGB geregelt ist, voraus. Für die Unterschrift und das Handzeichen blinder oder sehbehinderter Personen vgl. die unter 2.2.1.1 gemachten Ausführungen.
Zahlreiche Beispiele, in welchen das Gesetz eine öffentliche Beglaubigung verlangt, sind bei Palandt Rn. 1 zu § 129 BGB angegeben. Die öffentlich beglaubigte Form ist insbesondere bei Eintragungen und Anmeldungen zu öffentlichen Registern, wie z.B. dem Vereinsregister, dem Handelsregister und für Eintragungen in das Grundbuch erforderlich.
Zuständig sind grundsätzlich nur Notare.
2.2.2 Vertretung durch Bevollmächtigte
Die Vertretung durch einen Bevollmächtigten ist in den §§ 164 ff. BGB geregelt. § 164 Abs. 1 BGB lautet:
"(1) Eine Willenserklärung, die jemand innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen abgibt, wirkt unmittelbar für und gegen den Vertretenen. Es macht keinen Unterschied, ob die Erklärung ausdrücklich im Namen des Vertretenen erfolgt oder ob die Umstände ergeben, dass sie in dessen Namen erfolgen soll."
Vom bevollmächtigten Vertreter zu unterscheiden ist der Bote. Der Vertreter gibt eine eigene Willenserklärung ab, ist also der rechtsgeschäftlich Handelnde. Berechtigt und verpflichtet aus dem vom Bevollmächtigten getätigten Rechtsgeschäft wird allerdings der Vollmachtgeber. Der Bote übermittelt dagegen eine Willenserklärung des Auftraggebers, so dass diese wirkt, wie wenn sie der Auftraggeber selbst abgegeben hätte. Wenn sich der Bote innerhalb seines Auftrags hält, wird aus dem Rechtsgeschäft der Auftraggeber berechtigt und verpflichtet, wobei es gleichgültig ist, ob es erkennbar ist, ob er als Bote oder Vertreter handelt (Palandt Rn. 2 und 11 vor § 164 BGB).
Die Erteilung der Vollmacht erfolgt gem. § 167 Abs. 1 BGB durch Erklärung gegenüber dem zu Bevollmächtigenden oder dem Dritten, dem gegenüber die Vertretung stattfinden soll.
Die Erklärung der Vollmacht muss nicht in der Form abgegeben werden, welche für das Rechtsgeschäft bestimmt ist, auf das sich die Vollmacht bezieht (§ 167 Abs. 2 BGB). Die Vollmacht kann also formlos durch Erklärung gegenüber dem Bevollmächtigten oder dem anderen Teil eines Rechtsgeschäfts erklärt oder auch in einer Urkunde erteilt werden. Sie kann auch formlos erklärt werden, soweit nicht für bestimmte Rechtsgeschäfte abweichend von diesem Grundsatz eine bestimmte Form verlangt wird. Z.B. muss die Bevollmächtigung zur Ausschlagung einer Erbschaft gem. § 1945 Abs. 3 BGB öffentlich beglaubigt sein. Die Vorsorgevollmacht muss für die Vornahme ärztlicher Eingriffe (§ 1904 Abs. 5) oder die Unterbringung (§ 1906 Abs. 5 BGB) in schriftlicher Form erteilt sein. Weitere Beispiele, in welchen für eine Vollmacht die Einhaltung von Formvorschriften verlangt wird, finden sich in Palandt Rn. 2 zu § 167 BGB.
Den Inhalt und Umfang einer Vollmacht, sofern er nicht gesetzlich festgelegt ist, wie z.B. bei der Prokura gem. § 49 HGB, bestimmt der Vollmachtgeber. Zu unterscheiden sind Vollmachten für bestimmte einzelne Rechtsgeschäfte, für bestimmte Arten von Rechtsgeschäften, z.B. für die Vermögensverwaltung oder die Vornahme von Bankgeschäften und Generalvollmachten für alle Rechtsgeschäfte des Vollmachtgebers. Damit der Inhalt einer Vollmacht klar erkannt werden kann, ist die Erteilung in einer Urkunde zu empfehlen.
Der Bevollmächtigte kann Rechtsgeschäfte unter seinem Namen tätigen. Er muss dann, damit er nicht selbst aus dem Rechtsgeschäft verpflichtet wird, die Vertretungsbefugnis klar zum Ausdruck bringen, indem er z.B. mit "i.V. (in Vertretung)" unterschreibt. Er kann aber bei Unterschriften auch mit dem Namen des Vertretenen unterzeichnen.
Die Regelungen über die Vertretung durch Bevollmächtigte bzw. die Abgabe einer Willenserklärung durch einen Boten kann blinden und sehbehinderten Personen die Teilnahme am Rechtsverkehr wesentlich erleichtern. Die Vollmacht schränkt die rechtsgeschäftliche Handlungsfähigkeit des Vollmachtgebers nicht ein (Palandt Rn. 15 zu § 167 BGB).
Durch die Bevollmächtigung einer Vertrauensperson kann in vielen Fällen die Bestellung eines Betreuers nach den §§ 1896 ff. BGB vermieden werden. Nach § 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB ist die Betreuung nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten, der nicht zu den in § 1897 Abs. 3 bezeichneten Personen gehört, oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können. Sie darf dann nicht bestellt werden (§ 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB). Die Vorsorgevollmacht verschafft dem Bevollmächtigten eine ähnliche Stellung wie sie ein Betreuer innehat (§ 1896 Abs. 2 BGB).
2.2.3 Anfechtbarkeit von Willenserklärungen
Die Anfechtbarkeit von Willenserklärungen ist in den §§ 119 bis 124 BGB geregelt.
Zu unterscheiden sind die Anfechtung einer Willenserklärung wegen Irrtums (§ 119 BGB) und die Anfechtbarkeit wegen falscher Übermittlung der Willenserklärung (§ 120 BGB), welchen ein unbewusster Willensmangel zugrunde liegt, einerseits sowie die Anfechtbarkeit wegen Täuschung oder Drohung (§ 123 BGB) andererseits.
Im Fall des § 123 BGB besteht kein Zwiespalt zwischen dem Willen und der Erklärung. Die Willenserklärung wurde aber durch eine unzulässige Einwirkung auf die Willensbildung durch Täuschung oder Drohung herbeigeführt. Das Gesetz gibt auch hier ein Anfechtungsrecht. Auf die Anfechtung aus § 123 BGB wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, weil sie für die hier zu behandelnde Frage nicht von Bedeutung ist.
In den Fällen der §§ 119 und 120 BGB besteht zwischen dem Willen und der Erklärung ein Widerspruch, weil der Erklärende eine Erklärung mit anderem Inhalt abgeben wollte, oder weil er bei der Erklärung von falschen Vorstellungen ausgegangen ist bzw. weil die Übermittlung der Willenserklärung fehlerhaft war.
§ 119 BGB über die Anfechtbarkeit wegen Irrtums lautet:
"(1) Wer bei der Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte, kann die Erklärung anfechten, wenn anzunehmen ist, dass er sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde.
(2) Als Irrtum über den Inhalt der Erklärung gilt auch der Irrtum über solche Eigenschaften der Person oder der Sache, die im Verkehr als wesentlich angesehen werden."
§ 120 BGB wegen falscher Übermittlung lautet:
"Eine Willenserklärung, welche durch die zur Übermittlung verwendete Person oder Einrichtung unrichtig übermittelt worden ist, kann unter der gleichen Voraussetzung angefochten werden wie nach § 119 eine irrtümlich abgegebene Willenserklärung."
Ein Fall des § 120 BGB ist z.B. die inhaltlich fehlerhafte Übermittlung einer Willenserklärung durch einen Boten, nicht dagegen durch einen Bevollmächtigten, denn dieser handelt eigenständig. Nach § 166 BGB kommt es deshalb auf seine Willensmängel an. Ob er eine Willenserklärung wegen Irrtums oder falscher Übermittlung anfechten kann, richtet sich für ihn nach den §§ 119 und 120 BGB.
Wenn ein rechtlich erheblicher Sachverhalt nach den §§ 119 oder 120 BGB vorliegt, ist die Willenserklärung zunächst voll wirksam. Der Erklärende kann die Willenserklärung durch Anfechtung mit rückwirkender Kraft vernichten (Palandt Rn. 2 zu § 119 BGB und Rn. 1 zu § 120 BGB). Die Anfechtung erfolgt gem. § 143 Abs. 1 BGB durch Erklärung gegenüber dem Anfechtungsgegner. Wer Anfechtungsgegner ist, ergibt sich aus § 143 Abs. 2 bis 4 BGB. Die Anfechtungsfrist regelt § 121 BGB. Nach dessen Abs. 1 muss die Anfechtung in den Fällen der §§ 119 und 120 BGB ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich) erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat. Die Anfechtung ist gem. § 121 Abs. 2 BGB ausgeschlossen, wenn seit der Abgabe der Willenserklärung zehn Jahre verstrichen sind.
Wenn der Anfechtungsberechtigte von seinem Anfechtungsrecht Gebrauch macht, muss er dem gutgläubigen Anfechtungsgegner den Vertrauensschaden ersetzen (§ 122 BGB).
Nur die unbewusste Unkenntnis vom wirklichen Sachverhalt ist ein Irrtum im Sinn von § 119 BGB. Kein zur Anfechtung berechtigender Irrtum liegt vor, wenn der Erklärende eine Erklärung in dem Bewusstsein abgibt, ihren Inhalt nicht zu kennen. Wer eine Urkunde unterschreibt, ohne sie zu lesen, hat deshalb in der Regel kein Anfechtungsrecht (Palandt Rn. 9 zu § 119 BGB mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Ein blinder oder sehbehinderter Mensch, der die Urkunde nicht selbst lesen kann, muss sie sich deshalb vorlesen lassen. Er kann nicht mit der Begründung anfechten, dass er den Inhalt der Urkunde nicht kannte, weil er sie nicht lesen konnte.
Von den in diesem Kapitel behandelten Fällen der Anfechtung wegen Irrtums über den Inhalt der abgegebenen Willenserklärung sind zu unterscheiden die Fälle des so genannten Motivirrtums, d.h. des Irrtums im Beweggrund (der Betreffende merkt erst im Nachhinein, dass er diesen Vertrag oder diese Ware eigentlich gar nicht wollte). Beispielsweise erwirbt ein Blinder ein Navigationsgerät, um seine Mobilität zu verbessern. Er merkt erst nach Erwerb, dass er mit der Bedienung dieses Gerätes nicht zurecht kommt oder ihm das Gerät den erhofften Nutzen nicht bringt. Ein Irrtum im Beweggrund begründet kein Anfechtungsrecht (Palandt Rn. 29 zu § 119 BGB). Die Bindung an den Vertrag kann in den Fällen des Motivirrtums durch die Anfechtung nicht beseitigt werden. Zur Bindungswirkung und ihre Grenzen vgl. Kapitel 2.3.4 "Bindungswirkung, Wegfall der Geschäftsgrundlage".
2.3 Verträge
Unter einem Vertrag versteht man die Vereinbarung zwischen zwei oder mehreren Personen über die Herbeiführung einer Rechtsfolge. Beispiele sind die Vereinbarung über die Übereignung einer Ware gegen Bezahlung im Kaufvertrag (§ 433 BGB), die Herstellung eines Werkes, z.B. eines Gebäudes gegen Bezahlung im Werkvertrag (§ 631 BGB), die Vermietung von Gegenständen oder Räumen im Mietvertrag (§ 535 BGB).
Die allgemein für den Vertragsabschluss geltenden Regelungen enthalten die §§ 145 bis 157 BGB. Der Inhalt und die Wirkung der Verträge werden durch die Normen für die einzelnen Vertragsarten und Vertragstypen geregelt.
2.3.1 Vertragsabschluss
Ein Vertrag kommt durch eine Willenserklärung, nämlich den Antrag auf Abschluss des Vertrages (§ 145 BGB) und eine diesem Antrag entsprechende Willenserklärung, die Annahme des Vertrages (§§ 147 ff. BGB), zustande.
Für den Inhalt von Rechtsgeschäften gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Entsprechend dem Prinzip der Privatautonomie überlässt unsere Rechtsordnung dem Einzelnen, seine Lebensverhältnisse im Rahmen des geltenden Rechts eigenverantwortlich zu gestalten (Palandt Rn. 1 und 7 vor § 145 BGB). Die Vertragsfreiheit ist aber nicht grenzenlos. So kann sich aus dem Gesetz, einer Monopolstellung oder für Einrichtungen, die ihr Angebot an die Allgemeinheit richten, wie Theater, Museen oder Schwimmbäder ein Abschlusszwang (Kontrahierungszwang) ergeben (Beispiele bei Palandt Rn. 8, 9 und 10 vor § 145 BGB). Aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG), das auch im Zivilrecht zu beachten ist, lässt sich vielmehr der allgemeine Rechtssatz ableiten: "Der Unternehmer, der lebenswichtige Güter öffentlich anbietet, darf den Vertragsschluss nur aus sachlichen Gründen ablehnen, sofern für den Kunden keine zumutbare Möglichkeit besteht, seinen Bedarf anderweitig zu befriedigen" (Palandt Rn. 10 vor § 145 BGB). Eine Abschlusspflicht besteht daher z.B. für Theater, Museen, städtische Bäder (Palandt a.a.O.). Grenzen ergeben sich auch aus Diskriminierungsverboten, z.B. kann für das Zivilrecht nach § 21 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ein Kontrahierungszwang bestehen (Palandt Rn. 7 zu § 21 AGG).
Es ist deshalb mit diesen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, wenn blinden oder sehbehinderten Menschen ohne Begleitperson der Zutritt zu öffentlichen Schwimmbädern pauschal verwehrt wird. Zu diesem Fall siehe im Einzelnen auch Abschnitt 2.3.3.2.2.
2.3.2 Allgemeine Geschäftsbedingungen als Bestandteil eines Vertrages
Häufig finden sich bei Angeboten auf Vertragsabschluss Regelungen, die für alle Verträge der betreffenden Art gelten sollen. Das sind die so genannten "allgemeinen Geschäftsbedingungen" (AGB). Geregelt ist das Recht der AGB in den §§ 305 bis 310 BGB.
In den meisten Bereichen des Zivilrechts kommen Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) vor. Häufig verwendet werden AGB z.B. in Mietverträgen, Kaufverträgen, Bauverträgen, in Verträgen des Bankrechts und bei Verträgen mit Internetanbietern. Keine Anwendung findet das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach § 310 Abs. 4 BGB bei Verträgen auf dem Gebiet des Erb-, Familien- und Gesellschaftsrechts, auf Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen.
Die AGB finden sich im umgangssprachlich so genannten "Kleingedruckten" und werden deshalb nicht selten nur flüchtig oder gar nicht gelesen zumal sie oft schwer zu verstehen sind (Palandt Rn. 6 vor § 305 BGB). Die allgemeinen Geschäftsbedingungen werden aber bei Vertragsabschluss zum Bestandteil des Vertrages. § 305 Abs. 1 und 2 BGB lauten:
"(1) Allgemeine Geschäftsbedingungen sind alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt. Gleichgültig ist, ob die Bestimmungen einen äußerlich gesonderten Bestandteil des Vertrags bilden oder in die Vertragsurkunde selbst aufgenommen werden, welchen Umfang sie haben, in welcher Schriftart sie verfasst sind und welche Form der Vertrag hat. Allgemeine Geschäftsbedingungen liegen nicht vor, soweit die Vertragsbedingungen zwischen den Vertragsparteien im Einzelnen ausgehandelt sind.
(2) Allgemeine Geschäftsbedingungen werden nur dann Bestandteil eines Vertrags, wenn der Verwender bei Vertragsschluss
- die andere Vertragspartei ausdrücklich oder, wenn ein ausdrücklicher Hinweis wegen der Art des Vertragsschlusses nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten möglich ist, durch deutlich sichtbaren Aushang am Ort des Vertragsschlusses auf sie hinweist und
- der anderen Vertragspartei die Möglichkeit verschafft, in zumutbarer Weise, die auch eine für den Verwender erkennbare körperliche Behinderung der anderen Vertragspartei angemessen berücksichtigt, von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen, und wenn die andere Vertragspartei mit ihrer Geltung einverstanden ist."
Für einen blinden oder sehbehinderten Vertragspartner gelten zwar bei der Verwendung von allgemeinen Geschäftsbedingungen, abgesehen von der Schutzvorschrift des § 305 Abs. 2 Nr. 2, keine Besonderheiten. Sie werden Vertragsbestandteil auch dann, wenn er sie inhaltlich nicht zur Kenntnis genommen hat. Der Verwender von allgemeinen Geschäftsbedingungen muss aber, wenn er davon Kenntnis hat, die Blindheit oder starke Sehbehinderung insoweit berücksichtigen, als er die Möglichkeit verschaffen muss, in zumutbarer Weise vom Inhalt der Geschäftsbedingungen Kenntnis zu nehmen. Ausliegende oder aushängende allgemeine Geschäftsbedingungen müssen in geeigneter Weise zugänglich gemacht werden, etwa durch Übergabe in elektronischer oder akustischer Form oder in Brailleschrift (Palandt Rn. 40 zu § 305 BGB).
In § 305 a sind allerdings Bereiche genannt, in welchen allgemeine Geschäftsbedingungen auch dann zu Bestandteilen eines Vertrages werden, wenn die Einschränkungen in § 305 Abs. 2 BGB nicht beachtet werden, d.h. dass sie auch für einen blinden oder sehbehinderten Vertragspartner bindend werden, ohne dass ihm die Möglichkeit der Kenntnisnahme verschafft wurde. Dazu gehören nach § 305 a Nr. 1 BGB "die mit Genehmigung der zuständigen Verkehrsbehörde oder auf Grund von internationalen Übereinkommen erlassenen Tarife und Ausführungsbestimmungen der Eisenbahnen und die nach Maßgabe des Personenbeförderungsgesetzes genehmigten Beförderungsbedingungen der Straßenbahnen, Obusse und Kraftfahrzeuge im Linienverkehr". Die Einbeziehung von AGB in die Verträge mit den Nutzern ist nach § 305 a Nr. 2 BGB auch für die Bedingungen für Telekommunikation und Post erleichtert.
Die Rechtsfolgen, welche eintreten, wenn AGB oder auch einzelne Klauseln der AGB nicht Bestandteil eines Vertrages geworden sind, weil sie nach den §§ 307 bis 309 BGB (Regelungen über die Inhaltskontrolle auf Zulässigkeit der Regelungen in AGB) oder weil es an der wirksamen Einigung über die Einbeziehung der AGB fehlt, ergeben sich aus § 306 BGB. Letzterer Fall liegt auch vor, wenn einem blinden oder sehbehinderten Vertragspartner trotz Kenntnis dieser Behinderung die allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht in zugänglicher Form zur Verfügung gestellt worden sind (Palandt Rn. 2 zu § 306 BGB). Der Vertrag bleibt nach § 306 Abs. 1 BGB ohne die AGB bzw. einzelner unzulässiger Klauseln wirksam. Das ist eine Abweichung von der Regelung in § 139 BGB, wonach bei Nichtigkeit eines Teils eines Vertrages im Zweifel der gesamte Vertrag nichtig ist. Der Inhalt des Vertrages richtet sich gem. § 306 Abs. 2 BGB nach den gesetzlichen Vorschriften. Der Vertrag ist nach § 306 Abs. 3 BGB jedoch unwirksam, "wenn das Festhalten an ihm auch unter Berücksichtigung der nach Absatz 2 vorgesehenen Änderung eine unzumutbare Härte für eine Vertragspartei darstellen würde."
2.3.3 Auswirkung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf den Zivilrechtsverkehr
Auch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 setzt der im Zivilrecht geltenden Privatautonomie Schranken.
Mit diesem in der Entstehung stark umstrittenen Gesetz werden vier Richtlinien der EU umgesetzt (Palandt Einleitung zum AGG Rn 1), nämlich:
- Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. EG Nr. L 180 S. 22) - so genannte Antirassismus-Richtlinie;
- Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG Nr. L 303 S. 16) - so genannte Rahmenrichtlinie Beschäftigung;
- Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. EG Nr. L 269 S. 15) - so genannte Gender-Richtlinie und
- Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. Nr. L 373 vom 21/12/2004 S. 37-43).
2.3.3.1 Ziel und Begriffe des AGG
Ziel des AGG ist es nach § 1:
"Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen."
Das AGG enthält also ein Diskriminierungsverbot. Verfassungsrechtlich leitet sich das Diskriminierungsverbot aus dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG) ab. Art. 3 Abs. 3 GG enthält einen weitgehend mit dem AGG übereinstimmenden Verbotskatalog, verbietet in direkter Anwendung aber nur Diskriminierungen durch die öffentliche Hand (Palandt Einleitung zum AGG Rn. 7).
Gegenstand der folgenden Ausführungen ist das Verbot einer Benachteiligung infolge einer Behinderung. Das AGG enthält keine Definition der "Behinderung". Der Begriff ist "autonom auszulegen und nicht medizinisch, sondern medizinisch-sozial zu verstehen" (Palandt Rn. 6 zu § 1 AGG). Entgegen der amtlichen Begründung (BT-Drucksache 16/1780 S. 31) kann nicht einfach die auf dem medizinischen Modell von Behinderung beruhende Definition in § 2 Abs. 1 SGB IX übernommen werden (Palandt Rn. 6 zu § 1 AGG). Es muss eine physische, geistige oder psychische Beeinträchtigung vorliegen, die ein Hindernis für die Teilhabe am Berufsleben bildet oder die Teilhabe am Zivilrechtsverkehr erschwert. Die Beeinträchtigung muss, wie auch nach § 2 SGB IX, von Dauer sein. Blinde und sehbehinderte Menschen sind nicht nur im Sinn von § 2 Abs. 1 SGB IX, sondern auch im Sinn von § 1 AGG behindert.
Das AGG gewährt Schutz vor Benachteiligungen sowohl im Bereich Arbeitsmarkt/Arbeitsleben (§ 2 Abs. 1 Nrn. 1 bis 7 AGG) als auch in einzelnen Bereichen des Zivilrechts (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG). In diesem Kapitel werden die Auswirkungen des AGG auf das Zivilrecht behandelt. Sie sind in den §§ 19 bis 21 AGG geregelt. Zur Auswirkung des AGG auf das Arbeitsleben vgl. Heft 5 dieser Schriftenreihe "Teilhabe am Arbeitsleben" Abschnitt 5.2.3.
Nach der Kernnorm für den Zivilrechtsverkehr in § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG sind Benachteiligungen aus einem in § 1 AGG genannten Grund nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf: "den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum."
Güter sind neben Waren aller Art auch Grundstücke, sowie Strom, Gas, Wasser und Fernwärme. Zu den Dienstleistungen zählen in umfassender Weise nicht nur Leistungen aus Dienst- und Werkverträgen, sondern auch Leistungen aus Maklerverträgen, Finanzdienstleistungsverträgen, wie z.B. Kredit-, Versicherungs- und Leasingverträgen (Palandt Rn. 9 zu § 2 AGG). Die Diskriminierungsverbote gelten nur für den Leistungsanbieter, nicht für den Nachfrager. Der Käufer oder Besteller (Nachfrager) kann ohne Bindung an die Verbote des AGG Verträge abschließen, mit wem er will (Palandt Rn. 9 zu § 2 AGG).
Die in § 2 Abs. 1 Nr. 8 genannten Güter und Dienstleistungen müssen der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Sie müssen also öffentlich angeboten werden. Dazu muss es sich nicht schon um ein rechtlich bindendes Angebot im Sinn von § 145 BGB handeln. Es reicht auch die öffentliche Aufforderung zur Abgabe eines Vertragsangebots durch den Nachfrager. Warenhäuser, Läden aller Art, Diskotheken, Restaurants, Hotels, Museen, Theater, Kreditinstitute, öffentliche Verkehrsmittel, Taxen usw. fallen mit ihren Angeboten unter § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG (Palandt Rn. 9 zu § 2 AGG).
Was unter einer Benachteiligung (Diskriminierung) zu verstehen ist, wird in § 3 AGG mit der Überschrift "Begriffsbestimmungen" definiert. Zu unterscheiden sind dabei u.a. die unmittelbare Benachteiligung (§ 3 Abs. 1 AGG) und die mittelbare Benachteiligung (§ 3 Abs. 2 AGG).
Die unmittelbare Benachteiligung (§ 3 Abs. 1 AGG) setzt nach objektiver Beurteilung eine weniger günstige Behandlung des Betroffenen wegen eines oder mehrerer der in § 2 AGG genannten Merkmale im Vergleich zu anderen Personen voraus. Die Benachteiligung kann in der Ablehnung eines Vertragsabschlusses, im Abschluss zu ungünstigeren Bedingungen oder in einer Schlechterstellung bei der Durchführung des Vertrages bestehen (Palandt Rn. 2 zu § 3 AGG).
Eine mittelbare Benachteiligung (§ 3 Abs. 2 AGG) ist gegeben, wenn Vorschriften, Kriterien oder Verfahren angewandt werden, die neutral erscheinen, bei denen aber nach § 1 AGG geschützte Personen im Vergleich zu anderen in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. In die Prüfung dieser Voraussetzungen sind die Rechtfertigungsgründe des § 20 AGG einzubeziehen. Wenn eine Rechtfertigung nach § 20 AGG vorliegt, entfällt bereits der Tatbestand der Diskriminierung (Palandt Rn. 3 zu § 3 AGG).
Eine mittelbare Benachteiligung ergibt sich z.B., wenn ein Vermieter von Wohnraum zur Auswahl der in Frage kommenden Mieter Gruppen bildet, indem er zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen unterscheidet und die Gruppe der Arbeitslosen dadurch benachteiligt, dass er an Mietbewerber, die dieser Gruppe angehören, nur zu ungünstigeren Bedingungen vermietet.
Wenn ein privater Anbieter von Lehrgängen das verwendete Lehrmaterial nicht in einer für blinde Nachfrager zugänglichen Form zur Verfügung stellt und deshalb die Teilnahme für diese erschwert oder unmöglich ist, ist darin keine Benachteiligung im Sinn von § 3 Abs. 1 oder 2 AGG zu sehen; denn das AGG enthält für das Zivilrecht keine Verpflichtung zur Barrierefreiheit von Angeboten (Palandt Rn. 2 zu § 3 AGG). Verpflichtungen, wie sie sich für die öffentliche Hand aus dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG) §§ 9 ff. und den entsprechenden Landesgleichstellungsgesetzen ergeben, fehlen im AGG. Eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit ergibt sich für private Anbieter auch nicht aus der UN-Behindertenrechtskonvention. In ihr gehört die Barrierefreiheit zwar zu den tragenden Prinzipien (Art. 3, 9, 21 und 24). Verpflichtet zur Umsetzung sind aber die Vertragsstaaten (Art. 4 UN-BRK). Selbstverständlich ist es zu empfehlen, durch eine individuelle Vereinbarung mit dem Anbieter des Lehrganges zu erreichen, dass Lehrmaterial in geeigneter Weise zur Verfügung gestellt wird oder dass er dieses rechtzeitig zur Umsetzung in einem Textservicezentrum für blinde und sehbehinderte Menschen zur Verfügung stellt.
Das Benachteiligungsverbot richtet sich nicht nur an Leistungsanbieter, sondern auch an das von diesen eingesetzte Personal oder Dritte. Etwaige Ansprüche richten sich aber nur gegen den Leistungsanbieter selbst (Palandt Rn. 1 und 8 zu § 3 AGG).
Die Benachteiligungsverbote sind gesetzliche Verbote im Sinn von §§ 134, 139 BGB. Die diskriminierenden Bestimmungen in Verträgen und einseitigen Rechtsgeschäften sind deshalb nichtig. Im Übrigen bleiben die Rechtsgeschäfte aber gültig. Das ergibt sich daraus, dass hier gegen ein Gesetz verstoßen wird, das eine Vertragspartei vor Benachteiligungen schützen soll (Palandt Rn. 9 zu § 3 AGG und 18 zu § 139 BGB).
2.3.3.2 Ausgestaltung des Benachteiligungsverbotes im Zivilrecht (§§ 19 bis 21 AGG)
§ 19 AGG enthält die Tatbestände der unzulässigen Benachteiligungen und konkretisiert den Anwendungsbereich für das Zivilrecht. § 20 AGG regelt Sachverhalte, die eine unterschiedliche Behandlung zulassen und § 21 AGG bestimmt, welche Ansprüche sich aus einer unzulässigen Benachteiligung ergeben.
Zum geschützten Personenkreis können neben dem Partner des Rechtsgeschäfts Berechtigte in entsprechender Anwendung von § 328 BGB, der Verträge zu Gunsten Dritter behandelt, unter Umständen auch Dritte sein (Palandt Rn. 16 ff. zu § 328 BGB); denn die Pflicht, Diskriminierungen zu unterlassen, ist vertragliche Nebenpflicht. Dies kann insbesondere bei der Durchführung von Mietverträgen oder sonstigen Dauerschuldverhältnissen relevant werden, z.B. bei der Aufnahme einer Person in eine Mietwohnung (Palandt Rn. 4 Einleitung zu § 19 AGG).
2.3.3.2.1 Unzulässige Benachteiligung (§ 19 AGG)
§ 19 Abs. 1 AGG lautet:
Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die
- typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen oder
- eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben,
ist unzulässig.
Nach der Art der Rechtsgeschäfte ist zu unterscheiden zwischen Massengeschäften (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG erster Fall), den Massengeschäften gleichgestellten Geschäften (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG zweiter Fall) und privatrechtlichen Versicherungen (§ 19 Abs. 1 Nr. 2 AGG).
- Massengeschäfte. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG erster Fall enthält eine Legaldefinition dafür, was unter Massengeschäften zu verstehen ist. Massengeschäfte sind danach solche, die "typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen". Verträge ohne Ansehung der Person kommen typischerweise im Bereich der Konsumgüterwirtschaft und bei standardisierten Dienstleistungen zustande, wie z.B. im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Transportgewerbe, bei Freizeiteinrichtungen, aber auch bei Fernabsatzverträgen im Sinn von § 312 b BGB, d.h. von Verträgen über die Lieferung von Waren oder über die Erbringung von Dienstleistungen, die zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln, wie z.B. Briefe, Telefon, E-Mail abgeschlossen werden. Das Rechtsgeschäft darf sich nicht nur auf einen Gegenstand beziehen. Das ergibt sich aus dem Merkmal "Vielzahl von Fällen". Vgl. dazu Palandt Rn. 2 zu § 19 AGG. Zu den Massengeschäften gehören auf jeden Fall der Erwerb oder die Nutzung aller massenhaft hergestellten Produkte und die Inanspruchnahme aller massenhaft angebotenen Leistungen. Es geht also um die Brötchen beim Bäcker, um das Auto vom Händler, um das Buchen von Reisen und um vieles mehr.
- Den Massengeschäften gleichgestellte Geschäfte. Nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG zweiter Fall sind den Massengeschäften Rechtsgeschäfte gleichgestellt, bei denen die Ansehung der Person zwar eine Rolle spielt, aber eine nachrangige Bedeutung hat. Die Rechtsgeschäfte müssen zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen. Zu diesen Merkmalen gilt dasselbe wie zu den Massengeschäften. Hierunter fallen z.B. Ebay-Verkäufe, Verträge über Girokonten, Überweisungsverträge und Kleinkreditverträge (Palandt Rn. 3 zu § 19 AGG). Die Vermietung von Wohnraum zu nicht nur vorübergehendem Zweck ist gem. § 19 Abs. 5 Satz 3 AGG nur dann ein Rechtsgeschäft im Sinn von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG, wenn der Vermieter über mehr als 50 Wohnungen verfügt.
- Privatrechtliche Versicherungen. Unter § 19 Abs. 1 Nr. 2 AGG fallen alle privatrechtlichen Versicherungsverträge, wie z.B. Schadens-, Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen. Eine Differenzierung der Versicherungstarife lässt allerdings § 20 Abs. 2 AGG zu. Vgl. dazu 2.3.3.3.
§ 19 Abs. 3 bis 5 AGG enthalten Einschränkungen hinsichtlich des Anwendungsbereiches nach den Abs. 1 und 2.
Einschränkungen für das Mietrecht enthalten § 19 Abs. 3 und 5 AGG.
Nach § 19 Abs. 3 AGG ist bei der Vermietung von Wohnraum eine unterschiedliche Behandlung im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse zulässig. § 19 Abs. 3 AGG knüpft damit an § 6 Satz 2 Nr. 3 und 4 Wohnbauförderungsgesetz (WoFG) an. Die Vorschrift gilt nur für Großvermieter, also für Vermieter, die über mehr als 50 Wohnungen verfügen (Palandt Rn. 6 zu § 19 AGG). Nach § 19 Abs. 5 Satz 3 AGG ist die Vermietung von Wohnraum zum nicht nur vorübergehenden Gebrauch in der Regel kein Geschäft im Sinne des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG, wenn der Vermieter insgesamt nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet.
Nach § 19 Abs. 4 AGG finden die Vorschriften dieses Abschnitts (§§ 19 bis 21 AGG) keine Anwendung auf familien- und erbrechtliche Schuldverhältnisse.
Nach § 19 Abs. 5 Satz 1 AGG finden die Vorschriften dieses Abschnitts (§§ 19 bis 21 AGG) keine Anwendung auf zivilrechtliche Schuldverhältnisse, bei denen ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis der Parteien oder ihrer Angehörigen begründet wird. Bei Mietverhältnissen kann dies insbesondere der Fall sein, wenn die Parteien oder ihre Angehörigen Wohnraum auf demselben Grundstück nutzen (§ 19 Abs. 5 Satz 2 AGG).
Der Begriff der unzulässigen Benachteiligung ergibt sich aus § 3 Abs. 1 und 2 AGG. Vgl. dazu die Ausführungen unter 2.3.3.1. Eine unzulässige Benachteiligung liegt auch dann nicht vor, wenn die Handlung weder unmittelbar noch mittelbar an die in § 19 Abs. 1 AGG genannten Merkmale (darunter auch die Behinderung) anknüpft. So kann beispielsweise ein Taxifahrer, obwohl es sich bei seinem Angebot, Personen zu transportieren, um ein Massengeschäft im Sinn von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG handelt, einen Fahrgast mit extrem verschmutzter Kleidung zurückweisen oder ein Gastwirt einen betrunkenen oder randalierenden Gast aus der Gaststube verweisen (Palandt Rn. 9 zu § 19 AGG). In der Regel kann dagegen ein Taxifahrer einen blinden Menschen mit Führhund nicht zurückweisen oder auf ein für die Mitnahme von Hunden geeignetes Taxi verweisen. Anders ist es nur, wenn ihm z.B. wegen einer Allergie gegen Hundehaare die Mitnahme nicht zuzumuten ist. Ein Gastwirt kann einen behinderten Menschen nicht den Zutritt zu seinem Lokal verbieten, ihn nicht oder unzureichend bedienen lassen oder zum Verlassen des Lokals auffordern, weil sich andere Gäste durch den Anblick behinderter Menschen gestört fühlen. Solche Fälle hat es vor Inkrafttreten des AGG tatsächlich gegeben. Sie wurden damals von den Gerichten unterschiedlich bewertet. Geschichte gemacht hat vor allem ein empörendes Urteil des AG Flensburg vom 1.10.1992 ("Flensburger Behindertenurteil"). Auf Grund des AGG sind solche Entscheidungen heute nicht mehr möglich.
2.3.3.2.2 Einschränkungen des Benachteiligungsverbotes (§ 20 AGG)
Wenn objektiv eine Benachteiligung vorliegt, also ein Tatbestand im Sinn von § 19 Abs. 1 AGG erfüllt ist, kann diese im Einzelfall durch einen Rechtfertigungsgrund des § 20 AGG gerechtfertigt und damit erlaubt und sanktionslos sein. Eine unterschiedliche Behandlung ist in diesen Fällen zulässig.
Nach § 20 Abs. 1 AGG ist eine Verletzung des Benachteiligungsverbots nicht gegeben, "wenn für eine unterschiedliche Behandlung wegen (...) einer Behinderung, (...) ein sachlicher Grund vorliegt. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die unterschiedliche Behandlung
- der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient,
- dem Bedürfnis nach Schutz der Intimsphäre oder der persönlichen Sicherheit Rechnung trägt,
- besondere Vorteile gewährt und ein Interesse an der Durchsetzung der Gleichbehandlung fehlt,
- (...)"
Für die Ungleichbehandlung muss ein sachlicher Grund vorliegen. Die in § 20 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 genannten Beispiele für einen sachlichen Grund sind nicht abschließend. Was ein sachlicher Grund ist, ist im Einzelfall nach den Grundsätzen von Treu und Glauben festzustellen (Palandt Rn. 2 zu § 20 AGG).
§ 20 Abs. 1 Nr. 1 AGG rechtfertigt eine Ungleichbehandlung zur Vermeidung von Gefahren, zur Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art. Die benachteiligende Handlung muss zur Vermeidung von Gefahren usw. geeignet und erforderlich sein. Dem Leistungsanbieter steht ein gewisser Spielraum zu, weil die vorbeugende Gefahrvermeidung auf einer Prognose beruht, die mit Unsicherheiten behaftet ist. Für die Abwicklung von Massengeschäften kann zudem wegen der Beachtung der Verkehrssicherungspflicht eine bestimmte Standardisierung erforderlich sein. Auf diese Erwägungen stützen sich z.B. die Betreiber von Freizeitparks, wenn sie den Zutritt zu bestimmten Fahrgeschäften körperlich behinderten Menschen nicht oder nur mit einer Begleitperson gestatten oder erst ab einem bestimmten Alter erlauben (Palandt Rn. 3 zu § 20 AGG). Eine zu enge Auffassung ist aber abzulehnen. Berücksichtigt sollte werden, dass behinderte Menschen in aller Regel selbst am besten zu beurteilen vermögen, was sie sich zutrauen können. Es sollte reichen, wenn die Benutzung auf eigene Gefahr erfolgt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch, wenn blinden oder sehbehinderten Personen pauschal ohne Begleitperson der Zutritt zu Schwimmbädern verwehrt wird. Sachliche Gründe dafür bestehen nicht. Blinde Personen können selbst einschätzen, was sie sich zutrauen können. Vor allem ein blinder Mensch, der ein Mobilitätstraining absolviert hat und sich mit den Gegebenheiten und bei Freibädern mit dem Gelände vertraut gemacht hat, kann selbst am Besten einschätzen, ob er auch alleine zurecht kommen wird.
Nach § 20 Abs. 2 Satz 3 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung u.a. wegen einer Behinderung im Falle des § 19 Abs. 1 Nr. 2 AGG (das sind Verträge, die privatrechtliche Versicherungen zum Gegenstand haben) nur zulässig, wenn diese auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruht, insbesondere auf einer versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung statistischer Erhebungen. Das entsprechende Datenmaterial und die Berechnung müssen offen gelegt werden. Das bedeutet: Ausschlüsse von privaten Versicherungsverträgen oder Sonderregelungen (Risikozuschläge) wegen der Behinderung sind nur noch dann zulässig, wenn sie auf einer ordnungsgemäßen Kalkulation beruhen. Außerdem ist zu beachten: Von der Regelung nicht betroffen ist der weiterhin zulässige Ausschluss von Vorerkrankungen aus dem Versicherungsschutz.
Der Schutz vor Diskriminierung greift allerdings erst für Versicherungsverträge, die nach dem 22.12.2007 abgeschlossen worden sind. Für Verträge, die vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen worden sind, ist das AGG nur anwendbar, wenn nach dem 22.12.2007 Änderungen eintreten, z.B. die Versicherungsbedingungen geändert werden. Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 33 Abs. 4 AGG.
Da die Sachverhalte des § 20 AGG Rechtfertigungsgründe sind, muss der Leistungsanbieter die Voraussetzungen darlegen und beweisen.
Zu beachten ist außerdem § 5 AGG. Danach ist ungeachtet der in § 20 AGG benannten Gründe "eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen."
Eine Pflicht zu positiven Maßnahmen im Sinn von § 5 AGG besteht jedoch nicht (Palandt Rn. 1 zu § 5 AGG). Aus § 5 AGG können also keine Ansprüche auf solche ausgleichende Maßnahmen hergeleitet werden. Nach § 5 AGG zum Ausgleich von Benachteiligungen zulässige Maßnahmen sind z.B. im Bildungsbereich spezielle Sportangebote für behinderte Menschen zum Ausgleich für Sportangebote, die für sie ungeeignet und deshalb nicht zugänglich sind (Palandt Rn. 3 zu § 5 AGG).
2.3.3.2.3 Ansprüche bei unzulässiger Benachteiligung (§ 21 AGG)
Die Rechtsfolgen im Zivilrecht ergeben sich aus § 21 AGG. Es sind dies der Anspruch auf Beseitigung der Benachteiligung bzw. deren Unterlassung (§ 21 Abs. 1 AGG) sowie ein Anspruch auf Schadensersatz auch des immateriellen Schadens (§ 21 Abs. 2 AGG). Für das Arbeitsrecht sind die Rechtsfolgen einer Verletzung des Benachteiligungsverbotes nach dem AGG in § 15 AGG geregelt. § 21 AGG lautet:
"(1) Der Benachteiligte kann bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot unbeschadet weiterer Ansprüche die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann er auf Unterlassung klagen.
(2) Bei einer Verletzung des Benachteiligungsverbots ist der Benachteiligende verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies gilt nicht, wenn der Benachteiligende die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der Benachteiligte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen.
(3) Ansprüche aus unerlaubter Handlung bleiben unberührt.
(4) Auf eine Vereinbarung, die von dem Benachteiligungsverbot abweicht, kann sich der Benachteiligende nicht berufen.
(5) Ein Anspruch nach den Absätzen 1 und 2 muss innerhalb einer Frist von zwei Monaten geltend gemacht werden. Nach Ablauf der Frist kann der Anspruch nur geltend gemacht werden, wenn der Benachteiligte ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war."
Die Rechtsfolgen aus § 21 AGG treten nicht nur ein, wenn der Leistungsanbieter persönlich das Benachteiligungsverbot verletzt hat. Er hat auch für die Verletzung durch Dritte gem. §§ 31, 278, und 831 BGB einzustehen (Palandt Rn. 1 zu § 21 AGG).
Der Beseitigungsanspruch aus § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG richtet sich auf die Abstellung der Benachteiligung für die Zukunft. Es genügt ein objektiver Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Ein Verschulden des Verletzers, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit (§ 276 BGB), ist nicht Voraussetzung. Wenn nur einzelne Bedingungen eines Vertrages gegen das Verletzungsverbot verstoßen, erfolgt die Beseitigung der Diskriminierung dadurch, dass sie durch Bedingungen ersetzt werden, zu denen der Anbieter mit anderen Kunden abschließt. Der Verletzer ist verpflichtet, an einer entsprechenden Vertragsänderung mitzuwirken (Palandt Rn. 3 zu § 21 AGG).
Nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AGG kann der Verletzte neben dem Beseitigungsanspruch nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG auch deren Unterlassung verlangen, wenn bereits ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot erfolgt ist und dessen Wiederholung droht. Die Wiederholung muss konkret drohen (Palandt Rn. 4 zu § 21 AGG).
Beim Schadensersatzanspruch aus § 21 Abs. 2 AGG ist zwischen dem Vermögensschaden (Satz 1) und dem immateriellen Schaden (Satz 3) zu unterscheiden. § 21 Abs. 2 Satz 1 AGG entspricht § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB. Für die Entstehung eines Schadens und den Ursachenzusammenhang, dass der Schaden durch eine Verletzung des Benachteiligungsverbots nach den §§ 19 und 20 AGG entstanden ist, trägt der Verletzte die Beweislast, wobei die Beweislasterleichterungen nach § 22 AGG zu beachten sind. Dafür, dass die Verletzung nicht verschuldet ist (§ 21 Abs. 2 Satz 2 AGG) trägt der Verletzer die Beweislast. Bei einer unmittelbaren Benachteiligung gem. § 3 Abs. 1 AGG ist der Entlastungsbeweis in der Regel kaum zu führen. Bei einer mittelbaren Benachteiligung im Sinn von § 3 Abs. 2 AGG kommt eine Entlastung in Betracht, wenn für den Verletzer auch bei der gebotenen Sorgfalt nicht erkennbar war, dass die scheinbar neutrale Maßnahme im Ergebnis zu einer nicht gerechtfertigten Benachteiligung geführt hat (Palandt Rn. 5 zu § 21 AGG).
Für die angemessene Entschädigung in Geld wegen eines immateriellen Schadens infolge einer unzulässigen Benachteiligung gem. §§ 19, 20 AGG ist § 21 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit § 21 Abs. 2 Satz 1 AGG Anspruchsgrundlage. Die Entschädigung wegen des immateriellen Schadens wird unter dem Gesichtspunkt der Genugtuung für die erlittene Benachteiligung gewährt (BT-Drucks. 16/1780 S. 46). Ein immaterieller Schaden setzt voraus, dass die durch die Diskriminierung erfolgte Herabsetzung oder Zurücksetzung eine gewisse Intensität erreicht haben muss. Ob eine solche schwerwiegende Verletzung vorliegt, hängt von Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, Anlasses und Beweggrundes des Verletzers, der Verbreitung gegenüber Dritten sowie dem Grad seines Verschuldens ab. Wiederholte und hartnäckige Verletzung kann schwerwiegend sein, auch wenn die einzelne Handlung für sich genommen dies nicht ist. Die Geldentschädigung ist angemessen, wenn sie dem Verletzten Genugtuung für die Benachteiligung oder Zurücksetzung verschaffen kann. Vgl. zum immateriellen Schaden und zur Bemessung der Entschädigung Palandt Rn. 6 zu § 21 AGG.
Die Ausschlussfrist von zwei Monaten gem. § 21 Abs. 5 AGG für die Geltendmachung von Ansprüchen nach § 21 Abs. 1 und 2 AGG soll dem Verletzer die alsbaldige Prüfung der Berechtigung ermöglichen. Die Geltendmachung muss gegenüber dem Verletzer erfolgen. Eine Klagefrist besteht dagegen nicht (Palandt Rn. 8 zu § 21 AGG). Für den Fristbeginn ist der Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs maßgebend. Das ist für Unterlassungsansprüche der Zeitpunkt des Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot, für Beseitigungsansprüche die Entstehung der Beeinträchtigung und für Schadensersatzansprüche die Entstehung des Schadens. Der Tag der Entstehung des Anspruchs zählt bei der Fristberechnung nicht mit (§ 187 Abs. 1 BGB). Das Ende der Frist ergibt sich aus § 188 Abs. 2, 1. Alternative BGB (Palandt Rn. 8 zu § 21 AGG). Die Geltendmachung ist eine formlose Erklärung. Die Erklärung muss die tatsächlichen Umstände des Benachteiligungsverbotes benennen und ausdrücken, dass ihretwegen Ansprüche geltend gemacht werden. Dies muss so konkret erfolgen, dass der Verletzer sie überprüfen kann. Die genaue Bezeichnung und Bezifferung der Ansprüche ist jedoch nicht erforderlich (Palandt Rn. 8 zu § 21 AGG). Wegen der an die Geltendmachung gestellten Ansprüche ist es zweckmäßig, sie in schriftlicher Form zu erheben.
Wenn die Frist zur Geltendmachung nach § 21 Abs. 5 AGG versäumt wird, sind die Ansprüche aus § 21 Abs. 1 und 2 AGG ausgeschlossen. Das ist auch von Amts wegen zu beachten. Es handelt sich um eine materiellrechtlich wirkende Einwendung. Nach Ablauf der Frist kann der Anspruch gem. § 21 Abs. 5 Satz 2 AGG nur noch geltend gemacht werden, wenn der Benachteiligte ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das kann z.B. infolge einer Erkrankung des Anspruchsberechtigten oder infolge eines Umzugs des Verletzers und die dadurch verursachte Unkenntnis seiner Anschrift der Fall sein. Aber auch in diesem Fall geht der Anspruch verloren, wenn er nicht unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, nach Beseitigung des Hindernisses geltend gemacht wird (Palandt Rn. 8 zu § 21 AGG).
2.3.3.2.4 Konkurrenz der Ansprüche nach dem AGG zu Ansprüchen nach anderen Gesetzen
Nach § 21 Abs. 3 AGG bleiben Ansprüche aus unerlaubter Handlung unberührt. Damit wird klargestellt, dass Ansprüche aus unerlaubter Handlung neben den Ansprüchen aus § 21 AGG bestehen bleiben, wenn ihre Voraussetzungen vorliegen. Diskriminierungen können auch den Tatbestand der §§ 823 Abs. 1 BGB (Schadensersatzpflicht wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit, des Eigentums oder eines sonstigen Rechts), des § 823 Abs. 2 BGB (Verletzung eines Schutzgesetzes) oder § 826 BGB (sittenwidrige vorsätzliche Schädigung) erfüllen.
Ist z.B. mit der Diskriminierung eine Beleidigung verbunden, kann der Verletzer nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 185 StGB als verletztes Schutzrecht zum Schadensersatz verpflichtet sein. Eine Beleidigung im weiteren Sinne ist jede Verletzung der persönlichen Ehre eines anderen. Die Beleidigung ist die Kundgabe der Miss- oder Nichtachtung einer anderen Person. Würde z.B. einem behinderten Menschen in einem Vergnügungspark der Zutritt zu einem Fahrgeschäft mit den Worten verwehrt: "Krüppel haben hier nichts zu suchen", so wäre darin nicht nur eine Diskriminierung im Sinn des AGG, sondern auch eine Beleidigung nach § 185 Strafgesetzbuch (StGB) zu sehen. Die Beweislastumkehr des § 21 Abs. 2 Satz 2 AGG gilt für diese Ansprüche aus unerlaubter Handlung nicht, d.h., wer einen solchen Anspruch geltend macht, muss für diesen das Verschulden des Verletzers beweisen. Die Beweiserleichterung gem. § 22 AGG gilt für diese Ansprüche ebenfalls nicht. Der Anspruchsausschluss gem. § 21 Abs. 5 AGG, wonach Ansprüche aus dem AGG innerhalb von zwei Monaten geltend gemacht werden müssen, greift nicht ein, so dass Ansprüche aus unerlaubter Handlung auch noch geltend gemacht werden können, wenn diese Frist versäumt worden ist (Palandt Rn. 10 zu § 21 AGG).
Aber nicht nur die Ansprüche aus unerlaubter Handlung können gem. § 21 Abs. 3 AGG neben den Ansprüchen nach dem AGG bestehen. Das ergibt sich aus dem Wortlaut von § 21 Abs. 1 AGG, wonach die Ansprüche nach dem AGG "unbeschadet weiterer Ansprüche" bestehen.
Bei einer Diskriminierung bei Vertragsanbahnung (culpa in contrahendo) oder der Vertragsabwicklung kommt daher auf Grund der Verletzung des § 241 Abs. 2 BGB auch ein Anspruch aus § 311 Abs. 2 BGB bzw. § 280 BGB in Verbindung mit § 282 BGB in Betracht, weil die Pflicht, Diskriminierungen zu unterlassen, eine vertragliche Nebenpflicht ist (Palandt Rn. 10 zu § 21 AGG).
§ 241 Abs. 2 BGB lautet:
"(2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten."
§ 311 Abs. 2 BGB bestimmt dazu:
"(2) Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 entsteht auch durch
- die Aufnahme von Vertragsverhandlungen,
- die Anbahnung eines Vertrags, bei welcher der eine Teil im Hinblick auf eine etwaige rechtsgeschäftliche Beziehung dem anderen Teil die Möglichkeit zur Einwirkung auf seine Rechte, Rechtsgüter und Interessen gewährt oder ihm diese anvertraut, oder
- ähnliche geschäftliche Kontakte."
§ 282 BGB bestimmt:
"Verletzt der Schuldner eine Pflicht nach § 241 Abs. 2, kann der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangen, wenn ihm die Leistung durch den Schuldner nicht mehr zuzumuten ist."
§ 280 Abs. 1 BGB lautet:
"(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat."
2.3.3.3 Rechtsschutz
Der vierte Abschnitt des AGG enthält Regelungen zur Beweislast (§ 22 AGG) und über die Unterstützungsmöglichkeiten durch Antidiskriminierungsverbände (§ 23 AGG).
2.3.3.3.1 Beweislastregel (§ 22 AGG)
Für den Fall, dass es wegen einer Benachteiligung, z.B. wegen der damit verbundenen Schadensersatzforderung zu einem Rechtsstreit kommt, enthält § 22 AGG eine der besonderen Situation entsprechende Beweislastregelung:
Wenn im Streitfall die Partei, die Ansprüche aus einer Benachteiligung nach dem AGG geltend macht, Indizien, also Hilfstatsachen, beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, also z. B. der Behinderung oder des Alters, vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligungen vorgelegen hat. Damit ist die Beweislast zu Gunsten desjenigen, der sich auf die Rechte aus dem AGG beruft, erleichtert. § 22 AGG verteilt die Beweislast nach den Verantwortungsbereichen der Beteiligten (Palandt Rn. 1 zu § 22 AGG).
Der Kläger muss Indizien, soweit diese nicht unstrittig sind, (Indizien - (Vermutungstatsachen) beweisen, die eine Benachteiligung im Sinn des AGG vermuten lassen. Hierfür genügt die sich aus den Indizien ergebende überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass damit eine Benachteiligung vorliegt. § 22 AGG führt somit zu einer Absenkung des Beweismaßes (Palandt Rn. 2 zu § 22 AGG mit weiteren Nachweisen). Bei einer unmittelbaren Benachteiligung im Sinn von § 3 Abs. 1 AGG ist eine Diskriminierung in der Regel ohne weiteres zu vermuten, so dass die Beweiserleichterung des § 22 AGG vor allem bei einer mittelbaren Diskriminierung nach § 3 Abs. 2 AGG relevant ist.
2.3.3.3.2 Unterstützung durch Verbände (§23 AGG) und durch die Antidiskriminierungsstelle (§25 AGG)
Wer im Rechtsstreit Ansprüche aus der Verletzung eines Benachteiligungsverbotes nach dem AGG geltend macht, kann gem. § 23 AGG die Hilfe eines Antidiskriminierungsverbandes in Anspruch nehmen.
Nach § 23 Abs. 1 AGG sind Antidiskriminierungsverbände Personenzusammenschlüsse, die nicht gewerbsmäßig und nicht nur vorübergehend entsprechend ihrer Satzung die besonderen Interessen von benachteiligten Personen oder Personengruppen, welche unter den Schutz des AGG fallen, wahrnehmen und mindestens 75 Mitglieder haben oder einen Zusammenschluss aus mindestens sieben Verbänden bilden. Die Blindenselbsthilfeorganisationen erfüllen in aller Regel diese Voraussetzungen.
Ein Registrierungsverfahren als Antidiskriminierungsverband sieht das AGG nicht vor, das heißt es ist keine formelle Anerkennung als Antidiskriminierungsverband erforderlich. In Einzelfällen können aber die Gerichte überprüfen, ob die Voraussetzungen als Antidiskriminierungsverband erfüllt werden. In der Satzung muss die Wahrnehmung der besonderen Interessen von benachteiligten Personen oder Personengruppen nach Maßgabe von § 1 AGG verankert sein, z.B. durch die Formulierung: "Aufgabe des Vereins ist Schutz vor Diskriminierungen oder Benachteiligungen."
Die Befugnisse der Antidiskriminierungsverbände ergeben sich aus § 23 Abs. 2 und 3 AGG. Diese lauten:
"(2) Antidiskriminierungsverbände sind befugt, im Rahmen ihres Satzungszwecks in gerichtlichen Verfahren als Beistände Benachteiligter in der Verhandlung aufzutreten. Im Übrigen bleiben die Vorschriften der Verfahrensordnungen, insbesondere diejenigen, nach denen Beiständen weiterer Vortrag untersagt werden kann, unberührt.
(3) Antidiskriminierungsverbänden ist im Rahmen ihres Satzungszwecks die Besorgung von Rechtsangelegenheiten Benachteiligter gestattet."
Daraus ergibt sich, dass Antidiskriminierungsverbände von einer Diskriminierung betroffene Personen durch Rechtsberatung (Besorgung von Rechtsangelegenheiten) sowie bei gerichtlichen Verfahren in der Funktion eines Beistandes unterstützen können. Vgl. dazu näher Heft 10 dieser Schriftenreihe, und zwar zur Rechtsberatung durch Selbsthilfeorganisationen Abschnitt 2.1.1 mit Unterpunkten und zur Vertretung bzw. Beistandschaft in gerichtlichen Verfahren Abschnitt 2.1.2 mit Unterpunkten.
Wer der Ansicht ist, dass er diskriminiert worden ist, kann sich auch an die nach § 25 Abs. 1 AGG beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eingerichtete Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden (§ 27 Abs. 1 AGG). Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterstützt gemäß § 27 Abs. 2 AGG Personen, die sich an sie wenden, bei der Durchsetzung ihrer Rechte zum Schutz vor Benachteiligungen. Sie ist bei ihrer Amtsführung unabhängig. Die Antidiskriminierungsstelle kann insbesondere
- über Ansprüche und die Möglichkeiten des rechtlichen Vorgehens im Rahmen gesetzlicher Regelungen zum Schutz vor Benachteiligungen informieren,
- Beratung durch andere Stellen vermitteln,
- eine gütliche Beilegung zwischen den Beteiligten anstreben.
Soweit Beauftragte des Deutschen Bundestages oder der Bundesregierung zuständig sind, leitet die Antidiskriminierungsstelle des Bundes die Anliegen der Personen, welche sich an sie wenden, mit deren Einverständnis unverzüglich an diese weiter. Solche Beauftragte sind z. B. der oder die Beauftragte der Bundesregierung für behinderte Menschen.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes kann gemäß § 28 Abs. 1 AGG zur Erreichung einer gütlichen Beilegung zwischen den Beteiligten (§ 27 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3) Beteiligte um Stellungnahmen ersuchen, soweit die Person, die sich an sie gewandt hat, hierzu ihr Einverständnis erklärt.
2.3.4 Bindungswirkung, Störung der Geschäftsgrundlage
An einen rechtswirksam zustande gekommenen Vertrag sind die Parteien grundsätzlich gebunden.
Der Grundsatz "pacta sunt servanda" (Verträge müssen gehalten werden) gehört zu den unverzichtbaren Grundstrukturen des Vertragsrechts (Palandt Rn. 4a vor § 145 BGB).
Blinde Menschen können sich nicht, wie manche annehmen, von einem Vertrag lösen mit dem Argument, sie hätten den Vertragstext oder das Kleingedruckte in den Vertragsbedingungen nicht lesen können. Es liegt in der eigenen Verantwortung, sich Kenntnis vom Inhalt eines Vertrages zu verschaffen, gegebenenfalls mit Hilfe einer Vorlesekraft.
2.3.4.1 Grundsätzliches
Grenzen der Vertragsfreiheit ergeben sich aus den §§ 134 und 138 BGB. § 134 BGB lautet:
"Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt."
§ 138 BGB lautet:
"(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.
(2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen."
§ 134 BGB ist eine Schranke der Privatautonomie. Gesetzliche Verbote stehen nicht zur Disposition der Parteien (Palandt Rn. 1 zu § 134 BGB). Schranken der Privatautonomie zieht auch § 138 BGB, und zwar dort, wo sie in Widerspruch zu den Grundprinzipien der Rechts- und Sittenordnung tritt (Palandt Rn. 1 zu § 138 BGB). Nach der Rechtsprechung ist ein Rechtsgeschäft sittenwidrig, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (Palandt Rn. 2 zu § 138 BGB mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Der Begriff der guten Sitten wird durch die herrschende Rechts- und Sozialmoral bestimmt. Dabei ist ein durchschnittlicher Maßstab anzulegen (Palandt Rn. 2 zu § 138 BGB). Auf die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts kann sich jeder berufen.
Lösen von einem gültigen Vertrag kann man sich nur durch ein gesetzlich eingeräumtes oder vertraglich vereinbartes Kündigungsrecht, durch einen Aufhebungsvertrag, durch ein gesetzliches Widerrufsrecht oder durch ein vertraglich oder gesetzlich eingeräumtes Rücktrittsrecht.
Gesetzliche Kündigungsrechte bestehen vor allem bei Dauerschuldverhältnissen wie bei einem Mietvertrag.
Die einvernehmliche Aufhebung eines Vertrages kann z.B. aus Toleranzgründen erfolgen. Wie unter 2.2.3 am Ende ausgeführt, besteht beim Motivirrtum kein Anfechtungsrecht. Wenn in dem dort wiedergegebenen Beispielsfall der blinde Erwerber eines Navigationsgerätes dieses gerne wieder zurückgeben möchte, weil er mit der Bedienung nicht zurecht kommt oder weil es ihm nicht den erwarteten Gewinn für seine Mobilität bringt, kann er nur versuchen, im Wege einer freiwilligen Vereinbarung mit dem Verkäufer eine Rücknahme des Gerätes und Rückerstattung des Kaufpreises (aus Toleranzgründen) zu erlangen.
Aus Gründen des Schutzes einer Vertragspartei räumt das Gesetz in bestimmten Situationen ein Widerrufsrecht ein, z.B. bei besonderen Vertriebsformen wie nach § 312 BGB für das Haustürgeschäft.
2.3.4.2 Anpassung oder Beendigung von Verträgen wegen Wegfalls oder Fehlens der Geschäftsgrundlage
Ein Recht auf Anpassung des Vertragsinhalts oder Lösung vom Vertrag ergibt sich aus § 313 BGB mit der amtlichen Überschrift "Störung der Geschäftsgrundlage".
Diese Vorschrift lautet:
"(1) Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
(2) Einer Veränderung der Umstände steht es gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen.
(3) Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann der benachteiligte Teil vom Vertrag zurücktreten. An die Stelle des Rücktrittsrechts tritt für Dauerschuldverhältnisse das Recht zur Kündigung."
Das Vertragsverhältnis kann durch Wegfall oder Fehlen der Geschäftsgrundlage so erheblich gestört sein, dass das Festhalten am Vertrag trotz des Grundsatzes "pacta sunt servanda" (Verträge müssen gehalten werden) unbillig wäre.
Die Störung der Vertragsgrundlage wurde vor Einführung von § 313 ab 1. Januar 2002 als "Wegfall der Geschäftsgrundlage" bezeichnet und über den Grundsatz von "Treu und Glauben" nach § 242 BGB gelöst. Der Grundsatz von Treu und Glauben liegt auch dem Inhalt von § 313 BGB zugrunde. Er schränkt im Rahmen seines Anwendungsbereiches den Grundsatz der Vertragstreue ein. § 313 BGB ist aber im Zweifel eng auszulegen (Palandt Rz. 1 zu § 313 BGB).
Die Geschäftsgrundlage wird nach § 313 Abs. 1 BGB durch die Umstände gebildet, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind. Nach der Rechtsprechung des BGH versteht man unter der Geschäftsgrundlage im Zivilrecht "die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsabschluss aber zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien sowie die der einen Vertragspartei erkennbaren und von ihr nicht beanstandeten Vorstellungen der anderen vom Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut" (so genannte subjektive Geschäftsgrundlage - BGH-Urteil vom 10. September 2009, Az.: VII ZR 152/ 08, NZBau 2009, Seiten 771, 774). Geschäftsgrundlage sind aber auch diejenigen Umstände und allgemeinen Verhältnisse, deren Vorhandensein oder Fortdauer objektiv erforderlich ist, damit der Vertrag im Sinn der Intention beider Vertragsparteien noch als eine sinnvolle Regelung bestehen kann (objektive Geschäftsgrundlage). Zum Begriff der Geschäftsgrundlage vgl. Palandt Rn. 2 bis 4 zu § 313 BGB.
In den Fällen des § 313 Abs. 1 BGB müssen sich die zur Grundlage des Vertrages gewordenen Umstände nach Abschluss des Vertrages verändert haben. Hier ein Beispiel aus der Praxis:
Ein blinder Jurist hatte einen Onlinekommentar abonniert. Die Nutzung war barrierefrei möglich. Dem Anbieter war aus den Vertragsverhandlungen bekannt, dass der Kommentar für den Abonnenten wegen seiner Blindheit nur durch die barrierefreie Nutzeroberfläche nutzbar war. Nach längerer Laufzeit wurde die Benutzeroberfläche umgestellt. Die neue Benutzeroberfläche war nicht barrierefrei. Damit war der Kommentar für den blinden Abonnenten nicht mehr nutzbar. Hier war die Geschäftsgrundlage, nämlich die barrierefreie Nutzbarkeit des Kommentars, weggefallen. Eine Anpassung des Vertrages war nicht möglich. Auch die Einhaltung einer Kündigungsfrist war nicht zumutbar. Der Anbieter hat deshalb die fristlose Kündigung ohne weiteres akzeptiert und zugleich zugesichert, dass er sich bemühen werde, die Benutzeroberfläche wieder barrierefrei zu gestalten.
§ 313 Abs. 2 BGB behandelt den Fall, dass die Geschäftsgrundlage nicht nachträglich wegfällt, sondern von Anfang an nicht gegeben ist. Das ist z.B. der Fall, wenn beide Vertragsparteien bei Vertragsschluss irrtümlich vom Vorhandensein von Umständen ausgegangen sind, die Grundlage für den Vertragsabschluss sein sollten. Im Ergebnis ist das Fehlen der Geschäftsgrundlage ebenso zu behandeln, wie ihr Wegfall (Palandt Rn. 38 und 39 zu § 313 BGB mit zahlreichen Beispielen).
Wenn die Geschäftsgrundlage wegfällt (§ 313 Abs. 1 BGB) oder von Anfang an fehlt (§ 313 Abs. 2 BGB), ergeben sich die Rechtsfolgen aus § 313 Abs. 1 und 3 BGB. In erster Linie ist der Vertrag an die veränderten Umstände anzupassen, wenn das zumutbar ist (§ 313 Abs. 1 BGB). Dafür ist eine Interessenabwägung und ein umfassender Interessenausgleich vorzunehmen (Palandt Rn. 40 zu § 313 BGB). Eine Vertragsauflösung in Form des Rücktritts oder bei Dauerschuldverhältnissen durch Kündigung kommt nur in Frage, wenn eine Anpassung nicht möglich oder unzumutbar ist (§ 313 Abs. 3 BGB). Die Vertragsauflösung muss durch Rücktrittserklärung oder bei Dauerschuldverhältnissen durch Kündigung, also durch eine ausdrückliche rechtsgestaltende Erklärung des Berechtigten erfolgen (Palandt Rn. 42 zu § 313 BGB).
Wenn es sich um ein Dauerschuldverhältnis handelt, ist für das Kündigungsrecht § 314 BGB zu beachten. Die Anforderungen an den Kündigungsgrund sind in § 314 BGB nicht so streng, wie nach § 313 BGB.
Außer den bei Palandt in den Rn. 1 bis 39 zu § 313 BGB zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung werden in den Rn. 44 bis 66 zu § 313 BGB weitere Einzelfälle behandelt.
2.3.4.3 Recht auf Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund nach § 314 BGB
§ 314 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund lautet:
"(1) Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
(2) Besteht der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Vertrag, ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig. § 323 Abs. 2 findet entsprechende Anwendung.
(3) Der Berechtigte kann nur innerhalb einer angemessenen Frist kündigen, nachdem er vom Kündigungsgrund Kenntnis erlangt hat.
(4) Die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, wird durch die Kündigung nicht ausgeschlossen."
Das Dauerschuldverhältnis unterscheidet sich von den auf eine einmalige Leistung gerichteten Schuldverhältnissen, wie z.B. dem Kauf einer einmal zu liefernden Sache dadurch, dass aus ihm während seiner Laufzeit ständig neue Leistungs-, Neben- und Schutzpflichten entstehen. Gesetzlich normierte Dauerschuldverhältnisse sind z.B. Miete, Pacht, Leihe, Darlehen (Palandt Rn. 2 zu § 314 BGB mit weiteren Beispielen).
Zu beachten ist, dass das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund in zahlreichen Sondervorschriften des BGB und anderer Gesetze für bestimmte Dauerschuldverhältnisse besonders geregelt ist. Vgl. z.B. im BGB §§ 490 (Darlehensvertrag), 543 (Mietverhältnis), 569 (weitere Kündigungsgründe aus wichtigem Grund im Mietverhältnis), 626 (Dienstvertrag) und 723 (Gesellschaftsvertrag), im HGB § 89b (Recht des Handelsvertreters). Diese Sondervorschriften haben Vorrang vor § 314 BGB (Palandt Rn. 4 zu § 314 BGB).
Ein wichtiger Grund im Sinn von § 314 Abs. 1 BGB ist gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertrags bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist dem kündigenden Teil unzumutbar machen. Ein Verschulden des anderen Vertragsteils ist nicht erforderlich. Eigenes Verschulden schließt das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund nicht notwendigerweise aus (BGH DB 69, 1403, 72, 2054, LG Hbg NJW-RR 05, 187), wohl aber dann, wenn der Kündigende die Störung des Vertragsverhältnisses selbst überwiegend verursacht hat (Palandt Rn. 7 zu § 314 BGB).
Wenn der wichtige Grund in einer Verletzung einer vertraglichen Pflicht liegt, ist gem. § 314 Abs. 2 BGB eine weitere Voraussetzung für das Recht auf außerordentliche Kündigung, dass eine zur Abhilfe bestimmte Frist verstrichen ist und dass wegen dieser Pflichtverletzung eine Abmahnung erfolgt ist. Eine Abmahnung ist jedoch nicht erforderlich, wenn einer der Fälle des § 323 Abs. 2 BGB vorliegt, z.B. Leistungsverweigerung. Diese Vorschrift ist gem. § 314 Abs. 2 Satz 2 BGB entsprechend anzuwenden.
Die Kündigung beendet das Vertragsverhältnis mit sofortiger Wirkung (ex nunc). Wenn es die Interessen des Kündigungsgegners erfordern und es dem Kündigenden zumutbar ist, kann jedoch die Einräumung einer Auslauffrist geboten sein (Palandt Rn. 10 zu § 314 BGB).
Das Kündigungsrecht muss gem. § 314 Abs. 3 BGB innerhalb einer angemessenen Frist ausgeübt werden, nachdem er vom Kündigungsgrund Kenntnis erlangt hat. Diese Frist kann aber wegen der Vielfältigkeit der Dauerschuldverhältnisse nicht einheitlich bestimmt werden (Palandt Rn. 10 zu § 314 BGB mit Beispielen aus der Rechtsprechung).
Schadensersatzansprüche aus dem Vertragsverhältnis werden gem. § 314 Abs. 4 BGB nicht ausgeschlossen. Wenn Schadensersatz wegen eines bereits eingetretenen Schadens verlangt wird, ist Anspruchsgrundlage § 280 Abs. 1 BGB. Dieser lautet:
"(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat."
Wenn der Gläubiger Schadensersatz wegen einer noch nicht oder fehlerhaft erbrachten Leistung verlangen will, ist Anspruchsgrundlage § 281 BGB. Zu Einzelheiten vgl. Palandt Rn. 10 zu § 314 BGB.
In dem oben unter 2.3.4.2 dargestellten Praxisfall (fristlose Kündigung des Abonnements eines Onlinekommentars durch einen blinden Juristen wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB, weil dieser durch Änderung der Benutzeroberfläche nicht mehr barrierefrei nutzbar war), hätte ein Recht zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund aus § 314 Abs.1 BGB selbst dann bestanden, wenn die Notwendigkeit der Barrierefreiheit wegen der Blindheit des Abonnenten dem Vertragspartner nicht bekannt gewesen wäre, so dass sie die Geschäftsgrundlage bildete. In diesem Fall hätte die fristlose Kündigung auf § 314 Abs. 1 BGB gestützt werden können; denn dem blinden Juristen, der für seine tägliche Arbeit auf diesen Kommentar angewiesen war, wäre es nicht zuzumuten gewesen, das Vertragsverhältnis unter Einhaltung der Kündigungsfrist zu kündigen.
2.4 Haftung für Schäden
Schadenshaftung ist die Verpflichtung, für einen Schaden einstehen zu müssen, also Schadensersatz zu leisten.
Zu unterscheiden sind dabei die Verschuldenshaftung, die sich aus einer Verletzung einer schuldrechtlichen Pflicht (Pflichtverletzung) oder einer unerlaubten Handlung (Delikthaftung) ergeben kann und die Gefährdungshaftung, die auf einem erlaubten, aber gefahrgeneigten Tun, wie z.B. den Betrieb einer gefährlichen Einrichtung, die Haltung eines Tieres oder den Betrieb eines Kraftfahrzeuges beruht.
Innerhalb der Verschuldenshaftung sind zu unterscheiden: im Rahmen der Pflichtverletzung die Einstandshaftung, bei welcher einer Person, die sich selbst rechtmäßig verhalten hat, die schuldhafte pflichtwidrige Handlung eines anderen, z.B. eines Vertreters oder Erfüllungsgehilfen, zugerechnet wird und im Rahmen der Deliktshaftung die Haftung für vermutetes Verschulden für den Schaden, der aus der Handlung eines Verrichtungsgehilfen bzw. innerhalb einer bestehenden Aufsichtspflicht durch die Handlung des der Aufsicht Bedürftigen entstanden ist.
2.4.1 Verschuldenshaftung
Die Verschuldenshaftung beruht auf einer Verletzung einer schuldrechtlichen Pflicht (Pflichtverletzung als zentraler Begriff des Leistungsstörungsrechts) oder einer unerlaubten Handlung (Deliktshaftung).
Sowohl bei der Pflichtverletzung, also im Leistungsstörungsrecht, als auch bei unerlaubten Handlungen gilt der gleiche Verschuldensbegriff. Auch die Art und das Maß des zu leistenden Schadensersatzes sind für die Verschuldenshaftung und die Deliktshaftung einheitlich geregelt. Deshalb wird darauf vorab eingegangen.
2.4.1.1 Verschulden
Ein Verschulden liegt vor, wenn der Schädiger das schadensbegründende Ereignis vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hat, das Verhalten rechtswidrig und der Handelnde verantwortlich war (für Pflichtverletzungen § 276 BGB, für Delikte §§ 823, 826 und 839 BGB, für die Verantwortlichkeit §§ 827 und 828 BGB). Vorsatz und Fahrlässigkeit sind im Leistungsstörungsrecht und im Deliktsrecht identische Begriffe (Palandt Rn. 5 zu § 276 BGB).
Rechtswidrig ist im Deliktsrecht jede Verletzung eines fremden Rechts oder Rechtsguts, die nicht durch einen Rechtfertigungsgrund wie z.B. Notwehr gedeckt ist. Im Leistungsstörungsrecht ist rechtswidrig gleichbedeutend mit objektiver Pflichtwidrigkeit. Objektive Pflichtwidrigkeit ist gegeben, wenn der äußere Tatbestand einer Leistungsstörung vorliegt. Zur Rechtswidrigkeit vgl. Palandt Rn. 8 zu § 276 BGB.
Für die Zurechenbarkeit im Leistungsstörungsrecht wird in § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die §§ 827 BGB (Ausschluss und Minderung der Verantwortlichkeit (und § 828 BGB (Verantwortlichkeit Minderjähriger) verwiesen. § 276 BGB lautet:
"§ 276 Verantwortlichkeit des Schuldners
(1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos zu entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden entsprechende Anwendung.
(2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
(3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden."
§ 823 BGB lautet:
"§ 823 Schadensersatzpflicht
(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein."
Vorsatz ist das Wissen und Wollen des pflichtwidrigen Erfolgs. Das gilt sowohl für das Leistungsstörungsrecht als auch für das Deliktrecht (Palandt Rn. 10 zu § 276 BGB). Vorsatz ist gegeben, wenn der Schädiger bewusst und beabsichtigt gegen eine Rechtsvorschrift verstoßen hat. Der Handelnde muss den pflichtwidrigen Erfolg vorausgesehen und als mögliche Folge seines Tuns in seinen Willen aufgenommen haben. Nicht erforderlich ist, dass der Erfolg gewünscht oder beabsichtigt war. Ebenso ist der Beweggrund unerheblich. Der Vorsatz braucht sich in der Regel nur auf die Verletzung des Vertrages zu erstrecken, nicht dagegen auf den eingetretenen Schaden. Das gilt im Recht der unerlaubten Handlungen sinngemäß ebenso: Bei § 823 Abs. 1 BGB genügt Wissen und Wollen der Verletzung des geschützten Rechts oder Rechtsguts, bei § 823 Abs. 2 BGB Wissen und Wollen der Verletzung des Schutzgesetzes, bei § 839 BGB Wissen und Wollen der Verletzung der Amtspflicht. Der eingetretene Schaden braucht vom Vorsatz nicht umfasst zu sein (Palandt Rn. 10 zu § 276 BGB mit weiteren Nachweisen). Der Vorsatz umfasst sowohl den unbedingten, als auch den bedingten Vorsatz. Bedingt vorsätzlich handelt, wer den als möglich erkannten pflichtwidrigen Erfolg billigend in Kauf nimmt, d.h. wenn er zwar die Verletzung einer Person durch sein Verhalten etwa im Straßenverkehr nicht beabsichtigt hat, ihm die Verletzung des Anderen aber gleichgültig war (Palandt Rn. 10 zu § 276 BGB mit weiteren Nachweisen).
Fahrlässig handelt gem. § 276 Abs. 2 BGB, "wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt." Diese Definition in § 276 Abs. 2 BGB gilt nicht nur für das Leistungsstörungsrecht, sondern für das gesamte Privatrecht innerhalb und außerhalb des BGB, somit auch für das Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB). Fahrlässigkeit setzt Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des pflichtwidrigen Erfolgs voraus (Palandt Rn. 12 zu § 276 BGB mit weiteren Nachweisen).
Zu unterscheiden sind bewusste und unbewusste Fahrlässigkeit. Bei der bewussten Fahrlässigkeit hat der Handelnde mit dem möglichen Eintritt des schädigenden Erfolges gerechnet, aber fahrlässig darauf vertraut, dass der Schaden nicht eintreten werde. Der Verkehrsteilnehmer hat z.B. durchaus erkannt, dass durch sein Verhalten eine andere Person verletzt werden könnte, er hat aber gehofft, dass dies nicht der Fall sein wird. Vom bedingten Vorsatz unterscheidet sich die bewusste Fahrlässigkeit dadurch, dass der Handelnde den pflichtwidrigen Erfolg nicht billigend in Kauf nimmt. Bei unbewusster Fahrlässigkeit hat der Handelnde den möglichen Eintritt des schädlichen Erfolgs nicht erkannt, hätte ihn aber bei gehöriger Sorgfalt voraussehen und verhindern können (Palandt Rn. 13 zu § 276 BGB).
Hinsichtlich des Grades der Fahrlässigkeit wird zwischen grober, einfacher und leichter Fahrlässigkeit unterschieden. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfaltspflicht in besonderem Maße verletzt wird. Einfache Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn die besonderen Merkmale grober Fahrlässigkeit nicht erfüllt sind. Im Arbeitsrecht wird weiter differenziert. Vgl. näher Palandt Rn. 14 zu § 276 BGB.
Für das Maß der erforderlichen Sorgfaltspflicht gilt im BGB anders als im Strafrecht kein individueller, sondern ein auf die allgemeinen Bedürfnisse des Rechtsverkehrs ausgerichteter objektiv-abstrakter Maßstab. Der Grund dafür ist der Vertrauensschutz. Im Rechtsverkehr muss sich jeder grundsätzlich darauf verlassen können, dass der andere die zur Erfüllung seiner Pflicht erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzt (Palandt Rn. 15 zu § 276 BGB). So kann sich der Lenker eines Kraftfahrzeuges, der einen Verkehrsunfall verursacht und dabei einen Schaden herbeigeführt hat, nicht darauf berufen, dass er infolge eines Sehfehlers den Unfall nicht vermeiden und den Schaden nicht vorhersehen konnte (Palandt Rn. 15 zu § 276 BGB).
Der Begriff der erforderlichen Sorgfalt bedarf der Konkretisierung. Vgl. dazu Palandt Rn. 16 zu § 276 BGB. Eine übliche Verhaltensweise muss berücksichtigt werden, insbesondere, wenn sie auf Unterweisung von kompetenten Fachkräften beruht. Die erforderliche Sorgfaltspflicht beachtet derjenige, der sich so verhält, wie es ihm von kompetenten Fachkräften empfohlen wird (Palandt Rn. 16 zu § 276 BGB). Wenn ein blinder Verkehrsteilnehmer, der eine Mobilitätsschulung absolviert hat, sich im Verkehr so verhält, wie er es dort gelernt hat, um andere Verkehrsteilnehmer nicht zu schädigen, kann ihm Fahrlässigkeit in der Regel nicht vorgeworfen werden, wenn z.B. ein anderer Verkehrsteilnehmer über den richtig eingesetzten langen weißen Stock stolpert, dabei stürzt und sich verletzt. Zu beachten ist dabei auch, dass für die zu fordernde objektive Sorgfaltspflicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, z.B. einer durch eine bestimmte Behinderung geprägten Gruppe berücksichtigt werden muss. So muss bei einem blinden Verkehrsteilnehmer berücksichtigt werden, dass er optisch das Verkehrsgeschehen nicht beurteilen kann und dass er von den übrigen Verkehrsteilnehmern entsprechende Rücksicht erwarten darf, sofern sich der blinde Verkehrsteilnehmer gem. § 2 der Fahrerlaubnisverordnung gekennzeichnet hat.
2.4.1.2 Art, Inhalt und Umfang des Schadensersatzes
Die Art, der Inhalt und der Umfang des zu leistenden Schadensersatzes richten sich nach den §§ 249 bis 253 BGB. Diese enthalten keine Anspruchsgrundlage, sondern ergänzen die Normen, die Schadensersatzansprüche vorsehen. Regelungsgegenstand der §§ 249 ff. BGB ist also nicht die Haftungsbegründung, sondern die Haftungsausfüllung (Palandt Rn. 1 Vorbemerkung zu § 249 BGB). Die §§ 249 ff. BGB finden grundsätzlich auf alle Schadensersatzansprüche Anwendung, gleichgültig, ob sie auf Vertrag, gesetzlicher Pflicht, Delikt oder Gefährdung beruhen. Sie gelten auch wegen Verletzungen sachen-, familien- oder erbrechtlicher Pflichten. Sie gelten darüber hinaus für Schadensersatzansprüche, die außerhalb des BGB normiert sind, so z.B. im Produkthaftungsgesetz § 1, Haftpflichtgesetz § 1, im Straßenverkehrsgesetz § 7 (Palandt Rn. 2 Vorbemerkung zu § 249 BGB mit weiteren Beispielen). Allerdings werden die Regelungen der §§ 249 ff. BGB durch Sonderregelungen eingeschränkt oder modifiziert. So bestehen zum Teil für die Gefährdungshaftung summenmäßige Haftpflichtbeschränkungen, z.B. im Produkthaftungsgesetz § 10, im Haftpflichtgesetz § 9 f., im Straßenverkehrsgesetz § 12 (Palandt Vorbemerkung 2 zu § 249 BGB mit weiteren Beispielen).
2.4.1.2.1 Grundsatz der Naturalrestitution
Nach § 249 Abs. 1 BGB hat, wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, "den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre" (Naturalrestitution). Der Grundsatz der Naturalrestitution bedeutet, dass wirtschaftlich der gleiche Zustand hergestellt werden muss, wie er ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte. Bei der Zerstörung oder den Verlust einer Sache besteht die Naturalrestitution in der Beschaffung einer gleichartigen und gleichwertigen Sache (dazu näher Palandt Rn. 2 zu § 249 BGB).
Wenn wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten ist, kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB). Es können also die für die Heilung entstehenden Kosten bzw. bei Sachschaden die Reparaturkosten verlangt werden. Bei Verletzung einer Person kann ein Kassenpatient, soweit dies nicht unverhältnismäßig ist, Kosten der Heilbehandlung verlangen, welche die gesetzliche Krankenkasse nicht übernimmt, z.B. Kosten von Zahnimplantaten (Palandt Rn. 8 zu § 249 mit weiteren Beispielen). Wenn ein Blinder zur Durchführung einer Heilbehandlung eine Begleitperson benötigt, wenn z.B. eine Begleitperson bei einer stationären Rehabilitationsmaßnahme mit aufgenommen werden muss, sind auch die dadurch entstehenden Kosten zu erstatten.
Soweit die Kosten der Heilbehandlung vom Sozialversicherungsträger oder von einer Privatversicherung getragen werden, geht der Anspruch auf Kostenersatz kraft Gesetzes auf diesen über (§ 116 SGB X bzw. § 86 Versicherungsvertragsgesetz). Zu ersetzen sind auch die durch eine notwendige berufliche Rehabilitation entstehenden Kosten.
Im Fall des § 249 Abs. 1 BGB kann der Gläubiger gem. § 250 BGB dem Ersatzpflichtigen zur Herstellung des Zustandes, wie er ohne das schädigende Ereignis bestehen würde, eine angemessene Frist mit der Erklärung bestimmen, dass er die Herstellung nach dem Ablauf der Frist ablehne. Nach dem Ablauf der Frist kann der Gläubiger den Ersatz in Geld verlangen; der Anspruch auf die Herstellung ist dann ausgeschlossen.
Die Fristsetzung ist nicht erforderlich, wenn der Schädiger die Herstellung oder den Schadensersatz ernsthaft und endgültig verweigert (Palandt Rn. 2 zu § 250 BGB).
2.4.1.2.2 Schadenskompensation nach § 251 BGB
Der Anspruch auf Naturalrestitution nach § 249 Abs. 1 BGB und auch der Anspruch auf Geldersatz aus § 249 Abs. 2 BGB setzen voraus, dass die Naturalrestitution möglich ist. Wenn sie nicht möglich oder soweit sie nicht ausreichend ist, tritt an die Stelle des Anspruchs auf Herstellung des ursprünglichen Zustandes der Anspruch auf Geldersatz (Wertersatz) nach § 251 BGB. § 251 BGB lautet:
"§ 251 Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung
(1) Soweit die Herstellung nicht möglich oder zur Entschädigung des Gläubigers nicht genügend ist, hat der Ersatzpflichtige den Gläubiger in Geld zu entschädigen.
(2) Der Ersatzpflichtige kann den Gläubiger in Geld entschädigen, wenn die Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich ist. Die aus der Heilbehandlung eines verletzten Tieres entstandenen Aufwendungen sind nicht bereits dann unverhältnismäßig, wenn sie dessen Wert erheblich übersteigen."
Der Regelungsinhalt von § 251 Abs. 1 und Abs. 2 BGB ist unterschiedlich:
Ist Naturalrestitution nicht möglich, oder für den Geschädigten nicht genügend, besteht nach § 251 Abs. 1 BGB im Interesse des Gläubigers ein Anspruch auf Geldersatz. Dagegen begünstigt § 251 Abs. 2 BGB den Schuldner. Er kann Naturalrestitution ablehnen, wenn die Herstellung unverhältnismäßige Aufwendungen erfordert (Palandt Rn. 1 zu § 251 BGB).
Unmöglichkeit der Leistung im Sinn von § 251 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine nicht vertretbare Sache zerstört worden ist oder wenn eine Sache so stark beschädigt wurde, dass eine befriedigende Reparatur nicht möglich ist. Wenn die Herstellung nicht genügend ist, kann dem Geschädigten gem. § 251 Abs. 1 ein die Naturalrestitution nach § 249 BGB ergänzender oder ersetzender Anspruch auf Entschädigung in Geld zustehen.
§ 251 Abs. 2 BGB räumt dem Schuldner eine Ersetzungsbefugnis ein. Als Sondervorschrift für Schadensersatzansprüche geht § 251 Abs. 2 BGB dem Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 2 und 3 BGB vor (Palandt Rn. 6 zu § 251 BGB).
2.4.1.2.3 Berücksichtigung des entgangenen Gewinns als Schaden (§ 252 BGB)
§ 252 BGB lautet:
"§ 252 Entgangener Gewinn
Der zu ersetzende Schaden umfasst auch den entgangenen Gewinn.
Als entgangen gilt der Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte."
§ 252 Satz 1 BGB hat nur klarstellende Bedeutung. Die Verpflichtung des Schädigers, entgangenen Gewinn zu ersetzen, ergibt sich bereits aus § 249 Abs. 1 BGB. Unter den Begriff des entgangenen Gewinns fallen alle Vermögensvorteile, die im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses noch nicht zum Vermögen des Geschädigten gehörten, die ihm aber ohne das schädigende Ereignis zugeflossen wären (Palandt Rn. 1 zu § 252 BGB).
§ 252 Satz 2 BGB enthält lediglich eine Beweiserleichterung und ist trotz seiner missverständlichen Formulierung durch das Wort "gilt" keine materiellrechtliche Begrenzung des Ersatzanspruchs. Der Geschädigte braucht nur die Umstände darlegen und in den Grenzen des § 287 ZPO beweisen, aus denen sich nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge oder den besonderen Umständen des Falles die Wahrscheinlichkeit des Gewinneintritts ergibt. Wenn der Geschädigte für einen ihm entgangenen ungewöhnlichen Gewinn Ersatz verlangen will, muss er dafür den vollen Beweis erbringen (Palandt Rn. 5 zu § 252 BGB). Entgangener Gewinn ist auch das entgangene Entgelt aus abhängiger Arbeit, z.B. infolge einer Verletzung, die zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat. Zur Ermittlung des Schadens vgl. Palandt Rn. 8 bis 15 zu § 252 BGB.
2.4.1.2.4 Ersatz des immateriellen Schadens
Der immaterielle Schaden ist der Gegensatz zum Vermögensschaden, also eines Schadens, bei dem der durch das schädigende Ereignis eingetretene Nachteil in Geld bewertet werden kann (Palandt Rn. 12 Vorbemerkung vor § 249 BGB). Zur Abgrenzung zwischen immateriellen und Vermögensschaden vgl. Palandt Rn. 8 ff. und 19 ff. Vorbemerkung vor § 249 BGB.
Wann Entschädigung wegen eines immateriellen Schadens verlangt werden kann, ist in § 253 BGB geregelt. Dieser lautet:
"§ 253 Immaterieller Schaden
(1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden.
(2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden."
Während nach § 253 Abs. 1 BGB verlangt wird, dass sich der Anspruch auf Erstattung des immateriellen Schadens aus einer konkreten gesetzlichen Grundlage ergibt, wird diese Forderung in § 253 Abs. 2 BGB für die "billige Entschädigung in Geld", das so genannte Schmerzensgeld, durchbrochen, wenn wegen einer "Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung" Ersatz des immateriellen Schadens zu leisten ist.
Eine Geldentschädigung für immaterielle Schäden sieht das Gesetz außer im Fall des § 253 Abs. 2 BGB in § 651 f Abs. 2 BGB vor (angemessene Entschädigung für nutzlos aufgewendeten Urlaub bei erheblicher Beeinträchtigung oder Vereitelung einer Reise). Außerhalb des BGB besteht ein Anspruch auf Geldersatz für ideelle Schäden, z.B. nach § 15 Abs. 2 Satz 1 und § 21 Abs. 2 Satz 3 Allgemeines Gleichstellungsgesetz, § 97 Urheberrechtsgesetz (weitere Hinweise Palandt Rn. 2 zu § 253 BGB).
Der Schmerzensgeldanspruch gem. § 253 Abs. 2 BGB besteht zusätzlich zum Schadensersatz aus Vermögensschaden, welcher nach den §§ 249 bis 252 BGB zu leisten ist (Palandt Rn. 4 zu § 253 BGB).
Ein Schmerzensgeldanspruch nach § 253 Abs. 2 BGB besteht nicht nur bei Deliktshaftung, sondern auch bei Haftung aus einem Vertrag, aus Verschulden bei Vertragsschluss (culpa in contrahendo - c.i.c. - geregelt in § 311 Abs. 2 BGB) und bei Gefährdungshaftung. Alle zum Schadensersatz verpflichtenden Normen begründen bei Eingriffen in die Rechtsgüter des § 253 BGB einen Anspruch auf Schmerzensgeld (Palandt Rn. 5 zu § 253 BGB). Ein Schmerzensgeldanspruch bei Gefährdungshaftung ergibt sich z.B. aus § 833 BGB (Haftung des Tierhalters), § 11 Satz 2 Straßenverkehrsgesetz (Haftung des Kraftfahrzeughalters) und § 6 Satz 2 Haftpflichtgesetz (Betrieb gefährlicher Einrichtungen wie z.B. Schienenbahnen). Weitere Beispiele bei Palandt Rn. 7 zu § 253 BGB. Es gibt allerdings auch gesetzliche Ausschlüsse des Anspruchs auf Schmerzensgeld, so z.B. im Rahmen der Haftungsbeschränkung von Unternehmern nach den §§ 104 ff. SGB VII (Palandt Rn. 9 zu § 253 BGB mit weiteren Beispielen).
Das Schmerzensgeld hat nach der Rechtsprechung des BGH eine doppelte Funktion: Der Verletzte soll einen Ausgleich für erlittene Schmerzen und Leiden erhalten. Das Schmerzensgeld soll ihn in die Lage versetzen, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten zu verschaffen, die die erlittenen Beeinträchtigungen jedenfalls teilweise ausgleichen (Ausgleichsfunktion). Darüber hinaus soll das Schmerzensgeld dem Verletzten Genugtuung für das verschaffen, was ihm der Schädiger angetan hat (Palandt Rn. 11 zu § 253 BGB). Die Genugtuungsfunktion ist bei der Bemessung des Schmerzensgelds nach überwiegender Meinung nur bei vorsätzlichen Taten oder grober Fahrlässigkeit zu berücksichtigen (Palandt Rn. 11 zu § 253 BGB).
Die Höhe des Schmerzensgeldes muss unter umfassender Berücksichtigung aller für die Bemessung maßgebender Umstände festgesetzt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der Verletzung stehen. Dabei kommt dem Gedanken, dass für vergleichbare Verletzungen, unabhängig vom Haftungsgrund, ein annähernd gleiches Schmerzensgeld zu gewähren ist, besondere Bedeutung zu. Schmerzensgeldtabellen, welchen die in der Rechtsprechung übliche Höhe der Schmerzensgelder zu entnehmen ist, sind daher ein wichtiges Hilfsmittel. Wenn ältere Schmerzensgeldtabellen herangezogen werden, muss die Geldentwertung berücksichtigt werden (Palandt Rn. 16 zu § 253 BGB).
Hingewiesen sei auf folgende Schmerzensgeldtabellen:
- Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge (ADAC-Tabelle) Deutscher Anwaltsverlag;
- Slizyk Beck"sche Schmerzensgeldtabelle, H.C.-Beck-Verlag.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes stehen die Umstände im Vordergrund, die den Verletzten betreffen. Vgl. dazu Palandt Rn. 17 zu § 253 BGB. Zu berücksichtigen sind aber auch Umstände aus der Sphäre des Verletzers und solche, die beide betreffen. Vgl. dazu Palandt Rn. 18 und 19 zu § 253 BGB.
Zu berücksichtigen sind Ausmaß und Schwere der Verletzung, erlittene Schmerzen, Dauer stationärer Behandlung, Belastung durch Operationen und andere Behandlungsmaßnahmen, verletzungsbedingte Trennung von der Familie, verbleibende Behinderungen oder Entstellungen, Alter des Verletzten, wobei Jugend erhöhend, fortgeschrittenes Alter vermindernd wirkt, Zerrüttung der Ehe oder Partnerschaft (Palandt Rn. 17 zu § 253 BGB mit weiteren Hinweisen). Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers sind nicht zu berücksichtigen (Palandt Rn. 18 zu § 253 BGB). Das Mitverschulden des Verletzten ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt für die Haftungsgefahr, für die der Verletzte als Tierhalter oder Halter eines Kraftfahrzeuges einzustehen hat (Palandt Rn. 21 zu § 253 BGB).
Regelmäßig wird das Schmerzensgeld als Kapital geschuldet. Bei schweren Dauerschäden steht dem Verletzten in der Regel neben dem Kapitalbetrag eine Rente zu. Eine Dynamisierung z.B. durch Koppelung an einen Lebenshaltungsindex lässt die Rechtsprechung bisher allerdings nicht zu. Eine Anpassung der Rente nach § 323 ZPO wird aber zugestanden, wenn die Rente ihre Funktion eines billigen Schadensausgleiches nicht mehr erfüllt. Ein Anstieg der Lebenshaltungskosten um weniger als 25 % begründet nach der Rechtsprechung des BGH aber in der Regel keine Anpassung (Palandt Rn. 22 zu § 253 BGB). Zu Beispielen, in welchen wegen schwerer Verletzung eine Rente zugebilligt wird, vgl. Palandt Rn. 22 zu § 253 BGB. Das ist z.B. der Fall bei Blindheit oder Ertaubung. Die Kapitalentschädigung und die Rente müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen und der Gesamtbetrag muss eine billige Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden darstellen (Palandt a.a.O.).
Im Rechtsstreit ist ein unbezifferter Klageantrag zulässig, wenn der Kläger für die Bemessung ausreichende Tatsachen vorgetragen und eine ungefähre Größenordnung des Anspruchs angegeben hat. Das Gericht entscheidet gem. § 287 ZPO nach billigem Ermessen über die Höhe des Anspruchs. Die vom Kläger angegebene Größenordnung stellt für das Gericht keine bindende Obergrenze dar (Palandt Rn. 25 zu § 253 BGB). Die Gewährung von Rente und Kapital setzt wegen § 308 ZPO einen entsprechenden Antrag voraus (Palandt Rn. 25 zu § 253 BGB).
Wegen der unterschiedlichen Lage in jedem Einzelfall können Schmerzensgeldtabellen nur eine grobe Orientierung geben.
Folgende Werte für Sehschädigungen bzw. Erblindung aus Schmerzensgeldtabellen seien beispielhaft erwähnt:
- vorübergehende Sehminderung: 300,00 bis 1.800,00 €
- Sehschwäche dauerhaft gemindert, Doppelbilder, räumliches Sehen eingeschränkt: 5.500,00 bis 12.000,00 €
- dauerhaft gravierende Sehschwäche auf einem Auge: 30.000,00 bis 45.000,00 €
- Erblindung auf einem Auge: 35.000,00 bis 110.000,00 €
- Totalerblindung (auf beiden Augen): 40.000,00 € (+ 300,00 € mtl.) bis 270.000,00 € (+ 270,00 € mtl.)
2.4.1.3 Schadenshaftung und Rücktrittsrecht bei Leistungsstörungen in einem Schuldverhältnis
Ein Schuldverhältnis ist ein auf die Erbringung von Leistungen gerichtetes Rechtsverhältnis (§ 241 Abs. 1 BGB). Bei der Begründung oder der Abwicklung von Schuldverhältnissen können Hindernisse auftreten, die dazu führen, dass die Leistungen nicht mehr oder nicht wie geschuldet erbracht werden können. Die Normen, die die Tatbestände und Rechtsfolgen dieser Störungen regeln, bilden das Leistungsstörungsrecht. Dabei ist zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Leistungsstörungsrecht zu unterscheiden. Das in den §§ 280 ff. BGB geregelte allgemeine Leistungsstörungsrecht enthält Regelungen, die für alle Schuldverhältnisse gelten. Das besondere Leistungsstörungsrecht ergänzt die allgemeinen Regeln durch besondere Vorschriften für bestimmte Vertragstypen oder Rechtsverhältnisse, insbesondere für Kauf-, Miet-, Werk- und Reiseverträge sowie Rückgewährschuldverhältnisse (Palandt Rn. 1 Vorbemerkung vor § 275 BGB).
Rechtsfolgen von Leistungsstörungen sind vor allem der Anspruch auf Schadensersatz, wenn der Schuldner die Leistungsstörung gem. § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB zu vertreten hat und das Rücktrittsrecht, das dem Gläubiger gem. § 323 BGB auch dann zusteht, wenn der Schuldner die Leistungsstörung nicht zu vertreten hat. Das Recht zum Rücktritt wird durch den Anspruch auf Schadensersatz gem. § 325 BGB nicht ausgeschlossen. Zu den Grundzügen zum Leistungsstörungsrecht vgl. Palandt Rn. 5 ff. Vorbemerkung vor § 275 BGB.
2.4.1.3.1 Schadensersatzanspruch bei Pflichtverletzungen des Leistungspflichtigen
Die Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs wegen einer Pflichtverletzung ist vor allem den §§ 280 bis 284 BGB zu entnehmen. Ausgangsnorm des Leistungsstörungsanspruchs ist § 280 Abs. 1 BGB, auf welchem mit wenigen Ausnahmen die Schadensersatzansprüche aufbauen, und zwar auch dann, wenn, wie in § 280 Abs. 2 und 3 BGB, der Schadensersatzanspruch von zusätzlichen Voraussetzungen abhängt (Palandt Rn. 4 zu § 280 BGB). Neben dem Schadensersatzanspruch nach § 280 BGB besteht das Rücktrittsrecht gem. § 323 BGB in Verbindung mit § 325 BGB. Zum Rücktrittsrecht vgl. 2.4.1.3.2. § 280 BGB lautet:
"§ 280 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung
(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
(2) Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur unter der zusätzlichen Voraussetzung des § 286 verlangen.
(3) Schadensersatz statt der Leistung kann der Gläubiger nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 281, des § 282 oder des § 283 verlangen."
Pflichtverletzung:
Der Begriff der "Pflichtverletzung" ist im Leistungsstörungsrecht für den Anspruch auf Schadensersatz von zentraler Bedeutung. Zum Leistungsstörungsrecht vgl. Palandt Rn. 1 Vorbemerkung vor § 275 BGB. Ein Schuldner begeht immer dann eine Pflichtverletzung, wenn der geschuldete Erfolg objektiv nicht herbeigeführt wird bzw. sich der Schuldner anders verhält, als er sich nach dem Schuldverhältnis verhalten müsste. Der Begriff der Pflichten umfasst Hauptleistungspflichten, z.B. beim Kaufvertrag eine mangelfreie Ware zu liefern, Nebenleistungspflichten, z.B. die Pflicht auf Gefahren, die sich aus unsachgemäßem Gebrauch einer gelieferten Sache ergeben können, hinzuweisen und Rücksichtspflichten hinsichtlich der Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils (§ 241 Abs. 2 BGB), z.B. eine Montage so durchzuführen, dass dabei keine Gegenstände des Gläubigers beschädigt werden (Palandt Rn. 7 Vorbemerkung vor § 275 BGB und Rn. 12 zu § 280 BGB). Dem Schuldner fällt immer eine Pflichtverletzung zur Last, wenn er nicht, nicht rechtzeitig oder nicht obligationsgemäß leistet (Palandt a.a.O.).
Überblick über Schuldverhältnisse, aus welchen sich Pflichtverletzungen mit der Folge eines Schadensersatzanspruchs ergeben können:
Die Pflichten, deren Verletzung Schadensersatzansprüche zur Folge haben, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat, ergeben sich jeweils aus dem einer Rechtsbeziehung zugrunde liegenden Rechtsverhältnis. Zum Anwendungsbereich von § 280 BGB gehören:
- Verträge aller Art, gleichgültig ob es gegenseitige oder einseitige, entgeltliche oder unentgeltliche Verträge sind. Er umfasst alle sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten beider Parteien, auch die sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden Verhaltens- und Rücksichtspflichten. Vgl. dazu Palandt Rn. 6 zu § 280 BGB. Auch für Verletzungen nachvertraglicher Pflichten gilt § 280 BGB. Verletzt werden kann vor allem die nach Vertragserfüllung bestehende Pflicht, im Rahmen des Zumutbaren alles zu unterlassen, was den Vertragszweck gefährden könnte (Palandt Rn. 7 zu § 280 BGB mit weiteren Hinweisen).
- Vertragsähnliche Sonderverbindungen. Dazu gehören die Pflichten bei Vertragsabschluss gem. § 311 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB, die Pflichten im Vereinsrecht und im Genossenschaftsrecht. Vgl. dazu Palandt Rn. 8 zu § 280 BGB mit weiteren Beispielen.
- Gesetzliche Schuldverhältnisse, z.B. die Geschäftsführung ohne Auftrag (§ 677 BGB), das Rechtsverhältnis zwischen Unterhaltspflichtigem und Unterhaltsberechtigtem im Familienrecht, das Vermächtnis (§ 2183 BGB). Vgl. dazu Palandt Rn. 9 zu § 280 BGB mit weiteren Hinweisen.
- Öffentlich-rechtliche Sonderverbindungen. Für öffentlich-rechtliche Sonderverbindungen gelten § 280 Abs. 1 BGB und die §§ 276 und 278 BGB, in welchen das Vertretenmüssen geregelt ist, insoweit, als diese schuldrechtsähnliche Leistungsbeziehungen begründen und die Eigenart des öffentlichen Rechts nicht entgegensteht. Die verletzten Pflichten müssen über die allgemeinen Amtspflichtverletzungen des § 839 BGB hinausgehen. Es muss also ein besonders enges Vertrauensverhältnis bestehen. Vgl. dazu Palandt Rn. 10 zu § 280 BGB mit weiteren Nachweisen. Sonderverbindungen sind z.B. die Benutzung gemeindlicher Versorgungsbetriebe, wie Wasser- und Gaswerke, Inanspruchnahme von Leistungen der Feuerwehr, Beziehungen zwischen Gemeinde und Grundstückseigentümer hinsichtlich Kanalisation und Entsorgung. Vgl. zu weiteren Beispielen und Abgrenzungen Palandt Rn. 11 zu § 280 BGB.
Arten der Leistungsstörung:
Nach der Art der Leistungsstörung lassen sich drei Typen der Pflichtverletzung unterscheiden (Palandt Rn. 2 Vorbemerkung zu § 275 BGB):
- Die Nichterfüllung einer vertraglichen oder gesetzlichen Leistungspflicht (dazu Palandt Rn. 13 f. zu § 280 BGB),
- die Schlechterfüllung (dazu Palandt Rn. 15 ff. zu § 280 BGB) und
- die Verletzung von Nebenpflichten (dazu Palandt Rn. 24 ff. zu § 280 BGB).
Schadensersatz wegen Nichterfüllung:
Wenn eine sich aus einem Schuldverhältnis ergebende Pflicht nicht erfüllt wird, ist eine Pflichtverletzung gegeben. Zu unterscheiden sind die Fälle, in welchen die Erfüllung der Leistung überhaupt nicht mehr möglich ist und zwar auch nicht durch Ersatzlieferung oder durch Nachbesserung und die Fälle, in welchen die Leistung zwar noch möglich ist, aber trotzdem unterbleibt. Im ersten Fall ergibt sich der Schadensersatzanspruch unmittelbar aus § 280 Abs. 1 BGB. Im zweiten Fall müssen, damit ein Schadensersatz wegen des Nichterfüllungsschadens verlangt werden kann, zur Nichterfüllung weitere Voraussetzungen hinzutreten (Palandt Rn. 13 zu § 280 BGB). Die Grundregel des § 280 Abs. 1 BGB wird in diesen Fällen für den Nichterfüllungsschaden durch die folgenden Absätze 2 und 3 von § 280 BGB modifiziert. § 280 Abs. 2 BGB regelt den Fall der nicht rechtzeitigen Erfüllung. § 280 Abs. 3 BGB bestimmt, unter welchen Voraussetzung Schadensersatz statt der Leistung verlangt werden kann. Zur Abgrenzung der Fälle, in welchen sich der Schadensersatzanspruch unmittelbar aus § 280 Abs. 1 BGB ergibt, zu den Fällen des § 280 Abs. 3 BGB vgl. Palandt Rn. 18 zu § 280 BGB. § 284 BGB räumt dem Gläubiger in den Fällen, in welchen er statt der geschuldeten Leistung Schadensersatz verlangen kann, das Recht ein, stattdessen Ersatz für seine in Erwartung der Leistung gemachten Aufwendungen zu verlangen.
Schadensersatz bei Unmöglichkeit der Leistung (§ 280 Abs. 1 BGB):
Wenn durch die Pflichtverletzung ein Schaden entstanden ist, welchen der Schuldner zu vertreten hat und welcher durch Nachbesserung oder Ersatzlieferung nicht zu beseitigen ist, ist Anspruchsgrundlage § 280 Abs. 1 BGB. Vgl. dazu Palandt Rn. 18 zu § 280 BGB. Wenn durch die Unmöglichkeit der geschuldeten Leistung der Schuldner gem. § 275 BGB von seiner Leistungspflicht frei wird, ist Schadensersatz gem. § 280 Abs. 3 BGB in Verbindung mit § 283 BGB zu leisten (Palandt Rn. 14 zu § 280 BGB). Dazu vgl. näher unten.
Verzögerungsschaden (§ 280 Abs. 2 BGB i.V.m § 286 BGB):
Zum Schadensersatz wegen Nichterfüllung gehört der Verzögerungsschaden. Wenn der geforderte Schadensersatz sich auf den durch die Verzögerung der Leistung entstandenen Schaden richtet, müssen nach § 280 Abs. 2 BGB zusätzlich zu den Anforderungen nach § 280 Abs. 1 BGB die besonderen Voraussetzungen des Verzuges gemäß § 286 BGB erfüllt sein. Danach muss der Verzug eingetreten sein z.B. durch eine Mahnung nach Eintritt der Fälligkeit oder die Erhebung einer Klage auf die Leistung oder die Zustellung eines Mahnbescheids im Mahnverfahren nach Eintritt der Fälligkeit, die Bestimmbarkeit für die zu erbringende Leistung nach dem Kalender und die Überschreitung dieses Termins oder dadurch, dass der Schuldner die Leistung "ernsthaft und endgültig" verweigert. Neben dem durch die Verzögerung gegebenen Schadensersatzanspruch bleibt der Anspruch auf die Leistung bestehen.
Schadensersatz statt der Leistung (Fälle des § 280 Abs. 3 BGB):
Wenn Schadensersatz statt der geschuldeten Leistung verlangt wird, knüpft § 280 Abs. 3 BGB den Schadensersatzanspruch zusätzlich zu den Anforderungen nach § 280 Abs. 1 BGB an die weiteren Voraussetzungen des § 281 oder des § 282 bzw. des § 283 BGB.
Die §§ 281 ff. BGB betreffen nur Schäden, die durch Erfüllung oder Nacherfüllung behoben werden können. Nur in diesen Fällen besteht das Wahlrecht, statt der geschuldeten Leistung Schadensersatz zu verlangen.
Schadensersatz statt der Leistung wegen nicht oder nicht wie geschuldet erbrachter Leistung (§ 280 Abs. 3 BGB in Verbindung mit § 281 BGB):
§ 281 BGB setzt voraus, dass die geschuldete Leistung noch möglich ist. In § 281 BGB wird geregelt, unter welchen Voraussetzungen statt der noch möglichen Leistung Schadensersatz verlangt werden kann.
Nach § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB kann unter den Voraussetzungen von § 280 Abs. 1 BGB Schadensersatz an Stelle der Leistung verlangt werden, wenn der Schuldner die fällige Leistung nicht oder nicht ordnungsgemäß erbracht hat und ihm zur Erbringung der Leistung oder Nacherfüllung eine angemessene Frist gesetzt worden ist, oder er sich endgültig weigert, die Leistung ordnungsgemäß zu erbringen. Hat der Schuldner eine Teilleistung bewirkt, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nur verlangen, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat (§ 281 Abs. 1 Satz 2 BGB). Hat der Schuldner die Leistung nicht wie geschuldet bewirkt, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nicht verlangen, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist (§ 281 Abs. 1 Satz 3 BGB). Neben dem Schadensersatz kann dann die Leistung nicht mehr gefordert werden.
§ 281 BGB ist für die Fälle, in welchen Schadensersatz statt der Leistung verlangt wird, die Grundnorm. Er umfasst seinem Wortlaut nach auch die Tatbestände der §§ 282 und 283 BGB. Diese gehen ihm als Spezialnormen vor. § 281 BGB ist somit anwendbar, wenn der Schuldner die Leistung nicht oder nicht wie geschuldet erbringt und die §§ 282 oder 283 BGB nicht anwendbar sind (Palandt Vorbemerkung 3 vor § 281 BGB und Rn. 1 zu § 281 BGB).
Nach § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB ist Voraussetzung des Schadensersatzanspruchs statt der Leistung, dass der Gläubiger dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat. Die Frist muss in Tagen, Wochen oder anderen Zeiteinheiten bemessen oder einen bestimmten Tag als Fristende bezeichnen (Palandt Rn. 9 zu § 281 BGB).
Wenn nach der Art der Pflichtverletzung eine Fristsetzung nicht in Betracht kommt, so tritt nach § 281 Abs. 3 BGB an deren Stelle eine Abmahnung. Das ist z.B. bei einem Anspruch auf Unterlassung der Fall; denn § 281 umfasst auch Unterlassungspflichten. Wenn einer Unterlassungspflicht zuwider gehandelt wird und diese Zuwiderhandlung nicht rückgängig gemacht werden kann, ist eine Fristsetzung sinnlos. In diesem Fall tritt an ihre Stelle die Abmahnung, d.h. die ernsthafte Aufforderung, weitere Zuwiderhandlungen zu unterlassen (Palandt Rn. 13 zu § 281 BGB).
Nach § 281 Abs. 2 BGB ist die Fristsetzung entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert oder wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigen. Beispiele finden sich bei Palandt Rn. 14 und 15 zu § 281 BGB.
Erfasst werden in § 281 BGB drei Fallgruppen: Nichtleistung, quantitativ unvollständige Leistung und qualitativ der Leistungspflicht nicht entsprechende Leistung (mangelhafte Leistung),(Palandt Vorbemerkung 2 vor § 281 BGB).
Nach § 281 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative kann der Gläubiger wegen Nichterfüllung Schadensersatz statt der Leistung verlangen, wenn der Schuldner die fällige Leistung nicht erbracht hat und er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat.
Der Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung soll den durch die Nichterfüllung entstandenen Schaden ausgleichen. Er ist auf das positive Interesse gerichtet. D.h., der Gläubiger ist so zu stellen, wie er stehen würde, wenn der Schuldner den Vertrag ordnungsgemäß erfüllt hätte. Der Anspruch geht in der Regel auf Geld, kann aber ausnahmsweise auch auf Beschaffung gleichwertiger Ersatzsachen gerichtet sein (Palandt Rn. 17 zu § 281 BGB). Anspruchsgrundlage für den daneben bestehenden Anspruch auf den durch die Verzögerung bis zum Ablauf der Nachfrist eingetretenen Verzögerungsschaden ist § 280 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 286 BGB (Palandt Rn. 17 zu § 281 BGB).
Zur Berechnung des Schadensersatzes, welcher an Stelle der Erfüllung verlangt werden kann, und den dabei anzuwendenden Methoden, auf welche hier nicht weiter eingegangen wird, vgl. Palandt Rn. 18 bis 34 zu § 281 BGB.
§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB behandelt den Schadensersatzanspruch bei quantitativer Teilleistung. Wenn der Schuldner eine Teilleistung bewirkt, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nur verlangen, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. Daraus ergibt sich: Wenn die Teilleistung für den Gläubiger von Interesse ist, zerfällt der Vertrag in zwei Teile: Der Anspruch des Schuldners auf die Gegenleistung für den erbrachten Teil bleibt erhalten. Der Gläubiger hat seinerseits einen Schadensersatzanspruch für den nicht erbrachten Teil der geschuldeten Leistung (Palandt Rn. 37 zu § 281 BGB). Besteht dagegen für den Gläubiger an der Teilleistung kein Interesse, z.B. wenn bei einer bestellten EDV-Anlage die auf die Bedürfnisse des Nutzers zugeschnittene Software ausbleibt, kann der Gläubiger bei fehlendem Interesse an der bereits erbrachten Leistung Schadensersatz wegen der gesamten Leistung verlangen (Palandt Rn. 38 zu § 281 BGB).
Der Schadensersatzanspruch wegen einer (qualitativ) mangelhaften Leistung ergibt sich aus § 281 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 BGB. Nach § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB zweite Alternative kann der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangen, soweit der Schuldner die fällige Leistung nicht wie geschuldet erbringt. Wenn der Schuldner die Leistung nicht wie geschuldet bewirkt, so kann der Gläubiger gem. § 281 Abs. 1 Satz 3 BGB Schadensersatz statt der ganzen Leistung nicht verlangen, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist. Zu den "nicht wie geschuldet" erbrachten Leistungen gehört die mangelhafte Leistung (Palandt Rn. 40 zu § 281 BGB). Zu Besonderheiten der Mängelhaftung im Kaufrecht vgl. Palandt Rn. 41 zu § 281 BGB; zu Besonderheiten der Mängelhaftung im Werkvertragsrecht Palandt Rn. 42 zu § 281 BGB; zu Mängelhaftung im Mietrecht Palandt Rn. 43 zu § 281 BGB; zur Mängelhaftung im Reiserecht Palandt Rn. 43 zu § 281 BGB; zu Dienst- und Arbeitsverträgen Palandt Rn. 44 zu § 281 BGB.
Zur Beurteilung der Frage, ob der Mangel unerheblich ist, sind die beiderseitigen Interessen umfassend abzuwägen. Vgl. dazu Palandt Rn. 47 zu § 281 BGB mit Beispielen. Wenn wegen der Unerheblichkeit der Pflichtverletzung der Anspruch des Schadensersatzes statt der ganzen Leistung (großer Schadensersatz) ausgeschlossen ist, kann zum Ausgleich des vorhandenen Mangels der Ausgleich des gegebenen Mangels verlangt werden (kleiner Schaden). Das bedeutet, der Gläubiger kann verlangen, wertmäßig so gestellt zu werden, als wäre der Mangel nicht gegeben (Palandt Rn. 45 zu § 281 BGB mit Beispielen). Wenn dagegen der Mangel nicht unerheblich ist, kann die erbrachte Leistung zur Verfügung gestellt und Schadensersatz wegen Nichterfüllung der gesamten Leistung verlangt werden. Die mangelhafte Sache ist gem. § 281 Abs. 5 BGB zurückzugewähren (Palandt Rn. 46 zu § 281 BGB).
Wenn dem Gläubiger, welcher eine Teilleistung oder eine mangelhafte Leistung erhalten hat, Schadensersatz wegen der gesamten Leistung zusteht, ist er gem. § 281 Abs. 5 BGB zur Rückgewähr des Erhaltenen verpflichtet. Auf die Rückgabe finden gem. § 281 Abs. 5 BGB die §§ 346 bis 348 BGB Anwendung.
Wahlrecht zwischen Erfüllungsanspruch und Schadensersatzanspruch:
Nach Ablauf der gem. § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB gesetzten Nachfrist oder Eintritt der Tatbestände, die gem. § 281 Abs. 2 und 3 BGB dem Fristablauf gleich stehen, hat der Gläubiger die Wahl zwischen dem Anspruch auf Erfüllung und dem Schadensersatzanspruch. Er kann Erfüllung auch klageweise verlangen. Der Schuldner kann noch erfüllen. Erst durch die Erfüllung geht der Schadensersatzanspruch unter (Palandt Rn. 49 zu § 281 BGB). Sobald der Gläubiger Schadensersatz statt der Leistung verlangt, geht der Anspruch auf Erfüllung gem. § 281 Abs. 4 BGB unter. Die Forderung auf Schadensersatz muss eindeutig erklärt werden (Palandt Rn. 50 zu § 281 BGB).
Schadensersatz statt der Leistung wegen Verletzung einer Rücksichtspflicht nach § 241 Abs. 2 BGB (§ 280 Abs. 3 BGB in Verbindung mit § 282 BGB):
Wenn der Schuldner eine Pflicht nach § 241 Abs. 2 BGB verletzt, kann der Gläubiger gem. § 282 BGB unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen, wenn ihm die Leistung durch den Schuldner nicht mehr zuzumuten ist. Nach § 241 Abs. 2 BGB kann das Schuldverhältnis "nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten".
Störungen des Schuldverhältnisses ergeben sich in der Regel daraus, dass der Schuldner seine Pflicht zur Leistung nicht oder nicht wie geschuldet erbringt. Sie können aber auch dadurch entstehen, dass der Schuldner seine Pflicht aus § 241 Abs. 2 BGB verletzt. Fällt dem Schuldner eine solche Pflichtverletzung zur Last, ist er dem Gläubiger zum Ersatz des dadurch entstandenen Schadens gem. § 280 Abs. 1 BGB verpflichtet (Palandt Rn. 1 zu § 282 BGB sowie Rn. 12 und 32 zu § 280 BGB). So muss ein Handwerker, der eine Reparatur in der Wohnung des Gläubigers durchführt und dabei durch Unachtsamkeit z.B. eine wertvolle Vase des Gläubigers zerstört, deren Wert ersetzen. § 282 BGB gibt dem Gläubiger zusätzlich das Recht, statt der geschuldeten Leistung, also die Durchführung der geschuldeten Reparatur, Schadensersatz für diese Leistung zu verlangen, wenn ihm die Annahme der Leistung infolge der Verletzung der sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden Verhaltenspflicht nicht mehr zuzumuten ist. Zu Beispielen für Verletzungen der sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden Verhaltenspflichten vgl. Palandt Rn. 3 zu § 282 BGB.
Die aus dem Schuldverhältnis geschuldete Leistung muss dem Gläubiger nicht mehr zumutbar sein. Das leichtfertige Verhalten des Handwerkers ist z.B. so offensichtlich, dass weitere Beschädigungen von Gegenständen des Gläubigers zu befürchten sind. Damit die Unzumutbarkeit bejaht werden kann, ist in der Regel eine Abmahnung erforderlich. Nur bei besonders schwerwiegenden Verstößen kann auf sie verzichtet werden (Palandt Rn. 4 zu § 282 BGB). Der Schadensersatzanspruch statt der Leistung besteht ferner nur, wenn die Voraussetzungen des § 281 BGB erfüllt sind (Palandt Rn. 5 zu § 282 BGB mit Verweis auf Rn. 7 ff. zu § 281 BGB).
Der Inhalt des Schadensersatzanspruchs richtet sich nach den Grundsätzen des § 281 BGB. Danach beurteilt sich auch, ob bei quantitativer oder qualitativer Minderleistung Schadensersatz für die gesamte geschuldete Leistung verlangt werden kann (Palandt Rn. 6 zu § 282 BGB). Nach § 324 BGB steht dem Gläubiger bei gegenseitigen Verträgen auch ein Rücktrittsrecht zu.
Schadensersatz statt der Leistung bei Wegfall der Leistungspflicht des Schuldners (§ 283 BGB):
§ 283 BGB bestimmt: "Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten, kann der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangen. § 281 Abs. 1 Satz 2 und 3 und Abs. 5 finden entsprechende Anwendung."
Nach § 275 Abs. 1 BGB wird der Schuldner kraft Gesetzes von seiner Leistungspflicht frei, wenn die Leistung "für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist". Auf Grund der vom Schuldner zu erhebenden Einrede wird er gem. § 275 Abs. 2 BGB von seiner Leistungspflicht frei, wenn die Leistung "einen Aufwand erfordert, der unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben in einem groben Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht" und nach § 275 Abs. 3 BGB "wenn er die Leistung persönlich zu erbringen hat und sie ihm unter Abwägung des seiner Leistung entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers nicht zugemutet werden kann".
Der Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung setzt voraus, dass der Schuldner das Leistungshindernis nach §§ 276, 277, 278 oder 287 BGB zu vertreten hat. Eine Fristsetzung ist nicht erforderlich (Palandt Rn. 1 zu § 283 BGB). Der Schuldner, welcher sich auf die Befreiung von der Leistungspflicht nach § 275 BGB beruft, muss beweisen, dass er die Umstände, die zur Befreiung geführt haben, nicht zu vertreten hat.
Für den Fall, dass der Schuldner eine quantitativ oder qualitativ unvollständige Leistung erbracht hat, er aber nach § 275 BGB von seiner Leistungspflicht frei wird, verweist § 283 Satz 2 BGB auf § 281 Abs. 1 Satz 2 und 3 und Abs. 5 BGB. Das bedeutet: Hat der Schuldner eine Teilleistung bewirkt, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nur verlangen, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. "Hat der Schuldner die Leistung nicht wie geschuldet bewirkt, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nicht verlangen, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist (§ 281 Abs. 1 Sätze 2 und 3). Wenn dem Gläubiger Schadensersatz für die ganze Leistung zusteht, muss er das bereits Erhaltene gem. §§ 281 Abs. 5, 346 ff. BGB an den Schuldner zurückgeben. Für die Schadensbemessung gelten die gleichen Grundsätze wie bei § 281 BGB (vgl. dazu näher Palandt Rn. 6 zu § 283 BGB).
Wenn der Schuldner gem. § 275 BGB von seiner Leistungspflicht frei wird, entfällt bei gegenseitigen Verträgen gem. § 326 BGB sein Anspruch auf die Gegenleistung. Das gilt auch dann, wenn er das Leistungshindernis nicht zu vertreten hat. Nach § 326 Abs. 5 BGB steht dem Gläubiger auch unabhängig vom Verschulden des Schuldners ein Rücktrittsrecht zu (Palandt Rn. 7 zu § 283 BGB).
Schadensersatz für die vom Gläubiger vergeblich gemachten Aufwendungen (§ 284 BGB):
§ 284 BGB lautet:
"Anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung kann der Gläubiger Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung gemacht hat und billigerweise machen durfte, es sei denn, deren Zweck wäre auch ohne die Pflichtverletzung des Schuldners nicht erreicht worden."
In § 284 BGB geht es um die Frage, wann der Gläubiger, dem ein Schadensersatzanspruch statt der Leistung zusteht, stattdessen Ersatz fehlgeschlagener Aufwendungen verlangen kann.
§ 284 BGB gilt für alle vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnisse, gleichgültig ob es sich um Fälle der Nichterfüllung oder Schlechterfüllung handelt.
Voraussetzungen für den Anspruch auf Ersatz der vergeblichen Aufwendungen sind: Es muss ein Schadensersatzanspruch wegen der Pflichtverletzung des Schuldners bestehen. Es müssen daher alle Voraussetzungen der §§ 281 ff. BGB vorliegen. Eine Kombination des Anspruchs aus §§ 281 ff. BGB mit dem Anspruch aus § 284 BGB ist ausgeschlossen. Es kann also nur der Schadensersatzanspruch aus den §§ 281 ff. BGB oder der Anspruch auf Erstattung der vergeblichen Aufwendungen geltend gemacht werden. Dagegen kann neben dem Anspruch aus § 284 BGB auf Erstattung vergeblich gemachter Aufwendungen ein Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB bestehen (Palandt Rn. 4 zu § 284 BGB).
Aufwendungen sind vom Gläubiger im Hinblick auf den Erhalt der Leistung gemachte Vermögensopfer.
Schadensersatz wegen Schlechterfüllung:
Für die Haftung bei mangelhaften Leistungen müssen zwei Gruppen von Verträgen unterschieden werden: Bei Kauf-, Werk-, Miet- und Reiseverträgen bestehen für die Haftung für Mängel Sonderregelungen. Diese gehen als Spezialnormen in ihrem Anwendungsbereich § 280 BGB vor (Palandt Rn. 15 zu § 280 BGB).
Für Verträge, welche keine Sonderregelungen enthalten, ergibt sich die Schadensersatzpflicht für Mängel aus § 280 Abs. 1 BGB. Nur soweit der Gläubiger nach einer teilweisen Schlechterfüllung wegen des noch ausstehenden Leistungsteils Schadensersatz statt der Leistung oder Ersatz der vergeblichen Aufwendungen verlangt, gelten ergänzend die §§ 281 und 284 BGB (Palandt Rn. 16 zu § 280 BGB).
Wenn Dienst- oder Geschäftsbesorgungsverträge schlecht erfüllt werden, ist Anspruchsgrundlage für den Schadensersatz § 280 Abs. 1 BGB. Das ist für die Verletzung von Hauptpflichten, aber auch von Nebenpflichten vor allem im Bereich der Dienstleistungen von großer praktischer Bedeutung. Vgl. dazu Palandt Rn. 16 zu § 280 BGB mit zahlreichen Hinweisen z.B. auf die Dienstleistungen von Ärzten (Palandt Rn. 80 zu § 280 BGB) und Rechtsanwälten (Palandt Rn. 66 zu § 280 BGB).
Die Rechtsberatung und die Rechtsvertretung zählen zu den wesentlichen Aufgaben der Selbsthilfeorganisationen für blinde und sehbehinderte Menschen. Deshalb sind die Grundsätze für die Haftung von Rechtsanwälten zu beachten (Palandt Rn. 75 zu § 80 BGB). Der Schadensersatzanspruch aus einer Pflichtverletzung ergibt sich aus § 80 Abs. 1 BGB und im Fall der Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht (culpa in contrahendo) aus § 311 Abs. 2 und 3 BGB in Verbindung mit § 280 Abs. 1 BGB (Palandt Rn. 66 zu § 280 BGB). Ein Rechtsanwalt ist zu einer umfassenden und erschöpfenden rechtlichen Beratung verpflichtet, soweit der Ratsuchende nicht unzweideutig zu erkennen gibt, dass er nur in einer bestimmten Richtung beraten werden will (Palandt Rn. 66 zu § 280 BGB). Für hauptberufliche und ehrenamtliche Berater der Selbsthilfeorganisationen, welche selbst keine Volljuristen sind, ist es besonders wichtig, ihre Grenzen zu erkennen und rechtzeitig den Rat und die Hilfe des für ihre Tätigkeit in der Organisation zuständigen Volljuristen einzuholen. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Abschnitt 2.1 mit Unterpunkten Heft 10 dieser Schriftenreihe.
Verletzung von Nebenpflichten:
Zu den Nebenpflichten eines Schuldverhältnisses gehören Schutz- und Verhaltenspflichten. Der Schuldner einer Leistung hat die Pflicht, sich bei der Abwicklung der sich aus dem Schuldverhältnis ergebenden Hauptverpflichtungen so zu verhalten, dass Leben, Körper, Eigentum oder sonstige Rechtsgüter des anderen Teils nicht verletzt werden (Palandt Rn. 28 zu § 280 BGB). Der Schadensersatzanspruch ergibt sich aus § 280 Abs. 1 BGB. So ist z.B. der Handwerker, der in einer Wohnung eine Reparatur durchführt, verpflichtet, darauf zu achten, dass er keine Gegenstände, die sich in der Wohnung des Auftraggebers befinden, beschädigt werden. Hat er etwa bei der Reparatur eines Wasserhahnes, zu der er verpflichtet war, eine wertvolle Vase zerstört, so ist er zum Ersatz des Wertes der Vase verpflichtet. Zahlreiche Beispiele finden sich bei Palandt Rn. 28 a und 28 b zu § 280 BGB.
Eine vertragliche Nebenpflicht kann darin bestehen, z.B. den Käufer einer Sache auf Verletzungsgefahren hinzuweisen. Für Schäden, die durch die vertragliche Nebenpflicht zur Aufklärung oder Information entstehen, besteht Anspruch auf Schadensersatz gem. § 280 Abs. 1 BGB. Zahlreiche Beispiele finden sich bei Palandt Rn. 30 zu § 280 BGB. Der Schadensersatzanspruch erstreckt sich auf alle durch die Verletzung der Nebenpflicht verursachten Schäden. Der Anspruch tritt anders als der Schadensersatzanspruch nach den §§ 281 ff. BGB nicht an die Stelle des Erfüllungsanspruchs aus dem Schuldverhältnis, sondern besteht daneben (Palandt Rn. 32 zu § 280 BGB).
Rechtsfolgen:
Die vom Schuldner zu vertretende Pflichtverletzung begründet für den anderen Teil einen Schadensersatzanspruch, der sich auf alle unmittelbar und mittelbar durch das schädigende Ereignis erlittenen Nachteile erstreckt (Palandt Rn. 32 zu § 280 BGB). Wenn eines der in § 253 Abs. 2 BGB genannten Rechtsgüter verletzt wird (Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung), kann auch Schmerzensgeld verlangt werden. Vgl. zur Bestimmung des Schadens auch 2.4.1.2.
Beweislast:
Nach der Fassung des § 280 Abs. 1 BGB trägt der Gläubiger die Beweislast für die Pflichtverletzung, die Entstehung des Schadens und den Ursachenzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem entstandenen Schaden. Dagegen ist der Schuldner gem. § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB dafür beweispflichtig, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat (Palandt Rn. 34 zu § 280 BGB). Im Gegensatz zum Deliktsrecht wird nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB das Verschulden vermutet.
Zu vertreten hat der Schuldner nach § 276 Abs. 1 BGB in der Regel Vorsatz und Fahrlässigkeit (Verschulden). Für Vorsatz oder Fahrlässigkeit kommt es darauf an, dass der Schädiger bewusst und beabsichtigt gegen eine Rechtsvorschrift verstoßen hat (Vorsatz) oder gem. § 276 Abs. 2 BGB die im Verkehr erforderliche Sorgfalt missachtet hat (Fahrlässigkeit). Vgl. dazu 2.4.1.1.
2.4.1.3.2 Rücktrittsrecht bei Leistungsstörungen
Verhältnis Rücktrittsrecht zu Anspruch auf Schadensersatz:
Bei Leistungsstörungen besteht neben dem Schadensersatzanspruch nach den §§ 280 ff. BGB unter den Voraussetzungen der §§ 323 bis 326 BGB ein Rücktrittsrecht. Beide Ansprüche können kombiniert werden. Das ergibt sich aus § 325 BGB. Danach wird das Recht, bei einem gegenseitigen Vertrag Schadensersatz zu verlangen, durch den Rücktritt nicht ausgeschlossen. Auch das Recht aus § 284 BGB, Schadensersatz für vergeblich gemachte Aufwendungen zu verlangen, bleibt neben dem Rücktrittsrecht der §§ 323 ff. BGB bestehen (Palandt Rn. 2 zu § 325 BGB).
Dass der Schadensersatzanspruch und das Rücktrittsrecht nebeneinander bestehen, ist deshalb von Bedeutung, weil das Rücktrittsrecht anders als der Schadensersatzanspruch unabhängig davon besteht, ob der Schuldner die Leistungsstörung vertreten muss oder nicht. Zum Schadensersatzanspruch vgl. 2.4.1.3.1. Die Regelungen über den Schadensersatzanspruch nach den §§ 280 ff. BGB und die Regelungen über das Rücktrittsrecht bei gegenseitigen Verträgen nach den §§ 323 bis 326 BGB weisen bei den objektiven Tatbestandsmerkmalen weitgehende Parallelen auf.
Verhältnis von § 323 zu den §§ 324 und 326 BGB:
Die §§ 323 ff. BGB regeln zusammen das Rücktrittsrecht wegen Nichterfüllung oder Schlechterfüllung. § 323 BGB ist die Grundnorm. Dieser lautet:
"§ 323 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung
(1) Erbringt bei einem gegenseitigen Vertrag der Schuldner eine fällige Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß, so kann der Gläubiger, wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat, vom Vertrag zurücktreten.
(2) Die Fristsetzung ist entbehrlich, wenn
- der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert,
- der Schuldner die Leistung zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer bestimmten Frist nicht bewirkt und der Gläubiger im Vertrag den Fortbestand seines Leistungsinteresses an die Rechtzeitigkeit der Leistung gebunden hat oder
- besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen.
(3) Kommt nach der Art der Pflichtverletzung eine Fristsetzung nicht in Betracht, so tritt an deren Stelle eine Abmahnung.
(4) Der Gläubiger kann bereits vor dem Eintritt der Fälligkeit der Leistung zurücktreten, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des Rücktritts eintreten werden.
(5) Hat der Schuldner eine Teilleistung bewirkt, so kann der Gläubiger vom ganzen Vertrag nur zurücktreten, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. Hat der Schuldner die Leistung nicht vertragsgemäß bewirkt, so kann der Gläubiger vom Vertrag nicht zurücktreten, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist.
(6) Der Rücktritt ist ausgeschlossen, wenn der Gläubiger für den Umstand, der ihn zum Rücktritt berechtigen würde, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist oder wenn der vom Schuldner nicht zu vertretende Umstand zu einer Zeit eintritt, zu welcher der Gläubiger im Verzug der Annahme ist."
Die Formulierung des § 323 BGB umfasst alle Tatbestände der Nichterfüllung oder Schlechterfüllung eines Vertrages. Erst aus den Spezialnormen der §§ 324 und 326 BGB ergibt sich, dass sein Anwendungsbereich enger sein soll als es sein Wortlaut zum Ausdruck bringt (Palandt Rn. 5 zu § 323 BGB). § 324 BGB regelt das Rücktrittsrecht, wenn der Schuldner nicht eine Leistungspflicht, sondern eine Verhaltenspflicht gem. § 241 Abs. 2 BGB verletzt hat. Der Gläubiger kann in diesem Fall nur dann vom Vertrag zurücktreten, wenn ihm ein Festhalten am Vertrag nicht zuzumuten ist. Die Voraussetzungen der §§ 323 und 324 BGB sind weitgehend deckungsgleich (Palandt Rn. 6 zu § 323 BGB). Nach § 326 BGB verliert der Schuldner, der nach § 275 BGB kraft Gesetzes oder auf Einrede von seiner Leistungspflicht frei wird, seinen Anspruch auf die Gegenleistung. Außerdem steht dem Gläubiger nach § 326 Abs. 5 BGB ohne Fristsetzung ein Rücktrittsrechts zu. Das würde sich ohne die Regelung in § 326 Abs. 5 BGB bereits aus § 323 Abs. 1 in Verbindung mit § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB ergeben (Palandt Rn. 7 zu § 323 BGB). Für die Praxis ist es unerheblich, ob sich der Gläubiger auf das Rücktrittsrecht aus § 323 BGB oder aus § 326 Abs. 5 BGB beruft (Palandt Rn. 8 zu § 323 BGB).
Voraussetzungen des Rücktrittsrechts nach § 323 BGB:
Der Schuldner muss eine Pflicht aus einem gegenseitigen Vertrag nicht oder schlecht erfüllt haben. Es kommt nicht darauf an, ob es eine Haupt- oder eine Nebenpflicht ist. Eingeschränkt wird das Rücktrittsrecht für den Fall der Schlechterfüllung durch § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB dadurch, dass es nicht besteht, wenn die Schlechterfüllung unerheblich ist. Diese Einschränkung des Rücktrittsrechts gilt entsprechend, wenn der Schuldner eine unerhebliche Nebenpflicht verletzt (Palandt Rn. 10 zu § 323 BGB).
Die nach § 323 Abs. 1 BGB zu setzende Frist muss angemessen sein, d.h. es muss dem Schuldner innerhalb der Frist die Erfüllung seiner Leistung möglich sein. Wenn die Frist zu kurz bemessen ist, wird durch sie die objektiv angemessene Frist in Lauf gesetzt (Palandt Rn. 14 zu § 323 BGB).
Fälle, in welchen nach der Art der Pflichtverletzung eine Fristsetzung nicht in Betracht kommt und deshalb gem. § 323 Abs. 3 BGB an die Stelle einer Fristsetzung eine Abmahnung tritt, sind Unterlassungsansprüche. Die Abmahnung ist die ernsthafte Aufforderung, weitere Verstöße zu unterlassen. Die Abmahnung ist deshalb nur wirksam, d.h. sie berechtigt bei einem erneuten Verstoß gegen die Unterlassungspflicht zum Rücktritt, wenn vor der Abmahnung bereits ein Verstoß vorliegt (Palandt Rn. 17 zu § 323 BGB).
Voraussetzungen des Rücktrittsrechts nach § 324 BGB:
Nach § 324 BGB steht dem Gläubiger bei gegenseitigen Verträgen auch ein Rücktrittsrecht zu, wenn der Schuldner bei einem gegenseitigen Vertrag eine Pflicht nach § 241 Abs. 2 BGB verletzt und ihm ein Festhalten am Vertrag nicht mehr zuzumuten ist.
Durch § 324 BGB wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Störungen des gegenseitigen Vertrages auch dadurch entstehen können, dass der Schuldner seine sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebende Pflicht verletzt, Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Gläubigers zu nehmen. Fällt dem Schuldner eine solche Pflichtverletzung zur Last, ist er gem. § 280 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Unter den Voraussetzungen von § 282 BGB steht ihm ein Schadensersatz statt der Leistung zu. § 324 BGB gibt dem Gläubiger zusätzlich das Recht, vom Vertrag zurückzutreten. Seine Voraussetzungen stimmen weitgehend mit denen des § 282 BGB überein. Das Rücktrittsrecht besteht aber auch - anders als der Schadensersatzanspruch - wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Zum Schadensersatzanspruch vgl. 2.4.1.3.1. Da der Schuldner, der eine Pflicht aus § 241 Abs. 2 verletzt, seine Leistung nicht vertragsgemäß erfüllt, kann in der Regel offen bleiben, ob das Recht zum Rücktritt auf § 323 oder 324 BGB gestützt wird (Palandt Rn. 1 zu § 324 BGB).
§ 324 BGB gilt für alle gegenseitigen Schuldverhältnisse. Er wird aber bei Dauerschuldverhältnissen, bei welchen es besonders leicht zur Verletzung von Verhaltenspflichten kommt, durch das Kündigungsrecht nach § 314 BGB verdrängt. Gem. § 314 Abs. 1 Satz 1 BGB kann jeder Vertragsteil Dauerschuldverhältnisse aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann (§ 314 Abs. 1 Satz 2 BGB). In diesen Fällen tritt die Kündigung aus wichtigem Grund an die Stelle des Rücktrittsrechts. Die Voraussetzungen sind aber mit den Voraussetzungen des Rücktrittsrechts nach den §§ 323 ff. BGB identisch. Das zeigt sich aus § 314 Abs. 2 bis 4 BGB.
Damit gem. § 324 BGB bejaht werden kann, dass das Festhalten am Vertrag nicht mehr zugemutet werden kann, muss in aller Regel eine Abmahnung erfolgt sein. Nur bei besonders schwerwiegenden Verstößen kann auf eine Abmahnung verzichtet werden (Palandt Rn. 4 zu § 324 BGB).
Voraussetzungen des Rücktrittsrechts nach § 326 BGB:
§ 326 BGB mit der Überschrift "Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt beim Ausschluss der Leistungspflicht" regelt bei gegenseitigen Schuldverhältnissen in den Abs. 1 bis 4 die Auswirkung auf die Gegenleistung, wenn der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB von seiner Leistungspflicht frei wird. Darauf wird hier nicht näher eingegangen. Vgl. dazu Palandt Rn. 2 bis 17 zu § 326 BGB.
§ 326 Abs. 5 BGB regelt das Rücktrittsrecht des Gläubigers in den Fällen, in welchen der Schuldner gem. § 275 Abs. 1, 2 oder 3 BGB von seiner Leistungspflicht frei wird. Er lautet:
"(5) Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten, kann der Gläubiger zurücktreten; auf den Rücktritt findet § 323 mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass die Fristsetzung entbehrlich ist."
Wenn der Schuldner gem. § 275 BGB von seiner Leistungspflicht frei wird und der Gläubiger gem. § 280 Abs. 3 BGB in Verbindung mit § 283 BGB schadensersatzpflichtig sein kann, hat der Gläubiger unabhängig vom Verschulden nach § 326 Abs. 5 BGB ein Rücktrittsrecht (Palandt Rn. 7 zu § 283 BGB).
Obwohl nach § 326 Abs. 5 BGB zur Ausübung des Rücktrittsrechts in den unter § 326 BGB fallenden Sachverhalten eine Fristsetzung nicht erforderlich ist, sollte der Gläubiger, da er in der Regel nicht weiß, aus welchen Gründen der Schuldner nicht leistet, wie in § 323 BGB gefordert, eine Frist setzen (Palandt Rn. 18 zu § 326 BGB). Wenn das Rücktrittsrecht nach § 323 BGB ausgeschlossen ist, entfällt auch das Rücktrittsrecht nach § 326 BGB, da ja § 323 BGB allerdings ohne des Erfordernisses der Fristsetzung entsprechend anwendbar ist.
2.4.1.4 Haftung für Erfüllungsgehilfen
Bei der Haftung des Schuldners für den Vertreter oder Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB handelt es sich um die Haftpflicht für fremdes Verschulden und nicht um eine Gefährdungshaftung. Bei der Haftung für fremdes Verschulden wird einer Person, die sich selbst rechtmäßig verhalten hat, die schuldhafte pflichtwidrige Handlung eines anderen zugerechnet. Man spricht hier von "Einstandspflicht". Eine Exkulpation in der Weise, dass die Haftung nicht eintreten würde, wenn sich der Vertretene bei der Auswahl des Erfüllungsgehilfen der erforderlichen Sorgfalt bedient hätte, ist anders als bei der in § 831 BGB geregelten Haftung für die von Verrichtungsgehilfen begangenen unerlaubten Handlungen nicht möglich. § 278 BGB lautet:
"§ 278 Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte
Der Schuldner hat ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Die Vorschrift des § 276 Abs. 3 findet keine Anwendung."
§ 278 BGB ist keine Grundlage für den Schadensersatzanspruch, sondern - ebenso wie § 276 BGB - eine Zurechnungsnorm (Palandt Rn. 1 zu § 278 BGB). Er besagt somit, von wem Schadensersatz verlangt werden kann, wenn ein Schadensersatzanspruch nach den §§ 280 ff. BGB und dem zugrunde liegenden Schuldverhältnis besteht. § 278 BGB gilt nur innerhalb bestehender Schuldverhältnisse, gleichgültig, ob es sich um vertragliche oder gesetzliche Schuldverhältnisse handelt (zum Anwendungsbereich des § 278 BGB vgl. Palandt Rn. 2 bis 4 zu § 278 BGB).
Nach § 278 BGB hat der Schuldner für Pflichtverletzungen des gesetzlichen Vertreters und des Erfüllungsgehilfen einzustehen.
Der Begriff des gesetzlichen Vertreters ist weit zu verstehen. Unter § 278 BGB fallen deshalb nicht nur der Inhaber elterlicher Sorge, der Vormund, Betreuer, Pfleger und Beistände, sondern auch sonstige Personen, die auf Grund gesetzlicher Vorschriften mit Wirkung für andere handeln können, so z.B. der Testamentsvollstrecker, Nachlassverwalter, Insolvenzverwalter und Zwangsverwalter (Palandt Rn. 5 zu § 278 BGB).
Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Falles mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird. Die Art der rechtlichen Beziehung, die zwischen dem Schuldner und dem Erfüllungsgehilfen besteht, ist gleichgültig (dazu näher Palandt Rn. 7 zu § 278 BGB). Hilfspersonen des Erfüllungsgehilfen sind Erfüllungsgehilfen des Schuldners, sofern dieser mit ihrer Heranziehung einverstanden war (Palandt Rn. 9 zu § 278 BGB).
Inwieweit dem Schuldner ein Verschulden des Erfüllungsgehilfen oder gesetzlichen Vertreters zuzurechnen ist, richtet sich nach dem konkreten Pflichtenkreis des Schuldners wie er nach Art und Inhalt des zugrunde liegenden Schuldverhältnisses festgelegt ist. Zu ihm gehören nicht nur Leistungs-, sondern auch Verhaltenspflichten, wie sie sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergeben (Palandt Rn. 13 und 18 zu § 278 BGB).
Der gesetzliche Vertreter oder Erfüllungsgehilfe muss schuldhaft, also vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben; denn nach § 278 Satz 1 BGB haftet der Schuldner für das Verschulden des gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen in gleichem Umfang, wie für eigenes Verschulden. Der Umfang des Verschuldens richtet sich somit nach § 276 BGB. Dazu vgl. 2.4.1.2.1. Für die Zurechnungsfähigkeit gem. § 827 BGB kommt es auf die Person des gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen an. Vertragliche oder gesetzliche Haftungseinschränkungen gelten auch für den Erfüllungsgehilfen. Wenn der Erfüllungsgehilfe wegen seiner speziellen Fachkenntnisse, z.B. als EDV-Fachmann herangezogen wird, kann sich der Haftungsmaßstab dadurch erhöhen (Palandt Rn. 27 zu § 278 BGB). Die Haftung für den Vorsatz des Erfüllungsgehilfen kann - anders als für den Schuldner selbst - vertraglich im Voraus erlassen werden; denn § 276 Abs. 3 BGB ist gem. § 278 Satz 2 BGB nicht anwendbar.
Während der Schuldner auf Grund von § 278 BGB für das Verschulden des Erfüllungsgehilfen oder des gesetzlichen Vertreters nach den §§ 280 ff. BGB haftet, haftet der Erfüllungsgehilfe oder gesetzliche Vertreter in der Regel nicht aus Vertrag, aber gegebenenfalls aus unerlaubter Handlung nach §§ 823 ff. BGB.
Folgendes Beispiel soll die obigen Ausführungen verdeutlichen:
A bestellt bei der Hilfsmittelfirma B eine Braillezeile. Die Braillezeile soll geliefert und am PC des A installiert werden. Die Auslieferung und Installation der Braillezeile erfolgt durch C, Mitarbeiter von B. Bei der Installation werden aus Unachtsamkeit des C die auf der Festplatte gespeicherten Daten gelöscht. Die Wiederherstellung der Daten verursacht erhebliche Kosten.
Zum Pflichtenkreis des B gehört die Lieferung und die Installation der Braillezeile. Diese Leistungen wurden von C erbracht. C ist Erfüllungsgehilfe des B. C hat die Daten durch Unachtsamkeit, also fahrlässig gelöscht. Dadurch ist ein Schaden entstanden.
C hat die sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebende Sorgfaltspflicht verletzt. Nach § 278 Satz 1 BGB in Verbindung mit § 276 BGB muss B für das Verschulden des C einstehen wie wenn es sein eigenes Verschulden gewesen wäre. Er muss gem. § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB Schadensersatz leisten, also die Kosten für die Wiederherstellung der Daten tragen.
2.4.1.5 Schadenshaftung bei unerlaubten Handlungen (Delikthaftung)
Eine Schadenshaftung aus unerlaubten Handlungen kann sich sowohl aus dem eigenen Handeln als auch aus Handlungen eines Verrichtungsgehilfen oder einer aufsichtspflichtigen Person ergeben.
Die Begründung der Schadensersatzpflicht aus unerlaubten Handlungen ist in den §§ 823 ff. BGB geregelt. Für das Verhältnis der §§ 823 BGB untereinander und zu anderen Anspruchsgrundlagen für einen Schadensersatzanspruch besteht der Grundsatz, dass sie eigenständig nebeneinander stehen und nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen selbständig zu beurteilen sind. Der Verletzte kann nach seiner Wahl aus jeder einschlägigen Haftungsnorm vorgehen, soweit sich nicht aus einer speziellen Regelung, wie z.B. bei der Amtspflichtverletzung nach Art. 34 GG und § 839 BGB etwas anderes ergibt (Palandt Rn. 4 Einführung vor §§ 823 ff. BGB). Zum Verhältnis der Haftung aus unerlaubten Handlungen nach den §§ 823 ff. BGB zu anderen Ansprüchen, wie z.B. zu vertraglichen Ansprüchen, zur Gefährdungshaftung, zu anderen gesetzlichen Schuldverhältnissen (beispielsweise Geschäftsführung ohne Auftrag, Bereicherungsanspruch), zu öffentlich-rechtlichen Ansprüchen und zu Sondergesetzen vgl. Palandt Rn. 5 bis 12 Einführung vor § 823 BGB.
Inhalt und Umfang des Schadensersatzanspruches richten sich nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 249 ff. BGB. Dazu vgl. 2.4.1.1.2. Sie werden bei Personenschäden durch die §§ 842 bis 846 BGB und bei Sachschäden durch die §§ 848 bis 851 BGB ergänzt.
2.4.1.5.1 Haftung für eigene unerlaubte Handlungen
Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung ist, dass ein objektiv rechtswidriger Eingriff in ein gem. § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Recht oder ein durch eine andere Vorschrift der §§ 823 ff. BGB (z.B. § 823 Abs. 2 BGB oder § 826 BGB) geschütztes Rechtsgut vorliegt. § 823 Abs. 1 BGB lautet:
"(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet."
In § 823 Abs. 1 BGB werden die so genannten "absoluten Rechte", nämlich das Leben, der Körper, die Gesundheit, die Freiheit, geschützt. Auch unter den "sonstigen Rechten" in § 823 Abs. 1 BGB sind auf Grund der systematischen Stellung nur absolute Rechte zu verstehen. Solche sind z.B. das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Recht am eigenen Namen und das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.
§ 823 Abs. 2 BGB lautet:
"(2) Die gleiche Verpflichtung (Verpflichtung zum Schadensersatz) trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht (aus unerlaubter Handlung) nur im Falle des Verschuldens ein."
Im Fall des Schadensersatzanspruchs nach § 823 Abs. 2 BGB muss eine Rechtsnorm verletzt sein, die den Schutz des Geschädigten bezweckt. Bei der Rechtsnorm muss es sich nicht um ein förmliches Gesetz handeln. Es genügt vielmehr jede Rechtsnorm. Darunter fallen also auch z.B. Verordnungen, ordnungspolizeiliche Regelungen, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen und Gewohnheitsrechte (Palandt Rn. 56 zu § 823 BGB). Die Schädigung muss durch die Verletzung des Schutzgesetzes verursacht sein. Dazu vgl. näher Palandt Rn. 58 zu § 823 BGB. Das Verschulden bezieht sich nach herrschender Meinung allein auf die Verletzung des Schutzgesetzes. Dieses muss vorsätzlich oder fahrlässig verletzt worden sein. Der Vorsatz oder die Fahrlässigkeit braucht sich also nicht auf den durch die Verletzung des Schutzgesetzes eingetretenen Schaden beziehen, soweit dies nicht Voraussetzung des verletzten Schutzgesetzes ist (Palandt Rn. 60 zu § 823 BGB). Schutzgesetze sind z.B. die §§ 185 ff. StGB (Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung), in welchen die Ehre das geschützte Rechtsgut ist oder §§ 223 ff. StGB (Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit). Zahlreiche Beispiele für Schutzgesetze finden sich bei Palandt Rn. 61 bis 72 zu § 823 BGB. Der Sachverhalt, welcher ein Schutzgesetz verletzt, kann auch den Tatbestand von § 823 Abs. 1 BGB erfüllen. Das ist z.B. in der Regel bei Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit der §§ 223 ff. StGB der Fall. Der Schadensersatzanspruch kann dann sowohl auf § 823 Abs. 1 BGB als auch auf § 823 Abs. 2 in Verbindung mit dem verletzten Schutzgesetz gestützt werden.
Rechtswidrigkeit ist gegeben, wenn der Tatbestand erfüllt ist und kein Rechtfertigungsgrund wie z.B. die Notwehr (§ 227 BGB) oder der Notstand (§ 228 BGB) vorliegt. Die Rechtswidrigkeit kann auch durch Einwilligung des Verletzten oder durch Vertrag ausgeschlossen sein. So erfüllt z.B. eine Operation den objektiven Tatbestand einer Körperverletzung nach § 223 StGB. Wenn der Patient einwilligt, ist diese aber nicht rechtswidrig; denn § 228 BGB bestimmt: "Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt." (vgl. zur Wirksamkeit der Einwilligung Palandt Rn. 38 und 39 zu § 823 BGB).
Verschulden ist Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch aus § 823 BGB. Für die Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs oder eines Beseitigungsanspruchs wird dagegen kein Verschulden verlangt (Palandt Rn. 40 zu § 823 BGB und Einführung Rn. 18 ff. vor § 823 BGB).
Verschulden setzt Zurechnungsfähigkeit gem. § 827 BGB sowie Vorsatz oder Fahrlässigkeit gem. § 276 BGB voraus und entfällt beim Vorliegen eines Schuldausschließungsgrundes (Palandt Rn. 40 zu § 823 BGB).
Die Schuldfähigkeit kann nach den §§ 827, 828 BGB ausgeschlossen sein. Gegebenenfalls besteht aber Billigkeitshaftung nach § 829 BGB. Diese Vorschriften lauten:
"§ 827 Ausschluss und Minderung der Verantwortlichkeit
Wer im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er für einen Schaden, den er in diesem Zustand widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne Verschulden in den Zustand geraten ist.
§ 828 Minderjährige
(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.
(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.
(3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.
§ 829 Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen
Wer in einem der in den §§ 823 bis 826 bezeichneten Fälle für einen von ihm verursachten Schaden auf Grund der §§ 827, 828 nicht verantwortlich ist, hat gleichwohl, sofern der Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann, den Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum angemessenen Unterhalt sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflichten bedarf."
Der Verschuldensgrad umfasst Vorsatz und jede Art der Fahrlässigkeit (§ 276 BGB). Vgl. dazu 2.4.1.1.1. Der Vorsatz verlangt Kenntnis der für die Erfüllung des Tatbestandes erforderlichen Umstände und den Willen, den Tatbestand zu verwirklichen sowie Bewusstsein der Rechtswidrigkeit. Der Vorsatz muss sich aber nicht auf den Umfang des Schadens beziehen.
Die Art und der Umfang des zu leistenden Schadensersatzes richten sich nach den §§ 249 bis 253 BGB. Vgl. dazu 2.4.1.1.2. Neben dem Ersatz des materiellen Schadens ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung als immaterieller Schaden gem. § 253 Abs. 2 BGB ein der Billigkeit entsprechendes Schmerzensgeld zu leisten.
Nach § 823 Abs. 1 BGB ist z.B. der Fahrer eines Kraftfahrzeuges schadensersatzpflichtig, wenn er einen Fußgänger fahrlässig und somit schuldhaft verletzt. Bei dem Fahrer kommt es in diesem Fall nicht darauf an, ob er Halter des Kraftfahrzeuges ist oder ob ihm dieses lediglich überlassen war; denn hier handelt es sich nicht um die Gefährdungshaftung nach § 7 Straßenverkehrsgesetz. Zur Gefährdungshaftung vgl. 2.4.2.
Häufig wird hier § 254 BGB eingreifen, wonach das Mitverschulden bei der Bemessung des Schadenersatzanspruchs zu berücksichtigen ist.
Würde z.B. ein blinder Verkehrsteilnehmer, der sich nicht entsprechend gekennzeichnet hat oder trotz eines weißen Langstocks ohne entsprechende Schulung in seinem Gebrauch einen Schaden erleiden, so könnte sehr leicht Mitverschulden gegeben sein.
Wenn ein blinder Fußgänger einen weißen Langstock benützt und ein Passant über diesen Stock stolpert und sich bei einem Sturz verletzt, kann sich daraus ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB gegen den Blinden ergeben. Es ist zu prüfen, ob er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat und ihn deshalb kein Verschulden trifft. In der Unaufmerksamkeit des gestürzten Fußgängers kann ein Mitverschulden gegeben sein, das nach § 254 BGB berücksichtigt werden muss.
2.4.1.5.2 Haftung für vermutetes Verschulden bei Verrichtungsgehilfen und aufsichtspflichtigen Personen
Haftung für Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB
Bei der Haftung für Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB handelt es sich um Haftung für vermutetes eigenes Verschulden des Geschäftsherren. Wer als solcher den Gehilfen bestellt hat, haftet nicht für dessen, sondern für eigenes deliktisches Verschulden, weil vermutet wird, dass er den Gehilfen schlecht ausgewählt oder seine Aufsichtspflicht verletzt hat. Er kann jedoch diese Vermutung widerlegen, indem er beweist, dass er bei der Auswahl des Gehilfen bzw. bei der Ausübung der Aufsichtspflicht die erforderliche Sorgfalt angewendet hat (Entlastungsbeweis, Exkulpation). § 831 BGB lautet:
"§ 831 Haftung für den Verrichtungsgehilfen
(1) Wer einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Geschäftsherr bei der Auswahl der bestellten Person und, sofern er Vorrichtungen oder Gerätschaften zu beschaffen oder die Ausführung der Verrichtung zu leiten hat, bei der Beschaffung oder der Leitung die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.
(2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher für den Geschäftsherrn die Besorgung eines der im Absatz 1 Satz 2 bezeichneten Geschäfte durch Vertrag übernimmt."
Die Haftung für Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB unterscheidet sich von der Haftung für Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB dadurch, dass sie sich anders als die Haftung für den Erfüllungsgehilfen nicht auf Schäden innerhalb eines bestimmten bestehenden Schuldverhältnisses bezieht. Zur Haftung für den Erfüllungsgehilfen vgl. 2.4.1.2.3.
Für Selbsthilfeorganisationen behinderter Menschen ist zu beachten: Vereine haften gemäß § 31 BGB für Schäden, die verursacht wurden durch unerlaubte Handlungen, die wiederum begangen wurden durch Mitglieder des Vorstandes im Sinne von § 26 BGB oder durch ihre satzungsgemäß bestellten Vertreter im Sinne des § 30 BGB. Die Betreffenden müssen in Ausführung der ihnen obliegenden Verrichtungen gehandelt haben; ein Entlastungsbeweis nach § 831 BGB ist in diesem Falle nicht möglich. Dasselbe gilt gemäß § 86 BGB für Stiftungen und gemäß § 89 BGB für die dort genannten juristischen Personen des öffentlichen Rechts.
Für Personen, die vom Vorstand oder von den satzungsmäßig bestellten Vertretern einer juristischen Person zu einer Verrichtung bestellt worden sind, z.B. zur Verrichtung von Hausmeisterdiensten, haftet die juristische Person dagegen nach § 831 BGB. Wenn durch die Handlung oder Unterlassung einer erforderlichen Handlung ein Schaden eingetreten ist, kommt es in diesem Fall auf die Beachtung der Sorgfaltspflicht durch den Vorstand bzw. die satzungsmäßigen Vertreter bei der Auswahl und Beaufsichtigung des Verrichtungsgehilfen an (Palandt Rn. 3 zu § 831 BGB).
"Verrichtungsgehilfe" ist, wer von einem anderen zu einer Verrichtung bestellt wurde. Die Bestellung muss nicht notwendigerweise auf einem Vertrag beruhen. Sie kann auch stillschweigend erfolgen. Gleichgültig ist, ob die Bestellung gegen Entgelt oder unentgeltlich erfolgt ist. Der Verrichtungsgehilfe muss aber an Weisungen desjenigen, für den er tätig wird, gebunden sein. Zu Einzelheiten und Beispielen vgl. Palandt Rn. 5 und 6 zu § 831 BGB.
Der Schaden muss rechtswidrig herbeigeführt worden sein. Der Verrichtungsgehilfe muss also den Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach den §§ 823 ff. BGB erfüllt haben, ohne dass ein Rechtfertigungsgrund gegeben war. Auf sein Verschulden kommt es in der Regel nicht an (Palandt Rn. 8 zu § 831 BGB). Wenn den Verrichtungsgehilfen selbst ein Verschulden trifft, besteht neben dem Schadensersatzanspruch gegen den Geschäftsherrn auch ein Schadensersatzanspruch gem. §§ 823 ff. BGB gegen ihn.
Die Haftung des Geschäftsherrn tritt nicht ein, wenn gem. § 831 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz BGB nachgewiesen werden kann, dass bei der Auswahl des Verrichtungsgehilfen die erforderliche Sorgfalt beachtet worden ist. Maß und Umfang der Sorgfaltspflicht richten sich nach der Verkehrsanschauung, der Art der Verrichtung und die besonderen Umstände des Einzelfalls (Palandt Rn. 10 zu § 831 BGB). Ebenso ist nach § 831 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz BGB ein Entlastungsbeweis möglich, wenn der Geschäftsherr, der Vorrichtungen oder Gerätschaften zu beschaffen oder die Ausführung der Verrichtung zu leiten hat, nachweisen kann, dass er bei der Beschaffung der Geräte oder der Überwachung der Ausführung die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat.
Ein Entlastungsbeweis ist nach § 831 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz auch hinsichtlich der Ursächlichkeit des Schadens möglich. Dazu muss der Geschäftsherr nachweisen, dass der Schaden auch dann entstanden wäre, wenn er bei der Auswahl des Verrichtungsgehilfen, der Auswahl der Geräte und der Überwachung der Verrichtung die erforderliche Sorgfalt angewendet hätte, es also an der Ursächlichkeit der vermuteten Sorgfaltspflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden fehlt.
Haftung von Aufsichtspflichtigen nach § 832 BGB
Auch bei der Haftung für Aufsichtspflichtige nach § 832 BGB handelt es sich um die Haftung für vermutetes Verschulden. Die Haftung tritt nicht ein, wenn der Aufsichtspflichtige nachweisen kann, dass er seiner Aufsichtspflicht genügt oder dass der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde. § 832 BGB lautet:
"§ 832 Haftung des Aufsichtspflichtigen
(1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
(2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht durch Vertrag übernimmt."
Voraussetzung für die Haftung des Aufsichtspflichtigen ist, dass der Schädiger aufsichtsbedürftig ist. Minderjährige sind gem. § 832 Abs. 1 BGB stets aufsichtsbedürftig. Der Inhalt der Aufsichtspflicht richtet sich nach den konkreten Umständen, wobei insbesondere das Alter und der Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen zu beachten sind (§ 1626 Abs. 2 BGB). Volljährige können gemäß § 832 Abs. 2 BGB wegen ihres geistigen und körperlichen Zustandes - im Prinzip also auch wegen Blindheit - aufsichtsbedürftig sein, die Aufsichtsbedürftigkeit ist dann aber im Einzelfall nachzuweisen.
§ 832 Abs. 1 Satz 1 BGB setzt eine gesetzlich angeordnete Aufsichtspflicht voraus. Aufsichtspflichtig sind die Inhaber der Personensorge für minderjährige Kinder soweit die Personensorge besteht. Das ist der Fall für Eltern (§§ 1626 ff., 1671 ff. BGB), für Vormünder und Pfleger, soweit ihnen die Personensorge übertragen ist (§§ 1793, 1797, 1800, 1909 f., 1915 BGB).
Aufsichtspflichtig und damit nach § 832 BGB verantwortlich ist gem. § 832 Abs. 2 BGB auch derjenige, welcher die Aufsicht durch Vertrag übernimmt. Die Übernahme der Aufsichtspflicht kann ausdrücklich oder stillschweigend vereinbart werden. Das Ausmaß der übernommenen Pflicht richtet sich, soweit darüber nichts vereinbart worden ist, danach, was nach den Umständen, insbesondere den Möglichkeiten des Übernehmenden erwartet werden kann. Aufsichtspflicht auf Grund einer Vereinbarung besteht z.B. für Pflegeeltern, für Erzieher in einer Kindertagesstätte, einem Kinderheim, Betreuer eines Ferienlagers. Vgl. dazu Palandt Rn. 6 zu § 832 BGB mit weiteren Beispielen. Wenn die Aufsichtspflicht innerhalb einer staatlichen Einrichtung, z.B. einer öffentlichen Schule ausgeübt wird, hat die Haftung aus Amtspflichtverletzung nach § 839 BGB Vorrang (Palandt Rn. 3 zu § 832 BGB).
Der Schaden muss durch den Aufsichtsbedürftigen widerrechtlich zugefügt worden sein. D.h. der Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach den §§ 823 bis 826, 832 ff. BGB muss erfüllt sein, ohne dass ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Auf das Verschulden des Aufsichtsbedürftigen kommt es dagegen grundsätzlich nicht an (Palandt Rn. 7 zu § 832 BGB).
Der Aufsichtspflichtige kann den Entlastungsbeweis gem. § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB in zwei Richtungen führen:
- dass er den Anforderungen an seine Aufsichtspflicht nachgekommen ist und
- dass der Schaden selbst dann eingetreten wäre, wenn er seine Aufsichtspflicht in gehöriger Weise erfüllt hätte.
Der Aufsichtspflichtige hat seine Pflicht erfüllt, wenn er das im Hinblick auf Alter, Eigenart und Charakter des Aufsichtsbedürftigen sowie im Hinblick auf die zur Rechtsgutverletzung führende konkrete Situation Erforderliche getan hat. Er hat umfassend und konkret darzulegen und zu beweisen, was er zur Erfüllung seiner Aufsichtspflicht getan hat, bzw. warum nach der Person des Aufsichtsbedürftigen die üblichen Maßnahmen nicht erforderlich waren (Palandt Rn. 8 zu § 832 BGB). Zu Beispielen hinsichtlich der Anforderungen an die Erfüllung der Aufsichtspflicht bei Minderjährigen vgl. Palandt Rn. 9 bis 12 zu § 832 BGB.
Der Aufsichtspflichtige hat den Schaden zu ersetzen, den der Aufsichtsbedürftige aus seiner unerlaubten Handlung zu ersetzen hätte (Palandt Rn. 14 zu § 832 BGB).
Art und Umfang des Schadensersatzes richten sich nach den §§ 249 ff. BGB. Dazu vgl. 2.4.1.1.2.
Neben dem Anspruch auf Schadensersatz gegen den Aufsichtspflichtigen kann auch ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubten Handlungen nach §§ 823 ff. BGB gegenüber dem Aufsichtsbedürftigen bestehen. Für dessen Verschulden sind die §§ 827 ff. BGB zu beachten (Palandt Rn. 3 zu § 832 BGB).
Für Eltern oder sonstige Erziehungsberechtigte eines blinden oder sehbehinderten Kindes stellt sich im Zusammenhang mit der Aufsichtspflicht die Frage, ob und wieweit sie für Schäden haften, wenn sie dem blinden oder sehbehinderten Kind die Teilnahme am Straßenverkehr, sei es als Fußgänger oder Radfahrer gestatten und das Kind einen Schaden verursacht.
Die Frage ist somit, welche Vorkehrungen zu treffen sind und welche Anforderungen an die Aufsichtspflicht gestellt werden müssen.
Maßgebend für die Teilnahme am Straßenverkehr - auch als Fußgänger ! - ist die Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) vom 18. August 1998. § 2 FeV lautet:
"§ 2 Eingeschränkte Zulassung
(1) Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich durch das Anbringen geeigneter Einrichtungen an Fahrzeugen, durch den Ersatz fehlender Gliedmaßen mittels künstlicher Glieder, durch Begleitung oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kennzeichen, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen.
(2) Körperlich Behinderte können ihre Behinderung durch gelbe Armbinden an beiden Armen oder andere geeignete, deutlich sichtbare, gelbe Abzeichen mit drei schwarzen Punkten kenntlich machen. Die Abzeichen dürfen nicht an Fahrzeugen angebracht werden. Wesentlich sehbehinderte Fußgänger können ihre Behinderung durch einen weißen Blindenstock, die Begleitung durch einen Blindenhund im weißen Führgeschirr und gelbe Abzeichen nach Satz 1 kenntlich machen.
(3) Andere Verkehrsteilnehmer dürfen die in Absatz 2 genannten Kennzeichen im Straßenverkehr nicht verwenden."
Ein blindes oder sehbehindertes Kind, das eine Verkehrserziehung erfahren und ein Orientierungs- und Mobilitätstraining absolviert hat, kann am Straßenverkehr als Fußgänger teilnehmen. Eltern und sonst Aufsichtspflichtige sollten hier nicht zu ängstlich sein und ihrem Kind durchaus etwas zutrauen. Unbedingt muss aber darauf geachtet werden, dass die nach § 2 Abs. 1 FeV erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, um andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden. Eine erforderliche Vorkehrung ist entweder die Begleitung durch eine Person oder das Tragen von Kennzeichen im Sinn von § 2 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 2 FeV. Verständlicherweise wird das Tragen von gelben Armbinden mit drei schwarzen Punkten an beiden Armen oder die Kennzeichnung durch einen weißen Blindenstock, entsprechend § 2 Abs. 2 FeV bei blinden oder sehbehinderten Kindern und Jugendlichen auf Widerwillen treffen. Hier muss an die Verantwortlichkeit appelliert werden. Es geht nicht nur darum, selbst die erforderliche Rücksichtnahme zu erfahren, sondern auch darum, andere Verkehrsteilnehmer vor Schaden zu bewahren. Wenn ein blindes oder wesentlich sehbehindertes Kind oder Jugendlicher mit einem Begleiter unterwegs ist, brauchen diese Kennzeichen nicht getragen zu werden. Ein Begleiter kann auch ein Freund sein, der über das erforderliche Geschick beim Führen verfügt.
Die Pflicht, für die erforderlichen Vorkehrungen zu sorgen, trifft nicht nur den Verkehrsteilnehmer (also das blinde oder sehbehinderte Kind) selbst, sondern auch einen für den wegen der Minderjährigkeit oder Behinderten Verantwortlichen, also die Eltern oder sonst aufsichtspflichtige Personen (§ 832 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Aufsichtspflichtige seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde (§ 832 Abs. 1 Satz 2 BGB).
Die Aufsichtspflicht der Eltern ergibt sich aus § 1631 BGB. Sie bewegen sich dabei in einem ständigen Spannungsfeld. Auf der einen Seite steht der Auftrag, Kinder zu selbstständigem, verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und dabei deren wachsende Fähigkeiten und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Das heißt Kinder benötigen dafür auch Freiräume, um zu lernen, mit Risiken und Gefahren umzugehen. Auf der anderen Seite bedeutet Aufsichtspflicht, die Kinder und auch Dritte vor Schaden zu bewahren und das Tun der Kinder dementsprechend zu beaufsichtigen. Der konkrete Inhalt der Aufsichtspflicht ist gesetzlich nicht geregelt. Art und Ausmaß der Aufsichtspflicht hängen von den Umständen des Einzelfalls ab. Der Reife- und Erziehungsstand ist bei jedem Kind individuell einzuschätzen. Insbesondere bei der Aufsichtspflicht im Straßenverkehr richten sich die Anforderungen an das Alter des Kindes. Bis zum Beginn des schulpflichtigen Alters sind nach der Rechtsprechung Kinder gründlich zu beaufsichtigen, da sie zu unberechenbarem Verhalten neigen. Wenn Eltern ein blindes oder sehbehindertes Kind, das fähig ist, am Straßenverkehr als Fußgänger teilzunehmen, dieses über die Gefahren fehlender Kennzeichnung für es selbst oder für andere Verkehrsteilnehmer aufgeklärt und dafür gesorgt haben, dass sich das Kind entsprechend kennzeichnet oder mit geeigneter Begleitung unterwegs ist und wenn sie sich darauf verlassen können, dass diese Vorkehrungen eingehalten werden, muss das zur Wahrung der Aufsichtspflicht genügen. Sie haben dann ihre Informationspflicht erfüllt. Aus der Überwachungspflicht ergibt sich, dass die Aufsichtspflichtigen überwachen müssen, ob sich das Kind auch tatsächlich entsprechend verhält und die erforderliche Kennzeichnung vornimmt oder begleitet wird. Daraus folgt aber nicht, dass das Kind ständig überwacht werden muss.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die Frage der erforderlichen Vorkehrungen und der Anforderungen an die Aufsichtspflicht bei der Teilnahme sehbehinderter Kinder oder Jugendlicher als Radfahrer am Straßenverkehr. Unter welchen Voraussetzungen ist eine Teilnahme als Radfahrer überhaupt zulässig und wie steht es mit der Vorsorgepflicht gem. § 2 Abs. 1 FeV insbesondere durch Kennzeichnung der Behinderung gem. § 2 Abs. 2 FeV?
Der allgemeine Grundsatz, dass durch die Teilnahme am Straßenverkehr andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet werden dürfen (§ 1 FeV) ist selbstverständlich zu beachten. Auch die sich aus § 2 Abs. 2 ergebende Vorsorgemaßnahme, also das Tragen von gelben Armbinden mit drei schwarzen Punkten an beiden Armen (!) muss beachtet werden. Die Kennzeichen dürfen nicht am Fahrzeug angebracht, sondern müssen von der Person getragen werden. In § 12 FeV und in der Anlage 6 zur FeV werden Anforderungen an das Sehvermögen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeuges aufgestellt. Diese Anforderungen gelten zwar nicht für das Fahren mit dem Fahrrad. Einen Anhaltspunkt können sie trotzdem bieten. So werden auch für das Führen eines Mofas (Klasse M) nach Nummer 1.2 der Anlage 6 folgende Sehwerte gefordert:
- Bei Beidäugigkeit: Sehschärfe des besseren Auges oder beidäugige Gesamtsehschärfe: 0,5, wobei die Sehschärfe des schlechteren Auges mindestens 0,2 betragen muss.
- Bei Einäugigkeit (d.h. Sehschärfe des schlechteren Auges unter 0,2): 0,6.
Außerdem muss ein normales Gesichtsfeld eines Auges oder ein gleichwertiges beidäugiges Gesichtsfeld mit einem horizontalen Durchmesser von mindestens 120 Grad vorhanden sein. Insbesondere muss das zentrale Gesichtsfeld bis 30 Grad normal sein. Diese Werte sind nach Auffassung des Bundesverkehrsministeriums auch für Radfahrer verbindlich.
Die Eltern bzw. sonst aufsichtspflichtige Personen müssen sowohl darauf achten, dass Kinder oder Jugendliche, die nicht über das erforderliche Sehvermögen verfügen, nicht als Radfahrer am Straßenverkehr teilnehmen. Sie müssen weiter darauf achten, dass die erforderliche Vorkehrung durch das Tragen der gelben Armbinden mit drei schwarzen Punkten an beiden Armen beachtet wird. Vgl. ergänzend auch die Ausführungen in Heft 04 "Frühförderung und Schule - Informationen für Eltern blinder und sehbehinderter Kinder" Abschnitt 10 mit Unterpunkten.
2.4.2 Gefährdungshaftung
Gefährdungshaftung ist die Haftung für Schäden, die sich aus einer erlaubten Gefahr (z. B. das Halten eines Haustieres, den Betrieb einer gefährlichen Einrichtung, die Haltung eines Kraftfahrzeuges) ergeben.
Im Unterschied zur Haftung aus unerlaubter Handlung kommt es bei einer Gefährdungshaftung auf die Widerrechtlichkeit der Handlung oder ein Verschulden des Schädigers nicht an.
2.4.2.1 Haftung des Tierhalters
Die Haftung des Tierhalters ist insbesondere auch für blinde Menschen, welche einen Blindenführhund halten, bedeutsam. Vgl. dazu näher 3.2.3. Die Tierhalterhaftung ist in § 833 BGB geregelt. Dieser lautet:
"Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde."
§ 833 BGB enthält zwei voneinander unabhängige Haftungstatbestände: Als allgemeine Regel begründet § 833 Satz 1 BGB eine Gefährdungshaftung des Tierhalters unter der Voraussetzung, dass das von ihm gehaltene Tier einem Dritten an den in § 833 BGB geschützten Rechtsgütern rechtswidrig Schaden zufügt. Davon abweichend belässt es § 833 Satz 2 für die Haltung von Haustieren, die dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters dienen (so genannten Nutztieren) bei der eingeschränkten Haftung für vermutetes Verschulden. Unter die Regelung in § 833 Satz 2 BGB fallen auch Blindenhunde. Sie sind Haustiere, die dem Unterhalt dienen (Palandt Rn. 16 zum Begriff des Haustiers und Rn. 17 zum Begriff der Nutztiere).
Vermutet wird nach § 833 Satz 2 BGB, dass der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres seine im Verkehr erforderliche Sorgfaltspflicht verletzt hat und dass diese Pflichtverletzung ursächlich für den eingetretenen Schaden ist. Beide Vermutungen können widerlegt werden (Palandt Rn. 1 zu § 833 BGB und zum Entlastungsbeweis Rn. 15 zu § 833 BGB). Aber auch in diesem Fall kommt ein Schadensersatzanspruch aus Billigkeitsgründen gem. § 829 BGB in Frage (Palandt Rn. 1 zu § 829 BGB).
Der Grund für die strenge Tierhalterhaftung liegt in der Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens und der dadurch gegebenen Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum Dritter (Palandt Rn. 1 zu § 833 BGB).
Der Schaden muss nicht unmittelbar durch das Tier, z.B. durch einen Biss, herbeigeführt werden. Für die Verursachung des Schadens genügt auch, dass das Verhalten des Tieres mittelbar wirkt, indem es z.B. beim Geschädigten Schreckreaktionen auslöst, die ihrerseits zum Schaden führen. Das ist z.B. der Fall, wenn ein Hund ein Kind anspringt und dieses vor Schreck auf die Straße läuft und von einem Kfz angefahren und verletzt wird (Palandt Rn. 6 zu § 833 BGB).
Das Mitverschulden des Verletzten ist gem. § 254 BGB zu berücksichtigen. Ein Mitverschulden ist gegeben, wenn der Verletzte die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch gegenüber Tieren zu beobachten pflegt, um sich vor Schaden zu bewahren, insbesondere sich nicht auf allgemein bekannte Tiergefahren einstellt und entsprechende Sorgfalt walten lässt (Palandt Rn. 13 zu § 833 BGB).
Die Art und Höhe des Schadensersatzes einschließlich des Anspruchs auf Schmerzensgeld richten sich nach den §§ 249 ff. BGB.
2.4.2.2 Haftung aus dem Betrieb einer Eisenbahn
Aus dem Betrieb einer Eisenbahn besteht nach § 1 Haftpflichtgesetz eine Gefährdungshaftung für Tötung, Körper- oder Gesundheitsschäden, soweit diese nicht durch höhere Gewalt verursacht werden. Blinde und hochgradig sehbehinderte Personen sind wiederholt schwer verletzt worden oder ums Leben gekommen, weil sie wegen fehlender Sicherheitsvorrichtungen den Einstieg in das Fahrzeug verfehlten und zwischen die Wagen stürzten. Wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt hat, gilt gem. § 4 Haftpflichtgesetz § 254 BGB; d.h. die Ersatzpflicht und ihr Umfang richten sich danach, inwieweit ein Mitverschulden des Geschädigten gegeben ist. Der Umfang des zu leistenden Schadensersatzes wird in den §§ 5 ff. Haftpflichtgesetz geregelt. Wenn für den Schaden ein Verschulden ursächlich ist, wenn er z.B. durch Fahrlässigkeit eines Mitarbeiters der Bahn herbeigeführt worden ist, kann der Schadensersatzanspruch auch auf Verschuldenshaftung, z.B. auf eine unerlaubte Handlung nach 823 BGB gestützt werden; denn nach § 12 Haftpflichtgesetz "bleiben gesetzliche Vorschriften, nach denen ein Ersatzpflichtiger in weiterem Umfang als nach den Vorschriften dieses Gesetzes haftet oder nach denen ein anderer für den Schaden verantwortlich ist" unberührt.
2.4.2.3 Haftung des Kraftfahrzeughalters
Um eine Gefährdungshaftung handelt es sich auch bei der Haftung des Fahrzeughalters nach § 7 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) für Tod, Körper-, Gesundheits- oder Sachschäden, die sich aus dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs im Sinne des § 1 Abs. 2 StVG ergeben. An der Haftung des Kraftfahrzeughalters lässt sich der Unterschied zwischen Verschuldens- und Gefährdungshaftung besonders deutlich machen: Wenn der Kraftfahrzeughalter selbst fährt und rechtswidrig und schuldhaft einen anderen Verkehrsteilnehmer verletzt oder ein anderes Kraftfahrzeug beschädigt, haftet er für diesen Schaden aus unerlaubter Handlung nach § 823 Abs. 1 BGB). Dazu vgl. 2.4.1.2. Überlässt er dagegen das Kraftfahrzeug einem Anderen und verletzt dieser rechtswidrig und schuldhaft einen anderen Verkehrsteilnehmer, tritt die Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1 StVG ein. Der Halter eines Fahrzeugs haftet für sämtliche Personen- und Sachschäden, die bei dem Betrieb (gemeint ist durch den Betrieb, also nicht nur bei Gelegenheit des Betriebs) entstanden sind. Bestandteil der betriebsspezifischen Gefahr sind nach herrschender Meinung (BGHZ Band 29, S. 163) hingegen auch Risiken, die von einem ruhenden Fahrzeug ausgehen, das im öffentlichen Verkehrsraum auf verkehrsbeeinflussende Weise ruht. Wenn z.B. ein Kraftfahrzeug auf einem Gehweg abgestellt ist und sich ein blinder Fußgänger, der das Kfz nicht bemerken konnte, dagegenstößt und sich verletzt oder seine Kleidung beschädigt wird, ist der Schaden zu ersetzen. Soweit bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt hat, ist dieses gem. § 9 StVG zu berücksichtigen. Die Höhe des zu leistenden Schadensersatzes richtet sich nach §§ 10 ff. StVG. Nach § 16 StVG "bleiben die bundesrechtlichen Vorschriften, nach welchen der Fahrzeughalter für den durch das Fahrzeug verursachten Schaden in weiterem Umfang als nach den Vorschriften dieses Gesetzes haftet oder nach welchen ein anderer für den Schaden verantwortlich ist" unberührt.
Die Gefährdungshaftung darf nicht mit der deliktischen Haftung für vermutetes Verschulden (z.B. Haftung des Fahrzeugführers nach § 18 Abs. 1 StVG oder Haftung für nützliche Haustiere nach § 833 Satz 2 BGB) verwechselt werden. Durch die Haftung für vermutetes Verschulden wird der Geschädigte lediglich von der Pflicht befreit, ein Verschulden des Schädigers nachzuweisen. § 18 Abs. 1 StVG lautet:
"(1) In den Fällen des § 7 Abs. 1 (StVG) ist auch der Führer des Kraftfahrzeugs oder des Anhängers zum Ersatz des Schadens nach den Vorschriften der §§ 8 bis 15 (StVG) verpflichtet. Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Schaden nicht durch ein Verschulden des Führers verursacht ist."
Wenn der Geschädigte ein Verschulden des Kraftfahrzeugführers nachweisen kann, kann er den Schadensersatzanspruch auch auf Verschuldenshaftung z.B. wegen unerlaubter Handlung nach § 823 BGB stützen, denn nach § 18 Abs. 2 StVG findet § 16 StVG entsprechende Anwendung.
3 Privatrecht in verschiedenen Lebensbereichen
Privatrechtliche Regelungen spielen in verschiedenen Lebensbereichen eine Rolle. Im Folgenden werden ausgewählte Themen behandelt, die für blinde oder sehbehinderte Menschen von Bedeutung sind.
3.1 Erwerb von Hilfsmitteln
Hilfsmittel sind Gegenstände, die dem Benutzer die Verrichtung von Tätigkeiten erleichtern oder auch erst ermöglichen sollen. Sie können für den Benutzer individuell hergestellt oder auch in Serie angefertigt sein. So sind Hilfsmittel z.B. Handys, die der Kommunikation und Information dienen, Braillezeilen, die blinden PC-Benutzern das Lesen in Brailleschrift ermöglichen, Tandems, die blinden oder hochgradig sehbehinderten Menschen das Fahrradfahren mit einem Piloten ermöglichen.
Ob ein Kostenträger, z.B. eine gesetzliche oder private Krankenkasse, der Bund oder die Länder gegenüber beihilfeberechtigten Mitarbeitern verpflichtet ist, die Kosten für das Hilfsmittel zu übernehmen, richtet sich nach den für diesen Kostenträger geltenden gesetzlichen oder anderen rechtlichen Grundlagen, z.B. für die gesetzlichen Krankenkassen nach dem SGB V. Vgl. dazu ausführlich Heft 3 dieser Schriftenreihe, dort Kapitel 6.1 mit Unterpunkten.
Aus diesen rechtlichen Grundlagen ergeben sich, was die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten betrifft, drei unterschiedliche Kategorien, die im Folgenden jede für sich zu behandeln sind. Zu unterscheiden ist,
- ob das Hilfsmittel vom Erwerber unmittelbar beschafft wird, ohne dass ein Anspruch auf Kostenerstattung durch einen Kostenträger gegeben ist oder geltend gemacht wird (Abschnitt 3.1.1) oder
- ob ein Anspruch gegenüber einem Kostenträger auf Erstattung der Kosten besteht (Abschnitt 3.1.2) oder
- ob auf Grund des sog. Sachleistungsprinzips die Beschaffung des Hilfsmittels durch den Kostenträger erfolgt (Abschnitt 3.1.3).
3.1.1 Erwerb von Hilfsmitteln ohne Kostenträger oder Anspruch auf Erstattung der Kosten
Hilfsmittel aller Art können den Alltag erheblich erleichtern und so behinderten Menschen zu mehr Unabhängigkeit verhelfen. Im Sozialrecht wird unterschieden zwischen "allgemeinen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens" und Hilfsmitteln, welche im Einzelfall erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg einer Heilbehandlung zu sichern oder eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen (§ 31 Abs. 1 SGB IX und für die gesetzlichen Krankenkassen § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Unterschieden wird zwischen Hilfsmitteln, die unmittelbar eine Behinderung ausgleichen, wie z.B. eine Prothese oder ein Hörgerät und solchen, welche die Behinderung mittelbar ausgleichen, wie z.B. ein weißer Langstock. Für mittelbar ausgleichende Hilfsmittel wird von der Rechtsprechung des BSG verlangt, dass sie der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dienen (vgl. dazu Heft 3 Abschnitt 6.3.3 dieser Schriftenreihe). Für Hilfsmittel, welche "allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens" sind, besteht, wie sich aus den §§ 31 SGB IX und 33 SGB V ergibt, mit Ausnahme der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 31 SGB VII - vgl. Abschnitt 7 in Heft 3 dieser Schriftenreihe), des sozialen Entschädigungsrechts (§ 13 BVG - vgl. Abschnitt 8 Heft 3 dieser Schriftenreihe) sowie des Sozialhilfeträgers im Rahmen der Eingliederungshilfe gem. § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII, kein Anspruch auf Leistung gegenüber einem Kostenträger. Allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind nach der Rechtsprechung des BSG solche, welche nicht zum Gebrauch für behinderte Menschen bestimmt sind oder überwiegend von diesem Personenkreis benutzt werden (BSG Urteil vom 16.09.1999 - B 3 RK 1/99 R; vgl. dazu näher Heft 3 Abschnitt 6.3.1 dieser Schriftenreihe).
Wenn jemand ein Hilfsmittel anschafft, für welches die Pflicht zur Kostenübernahme eines Kostenträgers nicht besteht, weil es sich z.B. um einen "allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens" handelt wie z.B. bei einem Handy, oder die Leistungspflicht gesetzlich ausgeschlossen ist bzw. wenn aus welchen Gründen auch immer kein Anspruch gegenüber einem Kostenträger geltend gemacht wird, liegt der Anschaffung ein rein privatrechtliches Rechtsgeschäft zugrunde.
Die Rechte und Verpflichtungen ergeben sich beim rein privaten Erwerb von Hilfsmitteln aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB).
Wenn ein Hilfsmittel, welches nicht speziell angefertigt werden muss, z.B. ein Handy, erworben werden soll, liegt ein Kaufvertrag vor. Rechtsgrundlage sind die §§ 433 ff. BGB. Wenn das Hilfsmittel speziell angefertigt werden muss, wie z.B. eine Brille, die entsprechend den ophtalmologischen Befunden angefertigt wird, handelt es sich um einen Werkvertrag (§§ 631 ff. BGB). Da gem. § 656 BGB "auf einen Vertrag, der die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand hat", die Vorschriften über den Kauf Anwendung finden, gelten die zum Kaufvertrag gemachten Ausführungen auch auf solche Verträge.
Die Rechte und Verpflichtungen des Verkäufers und des Käufers ergeben sich aus den §§ 433 ff. BGB.
§ 433 BGB mit der Überschrift "Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag", welcher die Hauptpflichten des Verkäufers und des Käufers enthält, lautet:
"(1) Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen. Der Verkäufer hat dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen.
(2) Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzunehmen."
Der Kauf ist ein schuldrechtlicher gegenseitiger Vertrag (§§ 320 ff. BGB). Zu beachten ist, dass infolge des Grundsatzes der Vertragsfreiheit im Kaufvertrag von den gesetzlichen Bestimmungen abweichende Regelungen vereinbart werden können, soweit nicht die Hauptpflichten eines Kaufvertrages beseitigt werden sollen (Palandt RN. 3 zu § 433 BGB). Von den gesetzlichen Bestimmungen abweichende Regelungen enthalten oft allgemeine Geschäftsbedingungen. Für diese sind die §§ 305 ff. BGB zu beachten. Allgemeine Geschäftsbedingungen dürfen nicht zu einer unangemessenen Benachteiligung des Vertragspartners führen (§ 307 bis § 309 BGB). Vgl. zu allgemeinen Geschäftsbedingungen auch 2.3.2.
Im BGB herrscht das Abstraktionsprinzip. Das bedeutet, dass sich aus dem Kaufvertrag als schuldrechtlichem Vertrag die Verpflichtungen und Berechtigungen des Käufers und des Verkäufers ergeben. Davon zu unterscheiden sind die Rechtsgeschäfte, welche zur Erfüllung der sich aus dem Kaufvertrag ergebenden Verpflichtungen notwendig sind wie z.B. die Übereignung des Kaufgegenstandes an den Käufer. Vgl. dazu 3.1.1.1 "Pflichten des Verkäufers und 3.1.1.2 "Pflichten des Käufers".
3.1.1.1 Pflichten des Verkäufers
§ 433 Abs. 1 BGB enthält drei Hauptpflichten des Verkäufers: Als erste Hauptpflicht des Verkäufers nennt § 433 Abs. 1 Satz 1 BGB die Übergabe. Übergabe ist die Beschaffung des unmittelbaren Besitzes. Unmittelbarer Besitz ist gem. § 854 BGB die tatsächliche Herrschaft über die Sache (vgl. dazu näher Palandt Rn. 13 bis 15 zu § 433 BGB).
Die zweite Hauptpflicht des Verkäufers ist die Übereignung der gekauften Sache. Rechtsgrundlagen für die Übereignung des Kaufgegenstandes sind bei beweglichen Sachen §§ 929 bis 931 BGB. Zur Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache ist gem. § 929 BGB erforderlich, dass der Eigentümer die Sache dem Erwerber übergibt und beide darüber einig sind, dass das Eigentum übergehen soll. Ist der Erwerber bereits im Besitz der Sache, so genügt die Einigung über den Übergang des Eigentums.
Die dritte Hauptpflicht des Verkäufers ist gem. § 433 Abs. 1 Satz 2 BGB, dass er dem Käufer den Kaufgegenstand frei von Sach- und Rechtsmängeln verschafft.
Neben den Hauptpflichten können sich aus dem Vertragsverhältnis Nebenpflichten ergeben, auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt sind. § 241 Abs. 2 BGB bestimmt:
"(2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten."
Wenn Nebenpflichten verletzt werden, bestehen bei Verschulden Schadensersatzansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB oder aus § 280 Abs. 3 BGB in Verbindung mit §§ 281 ff. BGB(Palandt Rn. 22 zu § 433 BGB). Vgl. dazu näher 2.4 mit Unterpunkten. Nebenpflichten des Verkäufers können nach der Rechtsprechung und Lehre z.B. sein:
- Aufklärung und Beratung (zu Beispielen vgl. Palandt Rn. 23 zu § 433 BGB),
- Auskünfte über die Beschaffenheit des Kaufgegenstandes,
- sorgfältige Aufbewahrung und Pflege der verkauften Sache bis zum Gefahrübergang,
- sorgfältige Verpackung der zu versendenden Ware.
Zahlreiche Beispiele finden sich bei Palandt Rn. 24 bis 37 a zu § 433 BGB.
3.1.1.2 Pflichten des Käufers
Hauptpflicht des Käufers ist gem. § 433 Abs. 2 BGB die Bezahlung des Kaufpreises (Palandt Rn. 38 zu § 433 BGB). Der Kaufpreis ist, wenn nichts anderes vereinbart ist, gem. § 320 BGB Zug um Zug zur Leistung des Verkäufers zu erfüllen. Vertraglich kann die Fälligkeit abweichend vereinbart werden, z.B. Vorauszahlung oder Zahlung innerhalb einer vereinbarten Frist.
Die Abnahme des Kaufgegenstandes ist gem. § 433 Abs. 2 BGB Pflicht des Käufers. Abnahme ist der tatsächliche Vorgang, durch den der Käufer oder eine andere berechtigte Person den Besitz der gekauften Sache gem. § 854 BGB vom Verkäufer übernimmt, also die tatsächliche Herrschaft über den Kaufgegenstand erlangt (Palandt Rn. 43 zu § 433 BGB). Die Abnahme ist Tathandlung. Sie stellt in der Regel eine Nebenpflicht des Käufers dar, weil sie - anders als der Kaufpreis - keine Gegenleistung für die verkaufte Sache darstellt (Palandt Rn. 44 zu § 433 BGB). Eine Abnahmepflicht besteht nur, wenn der Kaufgegenstand den vertraglichen Vereinbarungen entspricht und wenn er mangelfrei ist (§ 433 Abs. 1 Satz 2 BGB). Die Zurückweisung der angebotenen Ware, weil diese nicht der vertragsmäßig vereinbarten Ware entspreche, ist von der bloßen Nichtabnahme der dem Vertrag entsprechenden Ware zu unterscheiden (Palandt Rn. 47 zu § 433 BGB). Wenn die Ware mangelhaft ist, darf sie der Käufer zurückweisen und Nacherfüllung verlangen. Das gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn der Mangel unerheblich und Nacherfüllung ausgeschlossen ist (§ 323 Abs. 5 Satz 2 BGB) und deshalb nur nach § 441 Abs. 1 Satz 2 BGB der Kaufpreis herabgesetzt (gemindert) werden kann.
Wenn der Käufer die Annahmepflicht verletzt, weil er eine den vertraglichen Vereinbarungen entsprechende Ware nicht annimmt, stellt sich die Frage, ob er dadurch in Gläubiger- oder Schuldnerverzug gerät oder ob gleichzeitig Gläubiger- und Schuldnerverzug vorliegen.
a) Gläubigerverzug
Die Nichterfüllung der Abnahmepflicht durch Unterlassen oder Zurückweisung führt gem. § 293 BGB zum Gläubigerverzug; denn der Gläubiger kommt in Verzug, wenn er die ihm angebotene Leistung nicht annimmt und dadurch seine Mitwirkungspflicht bei der Erfüllung des Schuldverhältnisses verletzt. Die §§ 293 ff. BGB gehen davon aus, dass der Gläubiger nur berechtigt aber nicht verpflichtet ist, also durch die Nichtannahme keine Rechtspflicht, sondern nur eine Obliegenheit verletzt. Der Gläubigerverzug setzt kein Verschulden voraus (Palandt Rn. 1 zu § 293 BGB).
Die Folgen des Gläubigerverzugs ergeben sich aus den §§ 300 bis 304 BGB. Im Gegensatz zum Schuldnerverzug begründet der Gläubigerverzug keine Schadensersatzpflichten. Nur wenn gleichzeitig eine Pflichtverletzung im Sinn von § 280 Abs. 1 BGB insbesondere des Schuldnerverzugs gem. § 286 BGB vorliegen, steht dem Schuldner ein Schadensersatzanspruch zu (Palandt Rn. 1 zu § 300 BGB und Rn. 6 zu § 293 BGB). § 280 Abs. 1 BGB lautet:
"(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat."
Nach § 280 Abs.2 BGB kann Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung nur verlangt werden, wenn die Voraussetzungen des Schuldnerverzugs gem. § 286 BGB erfüllt sind. Dazu vgl. unten b). Nach § 300 Abs. 1 BGB hat der Schuldner während des Verzugs des Gläubigers, also des Käufers, nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten, falls der Kaufgegenstand einen Schaden erleidet oder untergeht. Wird eine nur der Gattung nach bestimmte Sache geschuldet, so geht gem. § 300 Abs. 2 BGB die Gefahr mit dem Zeitpunkt auf den Gläubiger über, in welchem er dadurch in Verzug kommt, dass er die angebotene Sache nicht annimmt. Der Schuldner kann gem. § 304 BGB im Falle des Verzugs des Gläubigers Ersatz der Mehraufwendungen verlangen, die er für das erfolglose Angebot sowie für die Aufbewahrung und Erhaltung des geschuldeten Gegenstands machen musste.
b) Schuldnerverzug
Der Gläubiger kann durch die Nichtabnahme der geschuldeten Leistung neben dem Gläubigerverzug zugleich in Schuldnerverzug gelangen, wenn zur Abnahme eine Rechtspflicht besteht, wie das beim Kaufvertrag gem. § 433 Abs. 2 BGB und beim Werkvertrag gem. § 640 Abs. 1 BGB der Fall ist (Palandt Rn. 6 zu § 293 BGB).
Die Nichterfüllung der Abnahmepflicht durch Unterlassen oder Zurückweisung führt zum Schuldnerverzug, wenn die Voraussetzungen nach § 286 BGB erfüllt sind. Das ist insbesondere der Fall, wenn trotz Mahnung die Abnahme nicht erfolgt (§ 286 Abs. 1 BGB). Wenn die Voraussetzungen von § 323 BGB erfüllt sind, ist Rücktritt seitens des Verkäufers möglich, also in der Regel nach Ablauf einer für die Abnahme durch den Verkäufer gesetzten Frist (§ 323 Abs. 1 BGB). Gegebenenfalls kann auch Schadensersatz gem. § 280 BGB verlangt werden, wenn dem Verkäufer durch die Verweigerung der Abnahme ein Schaden entstanden ist.
3.1.1.3 Rechte des Käufers bei Sach- oder Rechtsmängeln
Nach § 433 Abs. 1 Satz 2 BGB hat der Verkäufer dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Welche Rechte der Käufer hat, wenn ein Sach- oder Rechtsmangel vorliegt, richtet sich ab Gefahrübergang, d.h. ab dem Zeitpunkt, ab welchem der zufällige Untergang und die zufällige Verschlechterung des Kaufgegenstandes zu Lasten des Käufers gehen, nach den §§ 437 ff. BGB. Der Zeitpunkt des Gefahrübergangs ist in der Regel der Zeitpunkt der Übergabe der Sache (§ 446 Satz 1 BGB). Vorher geht die Gefahr auf den Käufer nur über, wenn sich dieser im Annahmeverzug befindet (§ 446 Satz 3 BGB). Spätestens geht die Gefahr mit Ablieferung im Sinn von § 438 Abs. 2 BGB auf den Käufer über (Palandt Rn. 8 zu § 434 BGB). Für den Zeitpunkt der Gefahrübergabe beim Versendungskauf gilt § 447 BGB. Vor Gefahrübergang gelten für die Rechtsfolgen bei Sach- oder Rechtsmängeln die allgemeinen Vorschriften des Leistungsstörungsrechts (§§ 275 ff. BGB). Vgl. dazu ausführlich 2.4.1.3 "Schadenshaftung und Rücktrittsrecht bei Leistungsstörungen" mit Unterpunkten. Wenn vor Gefahrübergang ein Mangel vorliegt kann der Käufer die Annahme der Sache verweigern, ohne dass er dadurch in Annahmeverzug gerät (Palandt Rn. 8a zu § 434 BGB). Lag vor Gefahrübergang ein Mangel vor, besteht dieser Mangel aber zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs nicht mehr, weil z.B. der Mangel durch eine Reparatur behoben worden ist, kann weder die Annahme verweigert werden noch können Rechte wegen dieses Mangels nach den §§ 437 ff. BGB geltend gemacht werden.
In der Rechtswissenschaft wird zwischen Sach- und Rechtsmängeln unterschieden. Die Unterscheidung ist nicht immer einfach, was für die Praxis aber keine große Bedeutung hat, weil im Gesetz beide gleich behandelt werden. Der Käufer hat also die gleichen Rechte, gleichgültig, ob ein Sachmangel oder ein Rechtsmangel vorliegt.
Die Sachmängel sind in § 434 BGB, die Rechtsmängel in § 435 BGB definiert.
3.1.1.3.1 Sachmängel
§ 434 BGB lautet:
"§ 434 Sachmangel
(1) Die Sache ist frei von Sachmängeln, wenn sie bei Gefahrübergang die vereinbarte Beschaffenheit hat. Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist die Sache frei von Sachmängeln,
- wenn sie sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignet, sonst
- wenn sie sich für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache erwarten kann.
Zu der Beschaffenheit nach Satz 2 Nr. 2 gehören auch Eigenschaften, die der Käufer nach den öffentlichen Äußerungen des Verkäufers, des Herstellers (§ 4 Abs. 1 und 2 des Produkthaftungsgesetzes) oder seines Gehilfen insbesondere in der Werbung oder bei der Kennzeichnung über bestimmte Eigenschaften der Sache erwarten kann, es sei denn, dass der Verkäufer die Äußerung nicht kannte und auch nicht kennen musste, dass sie im Zeitpunkt des Vertragsschlusses in gleichwertiger Weise berichtigt war oder dass sie die Kaufentscheidung nicht beeinflussen konnte.
(2) Ein Sachmangel ist auch dann gegeben, wenn die vereinbarte Montage durch den Verkäufer oder dessen Erfüllungsgehilfen unsachgemäß durchgeführt worden ist. Ein Sachmangel liegt bei einer zur Montage bestimmten Sache ferner vor, wenn die Montageanleitung mangelhaft ist, es sei denn, die Sache ist fehlerfrei montiert worden.
(3) Einem Sachmangel steht es gleich, wenn der Verkäufer eine andere Sache oder eine zu geringe Menge liefert."
Die in § 434 Abs. 1 BGB behandelten Sachmängel sind negativ formuliert. Sie sagen, wann ein Kaufgegenstand frei von Sachmängeln ist. Was ein Sachmangel ist, muss bei diesen Fällen durch einen Umkehrschluss ermittelt werden.
In erster Linie kommt es gem. § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB für das Vorliegen eines Sachmangels darauf an, was zwischen den Parteien über die Beschaffenheit des Kaufgegenstandes vereinbart war (subjektiver Fehlerbegriff). Hat z.B. ein Blinder von einer Führhundschule einen Blindenführhund erworben, bei dem sich herausstellt, dass er ungeeignet ist, weil er z.B. schreckhaft ist, so liegt eine Abweichung von der vereinbarten Beschaffenheit, nämlich der Tauglichkeit zum Führen und somit ein Sachmangel vor.
Ein Mangel liegt nach § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BGB vor, wenn sich der Kaufgegenstand für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung nicht eignet.
Wenn der Verkäufer einem blinden Käufer einen Hund verkauft, welcher, wie dem Verkäufer bekannt ist, zum Blindenführhund ausgebildet werden soll und sich herausstellt, dass dieser Hund für die Ausbildung als Blindenführhund z.B. auf Grund seiner Schreckhaftigkeit ungeeignet ist, liegt ein Sachmangel im Sinn von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BGB vor, so dass der Käufer die aus dem Sachmangel sich ergebenden Rechte wahrnehmen kann.
Wäre im obigen Beispiel dem Verkäufer nicht bekannt, dass der Hund zum Blindenführhund ausgebildet werden soll, so läge nach § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB ein Sachmangel nur vor, wenn der Hund den üblicherweise an einen Hund zu stellenden Anforderungen nicht gerecht würde.
Die in § 434 Abs. 2 und 3 BGB beschriebenen vier Arten von Sachmängeln sind positiv formuliert. Auf sie wird hier nicht weiter eingegangen.
3.1.1.3.2 Rechtsmangel
§ 435 BGB lautet:
"§ 435 Rechtsmangel
Die Sache ist frei von Rechtsmängeln, wenn Dritte in Bezug auf die Sache keine oder nur die im Kaufvertrag übernommenen Rechte gegen den Käufer geltend machen können. Einem Rechtsmangel steht es gleich, wenn im Grundbuch ein Recht eingetragen ist, das nicht besteht."
Entscheidend für das Existieren eines Rechtsmangels ist, dass das erworbene Eigentum individuell belastet ist. Das ist z.B. der Fall, wenn der Kaufgegenstand durch ein Pfandrecht belastet ist. Ob der Rechtsmangel beim praktischen Gebrauch der Sache stört, ist unerheblich. Die Rechtsbehelfe beim Vorliegen von Rechtsmängeln entsprechen denen bei Sachmängeln. Zu den privaten Rechten, die unter den Rechtsmangelbegriff nach § 435 BGB fallen, gehören alle dinglichen Rechte. Darunter sind Grunddienstbarkeiten, Nießbrauch, Reallasten, dingliche Vorkaufsrechte, Grundpfandrechte und andere Pfandrechte, dingliche Nutzungsrechte zu verstehen. Weiterhin zählen hierzu auch Patente, Gebrauchs- und Geschmacksmuster als auch Markenrechte und andere Immaterialgüterrechte, die der Benutzung der Kaufsache entgegenstehen. Rechtsmängel können aber nicht nur dingliche Rechte, sondern auch Belastungen durch schuldrechtliche Verpflichtungen, z.B. aus einem Mietvertrag sein (obligatorische Rechte).
3.1.1.3.3 Rechtsfolgen
Der Verkäufer muss für Sach- und Rechtsmängel einstehen, ohne dass es auf das Verschulden für den Mangel ankommt (Palandt Rn. 21 zu § 433 BGB). Die Rechtsfolgen sowohl beim Vorliegen von Sach- als auch von Rechtsmängeln ergeben sich ab dem in § 446 BGB festgelegten Zeitpunkt für den Gefahrübergang aus den §§ 437 bis 442 BGB.
Häufig ist es streitig, ob ein Mangel bereits bei Gefahrübergang vorgelegen hat oder erst später aufgetreten ist. Zeigt sich innerhalb von 6 Monaten nach Übergabe (Gefahrübergang) ein Sachmangel, so wird vermutet, dass die Sache bereits zu diesem Zeitpunkt mangelhaft war (§ 476 BGB). Der Verkäufer muss also beweisen, dass kein Sachmangel vorgelegen hat (sog. Beweislastumkehr). Wenn z.B. bei Lieferung eines Bildschirmlesegerätes der Monitor funktioniert hat, aber schon kurz darauf keine Wiedergabe des Schriftgutes mehr möglich war, kann das daran liegen, dass bereits bei Lieferung ein Mangel etwa durch eine schlechte Lötstelle vorlag. Der Verkäufer müsste beweisen, dass das nicht der Fall war, damit der Käufer die Rechte aus dem Mangel nicht wahrnehmen könnte.
Nach § 437 BGB kann der Käufer, "wenn die Voraussetzungen der §§ 438 ff. BGB vorliegen und soweit nicht etwas anderes im Kaufvertrag bestimmt ist,
- nach § 439 BGB Nacherfüllung verlangen,
- nach den §§ 440, 323 und 326 Abs. 5 BGB von dem Vertrag zurücktreten oder nach § 441 BGB den Kaufpreis mindernund außerdem
- nach den §§ 440, 280, 281, 283 und 311 a BGB Schadensersatz oder nach § 284 BGB Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen."
In erster Linie kann der Käufer nach § 437 Nr. 1 BGB gem. § 439 Abs. 1 BGB Nacherfüllung, d.h. nach seiner Wahl Nachbesserung durch Beseitigung des Mangels oder Ersatzlieferung durch eine mangelfreie Ware verlangen. Er kann es aber auch dem Verkäufer überlassen, ob dieser den Mangel durch Reparatur beseitigen oder Ersatz liefern will. Der Käufer muss gegenüber dem Verkäufer eine entsprechende Willenserklärung abgeben. Aus der Systematik von § 437 BGB ergibt sich, dass der Verkäufer das Recht hat, in einem zweiten Versuch eine mangelfreie Leistung zu erbringen. Dazu muss ihm eine angemessene Frist eingeräumt werden. Wenn die gesetzte Frist zu kurz war, wird durch die Erklärung der Frist eine angemessene Frist in Gang gesetzt. Ob die Frist angemessen war, entscheidet im Streitfall das Gericht.
Die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung kann der Verkäufer gem. § 439 Abs. 3 BGB nur verweigern, wenn diese unmöglich ist, mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden wäre oder dem Verkäufer nicht zugemutet werden kann. Unmöglich wäre eine Ersatzlieferung z,.B. wenn es sich bei dem verkauften Gegenstand um ein Unikat gehandelt hat. Eine Reparatur könnte wegen unverhältnismäßig hoher Kosten abgelehnt werden, wenn die Reparaturkosten wesentlich höher lägen als eine Ersatzlieferung.
Die Nacherfüllung muss für den Käufer unentgeltlich erfolgen (Palandt Rn. 15 zu § 437 BGB).
Nur wenn durch die Nacherfüllung der Mangel nicht beseitigt wird, weil die Ersatzlieferung ebenfalls mangelhaft ist oder der Mangel durch die versuchte Reparatur nicht beseitigt werden konnte, bzw. die Beseitigung des Mangels unmöglich ist oder dem Käufer unzumutbar ist, kann der Käufer gem. § 437 Nr. 2 BGB die Gestaltungsrechte Rücktritt vom Vertrag oder Minderung, d.h. Herabsetzung des Kaufpreises ausüben. Der Käufer hat das Wahlrecht zwischen Rücktritt und Minderung. Er muss dem Verkäufer gegenüber eine entsprechende Willenserklärung abgeben.
Für das Rücktrittsrecht wird in § 437 Nr. 2 BGB auf die §§ 440, 323 und 326 Abs. 5 BGB verwiesen. Es gelten also die Regelungen für den Rücktritt aus dem allgemeinen Teil des Schuldrechts. Vgl. dazu auch 2.4.1.3.2 mit Unterpunkten.
§ 323 Abs. 1 BGB bestimmt:
"(1) Erbringt bei einem gegenseitigen Vertrag der Schuldner eine fällige Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß, so kann der Gläubiger, wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat, vom Vertrag zurücktreten."
Eine Fristsetzung ist nach § 323 Abs. 2 entbehrlich,
- wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert,
- der Schuldner die Leistung zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer bestimmten Frist nicht bewirkt und der Gläubiger im Vertrag den Fortbestand seines Leistungsinteresses an die Rechtzeitigkeit der Leistung gebunden hat oder
- besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen.
Ergänzend zu § 323 Abs. 2 BGB bestimmt § 440 BGB, dass eine Fristsetzung auch dann nicht erforderlich ist, wenn der Verkäufer sowohl die Nachbesserung als auch die Ersatzlieferung "verweigert oder wenn die dem Käufer zustehende Art der Nacherfüllung fehlgeschlagen oder ihm unzumutbar ist."
Nach § 326 Abs. 5 BGB, auf welchen in § 437 Nr. 2 ebenfalls verwiesen wird, ergibt sich, dass eine Fristsetzung für den Rücktritt ebenfalls nicht erforderlich ist, wenn der Verkäufer nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten braucht. Diese Absätze lauten:
"(1) Der Anspruch auf Leistung ist ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist.
(2) Der Schuldner kann die Leistung verweigern, soweit diese einen Aufwand erfordert, der unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben in einem groben Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht. Bei der Bestimmung der dem Schuldner zuzumutenden Anstrengungen ist auch zu berücksichtigen, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat.
(3) Der Schuldner kann die Leistung ferner verweigern, wenn er die Leistung persönlich zu erbringen hat und sie ihm unter Abwägung des seiner Leistung entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers nicht zugemutet werden kann."
Neben dem Rücktrittsrecht gem. § 437 Nr. 2 BGB kann außerdem gem. § 437 Nr. 3 BGB Schadensersatz statt der Leistung und der Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangt werden.
Für den Schadensersatz wird in § 437 Nr. 3 BGB auf die §§ 440, 280, 281, 283 und 311 a BGB verwiesen. Vgl. dazu auch 2.4.1.3.1. Voraussetzung für den Anspruch auf Schadensersatz ist gem. § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB, dass der Schuldner, d.h. der Verkäufer, den Schaden zu vertreten hat. Nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos zu entnehmen ist. Wenn Schadensersatz statt der nicht oder nicht wie geschuldet erbrachten Leistung verlangt wird, muss nach § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB in der Regel dem Schuldner eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung gesetzt werden. Nach § 281 Abs. 2 BGB ist die Fristsetzung "entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert oder wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigen." Ergänzend dazu wird in § 440 BGB bestimmt,
"außer in den Fällen des § 281 Abs. 2 (...) bedarf es der Fristsetzung auch dann nicht, wenn der Verkäufer beide Arten der Nacherfüllung gemäß § 439 Abs. 3 verweigert oder wenn die dem Käufer zustehende Art der Nacherfüllung fehlgeschlagen oder ihm unzumutbar ist. Eine Nachbesserung gilt nach dem erfolglosen zweiten Versuch als fehlgeschlagen, wenn sich nicht insbesondere aus der Art der Sache oder des Mangels oder den sonstigen Umständen etwas anderes ergibt."
Beim Schadensersatz statt der Leistung ist der Käufer so zu stellen, wie er bei ordnungsgemäßer Erfüllung des Kaufvertrages stünde, also bei Lieferung einer mangelfreien Sache. Das schließt einen entgangenen Gewinn ein.
Für den Ersatz vergeblicher Aufwendungen wird in § 437 Nr. 3 BGB auf die §§ 440 und 284 BGB verwiesen. Anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung kann der Gläubiger gem. § 284 BGB Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung gemacht hat und billigerweise machen durfte, es sei denn, deren Zweck wäre auch ohne die Pflichtverletzung des Schuldners nicht erreicht worden.
"Bei der Minderung ist der Kaufpreis in dem Verhältnis herabzusetzen, in welchem zur Zeit des Vertragsschlusses der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand zu dem wirklichen Wert gestanden haben würde. Die Minderung ist, soweit erforderlich, durch Schätzung zu ermitteln" (§ 441 Abs. 3 BGB).
Auch neben der Minderung kann ein Schadensersatzanspruch gem. § 437 Nr. 3 BGB bestehen (Palandt Rn. 31 zu § 437 BGB). Der Schadensersatzanspruch umfasst in diesem Fall aber nicht den Schaden, der bereits durch die Herabsetzung des Kaufpreises ausgeglichen ist (Palandt Rn. 19 zu § 441 BGB).
Die Rechte des Käufers wegen eines Mangels können gem. § 442 BGB ausgeschlossen sein. § 442 Abs. 1 BGB lautet:
"(1) Die Rechte des Käufers wegen eines Mangels sind ausgeschlossen, wenn er bei Vertragsschluss den Mangel kennt. Ist dem Käufer ein Mangel infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben, kann der Käufer Rechte wegen dieses Mangels nur geltend machen, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat."
3.1.1.3.4 Sonderregelungen für die Verjährung
Die Verjährung der sich aus einer mangelhaften Leistung ergebenden Rechte ist in § 438 BGB geregelt. Es handelt sich um eine Sonderregel gegenüber den allgemeinen Verjährungsvorschriften der §§ 194 ff. BGB. Die Verjährungsfristen für die in § 437 Nr. 1 (Nacherfüllung) und 3 (Schadensersatz und Aufwendungsersatz) bezeichneten Ansprüche ergeben sich aus § 438 Abs. 1 BGB.
Danach beträgt die Verjährungsfrist in den Fällen des § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB zwei, statt der ansonsten in § 195 BGB vorgesehenen drei Jahre. Unter § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB fallen z.B. auch die entsprechenden Ansprüche aus dem Erwerb von Hilfsmitteln.
Davon wiederum abweichend gilt nach § 438 Abs. 3 BGB die regelmäßige Verjährungsfrist (also hier drei Jahre), wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen hat.
§ 438 BGB ist nicht anwendbar auf Ansprüche aus einer Garantie im Sinn von § 443 BGB (Garantie über die Beschaffenheit oder die Haltbarkeit des Kaufgegenstandes). Für die sich daraus ergebenden Ansprüche gilt die regelmäßige Verjährungsfrist der §§ 194 ff. BGB (Palandt Rn. 2 zu § 438 BGB).
§ 438 BGB ist auch nicht auf Ansprüche anwendbar, die sich aus einem Rücktritt oder einer vorgenommenen Minderung ergeben. Für diese Ansprüche gelten deshalb die regelmäßigen Verjährungsfristen der §§ 194 ff. BGB. Für die Abwicklung wird in § 438 Abs. 4 und 5 auf § 218 BGB verwiesen. Vgl. dazu Palandt Rn. 17 bis 20 zu § 438 BGB.
Die Verjährungsfrist beginnt mit der Ablieferung der Sache (§ 438 Abs. 2 BGB).
Die Rechtsfolgen, die sich ergeben, wenn die Verjährung eingetreten ist, sind in den §§ 214 bis 218 BGB geregelt. Nach Eintritt der Verjährung ist der Schuldner berechtigt, die Leistung zu verweigern (§ 214 Abs. 1 BGB). Weil es sich um eine Einrede handelt, die der Schuldner geltend machen kann, bleibt es ihm überlassen, trotz Ablauf der Verjährungsfrist zu leisten. Wenn der Schuldner in Unkenntnis der eingetretenen Verjährung geleistet hat, kann er das Geleistete nicht zurückfordern (§ 214 Abs. 2 Satz 1 BGB).
3.1.1.4 Zuständigkeit der Zivilgerichte
Die einschlägigen Rechtsquellen sind das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) und die Zivilprozessordnung (ZPO).
Bei Streitigkeiten aus einem dem Erwerb von Hilfsmitteln zugrunde liegenden Kauf- oder Werkvertrag handelt es sich um bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Deshalb sind die zur so genannten ordentlichen Gerichtsbarkeit gehörenden Zivilgerichte zuständig. Das ergibt sich aus § 13 GVG. Die ordentliche Gerichtsbarkeit wird durch Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte und durch den Bundesgerichtshof (den obersten Gerichtshof des Bundes für das Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit) ausgeübt (§ 12 GVG). Vgl. zur Zuständigkeit der einzelnen Gerichtszweige und ihren Aufbau Heft 10 Abschnitt 4.1 mit Unterpunkten dieser Schriftenreihe. Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte ist im GVG geregelt (§ 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Welches Gericht sachlich in erster Instanz zuständig ist, ergibt sich aus den §§ 23 ff. GVG für die Amtsgerichte und 71 GVG für die Landgerichte. Für die hier in Rede stehenden Rechtsstreitigkeiten kommt es für die sachliche Zuständigkeit in erster Instanz auf den Streitwert an. Der Streitwert wird gemäß § 3 ZPO nach freiem Ermessen festgesetzt. Für die Ermittlung des Streitwertes gelten gem. § 2 ZPO die Regelungen in den §§ 4 bis 9 ZPO. In erster Instanz ist gem. § 23 Nr. 1 GVG das Amtsgericht sachlich zuständig, wenn der Streitwert nicht über 5.000,00 Euro liegt. Ist der Streitwert höher, sind die Landgerichte in erster Instanz zuständig (§ 71 GVG).
Welches Gericht örtlich zuständig ist, richtet sich nach dem für den Rechtsstreit maßgebenden Gerichtsstand (§§ 12 ff. ZPO). Unterschieden werden der "allgemeine Gerichtsstand" (§§ 12 bis 19a ZPO), "besondere Gerichtsstände" (§§ 20 bis 34 ZPO), "ausschließliche Gerichtsstände" und "vereinbarte Gerichtsstände". Vgl. dazu Wikipedia Stichwort Gerichtsstand. Allgemeiner Gerichtsstand einer Person ist derjenige, der für alle Klagen gegen diese Person gilt, soweit nicht im Einzelfall ein besonderer oder ausschließlicher Gerichtsstand bestimmt ist. Er wird bei einer natürlichen Person in aller Regel durch den Wohnsitz oder den Aufenthaltsort bestimmt (§ 13 bzw. § 16 ZPO). Bei einer juristischen Person oder einer Behörde ist der allgemeine Gerichtsstand deren Sitz (§ 17 ZPO bzw. bei Klagen gegen den Fiskus § 18 ZPO). Besondere Gerichtsstände enthalten die §§ 20 bis 34 ZPO. Besondere Gerichtsstände sind für einzelne bestimmte Klagen im Gesetz ausdrücklich vorgesehene Gerichtsstände. Z.B. ist nach § 29 Abs. 1 ZPO für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist (besonderer Gerichtsstand des Erfüllungsorts). Wenn ein besonderer Gerichtsstand gegeben ist, hat der Kläger die Wahl zwischen dem allgemeinen oder dem besonderen Gerichtsstand; denn gem. § 35 ZPO hat der Kläger die Wahl unter mehreren zuständigen Gerichten. Nur wenn ein Gerichtsstand als "ausschließlicher Gerichtsstand" bezeichnet wird, besteht diese Wahlmöglichkeit nicht.
Die Sitze der Gerichte und die ihnen zugeordneten Gerichtsbezirke sind den Ausführungsgesetzen der Länder zum GVG zu entnehmen.
Die Frage, ob das Amtsgericht oder das Landgericht zuständig ist, ist vor allem deshalb wichtig, weil vor den Amtsgerichten kein Anwaltszwang besteht, während sich die Partei bei Streitigkeiten vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen (§§ 78 und 79 ZPO). Vor dem Bundesgerichtshof müssen sie sich durch einen bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (§ 78 Abs. 1 S. 3 ZPO). Wenn eine Partei das Verfahren vor einem Amtsgericht selbst führt, ist die Unterstützung durch einen Beistand nur sehr eingeschränkt möglich (§ 90 ZPO). Das Gericht kann gem. § 90 Abs. 1 Satz 2 ZPO Personen als Beistand zulassen, wenn das sachdienlich ist und hierfür nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis besteht. Wenn Gegenstand des Rechtsstreits z.B. die Frage eines Mangels eines Hilfsmittels ist, wird die Beistandschaft durch einen Sachkundigen einer Blindenselbsthilfeorganisation sachdienlich sein. Vgl. dazu näher Heft 10 Abschnitt 2.1.2.1.1 dieser Schriftenreihe. Selbstverständlich kann man sich durch eine sachkundige Person beraten lassen.
3.1.2 Erwerb von Hilfsmitteln mit Anspruch auf Kostenerstattung
Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, ein Hilfsmittel unmittelbar vom Lieferanten zu beziehen und gegenüber einem Kostenträger einen Kostenerstattungsanspruch geltend zu machen. Kostenerstattungsansprüche können z.B. bestehen gem. § 13 SGB V gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse, auf Grund eines Anspruchs auf Beihilfe nach dem Beihilferecht oder gegenüber einer privaten Krankenkasse auf Grund des Versicherungsvertrages.
Zu unterscheiden sind deshalb zum einen die Rechtsbeziehungen zwischen dem Erwerber des Hilfsmittels und dem Lieferanten und zum anderen zwischen dem Erwerber des Hilfsmittels und dem zur Kostenerstattung verpflichteten Kostenträger.
3.1.2.1 Rechtsbeziehungen zwischen Erwerber und Lieferanten beim Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs
Die Rechtsbeziehungen zwischen Erwerber und Lieferanten sind in den Fällen, in welchen der Erwerber einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber einem Kostenträger hat, die gleichen wie beim Erwerb ohne Anspruch auf Kostenerstattung. Es handelt sich um einen Kauf- oder Werkvertrag nach dem BGB (§§ 433 ff. BGB für den Kaufvertrag und §§ 631 ff. BGB für den Werkvertrag). Für diese Rechtsbeziehung gilt deshalb das unter 3.1.1 Ausgeführte. Für Rechtsstreitigkeiten sind die Zivilgerichte zuständig.
3.1.2.2 Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse
Beim Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse nach § 13 SGB V handelt es sich um eine sozialrechtliche Rechtsbeziehung.
Gem. § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der nach § 2 Abs. 2 SGB V üblicherweise zu erbringenden Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit das im SGB V oder im SGB IX vorgesehen ist. Die Fälle der Kostenerstattung, welche das SGB V zulässt, sind in § 13 Abs. 2 bis 6 geregelt. Wichtig im Zusammenhang mit dem Erstattungsanspruch bei selbstbeschafften Hilfsmittel sind die Fälle von § 13 Abs. 2, 3 und 3 a SGB V.
Nach § 13 Abs. 2 SGB V können Versicherte anstelle der Sach- oder Dienstleistungen Kostenerstattung wählen. Hierüber haben sie ihre Krankenkasse vor Inanspruchnahme der Leistung in Kenntnis zu setzen. Der Leistungserbringer hat die Versicherten vor Inanspruchnahme der Leistung darüber zu informieren, dass Kosten, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, von dem Versicherten zu tragen sind. Anspruch auf Erstattung besteht höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung zu tragen hätte. Das Verfahren für die Kostenerstattung muss in der Satzung der Krankenkasse geregelt werden. Sie kann dabei Abschläge vom Erstattungsbetrag für Verwaltungskosten in Höhe von höchstens 5 Prozent in Abzug bringen. Die Versicherten sind an ihre Wahl der Kostenerstattung mindestens ein Kalendervierteljahr gebunden.
Ein Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse kann sich auch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V ergeben. Dieser lautet:
"(3) Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war."
Wenn ein Hilfsmittel von der Krankenkasse auch nach erhobenem Widerspruch abgelehnt wurde, obwohl sie gem. § 33 SGB V zur Leistung verpflichtet gewesen wäre, kann das Hilfsmittel selbst beschafft und der Anspruch auf Erstattung der entstandenen Kosten geltend gemacht werden. Zu erstatten ist der dem Berechtigten entstandene Aufwand und nicht nur der Betrag, der der Krankenkasse entstanden wäre, wenn sie das Hilfsmittel im Wege der Sachleistung hätte aufwenden müssen. Auch Abschläge, wie sie nach § 13 Abs. 2 SGB V vorgenommen werden können, sind nicht möglich. Die Beschaffung darf nach § 13 Abs. 3 zweite Alternative auch erst nach Ablehnung der Leistung durch die Krankenkasse erfolgen. Erst zu diesem Zeitpunkt darf der Vertrag mit dem Hilfsmittellieferanten geschlossen werden. Anders wäre es nur nach § 13 Abs. 3 erste Alternative, d.h., wenn die Beschaffung unaufschiebbar gewesen wäre. Das ist bei der Beschaffung eines Hilfsmittels kaum der Fall (BSG 10.2.1993 - 1 RK 31/92; BSG vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R). Auf das Risiko, im Rechtsstreit zu unterliegen und damit die Kosten selbst tragen zu müssen, ist hinzuweisen.
Nach § 13 Abs. 3 a SGB V kann sich der Anspruch auf Kostenerstattung ergeben, wenn der Antrag auf die Leistung wegen Ablauf der dort genannten Fristen für die Entscheidung abgelaufen sind, ohne dass eine Entscheidung getroffen worden ist. § 13 Abs. 3 a bestimmt:
"(3a) Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung."
Zuständig für Rechtsstreitigkeiten sind die Sozialgerichte (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Vgl. zum Verfahren vor den Sozialgerichten Heft 10 dieser Schriftenreihe Abschnitt 4.2 mit Unterpunkten.
3.1.2.3 Kostenerstattungsansprüche beihilfeberechtigter Personen
Vor allem für Angehörige des öffentlichen Dienstes können sich beim Erwerb von Hilfsmitteln Ansprüche auf Kostenerstattung aus dem Beihilferecht sowie aus einer ergänzenden privaten Krankenversicherung ergeben. Zum Beihilferecht vgl. näher Heft 3 Abschnitt 9.1 und zum Erstattungsanspruch gegenüber privaten Krankenkassen Heft 3 Abschnitt 9.2 dieser Schriftenreihe sowie Abschnitt 3.1.2.4 dieses Heftes.
Für den Erstattungsanspruch beihilfeberechtigter Personen gelten die Beihilfebestimmungen des Bundes und der Länder. Die Beihilfeberechtigten haben in Höhe der beihilfefähigen Aufwendungen gegenüber dem Beihilfeträger einen Erstattungsanspruch.
Die Hilfsmittelversorgung entspricht weitgehend dem Anspruch auf die Gewährung von Hilfsmitteln im Recht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. Heft 3 Abschnitt 9.1.1 dieser Schriftenreihe).
Zuständig für Rechtsstreitigkeiten sind gem. § 40 Abs. 1 VwGO die Verwaltungsgerichte. Vgl. zum Verfahren vor den Verwaltungsgerichten Heft 10 dieser Schriftenreihe Abschnitt 4.2 mit Unterpunkten.
3.1.2.4 Kostenerstattungsansprüche gegenüber Privatkrankenkassen
Für den Erstattungsanspruch gegenüber einer privaten Krankenkasse kommt es auf den zugrunde liegenden Vertrag an. Rechtsgrundlage für die privaten Krankenversicherungen ist das Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Sie sind im zweiten Teil Kapitel 8 in den §§ 192 ff. geregelt. Vgl. dazu näher Heft 3 Abschnitt 9.2 dieser Schriftenreihe.
Aus § 193 Abs. 3 VVG ergibt sich, dass Versicherungspflicht besteht, soweit kein Versicherungsschutz durch eine gesetzliche Krankenkasse gegeben ist. Beihilfeberechtigte sind zum Abschluss einer den Beihilfeanspruch ergänzenden Krankenversicherung verpflichtet. Inwieweit eine private Krankenversicherung Kosten für die Ausstattung mit Hilfsmitteln übernehmen muss, hängt von deren Tarif ab. Die Tarife für beihilfeberechtigte Personen sehen in der Regel vor, dass für die Verpflichtung zur Hilfsmittelausstattung die Beihilferegelungen maßgebend sind.
Hinzuweisen ist darauf, dass für Streitigkeiten mit einer privaten Krankenversicherung die Zivilgerichte und nicht die Sozialgerichte zuständig sind. Anders als für die Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung in § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit für Angelegenheiten der privaten Krankenversicherung nicht erfolgt. Die Zuständigkeit der Zivilgerichte ergibt sich aus § 13 GVG. Vgl. dazu näher 3.1.1.4.
3.1.3 Rechtsbeziehungen bei der Hilfsmittelversorgung nach dem Sachleistungsprinzip
Für die Rechtsbeziehungen zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Leistungsempfänger bei der Hilfsmittelversorgung ist vom Sachleistungsprinzip auszugehen.
Zum Sachleistungsprinzip heißt es im Fachlexikon der sozialen Arbeit: "Das Sachleistungsprinzip ist maßgebendes Organisationsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 2 Abs. 1 S. 2 SGB V). Auf Grund des Sachleistungsprinzips ist gewährleistet, dass Betroffene eine (medizinische) Leistung als Ganzes, in Natur, vollständig und im notwendigen Umfang von einem Leistungsträger beanspruchen können. Die Betroffenen (Versicherten) sind nicht zu finanziellen Vorausleistungen im Hinblick auf die konkrete Leistung verpflichtet. Den Leistungsträgern obliegt eine Verschaffungspflicht."
Das Sachleistungsprinzip gilt nicht nur für die gesetzlichen Krankenkassen, sondern auch bei Leistungspflichten, z.B. für die Hilfsmittelversorgung anderer öffentlich-rechtlicher Kostenträger. Aber auch für die gesetzlichen Krankenkassen gilt nicht immer das Sachleistungsprinzip, und zwar dann nicht, wenn das Gesetz ausdrücklich die Möglichkeit der Kostenerstattung vorsieht und davon Gebrauch gemacht wird (vgl. dazu 3.1.2.2).
Werden Hilfsmittel als Sachleistung eines öffentlich-rechtlichen Leistungsträgers erbracht, so bestehen zwischen Leistungsträger, Leistungsempfänger und Leistungserbringer Rechtsbeziehungen, die allein den anzuwendenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Sozialrechts unterliegen. Diese Vorschriften können allerdings auf Zivilrecht als entsprechend anwendbares Recht verweisen. Zu unterscheiden sind dabei jedes Mal zwei Rechtsverhältnisse: dasjenige zwischen dem Träger und dem Leistungsempfänger und dasjenige zwischen dem Träger und dem Leistungserbringer. Zwischen dem Leistungsempfänger und dem Leistungserbringer besteht unmittelbar kein eigenes Rechtsverhältnis (vgl. Haufe Rn. 13 zu § 2 SGB V); der Leistungsempfänger ist jedoch als Begünstigter eines Vertrages zu Gunsten Dritter in das Rechtsverhältnis zwischen dem Träger und dem Leistungserbringer einbezogen.
Welche Auswirkungen hat dies nun auf die Fälle, dass das gewährte Hilfsmittel oder die damit verbundenen Nebenleistungen Mängel aufweisen? Wie und von wem können Ansprüche auf Nachbesserung, Wandlung oder Ersatzlieferung geltend gemacht werden (dazu 3.1.3.1)? Wie ist bei Eintritt eines Schadens vorzugehen (dazu 3.1.3.2)?
3.1.3.1 Gewährleistung
Dem Problem der Gewährleistung wird nachfolgend am Beispiel der Hilfsmittelversorgung durch eine gesetzliche Krankenkasse nachgegangen. Zur Ausstattung mit Hilfsmitteln durch die gesetzliche Krankenkasse vgl. Heft 3 Abschnitt 6.2 mit Unterpunkten in dieser Schriftenreihe.
Rechtsgrundlage für die Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen mit Hilfsmitteln sind die §§ 33 ff. SGB V. Es handelt sich um einen sozialrechtlichen Leistungsanspruch. Die Rechte und Pflichten des Leistungsberechtigten ergeben sich aus dem Bewilligungsbescheid. Das Hilfsmittel kann dem Versicherten übereignet oder gem. § 33 Abs. 5 Satz 1 SGB V auch leihweise zur Verfügung gestellt werden. Letzteres ist vor allem der Fall, wenn es sich, wie z.B. bei einem Bildschirmlesegerät oder einer Braillezeile um ein Hilfsmittel handelt, welches nicht angepasst werden muss und deshalb auch von anderen Versicherten benutzt werden kann.
Die Beziehungen der gesetzlichen Krankenkassen zu Leistungserbringern von Hilfsmitteln sind in den §§ 126 und 127 SGB V geregelt. Vgl. dazu näher Heft 3 Abschnitt 6.3.6 dieser Schriftenreihe. Dafür, mit welchen Leistungserbringern Verträge über die Lieferung eines Hilfsmittels abgeschlossen werden können, ist § 127 SGB V maßgebend.
Die Krankenkassen gehen hinsichtlich der Ausgestaltung der mit den nach § 127 SGB V in Frage kommenden Leistungserbringern abzuschließenden Verträgen unterschiedliche Wege. Teilweise wird das Hilfsmittel durch die Krankenkasse erworben und dem Leistungsberechtigten als Sachleistung zur Verfügung gestellt. Wenn eine spezielle Anpassung des Hilfsmittels oder eine Einweisung in den Gebrauch erforderlich ist, wird der Leistungserbringer auch zu diesen Leistungen verpflichtet. Einige Krankenkassen erwerben keine Hilfsmittel mehr, sondern "mieten" sie beim Leistungserbringer an und haben dazu für verschiedene Gruppen von Hilfsmitteln einen "pauschalierten Mietzins" - die "Versorgungspauschale" - vereinbart.
Aus diesen Verträgen der Krankenkassen mit den Leistungserbringern ergeben sich die Leistungspflichten im Einzelfall und die Rechte bei Leistungsstörungen.
Die Rechtsbeziehungen zwischen den Krankenkassen als Kostenträger und den Leistungserbringern sind sozialrechtlicher Natur. Das ergibt sich aus den §§ 69 ff. SGB V. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGG V werden im vierten Kapitel des SGB V u.a. abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Leistungserbringern und ihren Verbänden geregelt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V gelten die Vorschriften des bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem vierten Kapitel des SGB V vereinbar sind. Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben gem. § 70 Abs. 1 SGB V eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muss in der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden. Welche Rechte sich wegen Mängeln eines vom Leistungserbringer gelieferten Hilfsmittels ergeben, richtet sich auf Grund von § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V nach den Regelungen in den §§ 437 ff. BGB (vgl. 3.1.1.3).
Für Rechtsstreitigkeiten zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Leistungserbringern - auch soweit sie sich auf Leistungsstörungen wie Sach- oder Rechtsmängeln beziehen - sind die Sozialgerichte und nicht die ordentlichen Gerichte zuständig. Das ergibt sich aus der umfassenden Rechtswegverweisung in § 51 SGG. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung auch soweit durch diese Angelegenheiten Dritte betroffen werden. Die umfassende Rechtswegverweisung an die Sozialgerichte entspricht der materiellrechtlichen Regelung über die Rechtsbeziehungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Leistungserbringern in §§ 69 ff. SGB V.
Wenn z.B. eine Krankenkasse mit einem Leistungserbringer einen Vertrag über die Lieferung eines Hilfsmittels, etwa eines Blindenführhundes oder eines Lese-Sprechgerätes schließt und dieses Hilfsmittel Mängel aufweist, ist für die Klärung in einem Rechtsstreit zwischen der gesetzlichen Krankenkasse und dem Leistungserbringer nicht das Zivilgericht, sondern das Sozialgericht zuständig.
Da der Leistungsempfänger als Begünstigter eines Vertrages zu Gunsten Dritter in das Rechtsverhältnis zwischen dem Träger und dem Leistungserbringer einbezogen ist, kann er wegen Mängel des Hilfsmittels auch selbst vor dem Sozialgericht klagen.
Für die Rechtsbeziehungen bei der Ausstattung mit Hilfsmitteln durch den Unfallversicherungsträger gilt folgendes: Die Ausstattung mit Hilfsmitteln ist in § 31 SGB VII geregelt. Sie umfasst praktisch alle, auch durch die gesetzliche Krankenversicherung zu gewährenden Hilfsmittel, geht aber darüber hinaus, weil sie auch "andere Hilfsmittel" umfasst.
Die Einzelheiten werden in einer Rechtsverordnung und in Richtlinien der Verbände der Unfallversicherungsträger geregelt (vgl. Verordnung über die orthopädische Versorgung Unfallverletzter - OrthVersorgUVV). Zur Ausstattung Berechtigter aus der gesetzlichen Unfallversicherung vgl. näher Heft 3 Abschnitt 7 dieser Schriftenreihe.
Für die Rechtsbeziehungen zwischen dem Versicherungsträger als Kostenträger und dem Leistungserbringer sowie zwischen dem Unfallversicherungsträger und dem Versicherten gelten die oben zu den Rechtsbeziehungen bei den gesetzlichen Krankenkassen gemachten Ausführungen entsprechend. Es handelt sich auch hier um sozialrechtliche Rechtsbeziehungen. Die Zuständigkeit der Sozialgerichte für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung und den Leistungsberechtigten oder zwischen den Trägern der Unfallversicherung und den Leistungserbringern ergibt sich aus § 51 Abs. 1 Nr. 3 SGG.
Für die Rechtsbeziehungen bei der Ausstattung mit Hilfsmitteln durch die Versorgungsämter gilt folgendes: Rechtsgrundlage für die Versorgung mit Hilfsmitteln ist § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 BVG. Die Vorschriften der gesetzlichen Krankenkasse gelten nach § 11 Abs. 1 S. 2 entsprechend, soweit das BVG nicht etwas anderes bestimmt. Einzelheiten zur Hilfsmittelversorgung sind in § 13 BVG und in der Verordnung über die Versorgung mit Hilfsmitteln und über Ersatzleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (Orthopädieverordnung - OrthV) geregelt. Zur Ausstattung Berechtigter mit Hilfsmitteln nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den Gesetzen, auf welche das BVG anzuwenden ist, vgl. näher Heft 3 Abschnitt 8 dieser Schriftenreihe.
Für die Rechtsbeziehungen zwischen den Versorgungsämtern als Kostenträger und dem Leistungserbringer sowie zwischen den Versorgungsämtern und dem Versorgungsberechtigten gelten die oben zu den Rechtsbeziehungen bei den gesetzlichen Krankenkassen gemachten Ausführungen entsprechend. Es handelt sich auch hier um sozialrechtliche Rechtsbeziehungen. Die Zuständigkeit der Sozialgerichte für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Trägern des sozialen Entschädigungsrechts und den Leistungsberechtigten oder zwischen den Trägern des sozialen Entschädigungsrechts und den Leistungserbringern ergibt sich aus § 51 Abs. 1 Nr. 6 SGG.
3.1.3.2 Schadensersatz
Die folgenden Ausführungen gelten für die Hilfsmittelversorgung nicht nur durch die gesetzlichen Krankenkassen, sondern auch durch die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und der Versorgungsverwaltung.
Anders als unter 3.1.3.1 ist die Zuständigkeit zu beurteilen, wenn der Leistungsberechtigte einen Schadensersatzanspruch gegen den Leistungserbringer wegen eines Schadens geltend machen will, welcher von diesem bei der Gelegenheit der Leistungserbringung schuldhaft verursacht worden ist. Ein solcher Anspruch wäre z.B. gegeben, wenn der Leistungserbringer beim Aufstellen eines Hilfsmittels durch Unachtsamkeit einen Kurzschluss verursacht hätte und dadurch andere Geräte des Leistungsberechtigten beschädigt worden wären. Schadensersatzansprüche wären in diesem Fall wegen Verletzung der Rücksichtspflicht gem. § 241 Abs. 2 BGB (dazu näher unter 2.4.1.3.1) und wegen Sachbeschädigung gem. § 823 BGB (dazu näher 2.4.1.5 mit Unterpunkten) gegeben. Für diesen Schadensersatzanspruch wäre gem. § 13 GVG die ordentliche Gerichtsbarkeit, also das Zivilgericht, zuständig.
3.2 Privatrechtsfragen beim Blindenführhund
Privatrechtliche Fragen im Zusammenhang mit einem Blindenführhund ergeben sich vor allem beim Mietrecht (dazu 3.2.1), beim Recht, den Blindenführhund in ein Geschäft, in Gesundheitseinrichtungen, wie z.B. Arztpraxen oder Krankenhäuser und in andere Bereiche des öffentlichen Lebens mitzunehmen (dazu 3.2.2) sowie im Schadenshaftungsrecht (dazu 3.2.3).
3.2.1 Berechtigung zur Haltung eines Blindenführhundes im Mietrecht
Das Mietrecht ist im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in den §§ 535 bis 580 a geregelt.
Das Recht zur Tierhaltung in einer Mietwohnung ist eine Frage des bestimmungsgemäßen Gebrauchs der Mietsache im Sinn von § 535 BGB. Nur zu dieser ist der Mieter berechtigt. Das Recht zur Tierhaltung wird im Gesetz selbst allerdings nicht geregelt. Es kommt daher vorrangig auf die Vereinbarung im Mietvertrag an. Häufig wird die Tierhaltung formularmäßig oder durch Individualvereinbarung untersagt oder von einer Genehmigung des Vermieters im Einzelfall abhängig gemacht. Dann aber stellt sich die Frage, inwieweit eine solche Bestimmung wirksam ist.
Vermieter dürfen nach der Rechtsprechung des BGH die Haltung von Tieren in der Mietwohnung nicht pauschal verbieten. Der Bundesgerichtshof hat sich in einer Entscheidung mit der Frage befasst, ob eine Formularklausel in einem Wohnraummietvertrag wirksam ist, welche die Haltung von Hunden und Katzen in einer Mietwohnung generell untersagt. Der BGH hat entschieden, dass eine Allgemeine Geschäftsbedingung des Vermieters, welche die Haltung von Hunden und Katzen in der Mietwohnung generell untersagt, gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist. Sie benachteiligt den Mieter unangemessen, weil sie ihm eine Hunde- und Katzenhaltung ausnahmslos und ohne Rücksicht auf besondere Fallgestaltungen und Interessenlagen verbietet. Zugleich verstößt sie gegen den wesentlichen Grundgedanken der Gebrauchsgewährungspflicht des Vermieters in § 535 Abs. 1 BGB. Ob eine Tierhaltung zum vertragsgemäßen Gebrauch im Sinne dieser Vorschrift gehört, erfordert eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall. Eine generelle Verbotsklausel würde - im Widerspruch dazu - eine Tierhaltung auch in den Fällen ausschließen, in denen eine solche Abwägung eindeutig zu Gunsten des Mieters ausfiele (Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.03.2013, Aktenzeichen: VIII ZR 168/12).
Die Unwirksamkeit der generellen Verbotsklausel führt jedoch nicht dazu, dass der Mieter Hunde oder Katzen ohne jegliche Rücksicht auf andere halten kann. Sie hat vielmehr zur Folge, dass die nach § 535 Abs. 1 BGB gebotene umfassende Abwägung der im Einzelfall konkret betroffenen Belange und Interessen der Mietvertragsparteien, der anderen Hausbewohner und der Nachbarn erfolgen muss. So der Bundesgerichtshof in seinem Urteil.
Ist vertraglich bestimmt, dass es für die Haltung von großen Tieren der Zustimmung des Vermieters bedarf (Prüfungsrecht), steht es dem Vermieter grundsätzlich frei, ob er die Tierhaltung erlaubt oder nicht. Falls nicht gewichtige Gründe dem entgegenstehen, darf der Mieter davon ausgehen, dass der Vermieter die Zustimmung erteilt.
Benötigt der Mieter oder ein blinder Angehöriger des Mieters einen Blindenhund, darf er diesen aber in seiner Wohnung halten. Die Versagung der Zustimmung wäre treuwidrig im Sinn von § 242 BGB. Gegebenenfalls könnte auf Zustimmung geklagt werden.
Vgl. dazu Rechtsanwälte Rab, Friedrich, Ramm Beitrag 14
Wenn sich der Vermieter im Vertrag die Genehmigung der Tierhaltung im Einzelfall vorbehält, muss vor Anschaffung des Blindenführhundes die Genehmigung eingeholt werden. Sie darf allerdings nicht versagt werden. Das hat das Amtsgericht Bamberg mit Urteil vom 13.07.1998 - AZ: E/Allg.-1-AG BA 5.79 - sehr grundsätzlich und überzeugend entschieden. Das AG Bamberg stützt seine Entscheidung auf § 536 BGB i.V.m. § 242 BGB. Der Anspruch besteht, wie das AG Bamberg ausführt, "deswegen, weil die Klägerin auf Grund ihrer Blindheit schutzwürdig ist. Sie ist zwar durchaus in der Lage, sich mittels Blindenlangstocks in der Öffentlichkeit fortzubewegen; doch würde ihr ein Blindenführhund größere Sicherheit verleihen und es ihr ermöglichen, auch weitere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Die dazu notwendigen physischen Voraussetzungen bringt sie unstreitig mit. Sie hat nach alledem unter Beachtung der grundgesetzlichen Wertung des Art. 3 III S. 2 GG - auch unter dem Gesichtspunkt der selbstgestaltenden Lebensführung - ein berechtigtes Interesse an der Erlaubniserteilung. Dem klägerischen Begehren steht auch kein wichtiger Grund entgegen. Ein solcher wichtiger Grund könnte nur in dem grundgesetzlich geschützten Eigentum und der Vermieterposition des Beklagten liegen. Eine unzumutbare Einschränkung dieser Rechtspositionen ist aber nicht ersichtlich."
3.2.2 Zugang mit Blindenführhund zu Lebensmittelgeschäften, Gesundheitseinrichtungen und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens
Leider kommt es immer wieder zu Schwierigkeiten, wenn blinde oder sehbehinderte Menschen in Begleitung ihres Führhundes ein Restaurant, ein Lebensmittelgeschäft, eine Arztpraxis betreten oder ein Theater bzw. ein Konzert besuchen wollen.
Die Gastwirte, Ladeninhaber, Ärzte oder sonst für die Gewährung des Zutritts zuständigen Personen berufen sich auf ihr "Hausrecht". Dem ist entgegenzuhalten:
- Blindenführhunde machen ihre Halter weitestgehend unabhängig von fremder Hilfe und ermöglichen ihnen ein selbstbestimmtes Leben. Das zu gewährleisten ist auch ein Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) (Artikel 3, Artikel 9, 19 und 20 BRK).
- Blindenführhunde sind medizinische Hilfsmittel im Sinn von § 33 SGB V - ebenso wie der weiße Langstock oder ein Rollstuhl. Blindenführhunde sind am weißen Führgeschirr erkennbar.
- Wegen der Aufsichtspflicht, die ein Führhundhalter hat, ist es Blindenführhundhalterinnen und -haltern nicht zumutbar, den Hund unbeaufsichtigt vor der Tür oder gar an einer Straße abzulegen.
Die Frage der Berechtigung, einen Blindenführhund mitzunehmen, ist nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 zu beurteilen:
- Ein Verbot, einen Blindenführhund in eine hier in Rede stehende Einrichtung mitzunehmen, stellt in aller Regel eine unzulässige mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne von § 3 Abs. 2 AGG dar. Das gilt selbst dann, wenn generell die Mitnahme von Hunden untersagt wird; denn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, wie dies ein generelles Verbot der Mitnahme von Hunden darstellt, benachteiligt blinde Personen wegen ihrer Behinderung im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen unangemessen, wenn ihnen die Mitnahme des Blindenführhundes nicht gestattet wird.
- Nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG i.V.m. § 1 AGG sind Benachteiligungen nach Maßgabe des AGG unzulässig in Bezug auf: ...8. den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum.
- Nach § 19 AGG ist in zivilrechtlichen Rechtsbeziehungen (um solche handelt es sich bei der Gewährung des Zutritts in den hier in Rede stehenden Einrichtungen) eine Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die "typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustandekommen" unzulässig.
- Nach § 21 Abs. 1 AGG kann der Benachteiligte bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot unbeschadet weiterer Ansprüche die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Er kann also die Gestattung des Zutritts verlangen.
Zum AGG vgl. auch Heft 7 Kapitel 7 mit Unterpunkten dieser Schriftenreihe.
Häufig berufen sich diejenigen, welche den Zutritt von Blindenführhunden in Läden oder Gesundheitseinrichtungen verwehren, zu ihrer Rechtfertigung auf Hygieneprobleme bzw. auf die nach dem europäischen Recht bestehende Verpflichtung, Tiere von Lebensmitteln fernzuhalten. Es bestehen aber keine (Hygiene-)Risiken durch Führhunde.
Führhunde werden regelmäßig tierärztlich betreut (Impfungen, Parasitenbehandlung etc.).
Bereits 1996 befürwortete Prof. Henning Rüden vom Hygieneinstitut der Freien Universität Berlin die Mitnahme von Blindenführhunden in Arztpraxen und Krankenhäuser. In seiner Stellungnahme vertritt er die Auffassung, dass ein Verbot Blindenführhunde in Praxis- und Krankenhausräume mitzunehmen, aus infektionspräventiven Gründen nicht gerechtfertigt ist - zumal ein solches Verbot die Bewegungsfreiheit blinder Menschen deutlich limitieren würde.
Folgende Empfehlungen müssen nach Henning Rüden beachtet werden:
- Der Hund muss ein speziell ausgebildeter Führhund und als solcher mit dem Führgeschirr gekennzeichnet sein.
- Er darf nicht krank, verletzt oder von Parasiten befallen sein.
- Personal und Patienten dürfen den Hund weder streicheln noch mit ihm spielen.
- Bei einem Besuch im Krankenhaus befindet sich der Patient nicht auf einer Intensiv- oder Isolierstation.
- Mitpatienten haben keine Hundephobie oder -allergie.
Auf eine Anfrage des Arbeitskreises der Führhundhalterinnen und -halter im DBSV schlossen sich die Bayerische Kassenärztliche Vereinigung, die bayerische Landesärztekammer, die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe und die Landeskrankenhausgesellschaft Thüringen Professor Rüdens Auffassung an. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft richtete darüber hinaus ein Rundschreiben an alle Mitgliedsverbände, das ebenfalls die Meinung von Professor Rüden widerspiegelt: Rundschreiben
Für den Lebensmittelbereich ist auf folgendes hinzuweisen:
Die Lebensmittelhygiene-Verordnung (LMHV) vom 05. August 1997 wurde durch das Inkrafttreten des so genannten "EU-Hygienepakets" abgelöst.
Seitdem finden in allen EU-Mitgliedsstaaten drei EU-Verordnungen zur Lebensmittelhygiene direkte Anwendung:
- EG-Verordnung 852/2004 über Lebensmittelhygiene,
- EG-Verordnung 853/2004 Besondere Vorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs und
- EG-Verordnung 854/2004 Amtliche Überwachung von zum menschlichen Verzehr bestimmten Erzeugnissen tierischen Ursprungs.
Das auf diesen Verordnungen zur Lebensmittelhygiene in der EU einheitlich geltende Recht wurde in der Neufassung der Lebensmittelhygiene-Verordnung (LMHV) vom 05. August 1997, neu gefasst am 8. August 2007, zuletzt geändert am 14. Juli 2010, zusammengefasst.
Nach diesen Rechtsgrundlagen besteht kein Verbot für den Zutritt von Blindenführhunden in Verkaufsräumen von Lebensmittelunternehmen.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) verkündet auf seiner Internetseite dazu:
"Betreten von Lebensmittelgeschäften mit Blindenführhund oder Assistenzhund erlaubt. Lebensmittelunternehmer müssen grundsätzlich vermeiden, dass Haustiere Zugang zu Räumen haben, in denen Lebensmittel zubereitet, behandelt oder gelagert werden. Das BMELV sieht im Mitführen von Blindenführhunden und anderen Assistenzhunden jedoch einen Sonderfall.
Gelegentlich verweigern Lebensmittelunternehmer behinderten Menschen, die von Blindenführhunden oder anderen Assistenzhunden begleitet werden, aus hygienischen Gründen den Zutritt zu Lebensmittelbetrieben, insbesondere zu Geschäften des Lebensmitteleinzelhandels.
Grundsätzlich müssen Lebensmittelunternehmer gemäß der europäischen Verordnung (EG) Nr. 852/2004 über Lebensmittelhygiene vermeiden, dass Haustiere Zugang zu den Räumen haben, in denen Lebensmittel zubereitet, behandelt oder gelagert werden.
Diese Regelung gilt nach Ansicht des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) zwar auch für die Einkaufsbereiche von Lebensmittelgeschäften. In Sonderfällen kann gemäß den geltenden Vorschriften Haustieren der Zugang dennoch gestattet werden. Das Mitführen von Blindenführhunden und anderen Assistenzhunden ist aus Sicht des BMELV ein solcher Sonderfall, denn das Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen ist hier ausschlaggebend.
Beim Mitführen von Blindenführ- und anderen Assistenzhunden in Lebensmittelbetrieben muss aber darauf geachtet werden, dass die Tiere nicht mit Lebensmitteln in Berührung kommen und diese verunreinigen.
Das dürfte jedoch meist unproblematisch sein, weil Führhunde besonders geschult und diszipliniert sind und im Lebensmitteleinzelhandel Waren üblicherweise verpackt zum Verkauf angeboten oder durch geeignete Thekensysteme geschützt werden."
Hier der direkte Link zum Text.
Häufig verwehren trotzdem Filial- oder Marktleiter die Mitnahme von Blindenführhunden, obwohl diese von den Konzernen zugestanden wird. Der Arbeitskreis der Führhundhalterinnen und -halter im DBSV stellte deshalb eine Anfrage an Lebensmittelunternehmen, wie es um die Zutrittsrechte mit Blindenführhund in ihren Filialen bestellt ist. Folgende Unternehmen antworteten und stellten klar, dass der Zutritt mit Blindenführhunden möglich sei:
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- Alnatura GmbH - Webseite
- Denns - Webseite
- dm-drogerie markt GmbH + Co. KG - facebook oder gebührenfreie Rufnummer 0800 3658633
- EDEKA Zentrale AG & Co. KG - Webseite oder Telefon: 040 - 6377 - 2777 (EDEKA kann auf Grund des Unternehmenskonzepts (genossenschaftlich geprägter EDEKA-Verbund) den Zutritt nicht garantieren, setzt sich aber bei Schwierigkeiten in Filialen gerne ein, den Einkauf barrierefrei zu gestalten)
- Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! - hat einen Eintrag in seine Hausordnung aufgenommen
- Lidl - Webseite - hat einen Eintrag auf seiner Homepage
- Netto - Webseite - hat einen Eintrag auf seiner Homepage
- Penny - Webseite - hat einen Eintrag auf seiner Homepage
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- tegut - Webseite oder tegut - facebook oder tegut - Twitter
- WASGAU Einzelhandels GmbH - Webseite
- Wurstkönig GmbH & Co - Webseite
Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband e.V. (DEHOGA) hat in einer Pressemitteilung vom 21.6.1993 die gastronomischen Unternehmer zu "Toleranz gegenüber Führhunden in der Gastronomie" aufgefordert. Es heißt darin:
"Die Duldung von Blindenführhunden im Speiselokal ist in der Regel unproblematisch. Diese Hunde sind speziell auf das blinde "Herrchen" oder "Frauchen" fixiert und bleiben stets "bei Fuß". Sie sind ausgezeichnet erzogen, besonders freundlich und zutraulich. Der DEHOGA rät: "Wägen Sie im Einzelfall sorgfältig ab, ob ein Blindenführund nicht im Interesse des Blinden und ohne Beeinträchtigung des übrigen Gästekreises geduldet werden kann. In den meisten Fällen wird dies der Fall sein."
Vgl. dazu Homepage des DBSV "Rechtsfragen zum Blindenführhund" und die dort ebenfalls verfügbare Broschüre "Der Blindenführhund als Mobilitätshilfe" S. 77 ff.
3.2.3 Schadenshaftung des Führhundhalters
Wenn eine Person durch einen Blindenführhund verletzt wird, z.B. über einen ruhig am Boden liegenden Blindenführhund stolpert, dadurch stürzt und sich ein Bein bricht oder wenn jemand von einem Blindenführhund gebissen wird, ist zu prüfen, ob der Geschädigte gegen den Halter des Blindenführhundes einen Schadensersatzanspruch aus § 833 BGB hat. Dieser lautet:
"§ 833 Haftung des Tierhalters
Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde."
In § 833 BGB handelt es sich um eine Gefährdungshaftung für Schäden, die durch ein tiertypisches Verhalten, wie das Beißen eines Hundes, verursacht werden.
Der Grund für die strenge Tierhalterhaftung liegt in der Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens und der dadurch gegebenen Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum Dritter (Palandt Rn. 1 zu § 833 BGB).
§ 833 BGB enthält zwei voneinander unabhängige Haftungstatbestände: Als allgemeine Regel begründet § 833 Satz 1 BGB eine Gefährdungshaftung des Tierhalters für den Fall, dass das von ihm gehaltene Tier einem Dritten an den in § 833 BGB geschützten Rechtsgütern Schaden zufügt.
Davon abweichend sieht § 833 Satz 2 BGB bei der Haltung von Haustieren, die dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters dienen, nur eine eingeschränkte Haftung vor. Unter die Regelung in § 833 Satz 2 BGB fallen auch Blindenhunde. Sie sind Haustiere, die dem Unterhalt dienen (Palandt Rn. 16 zum Begriff des Haustiers und Rn. 17 zum Begriff der Nutztiere). Die Haftungseinschränkung besteht darin, dass hier nicht wie in Satz 1 das Gefährdungs-, sondern das Verschuldensprinzip gilt, wobei nun ein Verschulden des Tierhalters - allerdings widerlegbar - vermutet wird. Vermutet wird nach § 833 Satz 2 BGB, dass der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres seine im Verkehr erforderliche Sorgfaltspflicht verletzt hat und dass diese Pflichtverletzung ursächlich für den eingetretenen Schaden ist. Beide Vermutungen können widerlegt werden (Palandt Rn. 1 zu § 833 BGB und zum Entlastungsbeweis Rn. 15 zu § 833 BGB). Aber auch in diesem Fall kommt ein Schadensersatzanspruch aus Billigkeitsgründen gem. § 829 BGB in Frage (Palandt Rn. 1 zu § 829 BGB).
Da es sich bei § 833 S. 2 BGB um eine Haftung für vermutetes Verschulden handelt, obliegt es dem Halter, den Exculpationsbeweis zu erbringen (Palandt Rn. 1 zu § 829 BGB).
Der Verletzte kann den Halter des Blindenführhundes wegen des Schadens nur in Anspruch nehmen, wenn dieser bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat, wenn er z.B. im obigen Beispiel den Blindenführhund an einer Stelle zum Liegen gebracht hat, an welcher er für andere Personen eine offensichtliche Stolpergefahr darstellte, bzw. wenn er es nicht vermieden hat, dass sich der Blindenführhund an einer solchen Stelle niederlegt.
Das Mitverschulden des Verletzten ist gem. § 254 BGB zu berücksichtigen. Ein Mitverschulden ist gegeben, wenn der Verletzte die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch gegenüber Tieren zu beobachten pflegt, um sich vor Schaden zu bewahren, insbesondere sich nicht auf allgemein bekannte Tiergefahren einstellt und entsprechende Sorgfalt walten lässt (Palandt Rn. 13 zu § 833 BGB).
Die Art und Höhe des Schadensersatzes einschließlich des Anspruchs auf Schmerzensgeldes richten sich nach den §§ 249 ff. BGB.
3.3 Inanspruchnahme von Dienstleistungen
Wenn blinde oder sehbehinderte Menschen Dienstleistungen, z.B. das Vorlesen von Texten, Hilfe bei der Haushaltsführung, Begleitdienste, andere Assistenzleistungen oder Taxi bzw. Fahrdienste in Anspruch nehmen, können die Rechtsbeziehungen unterschiedlich gestaltet sein.
Die Dienstleistungen können unentgeltlich, sozusagen aus Gefälligkeit oder gegen Entgelt erbracht werden. Es kann sich um einmalige Leistungen oder um Leistungen im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses handeln. Je nach der Ausgestaltung der Dienstleistungen und der sich daraus ergebenden Rechtsbeziehungen sind für die Rechte und Pflichten sowie Leistungsstörungen unterschiedliche Rechtsgrundlagen maßgebend.
3.3.1 Unentgeltliche Dienstleistungen aus Gefälligkeit
Unentgeltliche Dienstleistungen erfolgen häufig aus reiner Gefälligkeit, ohne dass dazu eine rechtliche Verpflichtung besteht. Das ist z.B. der Fall, wenn jemand einem Blinden bei Gelegenheit einen Text vorliest oder ihn über eine Straße begleitet oder wenn jemand einem Blinden regelmäßig z.B. Zeitungen, Zeitschriften oder Literatur vorliest ohne dafür ein Entgelt zu verlangen.
Vertragliche Verpflichtungen bestehen in diesem Fall nicht.
Wenn bei der Gefälligkeit ein Schaden verursacht wird, z.B. der über eine Straße Begleitete aus Unachtsamkeit des Helfers stürzt und sich dabei verletzt oder bei einem Verkehrsunfall zu Schaden kommt, haftet der Helfer nur nach den Vorschriften über die unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff. BGB - vgl. dazu 2.4.1.5 Schadenshaftung bei unerlaubten Handlungen).
3.3.2 Dienstleistungen in Form des Dienst- oder Werkvertrages gegen Entgelt
Rechtlich kann ein Vertrag mit einem Dienstleister ein Dienstvertrag oder ein Werkvertrag sein. Beim Dienstvertrag wird eine bestimmte Tätigkeit geschuldet; im Mittelpunkt steht die Dienstleistung als solche, zum Beispiel die Begleitung eines Blinden auf einer Reise (weitere Beispiele im nächsten Abschnitt 3.3.2.1). Anders beim Werkvertrag (siehe ab 3.3.2.2.): Hier wird die Erreichung des mit der Tätigkeit verfolgten Zweckes geschuldet, zum Beispiel bei der Taxifahrt die Verbringung von A nach B.
3.3.2.1 Dienstvertrag
Rechtsgrundlage für Dienstverträge sind die §§ 611 bis 630 BGB.
Der Dienstvertrag hat die Leistung von Tätigkeiten gegen Entgelt zum Gegenstand. Der dem Dienstverhältnis zugrunde liegende Dienstvertrag ist an keine Form gebunden. Er kann auch stillschweigend geschlossen werden (Palandt Rn. 2 zu § 611 BGB).
Dienstleistungen für blinde Menschen könnten z.B. sein die Hilfe bei der Haushaltsführung, das Begleiten auf Reisen, das Vorlesen von Literatur und andere Assistenzleistungen.
Charakteristisch für den Dienstvertrag ist, dass er nicht vom Erfolg, sondern alleine von der Dienstleistung, also der geschuldeten Tätigkeit geprägt ist. Die Abgrenzung zum Werkvertrag ist oft schwierig. Sie hat aber große praktische Bedeutung. Zu beachten ist insbesondere, dass das Werkvertragsrecht besondere Gewährleistungsvorschriften (§§ 633 ff. BGB) enthält; demgegenüber gilt im Dienstvertragsrecht allein das allgemeine Leistungsstörungsrecht (Looschelders Schuldrecht besonderer Teil Rn. 541).
Z.B. ist Grundlage für die Benutzung eines Taxis oder die Inanspruchnahme eines Fahrdienstes ein Werkvertrag, weil hier das sichere Erreichen eines bestimmten Ziels, also ein Erfolg, geschuldet wird. Zum Werkvertrag siehe 3.3.2.2. Demgegenüber liegt der Behandlung durch einen Arzt oder der Prozessführung eines Rechtsanwalts ein Dienstvertrag zugrunde, weil es sich hierbei um Tätigkeiten handelt, die auf Grund der besonderen Fähigkeiten ausgeführt werden, ohne dass der zwar erwünschte Erfolg garantiert wird. Zum Behandlungsvertrag mit einem Arzt vgl. näher 3.3.2.1.4. Die Qualifizierung des Behandlungsvertrages als Dienstvertrag ergibt sich eindeutig aus § 630 b BGB.
Durch den Dienstvertrag wird gem. § 611 Abs. 1 BGB derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet.
Beim Dienstvertrag ist zwischen zwei Grundformen zu unterscheiden: dem selbständigen (freien) Dienstvertrag und dem Arbeitsvertrag als Unterfall des Dienstvertrages. Diese Unterscheidung ist auch von Bedeutung, wenn ein Blinder oder Sehbehinderter eine Assistenzkraft fest anstellt.
Die Unterscheidung zwischen Dienstvertrag und Arbeitsvertrag ist wichtig, weil sie Auswirkungen auf die Rechte und Pflichten hat. Der Unterschied zeigt sich schon daran, dass einige Vorschriften des BGB ausschließlich für Arbeitsverhältnisse gelten (vgl. §§ 612 a "Maßregelungsverbot", 613 a "Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang", 615 "Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko", (hier die Besonderheit von Satz 3, Vergütungsanspruch für die Fälle, in welchen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt), 619 a, "Beweislast bei Haftung des Arbeitnehmers", 622 "Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen" und 623 "Schriftform der Kündigung"), während andere Normen des BGB gerade nicht auf Arbeitsverhältnisse anwendbar sind (§§ 621 "Kündigungsfristen bei Dienstverhältnissen" , 627 "fristlose Kündigung bei Vertrauensstellung").
Kennzeichnend für einen Arbeitsvertrag ist, dass der Arbeitnehmer in der Regel auf das Einkommen existentiell angewiesen ist. Diesem Schutzbedürfnis dienen die oben genannten Vorschriften im BGB. Es gibt aber außerhalb des BGB eine Vielzahl spezieller Gesetze, die dem Schutz des Arbeitnehmers dienen, z.B. Kündigungsschutzgesetz, Teilzeit- und Befristungsgesetz, Entgeltfortzahlungsgesetz, Mutterschutzgesetz, Jugendarbeitsschutzgesetz. Auch die Regelungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) müssen beachtet werden.
Kriterien für das Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft sind die persönliche Abhängigkeit und die Weisungsgebundenheit.
Wenn ein Blinder oder Sehbehinderter einen Assistenten im Wege eines Arbeitsvertrages anstellt, müssen die umfassenden Regelungen für das Arbeitsrecht beachtet werden. Auch die Regelungen über die Tragung und Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuer müssen berücksichtigt werden. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf die allgemeinen Regeln für den Dienstvertrag.
3.3.2.1.1 Rechte und Pflichten beim Dienstvertrag
Die Hauptleistungspflichten der Vertragsparteien eines Dienstvertrages sind in § 611 Abs. 1 BGB geregelt. Danach ist der Dienstverpflichtete zur Leistung der versprochenen Dienste und der Dienstberechtigte zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. Beide Leistungsverpflichtungen stehen in einem Gegenseitigkeitsverhältnis, so dass die §§ 320 ff. BGB über gegenseitige Verträge grundsätzlich anwendbar sind. So kann nach § 320 Abs. 1 BGB derjenige, welcher zu einer Leistung aus einem gegenseitigen Vertrag verpflichtet ist, die Leistung solange verweigern, bis die Gegenleistung erbracht ist, es sei denn, dass er zur Vorleistung verpflichtet ist, wie sich das für die Leistung des Entgelts beim Dienstvertrag aus § 614 BGB ergibt. Nach § 321 Abs. 1 BGB kann derjenige, welcher zur Vorleistung verpflichtet ist, was bei Dienstverträgen für den zur Dienstleistung Verpflichteten regelmäßig zutrifft, seine Leistung verweigern, wenn nach Abschluss des Vertrags erkennbar wird, dass sein Anspruch auf die Gegenleistung durch die mangelnde Leistungsfähigkeit des anderen Vertragsteils gefährdet ist. § 323 BGB räumt ein Rücktrittsrecht wegen nicht oder nicht vertragsgemäßer Leistung ein. § 325 BGB bestimmt, dass bei einem gegenseitigen Vertrag ein Schadensersatzanspruch durch einen Rücktritt nicht ausgeschlossen wird. In § 326 BGB wird geregelt, wann und in welchem Umfang eine Partei bei einem gegenseitigen Vertrag von ihrer Leistungspflicht befreit wird, wenn die andere Partei nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten braucht. Außerdem wird in § 326 Abs. 5 BGB in diesem Fall ein Rücktrittsrecht eingeräumt.
Außer den Hauptpflichten treffen beide Parteien Nebenpflichten. So ergibt sich aus § 241 Abs. 2 BGB für jeden Vertragsteil die Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils, bei deren Verletzung Schadensersatzansprüche nach §§ 280 ff. BGB in Frage kommen.
Für die Vergütungspflicht des Dienstberechtigten gilt Folgendes:
Das Entgelt ergibt sich bei Dauerschuldverhältnissen häufig aus den vereinbarten Stundensätzen. Das Entgelt kann sich aber auch aus Gebührenordnungen, wie z.B. bei Leistungen eines Arztes oder Rechtsanwalts richten.
Eine Vergütung gilt nach § 612 Abs. 1 BGB auch ohne Vergütungsregelung als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. Maßgeblich für die Höhe der Vergütung ist dann die Verkehrssitte und der Umfang sowie die Dauer der Dienste (§ 612 BGB).
Die Fälligkeit der Vergütung ist in § 614 BGB geregelt. Die Vergütung ist nach der Leistung der Dienste zu entrichten. Ist die Vergütung nach Zeitabschnitten, z.B. Wochen oder Monaten bemessen, so ist sie nach dem Ablauf der einzelnen Zeitabschnitte zu entrichten. Das kann im Vertrag aber abweichend geregelt werden.
Der Dienstverpflichtete hat Anspruch auf das Entgelt selbst dann, wenn der Dienstberechtigte die geschuldete Leistung nicht annimmt, wenn der zum Vorlesen Verpflichtete z.B. zur vereinbarten Zeit kommt, der blinde Dienstberechtigte aber trotzdem sich nicht vorlesen lässt. Das ergibt sich aus § 615 Satz 1 BGB. Der Dienstberechtigte befindet sich dann nämlich im Annahmeverzug (§§ 293 ff. BGB).
Sonstige Pflichten des Dienstberechtigten:
Aus § 618 BGB ergeben sich Schutz- und Fürsorgepflichten des Dienstberechtigten. Räume und Ausstattung für die Ausführung der Dienste, welche der Dienstberechtigte zu stellen hat müssen so ausgewählt werden sowie Anweisungen so getroffen werden, dass die Gesundheit des Dienstverpflichteten nicht beeinträchtigt wird.
3.3.2.1.2 Mängel / Leistungsstörungen beim Dienstvertrag
Anders als bei Kauf- und Werkverträgen gibt es bei Dienstverträgen keine besonderen Vorschriften, die bei der Schlechtleistung der Dienste eingreifen. Es gibt also nicht die Möglichkeit, eine Nachbesserung der Leistung zu verlangen oder die Vergütung zu mindern.
Erfüllen die Vertragspartner die ihnen nach dem Vertrag obliegenden Pflichten nicht, sind die Rechtsfolgen den allgemeinen Vorschriften zu Leistungsstörungen zu entnehmen. Vgl. dazu näher 2.4 Haftung für Schäden mit Unterpunkten und insbesondere 2.4.1.3 Schadenshaftung und Rücktrittsrecht bei Leistungsstörungen sowie 2.4.1.3.1 Schadensersatzanspruch bei Pflichtverletzungen des Leistungspflichtigen in einem Schuldverhältnis. Die Schadensersatzpflicht ergibt sich aus § 280 BGB. Der Umfang des Schadenersatzanspruches richtet sich nach §§ 249 ff. BGB.
3.3.2.1.3 Ende des Dienstvertrags
Das Ende des Dienstverhältnisses ist in den §§ 620 ff. BGB geregelt. Nach § 620 Abs. 1 BGB endet das Dienstverhältnis mit Ablauf der Zeit, für die es eingegangen worden ist. Es endet ferner, wenn sich dies aus der Beschaffenheit oder dem Zweck der Dienste ergibt. Wenn sich das Ende des Dienstverhältnisses weder aus der Zeit noch aus der Beschaffenheit oder dem Zweck des Dienstes ergibt, kann gem. § 620 Abs. 2 BGB jeder Teil das Dienstverhältnis nach Maßgabe der §§ 621 bis 623 BGB kündigen.
Bei einem Dienstverhältnis, das kein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 622 BGB ist, ist die Kündigung gem. § 621 BGB zulässig,
- wenn die Vergütung nach Tagen bemessen ist, an jedem Tag für den Ablauf des folgenden Tages;
- wenn die Vergütung nach Wochen bemessen ist, spätestens am ersten Werktag einer Woche für den Ablauf des folgenden Sonnabends;
- wenn die Vergütung nach Monaten bemessen ist, spätestens am 15. eines Monats für den Schluss des Kalendermonats;
- wenn die Vergütung nach Vierteljahren oder längeren Zeitabschnitten bemessen ist, unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Wochen für den Schluss eines Kalendervierteljahrs
- wenn die Vergütung nicht nach Zeitabschnitten bemessen ist, jederzeit; bei einem die Erwerbstätigkeit des Verpflichteten vollständig oder hauptsächlich in Anspruch nehmenden Dienstverhältnis ist jedoch eine Kündigungsfrist von zwei Wochen einzuhalten.
Wenn es sich um einen Arbeitsvertrag im Sinn des Arbeitsrechts handelt, was z.B. bei der Anstellung eines Assistenten durch einen blinden oder sehbehinderten Arbeitgeber der Fall wäre, ergeben sich die Kündigungszeiten aus § 622 BGB. Ihre Länge ist von der Dauer des bestehenden Arbeitsverhältnisses abhängig.
Wenn es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, muss die Kündigung in Schriftform entsprechend § 126 BGB erfolgen (§ 623 BGB). Andere Dienstverhältnisse können auch formlos gekündigt werden.
Die außerordentliche Kündigung ist in den §§ 626 und 627 BGB geregelt. § 626 BGB lautet:
"(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
(2) Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Der Kündigende muss dem anderen Teil auf Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilen."
§ 626 BGB ist sowohl auf Dienstverhältnisse, die keine Arbeitsverhältnisse sind als auch auf Arbeitsverhältnisse anzuwenden. Gleichgültig ist es, ob es sich um zeitlich befristete oder unbefristete Dienst- oder Arbeitsverhältnisse handelt. Zahlreiche Beispiele für wichtige Gründe, welche eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen, finden sich bei Palandt Rn. 43 ff. zu § 626 BGB. Z.B. liegt ein wichtiger Grund vor, wenn laufend Weisungen des Dienstberechtigten nicht befolgt werden, wenn der Dienstverpflichtete unberechtigt und unentschuldigt Dienstzeiten versäumt, Beleidigungen gegenüber dem Dienstberechtigten, Diebstahl von Gegenständen des Dienstberechtigten und ähnliches. Aber auch der Dienstverpflichtete kann aus wichtigem Grund fristlos kündigen, wenn der Dienstberechtigte z.B. das vereinbarte Entgelt nicht bezahlt, den Dienstberechtigten beleidigt, sexuell belästigt oder andere schwere Pflichtverletzungen begeht.
Bei der Kündigung eines Arbeitsvertrages ist das Kündigungsschutzgesetz zu beachten.
Das Dienstverhältnis, gleichgültig ob es sich um ein freies Dienstverhältnis oder einen Arbeitsvertrag handelt, kann außerdem jederzeit durch einen Aufhebungsvertrag beendet werden. Bei Arbeitsverhältnissen ist für den Aufhebungsvertrag gem. § 623 BGB Schriftform erforderlich.
3.3.2.1.4 Patientenrechte beim Behandlungsvertrag
Das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz) vom 20.02.2013 (BGBl I S. 277) ist am 26. Februar 2013 in Kraft getreten. Das Patientenrechtegesetz ist ein so genanntes Artikelgesetz, durch das u.a. das Behandlungs- und Arzthaftungsrecht im BGB geregelt wurde. Es soll die Rechte der Patienten gegenüber Ärzten und anderen Behandlern, wie z.B. Heilpraktikern, Hebammen, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Masseuren und medizinischen Bademeistern und gegenüber Krankenkassen stärken. Durch das Patientenrechtegesetz wurden dazu entsprechende Regelungen in den §§ 630 a bis 630 h BGB und im Sozialgesetzbuch fünftes Buch (SGB V) getroffen.
Für Menschen, die an einem Augenleiden erkrankt sind und die eine Beeinträchtigung oder ein völliger Verlust des Sehvermögens befürchten müssen, sind die Regelungen in den §§ 630 a ff. BGB und im SGB V von erheblicher Bedeutung.
Der Behandlungsvertrag und seine Qualifikation als Dienstvertrag sind in den §§ 630 a und 630 b BGB geregelt. Durch den Behandlungsvertrag wird gem. § 630 a Abs. 1 BGB derjenige, welcher die medizinische Behandlung eines Patienten zusagt (Behandelnder), zur Leistung der versprochenen Behandlung, der andere Teil (Patient) zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet, soweit nicht ein Dritter zur Zahlung verpflichtet ist. Dritter, welcher zur Zahlung verpflichtet ist, sind bei gesetzlich versicherten Personen die gesetzlichen Krankenkassen, soweit es sich bei der Behandlung um von ihnen nach dem SGB V zu gewährende medizinische Leistungen handelt. Da für den Behandlungsvertrag keine Form vorgeschrieben ist, kommt er in der Regel dadurch zustande, dass der Patient den Behandler aufsucht und dieser die Behandlung vornimmt.
"Die Behandlung hat - wie es in § 630 a Abs. 2 BGB heißt - nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist".
Nach § 630 b BGB sind auf das Behandlungsverhältnis die Vorschriften über das Dienstverhältnis, das kein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 622 BGB ist, anzuwenden, soweit nicht in diesem Untertitel etwas anderes bestimmt ist. Die Qualifizierung als Dienstvertrag beruht darauf, dass der Behandler die Tätigkeit schuldet, die auf Grund der besonderen Fähigkeiten ausgeführt wird, ohne dass der zwar erwünschte Erfolg der Behandlung garantiert wird. Vgl. zum Dienstvertrag die Ausführungen unter 3.3.2.1.1 bis 3.3.2.1.3.
Hervorzuheben sind die Pflichten des Behandlers zur Information nach § 630 c BGB sowie zur gem. § 630 e BGB vorzunehmenden Aufklärung.
§ 630 c BGB verpflichtet den Behandler dazu, dem Patienten zu Beginn der Behandlung sämtliche wesentlichen Umstände der Behandlung verständlich zu erklären, insbesondere die Diagnose und die Therapie. Die Information des Patienten soll den Erfolg der Therapie sichern und dem Patienten durch entsprechende Beratung in jedem Stadium der Behandlung ein therapiegerechtes Verhalten ermöglichen, ihn vor möglichen Gefahren bewahren und auf mögliche Folgen hinweisen, wenn er die ärztlichen Anweisungen nicht befolgt.
Von der Informationspflicht nach § 630 c BGB unterscheidet sich die Aufklärungspflicht nach § 630 e BGB dadurch, dass sich diese auf die konkrete Behandlung bezieht.
Damit sich der Patient seine Entscheidung über eine bevorstehende Behandlung und insbesondere seine Einwilligung in körperliche Eingriffe gut überlegen kann, muss rechtzeitig ein persönliches Gespräch geführt werden. Eine schriftliche Aufklärung allein reicht in der Regel nicht aus.
Auch Patientinnen und Patienten, die auf Grund ihres Alters oder ihrer geistigen Verfassung nicht in der Lage sind, allein über die Behandlungsmaßnahme zu entscheiden, müssen soweit wie möglich in den Behandlungsprozess eingebunden werden, indem das Gesetz festlegt, dass auch ihnen die wesentlichen Umstände der bevorstehenden Behandlung zu erläutern sind.
Ohne den Anforderungen von § 630 e BGB entsprechende Aufklärung ist die nach § 630 d BGB für einen Eingriff erforderliche Einwilligung nicht wirksam. Das ergibt sich aus § 630 d Abs. 2 BGB.
Ist die ärztliche Aufklärung beispielsweise bei Bewusstlosigkeit des Patienten nicht möglich und die daraus folgende Einwilligung des Patienten nicht gegeben, kann auf Grund der vorliegenden Einwilligungsunfähigkeit des Patienten auf beides verzichtet werden, wenn die medizinische Handlung dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht, es sei denn, es liegt eine entsprechende Patientenverfügung nach § 1901 a BGB vor, die den geplanten Eingriff nicht gestattet. Im Falle einer längerfristigen Einwilligungsunfähigkeit muss ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden, der dann über die Einwilligung entscheidet.
Die Informationspflicht besteht gem. § 630 c Abs. 3 BGB auch für die mit der Behandlung verbundenen Kostenfolgen: Werden Behandlungskosten nicht von der Krankenkasse übernommen und weiß dies der Behandelnde, dann muss er den Patienten vor dem Beginn der Behandlung entsprechend informieren. Das ist im Zusammenhang mit den vom Behandler angebotenen "individuellen Gesundheitsleistungen" (den so genannten IGeL-Leistungen) von Bedeutung. Der Patient soll vor überraschenden Kostenforderungen geschützt werden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass z.B. beim Glaukom die von den gesetzlichen Krankenkassen gewährten Leistungen für die Diagnose nicht immer ausreichen. Die als IGeL-Leistungen angebotenen Untersuchungen zur Feststellung von Netzhautuntersuchungen sind in vielen Fällen dringend zu empfehlen.
Die Paragrafen 630 c bis 630 f BGB lauten:
"§ 630 c Mitwirkung der Vertragsparteien; Informationspflichten
(1) Behandelnder und Patient sollen zur Durchführung der Behandlung zusammenwirken.
(2) Der Behandelnde ist verpflichtet, dem Patienten in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung und, soweit erforderlich, in deren Verlauf sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnose, die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die zu und nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen. Sind für den Behandelnden Umstände erkennbar, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, hat er den Patienten über diese auf Nachfrage oder zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren zu informieren. Ist dem Behandelnden oder einem seiner in § 52 Absatz 1 der Strafprozessordnung bezeichneten Angehörigen ein Behandlungsfehler unterlaufen, darf die Information nach Satz 2 zu Beweiszwecken in einem gegen den Behandelnden oder gegen seinen Angehörigen geführten Straf- oder Bußgeldverfahren nur mit Zustimmung des Behandelnden verwendet werden.
(3) Weiß der Behandelnde, dass eine vollständige Übernahme der Behandlungskosten durch einen Dritten nicht gesichert ist oder ergeben sich nach den Umständen hierfür hinreichende Anhaltspunkte, muss er den Patienten vor Beginn der Behandlung über die voraussichtlichen Kosten der Behandlung in Textform informieren. Weitergehende Formanforderungen aus anderen Vorschriften bleiben unberührt.
(4) Der Information des Patienten bedarf es nicht, soweit diese ausnahmsweise auf Grund besonderer Umstände entbehrlich ist, insbesondere wenn die Behandlung unaufschiebbar ist oder der Patient auf die Information ausdrücklich verzichtet hat."
"§ 630 d Einwilligung
(1) Vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme, insbesondere eines Eingriffs in den Körper oder die Gesundheit, ist der Behandelnde verpflichtet, die Einwilligung des Patienten einzuholen. Ist der Patient einwilligungsunfähig, ist die Einwilligung eines hierzu Berechtigten einzuholen, soweit nicht eine Patientenverfügung nach § 1901 a Absatz 1 Satz 1 (BGB) die Maßnahme gestattet oder untersagt. Weitergehende Anforderungen an die Einwilligung aus anderen Vorschriften bleiben unberührt. Kann eine Einwilligung für eine unaufschiebbare Maßnahme nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf sie ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht.
(2) Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt voraus, dass der Patient oder im Fall des Absatzes 1 Satz 2 der zur Einwilligung Berechtigte vor der Einwilligung nach Maßgabe von § 630 e Absatz 1 bis 4 aufgeklärt worden ist.
(3) Die Einwilligung kann jederzeit und ohne Angabe von Gründen formlos widerrufen werden."
"§ 630 e Aufklärungspflichten
(1) Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.
(2) Die Aufklärung muss
- mündlich durch den Behandelnden oder durch eine Person erfolgen, die über die zur Durchführung der Maßnahme notwendige Ausbildung verfügt; ergänzend kann auch auf Unterlagen Bezug genommen werden, die der Patient in Textform erhält,
- so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann,
- für den Patienten verständlich sein.
Dem Patienten sind Abschriften von Unterlagen, die er im Zusammenhang mit der Aufklärung oder Einwilligung unterzeichnet hat, auszuhändigen.
(3) Der Aufklärung des Patienten bedarf es nicht, soweit diese ausnahmsweise auf Grund besonderer Umstände entbehrlich ist, insbesondere wenn die Maßnahme unaufschiebbar ist oder der Patient auf die Aufklärung ausdrücklich verzichtet hat.
(4) Ist nach § 630 d Absatz 1 Satz 2 die Einwilligung eines hierzu Berechtigten einzuholen, ist dieser nach Maßgabe der Absätze 1 bis 3 aufzuklären.
(5) Im Fall des § 630 d Absatz 1 Satz 2 sind die wesentlichen Umstände nach Absatz 1 auch dem Patienten entsprechend seinem Verständnis zu erläutern, soweit dieser auf Grund seines Entwicklungsstandes und seiner Verständnismöglichkeiten in der Lage ist, die Erläuterung aufzunehmen, und soweit dies seinem Wohl nicht zuwiderläuft. Absatz 3 gilt entsprechend."
Vor allem im Zusammenhang mit Haftungsfragen kommt der Dokumentation und der Patientenakte große Bedeutung zu. § 630 f BGB verpflichtet den Behandler zur vollständigen Dokumentation der Behandlung und zur sorgfältigen Führung der Patientenakte. § 630 g BGB sichert dem Patienten ein weitgehendes Einsichtsrecht in die Patientenakte, so dass von einer offenen Patientenakte gesprochen werden kann.
Nach § 630 f BGB ist der Behandler zur Dokumentation verpflichtet. Patientenakten sind vollständig und sorgfältig zu führen. Fehlt die Dokumentation oder ist sie unvollständig, wird im Prozess zu Lasten des Behandelnden vermutet, dass die nicht dokumentierte Maßnahme auch nicht erfolgt ist. Behandelnde sind künftig auch verpflichtet, zum Schutz von elektronischen Dokumenten eine manipulationssichere Software einzusetzen.
§ 630 f BGB lautet:
"(1) Der Behandelnde ist verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen.
(2) Der Behandelnde ist verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Arztbriefe sind in die Patientenakte aufzunehmen.
(3) Der Behandelnde hat die Patientenakte für die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren, soweit nicht nach anderen Vorschriften andere Aufbewahrungsfristen bestehen."
Gem. § 630 g BGB besteht ein Recht auf Einsicht in die Patientenakten, das nur unter strengen Voraussetzungen und nur mit einer Begründung abgelehnt werden darf. § 630 g BGB lautet:
"(1) Dem Patienten ist auf Verlangen unverzüglich Einsicht in die vollständige, ihn betreffende Patientenakte zu gewähren, soweit der Einsichtnahme nicht erhebliche therapeutische Gründe oder sonstige erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen. Die Ablehnung der Einsichtnahme ist zu begründen. § 811 (BGB) ist entsprechend anzuwenden.
(2) Der Patient kann auch elektronische Abschriften von der Patientenakte verlangen. Er hat dem Behandelnden die entstandenen Kosten zu erstatten.
(3) Im Fall des Todes des Patienten stehen die Rechte aus den Absätzen 1 und 2 zur Wahrnehmung der vermögensrechtlichen Interessen seinen Erben zu. Gleiches gilt für die nächsten Angehörigen des Patienten, soweit sie immaterielle Interessen geltend machen. Die Rechte sind ausgeschlossen, soweit der Einsichtnahme der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten entgegensteht."
Eine besondere Beweislastregelung enthält § 630 h Beweislast bei Haftung für Behandlungs- und Aufklärungsfehler. Dadurch soll klar geregelt werden, wer im Rechtsstreit was zu beweisen hat. § 630 h BGB geht von dem Grundsatz aus, dass der Patient einen Behandlungsfehler nachweisen muss. Die Beweislast verschiebt sich jedoch zu Lasten des Behandelnden, wenn ein voll beherrschbares Risiko vorlag, der Behandler für eine vorgenommene Behandlung nicht ausreichend befähigt war, weil er z.B. nicht über die notwendige Facharztausbildung verfügt hat, oder ein grober Behandlungsfehler begangen wurde. § 630 h BGB lautet:
"(1) Ein Fehler des Behandelnden wird vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat.
(2) Der Behandelnde hat zu beweisen, dass er eine Einwilligung gemäß § 630d eingeholt und entsprechend den Anforderungen des § 630e aufgeklärt hat. Genügt die Aufklärung nicht den Anforderungen des § 630e, kann der Behandelnde sich darauf berufen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte.
(3) Hat der Behandelnde eine medizinisch gebotene wesentliche Maßnahme und ihr Ergebnis entgegen § 630 f Absatz 1 oder Absatz 2 nicht in der Patientenakte aufgezeichnet oder hat er die Patientenakte entgegen § 630 f Absatz 3 nicht aufbewahrt, wird vermutet, dass er diese Maßnahme nicht getroffen hat.
(4) War ein Behandelnder für die von ihm vorgenommene Behandlung nicht befähigt, wird vermutet, dass die mangelnde Befähigung für den Eintritt der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit ursächlich war.
(5) Liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war. Dies gilt auch dann, wenn es der Behandelnde unterlassen hat, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern, soweit der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre."
Hilfreich für die Durchsetzung ihrer Ansprüche gegenüber den Leistungserbringern ist die Stärkung der Rechte von Patienten durch die Änderungen, die durch Art. 2 des Patientenrechtegesetzes im SGB V vorgenommen worden sind.
Gem. § 66 SGB V sollen die Krankenkassen ihre Versicherten bei der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen aus Behandlungsfehlern unterstützen. Dies kann etwa durch Unterstützungsleistungen, mit denen die Beweisführung der Versicherten erleichtert wird, z.B. medizinische Gutachten (z.B. durch den medizinischen Dienst), geschehen. Da es sich bei § 66 SGB V um eine "Sollensvorschrift handelt, sind die Krankenkassen grundsätzlich zur Unterstützung der Patienten verpflichtet, sofern sie nicht erhebliche Gründe haben, die Unterstützung zu versagen. § 66 SGB V bietet hingegen keine Rechtsgrundlage zur Übernahme der Verfahrenskosten des Versicherten.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang, dass auch gesetzlich Krankenversicherte ihre Schadensersatzansprüche wegen Behandlungsfehlern von Vertragsärzten der gesetzlichen Krankenkassen vor den Zivilgerichten geltend machen müssen. Zur Zuständigkeit der einzelnen Gerichtszweige vgl. Heft 10 Abschnitt 4 ff. mit Unterpunkten dieser Schriftenreihe.
Durch den durch das Patientenrechtegesetz in § 13 SGB V eingefügten Abs. 3 a wird dafür gesorgt, dass Versicherte ihre Leistungen schneller erhalten. Dieser lautet:
"(3 a) Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung. Wird ein im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte vorgesehenes Gutachterverfahren durchgeführt, hat die Krankenkasse ab Antragseingang innerhalb von sechs Wochen zu entscheiden; der Gutachter nimmt innerhalb von vier Wochen Stellung. Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. Die Krankenkasse berichtet dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen jährlich über die Anzahl der Fälle, in denen Fristen nicht eingehalten oder Kostenerstattungen vorgenommen wurden. Für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gelten die §§ 14, 15 des Neunten Buches zur Zuständigkeitsklärung und Erstattung selbst beschaffter Leistungen."
Diese Regelung verkürzt die Fristen für eine Entscheidung der Krankenkassen deutlich. Sie erleichtert für Versicherte die Durchführung dringend benötigter Behandlungen, die Finanzierung von Arzneimitteln z.B. für die Behandlung mit Spritzen ins Auge bei altersbedingter Makuladegeneration oder die Versorgung mit Hilfsmitteln.
Vgl. zu diesem Abschnitt Michael Richter in "Gegenwart, Magazin für blinde und sehbehinderte Menschen und ihre Freunde" Heft 1 2014 Artikel "Service Recht".
3.3.2.2 Werkvertrag
Der Werkvertrag ist in den §§ 631 ff. BGB geregelt.
3.3.2.2.1 Grundsätzliches zum Werkvertrag
Kennzeichnend für den Werkvertrag ist der durch die Tätigkeit angestrebte Erfolg. Nach § 631 Abs. 1 BGB wird der Unternehmer zur Herstellung des versprochenen Werkes, der Besteller zur Entrichtung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. Es handelt sich um einen gegenseitigen Vertrag im Sinn der §§ 320 ff BGB. Gegenstand des Werkvertrags kann gem. § 631 Abs. 2 BGB sowohl die Herstellung oder Veränderung einer Sache als auch ein anderer durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg sein. Geschuldet wird deshalb nicht nur die Dienstleistung, sondern vor allem der Erfolg; denn Ziel des Werkvertrages ist der Erfolg. Beispiele für den Werkvertrag sind die Installation eines EDV-Programms durch eine damit beauftragte Fachkraft oder die Umsetzung eines Buches für einen blinden Auftraggeber in Brailleschrift bzw. die Aufsprache auf einen Tonträger durch ein Textservicezentrum.
Auch bei der Versorgung eines Blinden mit einem Blindenführhund durch eine Führhundschule handelt es sich um einen Werkvertrag. Die Versorgung umfasst nämlich die Aufzucht des Hundes, seine Ausbildung zum Blindenführhund und die Schulung der aus dem blinden Führhundhalter und dem Führhund bestehenden "Gespanns". Sofern die Versorgung durch eine gesetzliche Krankenkasse auf Grund von § 33 Abs. 1 SGB V erfolgt, soll der Erfolg der Versorgung durch eine "Gespannprüfung" festgestellt werden. Das ergibt sich aus dem der Qualitätssicherung dienenden Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V). Die Blindenführhunde sind im Hilfsmittelverzeichnis in der Produktgruppe 99 (Verschiedenes) unter Nr. 99.99.01 aufgeführt. Wenn die Gespannprüfung nicht bestanden wird, ist die vertragliche Verpflichtung der Führhundschule nicht erfüllt, weil der geschuldete Erfolg nicht erreicht worden ist. Zur Ausstattung mit einem Blindenführhund vgl. näher Heft 3 Abschnitt 6.4.2.2 dieser Schriftenreihe.
Die Versorgung eines Blinden mit einem weißen Langstock einschließlich der Durchführung der dazu gehörenden Orientierungs- und Mobilitätsschulung durch einen Mobilitätslehrer im Auftrag einer Krankenkasse ist ebenfalls als Werkvertrag zu qualifizieren. Dafür spricht folgendes: Anspruchsgrundlage zur Versorgung mit einem Blindenlangstock einschließlich der Schulung im Gebrauch gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen ist § 33 Abs. 1 SGB V. Die Blindenlangstöcke finden sich im vom Spitzenverband "Bund der Krankenkassen" gem. § 139 SGB V aufzustellenden Hilfsmittelverzeichnis Produktgruppe 07 unter den Nrn. 075001 ff. Zur Ausstattung mit einem Langstock gehört gemäß § 33 Abs. 1 S. 3 SGB V die Schulung in seinem Gebrauch (Orientierungs- und Mobilitätstraining - O und M-Training).
Der Inhalt des Mobilitätstrainings ist im Hilfsmittelverzeichnis beschrieben. Die Mobilitätsschulung setzt danach voraus, dass der mit der Durchführung beauftragte Mobilitätslehrer die Eignung des im Gebrauch zu schulenden geprüft und bejaht hat. Wenn innerhalb der zunächst genehmigten Stundenzahl das Ziel des Mobilitätstrainings nicht erreicht werden konnte, ist eine Verlängerung möglich. Es wird also auch hier der Erfolg geschuldet. Wenn ein blinder Versicherter ohne Orientierungs- und Mobilitätsschulung mit einem Langstock ausgestattet wird, weil die erforderliche Schulung schon früher erfolgt war, handelt es sich um einen Kaufvertrag im Sinn der §§ 433 ff. BGB. Zur Ausstattung mit einem Langstock vgl. näher Heft 3 Abschnitt 6.4.2.1 dieser Schriftenreihe.
Um einen Werkvertrag handelt es sich auch bei Transportleistungen. So ist Grundlage für die Inanspruchnahme eines Taxis oder eines Behindertenfahrdienstes, um ein Ziel zu erreichen, kein Dienstvertrag, sondern ein Werkvertrag. Für diese Sonderform des Werkvertrages ist das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) zu beachten. In § 22 PBefG ist die Beförderungspflicht geregelt. Dieser lautet:
"Der Unternehmer ist zur Beförderung verpflichtet, wenn
- die Beförderungsbedingungen eingehalten werden,
- die Beförderung mit den regelmäßig eingesetzten Beförderungsmitteln möglich ist und
- die Beförderung nicht durch Umstände verhindert wird, die der Unternehmer nicht abwenden und denen er auch nicht abhelfen kann."
Davon zu unterscheiden sind Werkverträge, die die Lieferung von beweglichen Sachen zum Gegenstand haben, die der Schuldner noch herzustellen oder zu erzeugen hat und andere Werkverträge.
Für Werkverträge, die die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand haben, gilt folgendes:
Für sie sind nach § 651 Satz 1 BGB die Regelungen über den Kaufvertrag maßgebend. Das wäre z.B. bei den obigen Beispielen (Umsetzen eines Textes in Blindenschrift oder Aufsprache auf einen Tonträger) der Fall.
Das Kaufrecht ist nach § 651 Satz 2 BGB auch dann anwendbar, wenn der Besteller die Materialien zur Herstellung des Werkes stellt. Wenn es sich bei den herzustellenden oder zu erzeugenden beweglichen Sachen um nicht vertretbare Sachen handelt, sind gem. § 651 Satz 3 BGB einige Vorschriften des Werkvertragsrechts neben dem Kaufrecht anwendbar. Der von den nicht vertretbaren Sachen zu unterscheidende Begriff der vertretbaren Sachen ist in § 91 geregelt. Es handelt sich danach um Sachen, die im Verkehr nach Zahl, Maß oder Gewicht bestimmt werden. Nicht vertretbare Sachen sind demnach solche, die individuelle Merkmale aufweisen oder den Bestellerwünschen angepasst sind. § 651 BGB lautet:
"§ 651 Anwendung des Kaufrechts
Auf einen Vertrag, der die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand hat, finden die Vorschriften über den Kauf Anwendung. § 442 Abs. 1 Satz 1 findet bei diesen Verträgen auch Anwendung, wenn der Mangel auf den vom Besteller gelieferten Stoff zurückzuführen ist. Soweit es sich bei den herzustellenden oder zu erzeugenden beweglichen Sachen um nicht vertretbare Sachen handelt, sind auch die §§ 642, 643, 645, 649 und 650 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle der Abnahme der nach den §§ 446 und 447 maßgebliche Zeitpunkt tritt."
3.3.2.2.2 Rechte und Pflichten aus dem Werkvertrag
Durch den Werkvertrag wird gem. § 631 BGB der Unternehmer zur Herstellung des versprochenen Werkes, der Besteller zur Entrichtung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. Das sind die Hauptpflichten. Daneben können sich noch zahlreiche Nebenpflichten wie z.B. Hinweis- und Informationspflichten ergeben.
Die Rechte und Pflichten bei einen Vertrag, der die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand hat, ergeben sich im Übrigen, wie oben bereits festgestellt, aus den §§ 433 ff. BGB, in welchen der Kauf geregelt ist. Vgl. dazu die Abschnitte 3.1.1.1 und 3.1.1.2 in diesem Heft.
Für Werkverträge, die nicht die Herstellung beweglicher Sachen zum Ziel haben, gilt folgendes:
Für sie ergeben sich die Rechte und Pflichten nur aus den §§ 631 ff. BGB. § 631 BGB lautet:
"§ 631 Vertragstypische Pflichten beim Werkvertrag
(1) Durch den Werkvertrag wird der Unternehmer zur Herstellung des versprochenen Werkes, der Besteller zur Entrichtung der vereinbarten Vergütung verpflichtet.
(2) Gegenstand des Werkvertrags kann sowohl die Herstellung oder Veränderung einer Sache als auch ein anderer durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg sein."
Hauptpflicht des Unternehmers ist die rechtzeitige und mangelfreie Herstellung des Werks (§§ 631 Abs. 1, 633 BGB). Das Werk muss frei von Sach- und Rechtsmängeln verschafft werden (§ 633 Abs. 1 BGB). Hauptpflicht ist gegebenenfalls auch die Verschaffung von Eigentum und Besitz. Zu den Hauptpflichten gehört auch die Beratung und Information, soweit sich diese auf das herzustellende Werk beziehen (Palandt Rn. 14 zu § 631 BGB). Sonst kann Beratung und Information auch eine Nebenpflicht sein.
Das Werk ist gem. § 633 Abs. 2 BGB frei von Sachmängeln, wenn es die vereinbarte Beschaffenheit hat. Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist das Werk frei von Sachmängeln, wenn es sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte, sonst für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Werken der gleichen Art üblich ist und die der Besteller nach der Art des Werkes erwarten kann.
Das Werk ist gem. § 633 Abs. 3 BGB frei von Rechtsmängeln, wenn Dritte in Bezug auf das Werk keine oder nur die im Vertrag übernommenen Rechte gegen den Besteller geltend machen können.
Für die Pflichten des Bestellers gilt folgendes:
Bei den Pflichten des Bestellers ist zwischen Hauptpflichten, Nebenpflichten und bloßen Obliegenheiten zu unterscheiden.
Hauptpflichten des Bestellers sind die Abnahme des Werkes (§ 640 BGB), und die Entrichtung der vereinbarten Vergütung (§ 631 Abs. 1 BGB). Einzelheiten zur Vergütung sind in den §§ 632 und 632 a BGB geregelt. Die Fälligkeit der Vergütung tritt nicht sofort bei Vertragsabschluss, sondern erst mit der Abnahme des Werkes ein (§§ 640, 641 BGB).
Die Pflicht zur Abnahme ist in § 640 BGB konkretisiert. Nach § 640 Abs. 1 Satz 1 BGB ist der Besteller verpflichtet, das vertragsmäßig hergestellte Werk abzunehmen, sofern nicht nach der Beschaffenheit des Werkes die Abnahme ausgeschlossen ist. Wegen unwesentlicher Mängel kann die Abnahme nicht verweigert werden (§ 640 Abs. 1 Satz 2 BGB). Die Abnahme erfolgt durch die körperliche Entgegennahme des Werkes und die Anerkennung als zumindest in der Hauptsache vertragsgemäße Leistung (Looschelders, Schuldrecht besonderer Teil Rn. 648). Gemäß § 640 Abs. 1 Satz 3 BGB steht es der Abnahme gleich, wenn der Besteller das im Wesentlichen vertragsgemäß hergestellte Werk innerhalb einer vom Unternehmer bestimmten angemessenen Frist nicht abnimmt. Wenn die Abnahme ausgeschlossen oder wie z.B. bei Transportleistungen nicht üblich ist, tritt gem. § 646 BGB an die Stelle der Abnahme die Vollendung des Werkes.
Mit der Abnahme wird nicht nur die Vergütung nach § 641 Abs. 1 Satz 1 BGB fällig Sie ist auch für verschiedene andere Rechtsfragen, z.B. für den Gefahrübergang und insbesondere für die sich aus Mängeln gem. § 634 BGB ergebenden Rechte von Bedeutung. Bei grundloser Verweigerung der Abnahme gerät der Besteller in Annahmeverzug (§§ 293 ff. BGB). Da die Abnahme keine bloße Obliegenheit, sondern eine echte Rechtspflicht darstellt, kann der Besteller gleichzeitig in Schuldnerverzug kommen. Der Unternehmer hat dann einen Anspruch auf den Ersatz des durch die Verzögerung der Abnahme entstandenen Schadens (§ 280 Abs. 1 und 2, § 286 BGB). Der Unternehmer kann schließlich nach § 323 BGB vom Vertrag zurücktreten und/oder nach §§ 280 Abs. 1 und 2, 281 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen, sofern die dafür erforderlichen zusätzlichen Voraussetzungen (insbesondere Fristsetzung) vorliegen (Looschelders Rn. 650).
Aus dem Werkvertrag können sich außerdem Mitwirkungspflichten des Bestellers ergeben. Die Folgen bei Verletzung der Mitwirkungspflichten ergeben sich aus §§ 642 ff. BGB. Der Unternehmer kann gem. § 642 Abs. 1 BGB eine angemessene Entschädigung verlangen, wenn der Besteller durch das Unterlassen der Handlung in Verzug der Annahme kommt.
Die Höhe der Entschädigung bestimmt sich gem. § 642 Abs. 2 BGB einerseits nach der Dauer des Verzugs und der Höhe der vereinbarten Vergütung, andererseits nach demjenigen, was der Unternehmer infolge des Verzugs an Aufwendungen erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erwerben kann. Der Unternehmer ist gem. § 643 BGB im Falle des § 642 berechtigt, dem Besteller zur Nachholung der Handlung eine angemessene Frist mit der Erklärung zu bestimmen, dass er den Vertrag kündige, wenn die Handlung nicht bis zum Ablauf der Frist vorgenommen werde. Der Vertrag gilt als aufgehoben, wenn nicht die Nachholung bis zum Ablauf der Frist erfolgt. Außerdem kann er nach § 645 Abs. 1 Satz 2 BGB einen der geleisteten Arbeit entsprechenden Teil der Vergütung sowie Ersatz der hierdurch nicht abgedeckten Auslagen verlangen.
Schließlich geht mit dem Annahmeverzug noch die Preisgefahr auf den Besteller über (§§ 326 Abs. 2 Satz 1, 644 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das bedeutet, dass dem Unternehmer ein Anspruch auf die vereinbarte Vergütung zusteht, wenn das Werk untergeht oder die Fertigstellung des Werkes unmöglich wird.
3.3.2.2.3 Rechte bei Mängeln und Leistungsstörungen beim Werkvertrag
Für die Rechte des Bestellers bei Mängeln gilt folgendes:
Auch in diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass für Werkverträge, die die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand haben, gem. § 651 Satz 1 BGB die Vorschriften über Sach- und Rechtsmängel nach dem Kaufrecht (§§ 433 ff. BGB) maßgebend sind. Vgl. dazu Abschnitt 3.1.1.3 "Rechte des Käufers bei Sach- oder Rechtsmängeln" mit Unterpunkten. Wenn der Mangel auf den vom Besteller gelieferten Stoff zurückzuführen ist, sind in diesen Fällen die Rechte des Käufers wegen eines Mangels ausgeschlossen, wenn er bei Vertragsschluss den Mangel kennt (§ 651 BGB in Verbindung mit § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB).
Für Werkverträge, die nicht die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand haben sind die Rechte des Bestellers bei Sach- oder Rechtsmängeln in den §§ 633 bis 638 BGB geregelt. Aber auch diese Bestimmungen sind weitgehend den Regelungen im Kaufvertragsrecht nachgebildet.
Wie unter 3.3.2.2.1 ausgeführt, gehört es zu den Hauptpflichten des Unternehmers, ein Werk frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. In § 633 Abs. 2 und 3 heißt es dazu:
"(2) Das Werk ist frei von Sachmängeln, wenn es die vereinbarte Beschaffenheit hat. Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist das Werk frei von Sachmängeln, wenn es sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte, sonst für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Werken der gleichen Art üblich ist und die der Besteller nach der Art des Werkes erwarten kann.
Einem Sachmangel steht es gleich, wenn der Unternehmer ein anderes als das bestellte Werk oder das Werk in zu geringer Menge herstellt.
(3) Das Werk ist frei von Rechtsmängeln, wenn Dritte in Bezug auf das Werk keine oder nur die im Vertrag übernommenen Rechte gegen den Besteller geltend machen können."
Aus § 633 Abs. 3 BGB ergibt sich, dass das Werk so hergestellt werden muss, dass Dritte in Bezug darauf keine oder nur die im Vertrag übernommenen Rechte gegen den Besteller geltend machen können. Als Rechte Dritter kommen z.B. Urheberrechte, Patentrechte und andere gewerbliche Schutzrechte in Betracht (Looschelders Schuldrecht besonderer Teil Rn. 671).
Die Rechte des Bestellers bei Mängeln ergeben sich aus § 634 BGB. Dieser lautet:
"§ 634 Rechte des Bestellers bei Mängeln
Ist das Werk mangelhaft, kann der Besteller, wenn die Voraussetzungen der folgenden Vorschriften vorliegen und soweit nicht ein anderes bestimmt ist,
- nach § 635 Nacherfüllung verlangen,
- nach § 637 den Mangel selbst beseitigen und Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangen,
- nach den §§ 636, 323 und 326 Abs. 5 von dem Vertrag zurücktreten oder nach § 638 die Vergütung mindern und
- nach den §§ 636, 280, 281, 283 und 311 a Schadensersatz oder nach § 284 Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen."
Die §§ 634 bis 638 BGB verweisen für den Rücktritt und den Schadensersatz somit weitgehend auf das allgemeine Leistungsstörungsrecht.
Die Ansprüche aus dem Gewährleistungsrecht treten erst ab dem Zeitpunkt des Gefahrübergangs ein. Maßgebend dafür ist gem. § 644 Abs. 1 BGB die Abnahme bzw. die Fertigstellung des Werks. Bis zu diesem Zeitpunkt besteht der sich aus dem Werkvertrag ergebende Erfüllungsanspruch.
Für die Frage, ob ein Sach- oder Rechtsmangel im Sinn von § 633 Abs. 2 und 3 BGB vorliegt, kommt es in erster Linie auf den Willen der Parteien an, wie er im Vertrag zum Ausdruck gekommen ist (so genannter subjektiver Mangelbegriff).
Vorrangig kann der Besteller beim Vorliegen von Mängeln gem. §§ 634 Nr. 1, 635 BGB Nacherfüllung verlangen. Die sonstigen in § 634 Nrn. 2 bis 4 geregelten Rechte können grundsätzlich nur nach Ablauf einer angemessenen Frist zur Nacherfüllung geltend gemacht werden. Der Unternehmer hat nämlich das Recht zu einem zweiten Versuch, seine Leistungspflicht zu erfüllen. Die Nacherfüllung kann gemäß § 635 Abs. 1 BGB in Form der Beseitigung des Mangels (Nachbesserung) oder der Neuherstellung des Werkes erfolgen. Das Wahlrecht zwischen diesen beiden Möglichkeiten steht dem Unternehmer zu. Die Kosten, die durch die Nacherfüllung entstehen, muss der Unternehmer tragen (§ 635 Abs. 2 BGB). Der Unternehmer kann jedoch die Nacherfüllung gemäß § 635 Abs. 3 BGB verweigern, wenn sie mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden ist.
Nach §§ 634 Nr. 2, 637 Abs. 1 BGB kann der Besteller nach erfolglosem Ablauf einer Frist zur Nacherfüllung den Mangel auch selbst beseitigen (bzw. durch einen Dritten beseitigen lassen) und Ersatz der dazu erforderlichen Aufwendungen verlangen. Dieses Recht besteht allerdings nicht, wenn die Nacherfüllung dem Unternehmer unmöglich ist oder wegen der unverhältnismäßig hohen Kosten dem Unternehmer nicht zugemutet werden kann (§§ 275 bzw. 635 Abs. 3, 637 Abs. 1 Halbsatz 2 BGB). Vgl. dazu Looschelders Schuldrecht besonderer Teil Rn. 678.
§ 634 Nr. 3 BGB enthält zwei Alternativen. Nach der ersten Alternative kann der Besteller im Fall eines Mangels auch vom Vertrag zurücktreten. Für die weiteren Voraussetzungen des Rücktritts wird dort auf die §§ 636, 323, 326 Abs. 5 BGB verwiesen. Bei behebbaren Mängeln muss der Besteller dem Unternehmer daher zunächst eine angemessene Frist zur Nacherfüllung setzen (§ 323 Abs. 1 BGB). Die Fristsetzung ist nach § 323 Abs. 2 BGB nicht erforderlich, wenn
- der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert,
- der Schuldner die Leistung zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer bestimmten Frist nicht bewirkt und der Gläubiger im Vertrag den Fortbestand seines Leistungsinteresses an die Rechtzeitigkeit der Leistung gebunden hat oder
- besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen.
Darüber hinaus lässt § 636 BGB das Fristsetzungserfordernis auch dann entfallen, wenn der Unternehmer die Nacherfüllung berechtigter Weise nach § 635 Abs. 3 BGB verweigert, weil sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist oder wenn die Nacherfüllung fehlschlägt oder für den Besteller unzumutbar ist.
Das Rücktrittsrecht ist bei unerheblichen Mängeln gem. § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB sowie bei alleiniger oder weit überwiegender Verantwortlichkeit des Bestellers und im Annahmeverzug des Bestellers ausgeschlossen (§ 323 Abs. 6 BGB).
Durch den Rücktritt entsteht zwischen Besteller und Unternehmer ein Rückgewährschuldverhältnis. Die Rückabwicklung richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 346 ff. BGB.
Nach § 634 Nr. 3 BGB zweite Alternative kann der Besteller anstelle des Rücktritts wahlweise die Vergütung des Unternehmers mindern. § 638 Abs. 1 Satz 1 BGB bestimmt dazu: "Statt zurückzutreten, kann der Besteller die Vergütung durch Erklärung gegenüber dem Unternehmer mindern." Die Ausübung des Minderungsrechts setzt danach grundsätzlich voraus, dass die Voraussetzungen des Rücktritts (§§ 323, 326 Abs. 5 BGB) vorliegen Da § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB nicht anwendbar ist, kann auch bei einem unerheblichen Mangel das Entgelt herabgesetzt werden. Die Minderung ist ein Gestaltungsrecht, das durch Erklärung gegenüber dem Unternehmer ausgeübt wird (§ 638 Abs. 1 Satz 1 BGB).
Nach § 634 Nr. 4 BGB kann der Besteller Schadensersatzansprüche haben. § 634 Nr. 4 BGB verweist dazu auf die §§ 280, 281, 283, 311 a BGB.
Ein Schadensersatzanspruch kann neben der Leistung bestehen. Ein Anspruch aus §§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz neben der Leistung kommt in, wenn der Besteller auf Grund des beim Werk vorhandenen Mangels einen Schaden an seinen sonstigen Rechten Betracht, Rechtsgütern oder Interessen erleidet. Solche Schäden werden auch als Mangelfolgeschäden bezeichnet. Der Nacherfüllungsanspruch des Bestellers bleibt bestehen. Der Schadensersatz kann also neben der Nacherfüllung verlangt werden. Zusätzliche Voraussetzungen (z.B. eine Fristsetzung) sind daher entbehrlich (Looschelders Schuldrecht besonderer Teil Rn. 690).
Ein Schadensersatzanspruch besteht ferner, wenn durch die Verzögerung der mangelfreien Leistung ein Schaden entstanden ist. Nach §§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 und 2, 286 Abs. 1 BGB muss der Unternehmer den Schaden ersetzen, der dem Besteller durch die Verzögerung der mangelfreien Leistung entsteht. Es geht dabei vor allem um den Fall, dass der Unternehmer mit der Nacherfüllung in Verzug kommt. Der Nutzungsausfallschaden wird dagegen nach h. M. nicht von §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 BGB erfasst, sondern ist als "einfacher" Schaden nach § 280 Abs. 1 BGB zu ersetzen (Looschelders Schuldrecht besonderer Teil Rn. 691).
Schadensersatz statt der Leistung kann der Besteller nur unter den Voraussetzungen der §§ 280 Abs. 1 und 3, 281 bzw. 283 oder des § 311 a Abs. 2 BGB (jeweils i.V. m. §§ 634 Nr. 4 BGB) beanspruchen. Wenn der Mangel des Werkes behebbar war, kann Schadensersatz statt der Leistung grundsätzlich nur verlangt werden, wenn dem Unternehmer zur Nacherfüllung vergeblich eine angemessene Frist gesetzt worden ist (§ 281 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Fristsetzung kann nach § 281 Abs. 2 wegen ernsthafter und endgültiger Verweigerung der Nacherfüllung durch den Unternehmer oder aus besonderen Gründen entbehrlich sein. Darüber hinaus sind die Ausnahmetatbestände des § 636 BGB auch hier anwendbar. Sie lauten: "Außer in den Fällen der § 281 Abs. 2 und 323 Abs. 2 bedarf es der Fristsetzung auch dann nicht, wenn der Unternehmer die Nacherfüllung gemäß § 635 Abs. 3 verweigert oder wenn die Nacherfüllung fehlgeschlagen oder dem Besteller unzumutbar ist."
Anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung kann der Besteller gemäß § 634 Nr. 4 BGB i.V.m. § 284 BGB Ersatz der vergeblichen Aufwendungen verlangen, die er im Vertrauen auf den Erhalt eines mangelfreien Werkes gemacht hat. Dazu gehören insbesondere die Vertragskosten sowie die Kosten für Zubehör, das für das Werk erworben worden ist.
Die Gewährleistungsrechte können vertraglich oder gesetzlich ausgeschlossen sein. Nimmt der Besteller das Werk in Kenntnis des Mangels ab, so stehen ihm die Rechte des § 634 Nr. 1 - 3 BGB nur zu, wenn er sich diese bei der Abnahme vorbehält (§ 640 Abs. 2 BGB). Dem Besteller schadet aber nur positive Kenntnis; selbst grob fahrlässige Unkenntnis lässt die Mängelrechte bestehen.
Da die in § 634 Nr. 4 BGB geregelten Schadensersatzansprüche des Bestellers nicht in § 640 Abs. 2 BGB genannt sind, bleiben sie auch bei Abnahme des Werkes in Kenntnis des Mangels bestehen.
Bei Werkverträgen, die den Transport von Personen zum Gegenstand haben, und bei welchen deshalb die Regelungen nach dem Personenbeförderungsgesetz (PBefG) zu beachten sind, kann nach § 23 PBefG der Unternehmer die Haftung für Sachschäden gegenüber jeder beförderten Person insoweit ausschließen, als der Schaden 1.000,00 Euro übersteigt und nicht auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruht.
Bei der Verletzung der Pflichten des Bestellers ergeben sich die Folgen aus den Regelungen über Leistungsstörungen nach dem allgemeinen Schuldrecht, insbesondere aus den Bestimmungen über den Schadensersatz nach den §§ 280 ff. BGB. Vgl. dazu Palandt Rn. 27 zu § 631 BGB.
3.3.2.2.4 Beendigung des Werkvertrages
Die Beendigung des Werkvertrags richtet sich grundsätzlich nach allgemeinen Regeln. Die gegenseitigen Verpflichtungen der Parteien können hiernach insbesondere durch Erfüllung (§ 362 BGB) oder auf Grund von Unmöglichkeit (§ 275 BGB) erlöschen. Außerdem ist es den Parteien jederzeit unbenommen, einen Aufhebungsvertrag zu schließen. Darüber hinaus räumt das Gesetz beiden Parteien besondere Kündigungsrechte ein, die eine vorzeitige Beendigung des Werkvertrags ermöglichen:
Gemäß § 649 S. 1 BGB kann der Besteller den Werkvertrag jederzeit kündigen, ohne dass dafür ein besonderer Grund erforderlich wäre. In diesem Fall wird der Vertrag mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben. Gleichwohl schuldet der Besteller dem Unternehmer nach § 649 S. 2 BGB die volle Vergütung. Ebenso wie bei §§ 326 Abs. 2 Satz 2, 615 Satz 2, 642 Abs. 2 und 648 a Abs. 5 Satz 2 muss der Unternehmer sich jedoch ersparte Aufwendungen und sonstige Vorteile anrechnen lassen. Die Beweislast für den Vergütungsanspruch liegt beim Unternehmer.
Neben dem Kündigungsrecht nach § 649 BGB steht dem Besteller ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund zu, sofern ihm die Fortsetzung des Vertrages unter Abwägung der beiderseitigen Interessen unzumutbar ist. Der Vergütungsanspruch des Unternehmers richtet sich in diesem Fall nicht nach § 649 Satz 2 BGB. Da der Vertrag durch die Kündigung mit ex nunc-Wirkung - d.h. von jetzt ab und nicht rückwirkend - aufgehoben wird, kann der Unternehmer nach allgemeinen Regeln nur die Vergütung der schon erbrachten Leistungen verlangen.
Liegt dem Vertrag ein Kostenanschlag zugrunde, so kann der Besteller nach § 650 Abs. 1 BGB kündigen, sofern sich herausstellt, dass das Werk nicht ohne wesentliche Überschreitung des Kostenanschlags fertig gestellt werden kann. Das Kündigungsrecht besteht allerdings nur, wenn der Unternehmer keine Gewähr für die Richtigkeit des Kostenanschlags übernommen hat, d.h. nicht garantiert, dass die Kosten auch bei Kostenüberschreitung gelten. Bei Übernahme einer solchen Gewähr ist für die Kündigung kein Raum, weil der Unternehmer den Vertrag ohnehin zum vereinbarten Preis zu erfüllen hat.
Kündigt der Besteller den Vertrag nach § 650 Abs. 1 BGB, so steht dem Unternehmer nur der Anspruch aus § 645 Abs. 1 BGB zu. Der Unternehmer kann damit lediglich die Vergütung der bisher geleisteten Arbeit verlangen. Die Folgen der Kündigung sind für den Besteller also deutlich günstiger als bei § 649 BGB.
Für die Kündigung des Unternehmers gilt folgendes:
Im Unterschied zum Besteller steht dem Unternehmer kein "freies" Kündigungsrecht zu. Eine Kündigungsmöglichkeit wird dem Unternehmer aber in § 643 BGB eingeräumt. Verletzt der Besteller seine Mitwirkungsobliegenheit aus § 642 BGB, so kann der Unternehmer ihm hiernach eine angemessene Frist zur Nachholung der Handlung setzen. Der Unternehmer muss damit die Erklärung verbinden, dass er den Vertrag bei nicht fristgerechter Nachholung kündige. Wird die Mitwirkungshandlung bis zum Ablauf der Frist nicht vorgenommen, so gilt der Vertrag als aufgehoben (§ 643 Satz 2 BGB). Dem Unternehmer steht dann gemäß § 645 Abs. 1 Satz 2 ein Teilvergütungsanspruch gegen den Besteller zu (§ 645 Abs. 1 Satz 1 BGB).
3.4 Wohnen
Rechtsgrundlage für das Recht, Räumlichkeiten zum Wohnen zu benutzen, ist ein Mietvertrag. Der Mietvertrag ist in den § 535 ff. BGB geregelt, wobei spezielle Vorschriften über die Miete von Wohnraum die §§ 549 bis 577 a BGB enthalten.
Hauptpflicht des Vermieters ist es gem. § 535 Abs. 1 BGB "dem Mieter den Gebrauch der Mietsache während der Mietzeit zu gewähren" und "die Mietsache dem Mieter in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und sie während der Mietzeit in diesem Zustand zu erhalten. Er hat die auf der Mietsache ruhenden Lasten zu tragen."
Hauptpflicht des Mieters ist es gem. § 535 Abs. 2 BGB "dem Vermieter die vereinbarte Miete zu entrichten."
Aus dem sehr komplexen Mietrecht können im Rahmen dieser Schriftenreihe nur einige für blinde und sehbehinderte Menschen wichtige Fragen behandelt werden.
Bei mietrechtlichen Problemen ist die Hilfe durch Mietervereinigungen oder durch im Mietrecht erfahrene Rechtsanwälte zu empfehlen.
3.4.1 Diskriminierungsverbot beim Abschluss des Mietvertrages
Dem Vermieter steht es frei, mit wem er einen Mietvertrag abschließen will. Das gebietet das Prinzip der Vertragsfreiheit. Nicht selten begegnen blinde oder sehbehinderte Menschen bei Vermietern großer Skepsis, weil befürchtet wird, das es infolge der Sehbehinderung oder Blindheit zu Schäden an der Mietsache kommen könnte. Erfahrungsgemäß sind solche Ängste völlig unberechtigt. Die Frage ist, ob die Ablehnung eines Mietvertrages wegen der Behinderung des Mietbewerbers eine Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben. Zum AGG vgl. Abschnitt 2.3.3 mit Unterpunkten in diesem Heft und in Heft 7 dieser Schriftenreihe Abschnitt 5.5.1 und Abschnitt 7 mit Unterpunkten.
Ziel des AGG ist nach § 1 "Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen."
Der Anwendungsbereich des AGG bezieht sich u.a. nach dessen § 2 Abs. 1 Nr. 8 auf "den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum".
Was eine Benachteiligung ist, besagen § 3 Absätze 1 und 2 AGG. Dort heißt es:
"(1) Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. ...
(2) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich."
Das Benachteiligungsverbot im Zivilrecht ist in § 19 AGG geregelt.
Nach dessen Abs. 1 Nr. 1 ist eine Benachteiligung u.a. wegen einer Behinderung oder wegen des Alters verboten bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen.
Dazu bestimmt § 19 Abs. 5 Satz 3 AGG: "Die Vermietung von Wohnraum zum nicht nur vorübergehenden Gebrauch ist in der Regel kein Geschäft im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1, wenn der Vermieter insgesamt nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet." Damit ist die Anwendbarkeit des AGG im Mietrecht stark eingeschränkt. Ferner ist bei der Vermietung von Wohnraum eine unterschiedliche Behandlung im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse zulässig (§ 19 Abs. 3 AGG). Dadurch soll eine Ghettobildung vermieden werden.
Wenn ein Vermieter, der mehr als 50 Wohnungen vermietet, den Abschluss eines Mietvertrages mit einem Mietinteressenten wegen seiner Sehbehinderung oder Blindheit ablehnt, liegt eine verbotene Diskriminierung im Sinn von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG vor. Die Ansprüche, welche sich aus der Verletzung des Benachteiligungsverbots im Zivilrechtsverkehr ergeben, regelt § 21 AGG.
Nach § 21 Abs. 1 AGG kann zwar die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangt werden. Dieser Anspruch umfasst aber nicht die Pflicht zum Abschluss eines Mietvertrages, sondern nur eine Beseitigung der Diskriminierung für die Zukunft (Palandt Rn. 3 und 7 zu § 21 AGG). Nach § 21 Abs. 2 Satz 1 AGG besteht ein Anspruch auf Ersatz des durch die Benachteiligung entstandenen Schadens. Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der Benachteiligte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen.
Nach § 21 Abs. 5 AGG muss der Schadensersatzanspruch innerhalb einer Frist von zwei Monaten geltend gemacht werden. Nach Ablauf der Frist kann der Anspruch nur geltend gemacht werden, wenn der Benachteiligte ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Die Geltendmachung kann durch formlose Erklärung erfolgen. Zweckmäßig ist aber Schriftform. Die Erklärung muss die tatsächlichen Umstände des Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot benennen und ausdrücken, dass ihretwegen Ansprüche geltend gemacht werden. Dies muss so konkret erfolgen, dass der Verletzer die Vorwürfe überprüfen kann. Die genaue Bezeichnung der Ansprüche und ihre Bezifferung ist dagegen nicht erforderlich (Palandt Rn. 8 zu § 21 AGG). Ausführlicher zu den Folgen einer Rechtsverletzung vgl. Abschnitt 2.3.3.2.3 in diesem Heft und in Heft 7 dieser Schriftenreihe Abschnitt 7.3.2.4.
Große Schwierigkeiten bereitet im Rechtsstreit der Nachweis, dass ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vorliegt, dass also der Mietvertrag wegen der Sehbehinderung oder Blindheit des Mietinteressenten nicht abgeschlossen worden ist. Eine Beweiserleichterung bringt § 22 AGG. Dort heißt es: "Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat." Dazu vgl. Abschnitt 2.3.3.3.1 dieses Heftes.
In Rechtsstreitigkeiten wegen einer nach dem AGG erlittenen Diskriminierung kann die Hilfe durch Antidiskriminierungsverbände in Anspruch genommen werden (§ 23 AGG). Dazu zählen auch die Selbsthilfeorganisationen der blinden und sehbehinderten Menschen. Vgl. dazu näher Abschnitt 2.3.3.2 in diesem Heft.
3.4.2 Keine Befreiung von vertraglichen Verpflichtungen
Häufig enthalten Mietverträge Verpflichtungen des Mieters, die Treppe zu reinigen oder Schnee zu räumen. Diese vertraglichen Pflichten muss auch ein blinder oder sehbehinderter Mieter erfüllen. Erforderlichenfalls muss er dazu andere Personen oder Hilfsdienste heranziehen.
3.4.3 Zustimmungspflicht zu baulichen Veränderungen oder sonstigen Einrichtungen
Sind wegen der Behinderung gewisse Umbauten notwendig, damit die Wohnung barrierefrei wird, so kann der behinderte Mieter nach Absprache mit dem Vermieter auf eigene Kosten diese Baumaßnahmen vornehmen lassen. Hierbei handelt es sich nicht um eine Abnutzung der Mietsache durch vertragsgemäßen Gebrauch im Sinn von § 538 BGB. Der Vermieter ist unter bestimmten Voraussetzungen nach § 554 a BGB zur Zustimmung verpflichtet. Der einschlägige § 554 a Barrierefreiheit lautet:
"(1) Der Mieter kann vom Vermieter die Zustimmung zu baulichen Veränderungen oder sonstigen Einrichtungen verlangen, die für eine behindertengerechte Nutzung der Mietsache oder den Zugang zu ihr erforderlich sind, wenn er ein berechtigtes Interesse daran hat. Der Vermieter kann seine Zustimmung verweigern, wenn sein Interesse an der unveränderten Erhaltung der Mietsache oder des Gebäudes das Interesse des Mieters an einer behindertengerechten Nutzung der Mietsache überwiegt. Dabei sind auch die berechtigten Interessen anderer Mieter in dem Gebäude zu berücksichtigen.
(2) Der Vermieter kann seine Zustimmung von der Leistung einer angemessenen zusätzlichen Sicherheit für die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes abhängig machen. § 551 Abs. 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Eine zum Nachteil des Mieters von Absatz 1 abweichende Vereinbarung ist unwirksam."
Diese Bestimmung verschafft blinden und hochgradig sehbehinderten Mietern das Recht, besonders solche baulichen Veränderungen vorzunehmen oder vornehmen zu lassen, die es ihnen ermöglichen, sich in ihrer Wohnung ungehindert zu bewegen. Vgl. dazu näher Heft 7 Abschn. 5.5.2.1 dieser Schriftenreihe.
3.4.4 Berechtigung zur Haltung eines Blindenführhundes in der Wohnung
Für einen blinden Mieter ist das Recht, einen Blindenführhund in der Wohnung halten zu können und zwar auch dann, wenn das Halten von Tieren in einem Mietvertrag formularmäßig verboten ist, unerlässlich, da der Blindenführhund seiner Mobilität dient. Dazu vgl. näher Heft 7 Abschn. 5.5.2.2 dieser Schriftenreihe.
3.4.5 Kündigungsschutz bei besonderen Härten
Im Fall einer unzumutbaren Härte bei einer Wohnungskündigung gibt § 574 BGB dem Mieter die Möglichkeit, der Kündigung des Mietverhältnisses zu widersprechen. Wer blind oder sehbehindert ist, kann durch die Kündigung in besonderer Weise betroffen sein. Aus dem Umstand der Blindheit allein ergibt sich allerdings noch kein Härtefall. Vielmehr müssen andere Aspekte hinzukommen: Alter oder Gesundheitsgefährdung.
§ 574 Widerspruch des Mieters gegen die Kündigung lautet:
"(1) Der Mieter kann der Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Dies gilt nicht, wenn ein Grund vorliegt, der den Vermieter zur außerordentlichen fristlosen Kündigung berechtigt.
(2) Eine Härte liegt auch vor, wenn angemessener Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschafft werden kann.
(3) Bei der Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters werden nur die in dem Kündigungsschreiben nach § 573 Abs. 3 angegebenen Gründe berücksichtigt, außer wenn die Gründe nachträglich entstanden sind.
(4) Eine zum Nachteil des Mieters abweichende Vereinbarung ist unwirksam."
Vgl. dazu näher Heft 7 Abschnitt 5.5.2.3 dieser Schriftenreihe.
3.5 Schadensfälle im Straßenverkehr
Wer als blinder oder sehbehinderter Verkehrsteilnehmer in einen Verkehrsunfall verwickelt wird, bei welchem andere Personen verletzt oder gar getötet werden bzw. Sachschaden entsteht, haftet für den von ihm verursachten Schaden nach den §§ 823 ff. BGB, wenn ihn ein Verschulden trifft. Zur Haftung aus unerlaubten Handlungen vgl. Abschnitt 2.4.1.5 mit Unterpunkten in diesem Heft.
Aber auch der blinde Verkehrsteilnehmer kann Schadensersatzansprüche haben, wenn er einen Personen- oder Sachschaden erleidet. Im Rechtsstreit wird hier häufig die Frage aufgeworfen, ob eine Anspruchsminderung wegen Mitverschuldens eintritt.
Bei der Beurteilung, ob ein Verschulden oder Mitverschulden vorliegt, sind die im Straßenverkehr geltenden Regelungen zu beachten.
Maßgebend für die Teilnahme am Straßenverkehr - auch als Fußgänger ! - ist die Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV) vom 18. August 1998.
Der allgemeine Grundsatz, dass durch die Teilnahme am Straßenverkehr andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet werden dürfen (§ 1 Straßenverkehrsordnung - StVO) ist selbstverständlich auch von blinden und sehbehinderten Verkehrsteilnehmern zu beachten. Für sie gilt überdies eine Beschränkung der Zulassung zum Straßenverkehr nach § 2 der FeV. § 2 FeV lautet:
"§ 2 Eingeschränkte Zulassung
(1) Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich durch das Anbringen geeigneter Einrichtungen an Fahrzeugen, durch den Ersatz fehlender Gliedmaßen mittels künstlicher Glieder, durch Begleitung oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kennzeichen, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen.
(2) Körperlich Behinderte können ihre Behinderung durch gelbe Armbinden an beiden Armen oder andere geeignete, deutlich sichtbare, gelbe Abzeichen mit drei schwarzen Punkten kenntlich machen. Die Abzeichen dürfen nicht an Fahrzeugen angebracht werden. Wesentlich sehbehinderte Fußgänger können ihre Behinderung durch einen weißen Blindenstock, die Begleitung durch einen Blindenhund im weißen Führgeschirr und gelbe Abzeichen nach Satz 1 kenntlich machen.
(3) Andere Verkehrsteilnehmer dürfen die in Absatz 2 genannten Kennzeichen im Straßenverkehr nicht verwenden."
Die in § 2 Abs. 2 FeVO genannten "Verkehrsschutzzeichen" signalisieren nicht nur, dass andere Verkehrsteilnehmer besondere Rücksicht nehmen sollen. Sie heben auch die sonst bestehende Prima-facie-Vermutung auf, dass der blinde Verkehrsteilnehmer wegen seiner Einschränkungen das Unfallrisiko zu verantworten habe.
Von sehbehinderten Verkehrsteilnehmern wird immer wieder die Frage gestellt, unter welchen Voraussetzungen sie als Fahrradfahrer am Straßenverkehr teilnehmen dürfen.
In § 12 FeV und in der Anlage 6 zur FeV werden Anforderungen an das Sehvermögen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeuges aufgestellt. Diese Anforderungen gelten zwar nicht für das Fahren mit dem Fahrrad. Einen Anhaltspunkt können sie trotzdem bieten. So werden auch für das Führen eines Mofas (Klasse M) nach Nummer 1.2 der Anlage 6 folgende Sehwerte gefordert:
- Bei Beidäugigkeit: Sehschärfe des besseren Auges oder beidäugige Gesamtsehschärfe: 0,5, wobei die Sehschärfe des schlechteren Auges mindestens 0,2 betragen muss.
- Bei Einäugigkeit (d.h. Sehschärfe des schlechteren Auges unter 0,2): 0,6.
Außerdem muss ein normales Gesichtsfeld eines Auges oder ein gleichwertiges beidäugiges Gesichtsfeld mit einem horizontalen Durchmesser von mindestens 120 Grad vorhanden sein. Insbesondere muss das zentrale Gesichtsfeld bis 30 Grad normal sein. Diese Werte sind nach Auffassung des Bundesverkehrsministeriums auch für Radfahrer verbindlich.
Für die Höhe des Schadensersatzanspruchs, welcher von einem an dem Unfall beteiligten Verkehrsteilnehmer gegenüber einem blinden oder sehbehinderten Verkehrsteilnehmer erhoben wird, kommt es darauf an, ob der Schaden allein vom blinden oder sehbehinderten Verkehrsteilnehmer verschuldet wurde oder ein Mitverschulden des Anspruchsstellers vorliegt. Häufig wird hier § 254 BGB eingreifen, wonach das Mitverschulden bei der Bemessung des Schadenersatzanspruchs zu berücksichtigen ist.
Wenn ein blinder Fußgänger einen weißen Langstock benützt und ein Passant über diesen Stock stolpert und sich bei einem Sturz verletzt, kann sich daraus ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB gegen den Blinden ergeben. Es ist zu prüfen, ob er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat und ihn deshalb kein Verschulden trifft. In der Unaufmerksamkeit des gestürzten Fußgängers kann ein Mitverschulden gegeben sein, das nach § 254 BGB berücksichtigt werden muss.
Art und Umfang des Schadensersatzes richten sich nach den §§ 249 ff. BGB. Dazu vgl. Abschnitt 2.4.1.1.2 in diesem Heft.
3.6 Reiseverträge
Der Reisevertrag ist in den §§ 651 a bis 651 m BGB geregelt. Der Reisevertrag ist eine Sonderform des Werkvertrages; denn es wird der Erfolg geschuldet.
Die vertragstypischen Pflichten aus dem Reisevertrag ergeben sich aus § 651 a BGB. Beim Reisevertrag handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag, durch den der Reiseveranstalter verpflichtet wird, dem Reisenden eine Gesamtheit von Reiseleistungen mangelfrei zu erbringen; der Reisende hat dem Reiseveranstalter den Reisepreis zu bezahlen (§ 651 a Abs. 1 BGB). Zu den Hauptpflichten des Reiseunternehmers gehören auch die Informations- und Nachweispflichten nach den §§ 4 bis 11 der BGB-Informationsverordnung (BGB-InfoV). So ist der Reiseveranstalter z.B. verpflichtet, auf die Möglichkeit einer Reiserücktrittversicherung hinzuweisen.
Kennzeichnend für den Reisevertrag ist, dass der Reiseveranstalter eine "Gesamtheit" von Reiseleistungen erbringen muss. Es müssen also mindestens zwei Bestandteile einer Reise enthalten sein, z.B. Beförderung und Unterkunft. Von den §§ 651 a ff. werden also vor allem Pauschalreisen erfasst. Auf Verträge, die nur einzelne Reiseleistungen umfassen, kommt aber eine entsprechende Anwendung der §§ 651 a ff. BGB in Frage (Looschelders Schuldrecht besonderer Teil § 34 der Reisevertrag).
Reiseveranstalter ist, wer sich zur Durchführung der Reise in eigener Verantwortung verpflichtet. Vom Reiseveranstalter ist ein Reisebüro zu unterscheiden, bei welchem eine Reise mit einem Reiseveranstalter lediglich gebucht wird. Im Verhältnis zwischen Reisendem und Reisebüro liegt in diesem Fall ein Geschäftsbesorgungsvertrag gem. § 675 Abs. 1 BGB vor (vgl. näher Looschelders Schuldrecht besonderer Teil S. 239).
Der Reisevertrag kommt nicht schon durch die Buchung z.B. im Reisebüro, sondern erst durch die Annahme der Buchung als Vertragsangebot durch den Reiseveranstalter zustande. Diese erfolgt in der Regel durch die Reisebestätigung. Eine Form für den Reisevertrag ist nicht vorgeschrieben. Im Reisevertrag müssen Mitreisende, also auch Begleitpersonen aufgeführt werden.
Da zwischen Buchung und Durchführung der Reise Ereignisse eintreten können, bei deren Kenntnis die Reise nicht gebucht worden wäre, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Rücktritt oder eine Kündigung möglich ist.
Vor Reisebeginn räumt § 651i BGB dem Reisenden ein Rücktrittsrecht ein, ohne dass dafür ein Grund genannt werden muss. Der Reiseveranstalter verliert dann zwar seinen Anspruch auf den Reisepreis. Er hat aber an dessen Stelle einen Entschädigungsanspruch gegen den Reisenden. § 651 i BGB lautet:
"§ 651 i Rücktritt vor Reisebeginn
(1) Vor Reisebeginn kann der Reisende jederzeit vom Vertrag zurücktreten.
(2) Tritt der Reisende vom Vertrag zurück, so verliert der Reiseveranstalter den Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis. Er kann jedoch eine angemessene Entschädigung verlangen. Die Höhe der Entschädigung bestimmt sich nach dem Reisepreis unter Abzug des Wertes der vom Reiseveranstalter ersparten Aufwendungen sowie dessen, was er durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen erwerben kann.
(3) Im Vertrag kann für jede Reiseart unter Berücksichtigung der gewöhnlich ersparten Aufwendungen und des durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen gewöhnlich möglichen Erwerbs ein Vomhundertsatz des Reisepreises als Entschädigung festgesetzt werden."
Vom Rücktrittsrecht ist das Recht zur Kündigung des Reisevertrags zu unterscheiden. Ein Kündigungsrecht hat der Reisende nach § 651 e BGB im Rahmen des Gewährleistungsrechts bei Reisemängeln, welches in den §§ 651 c bis 651 h geregelt ist. Auf dieses wird hier nicht näher eingegangen, weil es den Rahmen dieser Schriftenreihe sprengen würde.
§ 651 j BGB räumt sowohl dem Reisenden als auch dem Reiseveranstalter ein Kündigungsrecht wegen "höherer Gewalt" ein. Dieser lautet:
"§ 651 j Kündigung wegen höherer Gewalt
(1) Wird die Reise infolge bei Vertragsabschluss nicht voraussehbarer höherer Gewalt erheblich erschwert, gefährdet oder beeinträchtigt, so können sowohl der Reiseveranstalter als auch der Reisende den Vertrag allein nach Maßgabe dieser Vorschrift kündigen.
(2) Wird der Vertrag nach Absatz 1 gekündigt, so findet die Vorschrift des § 651 e Abs. 3 Satz 1 und 2, Abs. 4 Satz 1 Anwendung. Die Mehrkosten für die Rückbeförderung sind von den Parteien je zur Hälfte zu tragen. Im Übrigen fallen die Mehrkosten dem Reisenden zur Last."
Aus den Verweisungen in § 651 j Abs. 2 BGB ergibt sich, dass der Reiseveranstalter den Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis verliert, wenn der Vertrag gekündigt wird. Er kann jedoch für die bereits erbrachten oder zur Beendigung der Reise noch zu erbringenden Reiseleistungen eine nach § 638 Abs. 3 BGB zu bemessende Entschädigung verlangen. Der Reiseveranstalter ist verpflichtet, die infolge der Aufhebung des Vertrags notwendigen Maßnahmen zu treffen, insbesondere, falls der Vertrag die Rückbeförderung umfasste, den Reisenden zurückzubefördern.
Unter "höherer Gewalt" werden von außen kommende Ereignisse verstanden, die von den Vertragsparteien auch bei äußerster zumutbarer Sorgfalt nicht verhindert werden können. Beispiele sind Naturkatastrophen, Kriege, innere Unruhen. Einzelne terroristische Anschläge wurden bisher nicht als höhere Gewalt anerkannt. Auch Streiks sind keine höhere Gewalt.
Um sich für den Fall eines Reiserücktritts wegen der damit verbundenen Kosten abzusichern, kann eine Reiserücktrittskostenversicherung (die allerdings nur gegen bestimmte Risiken absichert) abgeschlossen werden.
Durch eine Reiserücktrittskostenversicherung werden die Kosten abzüglich des vereinbarten Selbstbehalts vom Versicherer übernommen, wenn ein den Versicherungsschutz auslösender Rücktritts- oder Kündigungsgrund vorliegt.
Dem Versicherungsvertrag liegen in aller Regel die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für Reiserücktrittskostenversicherungen (ABRV) des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. zugrunde.
Die Ereignisse, die einen Eintritt der Reiserücktrittskostenversicherung begründen können, ergeben sich aus folgenden Ziffern der ABRV:
- 1.2.1 Tod;
- 1.2.2 schwere Unfallverletzung;
- 1.2.3 unerwartete schwere Erkrankung;
- 1.2.4 Impfunverträglichkeit;
- 1.2.5 Schwangerschaft;
- 1.2.6 Schaden am Eigentum des Versicherungsnehmers / Versicherten infolge von Feuer, Elementarereignis oder vorsätzlicher Straftat eines Dritten, sofern der Schaden erheblich ist oder sofern zur Schadenfeststellung die Anwesenheit des Versicherungsnehmers/Versicherten notwendig ist;
- 1.2.7 Verlust des Arbeitsplatzes des Versicherungsnehmers/Versicherten oder einer mitreisenden Risikoperson auf Grund einer unerwarteten betriebsbedingten Kündigung des Arbeitsplatzes durch den Arbeitgeber;
- 1.2.8 Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses durch den Versicherungsnehmer/Versicherten oder eine mitreisende Risikoperson, sofern diese Person bei der Reisebuchung arbeitslos war.
Versichert kann auch der aus wichtigen Gründen wie Unfall oder schwere Erkrankung erforderliche Reiseabbruch werden. Die Einzelheiten ergeben sich aus dem Versicherungsvertrag.
Bei Reisen, die mit einer wegen der Behinderung notwendigen Begleitperson unternommen werden, ist die Frage, welche Konsequenzen es hat, wenn die Begleitperson aus einem der oben genannten Gründe ausfällt. Wie kann dieses Risiko in die Reiserücktrittsversicherung eingeschlossen werden?
Das ist dann der Fall, wenn sie zu den in den allgemeinen Versicherungsbedingungen genannten "Risikopersonen" zählt.
Risikopersonen sind nach Ziffer 1.3 ABRV neben dem Versicherungsnehmer/Versicherten dessen Ehegatte oder Lebenspartner, deren Kinder, Eltern, Geschwister, Großeltern, Enkel, Schwiegereltern, Schwiegerkinder und Personen, die gemeinsam mit dem Versicherungsnehmer / Versicherten eine Reise gebucht und versichert haben. Die Begleitperson muss also bereits in den Reisevertrag und in die Reiserücktrittskostenversicherung einbezogen worden sein.
Vor größeren Reisen sollten Sie sich vor Unterschrift des Reisevertrages von Ihrem Hausarzt schriftlich bescheinigen lassen, dass Sie zur Reisezeit voraussichtlich reisefähig sein werden. Die Versicherung wird dann später nicht behaupten können, die Krankheit sei vorhersehbar gewesen.
Wie bei allen Versicherungen sollte man jedoch vor Vertragsabschluss die Versicherungsbedingungen und insbesondere auch das Kleingedruckte prüfen.
3.7 Versicherungen
Viele Lebensrisiken können durch Versicherungen abgedeckt werden. Beispiele sind eine private Krankenversicherung, soweit keine gesetzliche Krankenversicherung nach dem SGB V besteht, ergänzende Krankenversicherungen, Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, private Haftpflichtversicherungen zur Absicherung von Schäden, für die der Versicherte in Anspruch genommen wird, um nur die wichtigsten zu nennen. Einen Überblick über den Inhalt der üblichen Privatversicherungen gibt Hennis in "Blinde im geltenden Recht", Kapitel XIV Privatversicherungen.
Die wichtigsten Rechtsgrundlagen für Privatversicherungen sind das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und die ergänzend hinzutretenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen.
In der Versicherungswirtschaft gilt das Prinzip, dass die Höhe der Versicherungsbeiträge vom zu versichernden Risiko abhängt. Zu hohe Risiken werden erst gar nicht versichert. Ferner wäre es mit dem Risikoprinzip auch nicht vereinbar, wenn die Schadensursache schon vor dem Vertragsbeginn eingetreten und bekannt geworden ist. In der privaten Krankenversicherung (PKV) sind deshalb bekannte "Vorerkrankungen" und ihre Folgen nicht oder nur mit einem erhöhten Beitrag versichert. Oder es wird bestimmten Personen der Abschluss eines Vertrages komplett verwehrt. Lediglich beim so genannten "Basistarif" muss die private Krankenversicherung auch beim Vorliegen von Vorerkrankungen ohne Risikoausschlüsse oder Risikozuschläge abgeschlossen werden. Blinde und sehbehinderte Personen, welche eine Versicherung (mit Ausnahme des Basistarifs) abschließen wollen, stoßen deshalb immer wieder auf Schwierigkeiten bzw. erfahren Benachteiligungen. Diese Benachteiligungen zu verhindern dient das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das dazu Grenzen setzt:
Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse ist nach § 19 Abs. 1 Nr. 2 AGG auch bei Versicherungsverträgen unzulässig. Versicherungsverträge im Sinn von § 19 Abs. 1 Nr. 2 sind alle Arten von privatrechtlichen Versicherungsverträgen, z.B. Schadens-, Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen.
Nicht selten wurde blinden und sehbehinderten Antragstellern der Abschluss eines Versicherungsvertrages ohne Begründung oder lediglich unter Hinweis auf "versicherungsmedizinische Erfahrungen" verweigert. Oder es wurden Risikozuschläge zwischen 10 und 100 Prozent verlangt. Weit verbreitet war und ist auch die Praxis, die Blindheit bzw. Sehbehinderung "und ihre Folgen" vom Versicherungsschutz auszuschließen (Hauck in Horus 1/2008). Es ist wegen der Bedeutung privatrechtlicher Versicherungen zur Absicherung gegen Lebensrisiken unabdingbar, dass auch den behinderten Menschen nicht bloß in Einzelfällen sondern generell die Möglichkeit eröffnet wird, sich zu verlässlichen, diskriminierungsfreien Konditionen privat zu versichern.
Eine eng begrenzte Zulässigkeit unterschiedlicher Behandlung bei Versicherungsverträgen regelt § 20 Abs. 2 Satz 3 AGG. Soweit danach eine unterschiedliche Behandlung zulässig ist, kann sich diese auf das Ob eines Vertragsabschlusses und auf die Vertragsgestaltung, insbesondere die Prämiengestaltung oder die Versicherungsleistungen beziehen (Palandt Rn. 8 zu § 20 AGG). Für die Merkmale Religion, Behinderung, Alter oder sexuelle Identität lässt § 20 Abs. 2 Satz 3 eine unterschiedliche Behandlung nur zu, wenn diese auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruht, insbesondere auf einer versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung statistischer Erhebungen. Hierunter sind die Grundsätze zu verstehen, die von Versicherungsmathematikern bei der Berechnung von Prämien und Deckungsrückstellungen anzuwenden sind. Das ist vor allem für private Krankenversicherungen, Berufsunfähigkeitsversicherungen, Unfallversicherungen, Risikolebensversicherungen oder Haftpflichtversicherungen, aber auch andere Versicherungen von Bedeutung. Die Risikomerkmale müssen statistisch erfassbar sein und einen deutlichen Zusammenhang mit der Schadenserwartung haben (Palandt Rn. 9 zu § 20 AGG; BT-Drs. 16/1780 S 45). Da es sich in § 20 Abs. 2 AGG um Rechtfertigungsgründe handelt, muss der Leistungsanbieter, also die Versicherung, die Voraussetzungen darlegen und beweisen. Hinsichtlich der versicherungsmathematischen und statistischen Daten trifft den Versicherer eine erhöhte Darlegungs- und Beweislast (Palandt Rn. 10 zu § 20 AGG; Urteil des Saarländischen Oberlandesgerichts Saarbrücken 5. Zivilsenat vom 9. September 2009, Az.: 5 U 26/09 Randnummer 69 und 70). Zum AGG vgl. Heft 7 Abschnitt 7 mit Unterpunkten und zum Benachteiligungsverbot bei Versicherungen Heft 7 Abschnitt 7.3.2.3 dieser Schriftenreihe.
4 Privatrecht in verschiedenen Lebensphasen - Familienrecht, Erbrecht
In den folgenden Abschnitten werden Fragen aus dem Familienrecht (BGB viertes Buch) und aus dem Erbrecht (BGB fünftes Buch) behandelt.
4.1 Zulässigkeit blinder Trauzeugen
Nach § 1312 Satz 2 BGB kann die Eheschließung in Gegenwart von einem oder zwei Zeugen erfolgen, sofern die Eheschließenden dies wünschen. Wiederholt wurde die Frage gestellt, ob blinde Personen als Trauzeugen in Frage kommen. Dieser Frage kommt keine große Bedeutung mehr zu, nachdem Zeugen nur noch auf Wunsch der Verlobten zugezogen werden sollen. Minderjährige sollen als Zeugen nicht zugezogen werden (Palandt Rn. 2 zu § 1312 BGB). Eine Behinderung ist dagegen kein Hindernis. Das gilt auch für blinde Trauzeugen.
4.2 Blinde als Adoptiveltern
Von blinden Adoptionsbewerbern wird immer wieder die Frage gestellt, ob ihre Blindheit ein Ablehnungsgrund sein könnte, wenn sie ein Kind adoptieren wollen.
Rechtsquellen für die Annahme an Kindes statt sind die §§ 1741 ff. BGB und das Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG) sowie für das Adoptionsverfahren das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG).
Im Folgenden wird nur auf die Adoption Minderjähriger eingegangen, weil sich nur hier diese Frage stellen kann. Sie ist in den §§ 1741 bis 1766 BGB geregelt.
Die Annahme als Kind ist gem. § 1741 Abs. 1 Satz 1 BGB zulässig, wenn sie dem Wohl des Kindes dient und zu erwarten ist, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht. Im Vordergrund steht das Kindeswohl.
Ausgehend vom Kindeswohl ist zu prüfen, welche Anforderungen an Adoptionsbewerber zu stellen sind.
Von Bedeutung ist, ob die Adoption erfolgen soll durch
- eine Einzelperson,
- ein Ehepaar oder
- den Ehegatten der Mutter oder des Vaters der zu adoptierenden Kinder.
§ 1741 Abs. 2 BGB bestimmt dazu:
"(2) Wer nicht verheiratet ist, kann ein Kind nur allein annehmen. Ein Ehepaar kann ein Kind nur gemeinschaftlich annehmen. Ein Ehegatte kann ein Kind seines Ehegatten allein annehmen. Er kann ein Kind auch dann allein annehmen, wenn der andere Ehegatte das Kind nicht annehmen kann, weil er geschäftsunfähig ist oder das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat."
Häufig wird für eine beabsichtigte Adoption die Hilfe einer Adoptionsvermittlungsstelle in Anspruch genommen. Rechtsgrundlage für die Adoptionsvermittlung, also das Zusammenführen von Kindern unter 18 Jahren und Adoptionsbewerbern mit dem Ziel der Annahme als Kind, ist das Adoptionsvermittlungsgesetz in der Fassung vom 05.11.2001 (BGBl I Seite 2950). Die Adoptionsvermittlung ist Aufgabe der Jugendämter und der staatlich anerkannten Adoptionsvermittlungsstellen.
Wenn eine Adoptionsvermittlungsstelle in Anspruch genommen wird, führt sie gem. § 7 Abs. 1 AdVermiG zur Vorbereitung der Vermittlung unverzüglich die sachdienlichen Ermittlungen bei den Adoptionsbewerbern, bei dem Kind und seiner Familie durch. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob die Adoptionsbewerber unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Kindes und seiner besonderen Bedürfnisse für die Annahme des Kindes geeignet sind. Das Ergebnis der Ermittlungen bei den Adoptionsbewerbern und bei der Familie des Kindes ist den jeweils Betroffenen mitzuteilen. Bei den Adoptionsbewerbern werden insbesondere geprüft: ihre persönlichen und familiären Umstände, ihr Gesundheitsstatus, ihr soziales Umfeld und ihre Beweggründe für die Adoption.
Die Eignung der Adoptionsbewerber beurteilt sich vor allem nach deren körperlichen Leistungsfähigkeit, Charakter, Wohn- und Vermögensverhältnissen, beruflichen und gesellschaftlichen Stellung, Erziehungsfähigkeit, Vorhandensein weiterer Kinder, Intaktheit der Ehe (Palandt Rn. 2 zu § 1741 BGB).
Blindheit ist kein Hindernis, ein Kind zu adoptieren, wenn blinde Adoptionsbewerber den an Adoptiveltern zu stellenden Anforderungen gerecht werden. Viele blinde Menschen haben eigene Kinder und werden ihrer Aufgabe als Eltern genauso gut gerecht wie sehende Eltern. Ob blinde Menschen ihrer Aufgabe als Adoptiveltern gerecht werden können und ob die Annahme als Kind dem Kindeswohl entspricht, kann sich in der "Probezeit" nach § 1744 BGB erweisen; denn nach dieser Vorschrift soll die Annahme durch das Familiengericht "in der Regel erst ausgesprochen werden, wenn der Annehmende das Kind eine angemessene Zeit (in der Regel 1 Jahr) in Pflege gehabt hat".
Die Adoption dient dem Kindeswohl, wenn sie zu einer nachhaltigen Verbesserung der persönlichen Verhältnisse oder der Rechtsstellung des Kindes führt. Die mit ihr verbundenen Vorteile sind gegen die Nachteile beim Unterbleiben der Adoption abzuwägen. Im Vergleich zu den bisherigen Lebensumständen des Kindes muss eine merkliche Verbesserung der Entwicklung seiner Persönlichkeit zu erwarten sein (Palandt Rn. 3 zu § 1741 BGB).
Beim Adoptionsverfahren sind zwei Phasen zu unterscheiden, nämlich die Eignungsprüfung durch die Adoptionsvermittlungsstelle und die Genehmigung der Annahme an Kindes statt durch das Familiengericht. Die Eignung der Adoptionsbewerber wird von der Adoptionsvermittlungsstelle gem. § 7 AdVermiG durchgeführt, sobald diesem der Adoptionswunsch bekannt wird. Wenn die Genehmigung der Adoption von den Adoptionsbewerbern beim Familiengericht beantragt wird, ohne dass die Adoptionsvermittlungsstelle in Anspruch genommen wurde, erfolgt die Eignungsprüfung durch das Jugendamt oder eine Adoptionsvermittlungsstelle auf Anforderung durch das Familiengericht.
Die Annahme als Kind muss vom Adoptionsbewerber nach erfolgter Eignungsprüfung durch die Adoptionsvermittlungsstelle beim Familiengericht beantragt werden. Der Antrag muss notariell beurkundet werden (§ 1752 BGB). Familiengericht ist nach § 23 b Gerichtsverfassungsgericht eine Abteilung des Amtsgerichts. Das Verfahren richtet sich nach dem FamFG. Die sachliche Zuständigkeit des Familiengerichts ergibt sich aus § 1 FamFG i.V.m. § 111 Nr. 4 FamFG. Das Verfahren ist in den §§ 186 ff. FamFG geregelt. Nach § 189 FamFG hat das Familiengericht bei der Adoption Minderjähriger eine fachliche Stellungnahme der Adoptionsvermittlungsstelle bzw. des Jugendamtes darüber einzuholen, ob das Kind und die Familie des Annehmenden für die Annahme geeignet sind. Die Genehmigung der Adoption erfolgt durch Beschluss des Familiengerichts (§ 197 FamFG). Nach § 197 Abs. 3 FamFG ist der Beschluss nicht anfechtbar. Eine Abänderung oder Wiederaufnahme ist ausgeschlossen.
Die Auswirkungen der Annahme an Kindes statt auf die familienrechtliche Stellung des Adoptivkindes ergeben sich aus den §§ 1754 ff. BGB. Das Kind wird voll in den Familienverband der Adoptiveltern aufgenommen. Es erlangt gem. § 1754 Abs. 1 BGB die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes, wenn ein Ehepaar ein Kind annimmt oder wenn ein Ehegatte ein Kind des anderen Ehegatten annimmt. In den anderen Fällen erlangt das Kind die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden (§ 1754 Abs. 2 BGB). Mit der Annahme erlöschen das Verwandtschaftsverhältnis des Kindes und seiner Abkömmlinge zu den bisherigen Verwandten und die sich aus ihm ergebenden Rechte und Pflichten (§ 1755 Abs. 1 Satz 1 BGB). Damit bestehen keine gegenseitigen Unterhaltspflichten mehr. Wenn ein Ehegatte das Kind seines Ehegatten annimmt, so tritt das Erlöschen nur im Verhältnis zu dem anderen Elternteil und dessen Verwandten ein, während die Verwandtschaftsverhältnisse, die durch den Ehegatten vermittelt werden, bestehen bleiben (§ 1755 Abs. 2 BGB).
4.3 Unterhalt
Unterhaltsansprüche und Unterhaltsverpflichtungen bestehen im bürgerlichen Recht zwischen Ehegatten (§§ 1360 ff. BGB), Geschiedenen (§§ 1570 ff. BGB, Lebenspartnern (§§ 5, 12 und 15 Lebenspartnerschaftsgesetz - LPartG) sowie Verwandten in gerader Linie (§§ 1601 ff. BGB). Auf das Unterhaltsrecht kann im Rahmen dieser Schriftenreihe mit Ausnahme der Frage, inwieweit Sozialleistungen als Einkommen berücksichtigt werden dürfen, nicht näher eingegangen werden. Hier nur ein paar Hinweise auf unterhaltsrechtliche Grundregeln (entnommen Hennies "Blinde im geltenden Recht S. 191 f):
- Verwandte in gerader Linie sind einander unterhaltspflichtig (§ 1601 BGB), das sind: Eltern und Kinder, Enkel und Großeltern, aber nicht Geschwister.
- Die Ehegatten sind einander verpflichtet, durch ihre Arbeit und ihr Vermögen die Familie angemessen zu unterhalten (§ 1360 Satz 1 BGB). Wer den Haushalt führt, erfüllt in der Regel dadurch seine Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen (§ 1360 Satz 2 BGB). Doch kann von keinem Ehegatten verlangt werden, auf eigene Erwerbstätigkeit zu verzichten; vielmehr sind beide berechtigt, erwerbstätig zu sein. Es ist ihnen überlassen, über die Aufteilung der Haushaltsführung und ihre Erwerbstätigkeit im gegenseitigen Einvernehmen selbst zu entscheiden (§ 1356 Abs. 1 und 2 BGB).
Der Unterhaltsanspruch setzt beim Unterhaltsberechtigten Bedarf und Bedürftigkeit, beim Verpflichteten Leistungsfähigkeit voraus.
Das Maß des Unterhalts richtet sich nach der Lebensstellung des Bedürftigen, d.h. nach einem dem eigenen Lebensstandard angemessenen Unterhalt (§ 1610 BGB).
Unterhaltsbedürftigkeit ist das Unvermögen, für den eigenen Lebensbedarf ganz oder teilweise selbst aufzukommen; denn gemäß § 1602 Abs. 1 BGB ist nur unterhaltsberechtigt, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Etwa vorhandenes Vermögen muss verwertet, Einkommen, gleichgültig aus welcher Quelle, muss eingesetzt werden, soweit es rechtlich anrechenbar ist.
Die Unterhaltsverpflichtung setzt die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten voraus (§ 1603 Abs. 1 BGB): "Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren." Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kommt es auch hier auf das vorhandene Vermögen und die Einnahmen an, jedoch nur auf das sog. bereinigte Nettoeinkommen. Zur Deckung eines notwendigen Eigenbedarfs darf der Unterhaltsschuldner einen Selbstbehalt abziehen.
Minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber besteht eine erweiterte Unterhaltspflicht: Die Eltern sind grundsätzlich "verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden" (§ 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB). Diese Verpflichtung tritt nicht ein, wenn ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden ist; sie tritt auch nicht ein gegenüber einem Kind, dessen Unterhalt aus dem Stamme seines Vermögens bestritten werden kann (§ 1603 Abs. 2 Satz 3 BGB).
In der Praxis werden den Berechnungen des zustehenden und geschuldeten Unterhalts Unterhaltstabellen und Leitlinien zugrunde gelegt, z.B. die "Düsseldorfer Tabelle".
Im Unterschied zum Sozialrecht werden im zivilen Unterhaltsrecht Sozialleistungen und somit auch die Blindenhilfe nach § 72 SGB XII und das Blinden- oder Sehbehindertengeld nach den Landesblindengeld- oder Landespflegegeldgesetzen als Einkommen angesehen. Das heißt: Das Blindengeld gehört zu den Einkünften, die grundsätzlich für den eigenen oder fremden Unterhalt zur Verfügung stehen. Der Gesetzgeber konnte sich nicht durchringen, die Sozialleistungen trotz ihrer Zweckbestimmung im Unterhaltsrecht anrechnungsfrei zu lassen. § 1610 a BGB bringt hier lediglich eine gesetzliche Vermutung, dass die Kosten der behinderungsbedingten Aufwendungen nicht geringer sind als die Höhe dieser Sozialleistungen und damit eine Beweiserleichterung. Diese Vorschrift lautet:
"Werden für Aufwendungen infolge eines Körper- oder Gesundheitsschadens Sozialleistungen in Anspruch genommen, wird bei der Feststellung eines Unterhaltsanspruchs vermutet, dass die Kosten der Aufwendungen nicht geringer sind als die Höhe dieser Sozialleistungen."
Zur Auswirkung dieser Vorschrift vgl. näher Heft 6 Abschnitt 9.3 dieser Schriftenreihe und Hennies "Der Blinde im geltenden Recht" S. 191 ff., Abschnitt 4. "Unterhaltsrecht" mit Unterpunkten.
Dazu, welche Leistungen Sozialleistungen im Sinn von § 1610 a BGB sind, vgl. Palandt Rn. 3 zu § 1610 a BGB. Keine Sozialleistungen im Sinn von § 1610 a BGB sind Lohnersatzleistungen, wie z.B. Krankengeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung oder Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung (Palandt Rn. 4 zu § 1610 a BGB). Für sie gilt die gesetzliche Vermutung des § 1610 a BGB nicht.
Die Vermutung des § 1610a BGB kann von demjenigen, welcher die Berücksichtigung von Sozialleistungen als Einkommen in Unterhaltsstreitigkeiten verlangt, widerlegt werden, indem er behauptet, dass die Sozialleistungen für die behinderungsbedingten Aufwendungen nicht oder nicht in voller Höhe benötigt werden. Dazu muss er substantiiert, also durch konkrete Angaben, behaupten und beweisen, dass die Sozialleistungen den behinderungsbedingten Mehraufwand übersteigt. Nur wenn dies nach allgemeinen Erfahrungswerten der Fall ist, muss der Behinderte, weil nur er dazu in der Lage ist, nachweisen, dass die Sozialleistungen für seine Mehraufwendungen entgegen diesen Erfahrungswerten benötigt werden (Palandt Rn. 5 zu § 1610a BGB).
4.4 Betreuung
Blindheit kann dazu führen, dass zur Erledigung eigener Angelegenheiten Hilfe in mehr oder weniger großem Umfang in Anspruch genommen werden muss. Wiederholt wird von Blinden die Frage gestellt, ob für sie in diesem Fall die Bestellung eines Betreuers durch das Betreuungsgericht in Frage kommt und empfehlenswert ist.
Rechtsgrundlage für die Betreuung sind die §§ 1896 ff. BGB. § 1896 Abs. 1 BGB bestimmt:
"(1) Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. Soweit der Volljährige auf Grund einer körperlichen Behinderung seine Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des Volljährigen bestellt werden, es sei denn, dass dieser seinen Willen nicht kundtun kann."
"Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden" (§ 1896 Abs. 1 a BGB).
Daraus ergibt sich klar, dass für einen volljährigen Blinden, der seine Angelegenheiten selbst besorgen kann, ein Betreuer nur auf seinen Antrag bestellt werden darf. Anders ist es, wenn neben der Blindheit eine psychische Krankheit oder eine geistige oder seelische Behinderung besteht und deshalb die eigenen Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgt werden können. In diesem Fall kann das Betreuungsgericht den Betreuer auch von Amts wegen bestellen.
Nach § 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB ist die Betreuung nicht erforderlich, "soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten, der nicht zu den in § 1897 Abs. 3 bezeichneten Personen gehört, oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können". Aus der Verweisung auf § 1897 Abs. 3 BGB ergibt sich, dass die Bevollmächtigung von Personen, welche zu einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung, in welcher der Volljährige untergebracht ist oder wohnt, in einem Abhängigkeitsverhältnis oder in einer anderen engen Beziehung steht, die Anordnung einer Betreuung nicht ausschließt.
Blinden Personen, welche die Erledigung rechtlicher Angelegenheiten anderen Personen übertragen wollen, weil sie sich selbst schwer damit tun, ist zu raten, einer Vertrauensperson gemäß § 167 BGB Einzel- oder Generalvollmacht zu erteilen anstatt eine Betreuung zu beantragen.
Wenn eine Betreuung erforderlich wird, muss die Bestellung eines Betreuers beim Betreuungsgericht beantragt werden. Das Betreuungsgericht ist eine Abteilung des Amtsgerichts. Das Verfahren ist in den § 271 bis 311 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) geregelt.
Jeder volljährige Mensch hat das Recht, für den Fall, dass eine Betreuung erforderlich wird, für sich einen bestimmten Betreuer vorzuschlagen (§ 1897 Abs. 4 BGB). Dieser lautet:
"(4) Schlägt der Volljährige eine Person vor, die zum Betreuer bestellt werden kann, so ist diesem Vorschlag zu entsprechen, wenn es dem Wohl des Volljährigen nicht zuwiderläuft. Schlägt er vor, eine bestimmte Person nicht zu bestellen, so soll hierauf Rücksicht genommen werden. Die Sätze 1 und 2 gelten auch für Vorschläge, die der Volljährige vor dem Betreuungsverfahren gemacht hat, es sei denn, dass er an diesen Vorschlägen erkennbar nicht festhalten will."
Sinnvoll ist es, einen solchen Vorschlag und Wünsche, welche der Betreuer bei der Wahrnehmung der Betreuung zu berücksichtigen hat, in einer schriftlichen "Betreuungsverfügung" gem. § 1901 a BGB festzuhalten.
Wenn bei der Beantragung der Betreuung oder in einer Betreuungsverfügung kein Vorschlag gemacht wird, wird der Betreuer vom Betreuungsgericht ausgewählt.
Ein Betreuer darf gem. § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Diese Bereiche müssen genau bezeichnet werden, z.B. vermögensrechtliche Angelegenheiten.
In seinem Aufgabenkreis vertritt der Betreuer den Betreuten gerichtlich und außergerichtlich (§ 1902 BGB).
Durch die gerichtliche Bestellung eines Betreuers wird die Geschäftsfähigkeit des Betreuten weder aufgehoben noch eingeschränkt. Folglich bleibt ein betreuungsbedürftiger Blinder in vollem Umfang geschäftsfähig. Zwar handelt der Betreuer als sein gesetzlicher Vertreter für ihn (§ 1902 BGB). Doch kann der Blinde ungehindert weiter am Rechtsverkehr teilnehmen, selbständig Entscheidungen treffen und Verträge schließen. Er bedarf dazu auch nicht der Einwilligung durch den Betreuer, soweit nicht durch das Betreuungsgericht ein Einwilligungsvorbehalt gem. § 1903 Abs. 1 BGB angeordnet worden ist (vgl. Hennies "Der Blinde im geltenden Recht", 6. Betreuungs- und Vorsorgerecht). Nach § 1903 Abs. 1 Satz 1 BGB ordnet das Betreuungsgericht an, dass der Betreute zu einer Willenserklärung, die den Aufgabenkreis des Betreuers betrifft, dessen Einwilligung bedarf, soweit dies zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten erforderlich ist (Einwilligungsvorbehalt).
Zu bestimmten in den §§ 1904 ff. BGB geregelten schwerwiegenden Maßnahmen bedarf der Betreuer der Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Dazu gehören u.a.:
- Aufgabe der Mietwohnung: Der Betreuer ist verpflichtet, die Genehmigung des Betreuungsgerichts einzuholen, wenn er den Mietvertrag über die Wohnung des Betreuten kündigen will (§ 1907 Abs. 1 BGB). Auch wenn der Betreuer ein Mietverhältnis auf andere Weise als durch Kündigung aufgeben möchte, hat er dies dem Betreuungsgericht unverzüglich anzuzeigen (§ 1907 Abs. 2 BGB). Dadurch soll verhindert werden, dass für den Betreuten aus Bequemlichkeit ein Altenheim oder ein anderes Heim zum Aufenthaltsort bestimmt wird, obwohl er noch in seiner Wohnung bleiben könnte und dies auch will.
- Risikoreiche ärztliche Maßnahmen: Wenn jemand aus Krankheitsgründen nicht mehr imstande ist, sein Selbstbestimmungsrecht in gesundheitlichen Angelegenheiten auszuüben, kann der Aufgabenkreis eines Betreuers "die Abgabe der bei medizinischer Behandlung erforderlichen Erklärungen" umfassen. Nach § 1904 BGB bedarf die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, "wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist."
- Sterilisation: Grundsätzlich darf eine Sterilisation nur mit Einwilligung des Betroffenen vorgenommen werden. Wenn ein Betreuter sterilisiert werden soll, aber selbst nicht einwilligen kann, kann der Betreuer an seiner Stelle nur in den in § 1905 Abs. 1 BGB aufgeführten Fällen einwilligen. Die Einwilligung des Betreuers bedarf der Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Die Sterilisation darf erst zwei Wochen nach Wirksamkeit der Genehmigung durchgeführt werden (§ 1905 Abs. 2 BGB).
Wenn ein Volljähriger, statt die Bestellung eines Betreuers zu beantragen, zur Besorgung seiner rechtlichen Angelegenheiten jemandem eine Vollmacht erteilt hat, darf im Umfang der Bevollmächtigung kein Betreuer bestellt werden (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB). Der Bevollmächtigte ist an den Inhalt und den Umfang der Vollmacht gebunden. Er gibt Willenserklärungen namens und als Stellvertreter für den Vollmachtgeber ab. In aller Regel ist keine gerichtliche Genehmigung erforderlich. Als Ausnahme von diesem Grundsatz muss in gesundheitlichen Angelegenheiten beachtet werden (§ 1904 Abs. 2 BGB): Die Einwilligung des Bevollmächtigten in risikoreiche ärztliche Maßnahmen ist nur wirksam, wenn die Vollmacht schriftlich erteilt ist und ausdrücklich die in § 1904 Abs. 1 Satz 1 BGB beschriebenen ärztlichen Maßnahmen umfasst sind. Bevollmächtigte sind demnach wie Betreuer gesetzlich verpflichtet, eine Einwilligung in risikoreiche ärztliche Maßnahmen dem Betreuungsgericht zur Genehmigung vorzulegen (§ 1904 BGB).
4.5 Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung
Jeder Mensch hat mit Bezug auf medizinische Maßnahmen ein verfassungsrechtlich geschütztes Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 GG). Er kann völlig frei bestimmen, welche medizinischen Maßnahmen vorgenommen werden dürfen und welche zu unterlassen sind. Das gilt selbst, wenn bei schwersten körperlichen Leiden nach ärztlicher Beurteilung keine Aussicht mehr auf Besserung im Sinne eines für den Patienten erträglichen Lebens besteht. Er muss trotz dieser negativen Prognose eine nach dem Stand der Medizin mögliche lebensverlängernde Behandlung erhalten, wenn das seinem Wunsch entspricht.
Umgekehrt ist der Patient berechtigt, eine Behandlung abzulehnen, selbst wenn sie zur Lebenserhaltung medizinisch geboten ist.
Wenn jemand z.B. wegen Bewusstlosigkeit, infolge einer Krankheit, eines Schlaganfalls oder eines Unfalls nicht in der Lage ist, seinen Willen darüber zu äußern, welche medizinischen Maßnahmen unterlassen oder durchgeführt werden sollen, muss dieser berücksichtigt werden, wenn er bekannt ist. Hier hilft eine schriftlich niedergelegte Patientenverfügung. Die zu medizinischen Maßnahmen unter Berücksichtigung des Patientenwillens erforderliche Einwilligung wird, wenn der volljährige Patient selbst dazu nicht in der Lage ist, von einem in einer Vorsorgevollmacht genannten Bevollmächtigten oder, falls kein Bevollmächtigter vorhanden ist, von einem vom Betreuungsgericht bestellten Betreuer abgegeben. In einer Betreuungsverfügung können Personen oder auch bestimmte anerkannte Betreuungsvereine genannt werden, welche vom Betreuungsgericht als Betreuer in diesem Fall eingesetzt werden sollen. Zur Bestellung eines Betreuers vgl. auch Abschnitt 4.4. dieses Heftes.
Zu empfehlen ist:
- die schriftliche Abfassung einer Patientenverfügung,
- wenn Vertrauenspersonen vorhanden und damit einverstanden sind, die schriftlich zu erteilende Vorsorgevollmacht und
- falls keine Vertrauensperson vorhanden ist, welcher eine Vorsorgevollmacht erteilt wird, die schriftliche Abfassung einer Betreuungsverfügung.
4.5.1 Patientenverfügung
Die Patientenverfügung ist in § 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB definiert. § 1901 a BGB lautet:
"§ 1901 a Patientenverfügung
(1) Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.
(2) Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist auf Grund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.
(4) Niemand kann zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet werden. Die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung darf nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden.
(5) Die Absätze 1 bis 3 gelten für Bevollmächtigte entsprechend."
Die Patientenverfügung muss schriftlich abgefasst werden. Ob hand- oder maschinenschriftlich, ist gleichgültig. Die Patientenverfügung muss aber eigenhändig unterschrieben werden. Wenn jemand nicht unterschreiben kann, muss sein Handzeichen notariell beglaubigt werden (§ 126 Abs. 1 BGB).
Patientenverfügungen sind für den Arzt verbindlich, es sei denn sie sind für die augenblickliche Situation nicht zutreffend oder es sind konkrete Anzeichen erkennbar, dass der Patient an seinem Willen, den er darin geäußert hat, nicht mehr festhält.
Patientenverfügungen sind auch für Bevollmächtigte und gerichtlich eingesetzte Betreuer verbindlich.
Deshalb ist es wichtig, dass Patientenverfügungen sehr sorgfältig abgefasst werden. Sie sollten enthalten:
- Die Situation, für die sie gelten soll: vorübergehende oder dauerhafte Unfähigkeit, eigene Angelegenheiten selbst zu regeln und Entscheidungen selbst zu treffen;
- Der Krankheitszustand, der nicht akzeptiert wird: Dauerbewußtlosigkeit, fortschreitender geistiger Verfall;
- Die Prognose: keine Aussicht auf Besserung;
- Behandlungsmaßnahmen, die unterbleiben sollen: keine lebensverlängernden Maßnahmen, keine künstliche Beatmung, keine künstliche Ernährung;
- Wünsche für die Behandlung: Bekämpfung von Schmerzen, Übelkeit, ...
Sinnvoll ist es auch, die eigene Einstellung, z.B. religiöse Bindung anzugeben.
Empfohlen wird, die Patientenverfügung alle drei Jahre zu überprüfen und mit einer erneuten Unterschrift und Datum zu versehen.
Eine sorgfältige Beratung, z.B. durch den Hausarzt ist sinnvoll. Sowohl vom Bundesgesundheitsministerium, von Landesgesundheitsministerien, von den Kirchen und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege gibt es Informationsschriften. Diese enthalten in der Regel auch Muster, bei welchen einzelne Anordnungen nur angekreuzt oder gestrichen werden brauchen. Besser ist es allerdings, die eigenen Wünsche selbst zu formulieren.
4.5.2 Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung
Sowohl der Bevollmächtigte als auch der vom Betreuungsgericht eingesetzte Betreuer, sind bei der von ihnen abzugebenden Zustimmung an ärztliche Maßnahmen an den Inhalt einer Patientenverfügung gebunden. Ja, sie haben dem Patientenwillen zur Beachtung zu verhelfen.
Deshalb ist es sinnvoll, der Vorsorgevollmacht oder der Betreuungsverfügung eine Ausfertigung der Patientenverfügung beizufügen. Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung bzw. Betreuungsverfügung und Patientenverfügung können auch in einem Schriftstück enthalten sein.
Die Vorsorgevollmacht kann sich auch auf die Regelungen vermögensrechtlicher Angelegenheiten erstrecken.
4.5.3 Ermittlung des Patientenwillens
Oberstes Gebot ist es, dem Patientenwillen zu entsprechen. Wenn eine Patientenverfügung vorliegt, muss diese beachtet werden (§ 1901 a Abs. 1 BGB). Zur Patientenverfügung vgl. 4.5.1. An die Patientenverfügung sind sowohl der Arzt, als auch ein durch eine Vorsorgevollmacht Bevollmächtigter oder ein vom Betreuungsgericht eingesetzter Betreuer gebunden.
Zur Feststellung des Patientenwillens ist nach § 1901 b Abs. 1 und 3 BGB eine Erörterung des Arztes mit Vorsorgebevollmächtigten oder gerichtlich bestellten Betreuern vorgeschrieben. Außerdem soll nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen des Betreuten gem. § 1901 b Abs. 2 BGB Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, sofern dies ohne erhebliche Verzögerung möglich ist. Das ist vor allem bedeutsam, wenn keine Patientenverfügung vorliegt oder eine Patientenverfügung aus formalen Gründen ungültig ist, weil z.B. die nach § 126 BGB erforderliche Unterzeichnung fehlt oder wenn der Patient seinen Willen gegenüber Angehörigen oder ihm nahe stehenden Personen lediglich mündlich geäußert hat. § 1901 b BGB lautet:
"§ 1901 b Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens
(1) Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901 a zu treffende Entscheidung.
(2) Bei der Feststellung des Patientenwillens nach § 1901 a Absatz 1 oder der Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Willens nach § 1901 a Absatz 2 soll nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen des Betreuten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, sofern dies ohne erhebliche Verzögerung möglich ist.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten für Bevollmächtigte entsprechend"
4.6 Erbrecht, letztwillige Verfügungen
Zu unterscheiden sind die gesetzliche Erbfolge und die so genannte "gewillkürte Erbfolge" durch eine letztwillige Verfügung, also durch ein Testament oder einen Erbvertrag.
Bevor eine letztwillige Verfügung getroffen wird, ist als erstes stets zu überlegen, ob die gesetzliche Erbfolge zur gewünschten Lösung führt. Bei der gesetzlichen Erbfolge gibt es für blinde Menschen keinerlei Besonderheiten.
4.6.1 Gesetzliche Erbfolge
Wenn keine oder eine ungültige letztwillige Verfügung (Testament oder Erbvertrag) vorhanden ist, tritt die gesetzliche Erbfolge ein. Sie ist in den §§ 1924 ff. BGB geregelt. Gesetzliche Erben sind Verwandte des Erblassers und Ehegatten. Wenn weder Verwandte noch ein Ehegatte zum Zeitpunkt des Todes vorhanden sind, ist gesetzlicher Erbe der Staat (§ 1936 BGB). Die Vererbung erfolgt unter Verwandten nach Ordnungen und Stämmen (§§ 1924 bis 1930 BGB). Die Rangfolge der Ordnungen ergibt sich aus § 1930 BGB: "Ein Verwandter ist nicht zur Erbfolge berufen, solange ein Verwandter einer vorhergehenden Ordnung vorhanden ist."
Abkömmlinge, also Kinder, Enkel usw. sind gesetzliche Erben der ersten Ordnung (§ 1924 BGB). Kinder erben zu gleichen Teilen. Ist ein Kind beim Erbfall bereits verstorben, treten an seine Stelle seine Kinder zu gleichen Teilen (Erbfolge nach Stämmen).
Verstirbt ein Elternteil und haben die Eltern im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft gelebt (das ist die Regel), erbt der überlebende Elternteil neben den Kindern die Hälfte (§§ 1931 Abs. 1, 1371 Abs. 1 BGB). Der gesetzliche Erbteil des überlebenden Ehegatten beträgt nach § 1931 Abs. 1 BGB nämlich neben Erben der ersten Ordnung ein Viertel. Dieser Erbanteil erhöht sich im Falle des gesetzlichen Güterstandes der Zugewinngemeinschaft nach § 1371 Abs. 1 BGB um ein Viertel, also auf die Hälfte.
4.6.2 Gestaltungsmöglichkeiten durch letztwillige Verfügung
Das Erbrecht ermöglicht es jedem Menschen, die Erbfolge abweichend von der gesetzlichen Regelung zu bestimmen. Das geschieht entweder durch eine einseitige Erklärung in einem Testament (§ 1937 in Verbindung mit §§ 2087 ff. BGB) oder durch einen Erbvertrag (§ 194.1 BGB). Gesetzliche Erben müssen bei der Erbeinsetzung durch Testament oder Erbvertrag nicht berücksichtigt werden. Abkömmlingen und den Eltern sowie dem Ehegatten steht, wenn sie von der Erbschaft ausgeschlossen oder zu gering bedacht worden sind, lediglich ein Pflichtteilsanspruch gegen die Erben zu (§§ 2303 ff. BGB).
Die Erbteile bei der Einsetzung mehrerer Erben können unterschiedlich groß gewählt werden. Es ist auch möglich, die Erbschaft durch Anordnung der Vor- und Nacherbschaft zu beschränken (§§ 2100 ff. BGB). Der Nachlass muss dann in seinem Bestand grundsätzlich erhalten werden. Der Vorerbe darf das Vermögen, soweit ihm nicht Befreiung erteilt worden ist, in seiner Substanz nicht verbrauchen, ihm steht im Wesentlichen nur die Nutzung zu. Der Nacherbe soll den Nachlass ungeschmälert erhalten.
Bestimmte Gegenstände oder Rechte, z.B. ein Grundstück, ein Geldbetrag, ein Vermögensanteil, ein Wohnrecht, können einer Person (dabei kann es sich sowohl um natürliche als auch um juristische Personen, wie z. B. Vereine handeln) als Vermächtnis zugewendet werden. Der Anspruch auf die Erfüllung des Vermächtnisses richtet sich gegen den oder die Erben (§ 1939 in Verbindung mit §§ 2147 ff. BGB).
Erben oder Vermächtnisnehmer können durch die Anordnung einer Auflage zu bestimmten Handlungen verpflichtet werden, z.B. zur Grabpflege oder zur Betreuung eines Tieres. Solche Auflagen sind von den Zuwendungen zu unterscheiden. Sie begründen nämlich keinen vom eventuell Begünstigten als eigenes Recht geltend zu machenden Anspruch (§ 1940 in Verbindung mit §§ 2192 ff.).
Schließlich und endlich kann der Erblasser Testamentsvollstreckung anordnen, um eine ordnungsgemäße Verwaltung des Nachlasses sicherzustellen (§§ 2197 ff. BGB).
Der Erblasser kann ferner durch letztwillige Verfügung Anordnungen für die Erbauseinandersetzung, also die Aufteilung der Gegenstände unter den Erben treffen (§ 2048 BGB).
4.6.3 Errichtung der letztwilligen Verfügung
Die Testierfähigkeit beginnt im Alter von 16 Jahren (§ 2229 BGB).
Die wichtigsten Formen sind das handschriftlich geschriebene oder das zur Niederschrift eines Notars errichtete Testament (§ 2231 BGB).
Das eigenhändige Testament muss vom Erblasser handschriftlich geschrieben und unterschrieben werden. Das Testament soll das Datum und den Ort der Errichtung enthalten (§ 2247 BGB).
Ehegatten können ein Testament auch gemeinschaftlich errichten (§ 2265 BGB). Wenn das gemeinschaftliche Testament handschriftlich errichtet werden soll, genügt es, dass einer der Ehegatten den Text der letztwilligen Verfügung schreibt. Das Testament muss dann von beiden Ehegatten eigenhändig unterschrieben werden.
Zur Niederschrift eines Notars wird ein Testament errichtet, in dem der Erblasser dem Notar seinen letzten Willen mündlich erklärt oder ihm eine Schrift mit der Erklärung übergibt, dass die Schrift seinen letzten Willen enthält. Der Erblasser kann die Schrift offen oder verschlossen übergeben. Sie braucht nicht von ihm selbst geschrieben sein. Sie muss auch nicht handschriftlich, sondern kann z.B. ebenso gut maschinenschriftlich abgefasst werden (§ 2232 BGB). Die Errichtung eines notariellen Testamentes, insbesondere in der Form der mündlichen Erklärung, ist zu empfehlen, weil der Notar verpflichtet ist, die Erblasser rechtlich zu beraten (§ 17 Beurkundungsgesetz). Sie können dann sicher sein, dass ihr Wille beim Erbfall tatsächlich zur Geltung kommt. Das notarielle Testament wird amtlich verwahrt. Es droht also auch nicht die Gefahr, dass das Testament verloren geht oder gar beseitigt wird.
Ein Testament kann jederzeit aufgehoben oder geändert werden. Dadurch können die letztwilligen Verfügungen an veränderte Umstände angepasst werden.
4.6.4 Besonderheiten bei der Errichtung eines Testaments durch einen Blinden
Das eigenhändige Testament muss vom Erblasser selbst handschriftlich geschrieben und unterschrieben werden (§ 2247 Abs. 1 BGB). Nach § 2247 Abs. 4 BGB kann ein handschriftliches Testament von einer Person, welche "Geschriebenes nicht zu lesen vermag", nicht errichtet werden.
Die Errichtung eines handschriftlichen Testaments ist deshalb blinden Personen verwehrt. Die Blindenschrift, selbst wenn sie mit Hilfe eines Schreibstift und einer Tafel geschrieben wird, ist keine Handschrift im Sinn dieser Bestimmung; denn das so angefertigte Schriftstück ist nicht so individuell geprägt, dass der Schreiber z.B. durch ein graphologisches Gutachten identifiziert werden könnte (Palandt Rn. 7 zu § 2247 BGB).
Blinde Erblasser können auch keine wirksamen letztwilligen Verfügungen in einem gem. § 2267 BGB in Verbindung mit § 2247 BGB errichteten "gemeinschaftlichen eigenhändigen Testament" treffen. Nach § 2267 BGB genügt es zwar, dass einer der Ehegatten, hier also der sehende Ehegatte das gemeinschaftliche Testament entsprechend § 2247 BGB eigenhändig schreibt und unterschreibt und der andere Ehegatte, hier also der blinde Ehegatte "die gemeinschaftliche Erklärung eigenhändig mitunterzeichnet." § 2247 Abs. 4 BGB gilt aber auch hier, wonach in dieser Form nicht testieren kann, wer "Geschriebenes nicht zu lesen vermag". Die in diesem Testament enthaltenen letztwilligen Verfügungen des sehenden Ehegatten bleiben wirksam, wenn zwischen diesen und den in der Urkunde enthaltenen Verfügungen des blinden Ehegatten keine wechselseitige Abhängigkeit besteht. Ob das der Fall ist, ist vom Nachlassgericht durch Auslegung zu ermitteln (Palandt Rn. 4, 5 und 6 zu § 2270 BGB). Eine solche Abhängigkeit wird aber häufig anzunehmen sein. § 2270 Abs. 1 und 2 BGB bestimmen dazu:
"(1) Haben die Ehegatten in einem gemeinschaftlichen Testament Verfügungen getroffen, von denen anzunehmen ist, dass die Verfügung des einen nicht ohne die Verfügung des anderen getroffen sein würde, so hat die Nichtigkeit oder der Widerruf der einen Verfügung die Unwirksamkeit der anderen zur Folge.
(2) Ein solches Verhältnis der Verfügungen zueinander ist im Zweifel anzunehmen, wenn sich die Ehegatten gegenseitig bedenken oder wenn dem einen Ehegatten von dem anderen eine Zuwendung gemacht und für den Fall des Überlebens des Bedachten eine Verfügung zu Gunsten einer Person getroffen wird, die mit dem anderen Ehegatten verwandt ist oder ihm sonst nahe steht."
Die Auslegungsregel von § 2070 Abs. 2 greift erst ein und ist nur dann anwendbar, wenn die Erforschung des Willens beider Ehegatten durch Auslegung trotz Ausschöpfung aller Möglichkeiten kein eindeutiges Ergebnis über die Wechselbezüglichkeit der Erklärungen gebracht hat (Palandt Rn. 7 zu § 2270).
Allein schon wegen der Nichtigkeit der vom blinden Ehepartner vorgenommenen Verfügung ist Ehegatten, von denen einer blind ist, dringend von der Errichtung eines gemeinschaftlichen eigenhändigen Testaments abzuraten. Ein gemeinschaftliches Testament gem. § 2265 BGB kann selbstverständlich auch von Ehepaaren, bei welchem ein Ehegatte oder auch beide blind sind, in der Form des öffentlichen Testaments gem. § 2232 BGB errichtet werden.
Die obigen Ausführungen zum gemeinschaftlichen Testament gelten auch für eingetragene Lebenspartnerschaften (§ 10 Abs. 4 Ehepartnerschaftsgesetz).
Wenn ein handschriftliche Testament zu einem Zeitpunkt errichtet worden ist, zu welchem die Handschrift vom Testierenden noch gelesen werden konnte, bleibt das Testament auch nach der eingetretenen Erblindung selbstverständlich gültig.
Für blinde und für solche sehbehinderten Personen, die ihre Handschrift zum Zeitpunkt der Errichtung nicht mehr kontrollieren können, bleibt somit nur die Möglichkeit des öffentlichen Testaments durch die Erklärung gegenüber dem Notar. Das ergibt sich auch aus § 2233 Abs. 2 BGB: "(2) Ist der Erblasser nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht im Stande, Geschriebenes zu lesen, so kann er das Testament nur durch eine Erklärung gegenüber dem Notar errichten."
Zum öffentlichen Testament bestimmt § 2232 BGB:
"Zur Niederschrift eines Notars wird ein Testament errichtet, indem der Erblasser dem Notar seinen letzten Willen erklärt oder ihm eine Schrift mit der Erklärung übergibt, dass die Schrift seinen letzten Willen enthalte. Der Erblasser kann die Schrift offen oder verschlossen übergeben; sie braucht nicht von ihm geschrieben zu sein."
Zu unterscheiden sind also zwei Formen: die Erklärung gegenüber dem Notar oder die Übergabe eines Schriftstücks mit der Erklärung, dass dieses den letzten Willen enthält. Die schriftliche Erklärung kann in jeder Form, also auch maschinenschriftlich oder in Blindenschrift abgefasst sein. Das Schriftstück muss auch nicht vom Erblasser selbst angefertigt worden sein (Palandt Rn. 3 zu § 2232 BGB). Aus § 2233 Abs. 2 BGB ergibt sich, dass ein Blinder oder so stark Sehbehinderter, dass er Geschriebenes nicht lesen kann, das öffentliche Testament nur durch mündliche Erklärung oder Übergabe einer offenen Schrift errichten kann (Palandt Rn. 2 zu § 2233 BGB). Zu raten ist jedoch dazu, seinen letzten Willen zu erklären. Der Notar ist verpflichtet, den Erblasser bei der Formulierung seines letzten Willens zu beraten (§ 17 Beurkundungsgesetz). Bei der Kompliziertheit des Erbrechts kann der Erblasser deshalb sicher sein, dass seine Vorstellungen verwirklicht werden. Für die Art der Erklärung vor dem Notar ist keine bestimmte Form vorgeschrieben. In der Regel wird sie mündlich erfolgen. Taubblinde können die Erklärung aber auch mit Hilfe eines Dolmetschers abgeben. Das ist vor allem dann wichtig, wenn sie selbst nicht verständlich sprechen können (Palandt Rn. 2 zu § 2232 BGB und Rn. 3 zu § 2233 BGB).
Vgl. zu diesem Abschnitt auch Hennies "Der Blinde im geltenden Recht" 7. Testamentsrecht S. 197.
5 Vereinsrecht
Die Mitgliedschaft in einem Verein ist ein vertragliches Dauerschuldverhältnis, das durch den Beitritt zum Verein begründet wird. Zwischen Mitglied und Verein entstehen wechselseitige Rechte und Pflichten. Das setzt allerdings voraus, dass der Verein als solcher, das heißt als "juristische Person",Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Der Verein muss also zuvor eine entsprechende "Rechtsfähigkeit" erlangt haben, und zwar mittels seiner Eintragung ins Vereinsregister. Sind die Mitglieder eines Vereins selber wiederum Vereine, so muss nicht nur der "Dachverband", sondern muss auch jeder Mitgliedsverein für sich im Vereinsregister eingetragen sein. Sind sie es nicht, so gehören sie allenfalls als unselbstständige Untergliederungen dem Verband an.
Nachfolgend kann natürlich nicht das gesamte Vereinsrecht dargestellt werden. Es können vielmehr nur einige, vor allem für die aktiven Mitglieder wichtige Fragen behandelt werden. Dazu soll auf Regelungen bei einem Landesblindenverein - hier beispielhaft beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund e.V. (BBSB) - und auf Regelungen beim Dachverband, also beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) Bezug genommen werden.
Der DBSV und die ihm angeschlossenen Landesvereine, aber auch der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) spielen für die Wahrnehmung der Interessen blinder und sehbehinderter Menschen, für deren Beratung, für den Meinungsaustausch und die persönliche Begegnung eine große Rolle. Sie blicken auf eine über 100jährige Geschichte zurück:
Nach der Einführung der Vereinsfreiheit im deutschen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde 1872 die "Blindengenossenschaft Hamburg" als erste Selbsthilfeorganisation gegründet. Ziele der sich bildenden Blindenvereine waren die Beschaffung von Arbeit, die materielle Unterstützung ihrer Mitglieder in Notlagen und Geselligkeit (vgl. Reuß "Werden und Wachsen der deutschen Blindenselbsthilfe" S. 18). Der Reichsdeutsche Blindenverband, dessen Nachfolger der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) ist, wurde auf dem "Zweiten Deutschen Blindentag", welcher vom 22. bis 25. Juli 1912 in Braunschweig stattfand, gegründet. Diesem Dachverband angeschlossene Blindenselbsthilfeorganisationen bestehen in allen Bundesländern.
Der Verein blinder Akademiker Deutschlands, heute Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf, wurde am 6. April 1916 in Marburg gegründet.
Es handelt sich bei den Selbsthilfeorganisationen für blinde und sehbehinderte Menschen um rechtsfähige Vereine im Sinn der §§ 21 ff. BGB, das heißt um so genannte "Idealvereine"; denn ihr Zweck ist "nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb" gerichtet. Der Zweck des Vereins muss in dessen Satzung eindeutig beschrieben werden. Die Beschreibung ist unter anderem maßgeblich für die steuerrechtliche Anerkennung des Vereins als "gemeinnützig". Die Satzung hat aber noch andere Aufgaben.
5.1 Satzung
Maßgebend für die Organisation, die Aufgaben und die jeweiligen Rechte und Pflichten der Mitglieder ist für einen Verein neben den Regelungen in den §§ 21 ff. BGB seine Satzung (§ 25 BGB). Die Satzung und die Regelungen in den §§ 26 ff. BGB stellen die Verfassung des Vereins dar. Die Vereine haben dabei eine große Gestaltungsfreiheit. Nur wenige Regelungen sind in § 40 BGB zwingend vorgeschrieben. Die meisten Bestimmungen über den Verein greifen nur ein, wenn in der Satzung nichts Abweichendes bestimmt ist.
Die Satzung muss nach § 57 BGB mindestens den Zweck, den Namen und den Sitz des Vereins enthalten und ergeben, dass der Verein eingetragen werden soll.
Nach § 58 BGB soll die Satzung Bestimmungen enthalten
- über den Eintritt und Austritt der Mitglieder,
- ob und welche Beiträge von den Mitgliedern zu leisten sind,
- über die Bildung des Vorstands,
- über die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliederversammlung zu berufen ist, über die Form der Berufung und über die Beurkundung der Beschlüsse.
Die Satzungen der Selbsthilfeorganisationen der blinden und sehbehinderten Menschen sind auf ihren Internetauftritten zu finden.
Den folgenden Ausführungen liegen als Beispiele für einen Dachverband die Satzung des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV) und für eine Landesorganisation die Satzung des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes e.V. (BBSB) zugrunde. Kennzeichnend für einen Dachverband ist, dass seine Mitglieder die ihm angeschlossenen Organisationen, also beim DBSV die Landesorganisationen und nicht deren Mitglieder sind.
5.2 Organe des Vereins
Welche Organe ein Verein hat, wie sich diese zusammensetzen, für welche Aufgaben sie zuständig sind und in welcher Hierarchie die Vereinsorgane stehen, wird typischerweise in der Satzung geregelt.
Organe des DBSV sind nach § 7 seiner Satzung:
- der Verbandstag,
- der Verwaltungsrat,
- das Präsidium.
Damit ist auch die Hierarchie dieser Organe vorgegeben.
Der Verbandstag des DBSV setzt sich gem. § 8 Abs. 1 der Satzung zusammen aus:
- den Delegierten der ordentlichen Mitglieder,
- je einem Vertreter jedes korporativen Mitglieds,
- dem Präsidium,
- den Ehrenmitgliedern.
Wer ordentliches Mitglied, korporatives Mitglied und Ehrenmitglied sein kann, ergibt sich aus § 4 der Satzung. Ordentliche Mitglieder sind in erster Linie die Selbsthilfeorganisationen blinder und sehbehinderter Menschen in den Ländern. Aus der Zusammensetzung des Verbandstags gem. § 8 der Satzung und der Regelung der Mitgliedschaft in § 4 der Satzung ergibt sich, dass es sich beim DBSV um einen "Dachverband" handelt. Der Verbandstag hat die Aufgabe einer Mitgliederversammlung.
Der Verwaltungsrat steht nach seiner Zusammensetzung und Aufgabenstellung zwischen dem Verbandstag und dem Präsidium. Seine Zusammensetzung ergibt sich aus § 9 Abs. 1 der Satzung. Die Aufgaben des Verwaltungsrates regelt § 9 Abs. 3 der Satzung. Ihm sind vor allem Kontrollrechte zugewiesen.
Das Präsidium, welches auf die Dauer von vier Jahren vom Verbandstag gewählt wird, setzt sich gem. § 10 Abs. 2 Nr. 1 aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und 7 Beisitzern zusammen. Es handelt sich um einen vereinsrechtlich gesprochen "erweiterten Vorstand". Vorstand im Sinn von § 26 BGB sind gemäß § 10 Abs. 3 der Satzung der Präsident und der Vizepräsident (Palandt Rn. 2 zu § 26 BGB). Der Verband wird vom Präsidenten oder vom Vizepräsidenten gerichtlich und außergerichtlich vertreten. Das Innenverhältnis wird durch eine vom Präsidium zu beschließende Geschäftsordnung geregelt.
Der Vorstand kann zur Vertretung des Vereins Dritten eine Vollmacht erteilen. Die Vertretung eines Vereins auf Grund einer vom Vorstand erteilten Vollmacht wird in der Regel dem Geschäftsführer erteilt.
Die Struktur und Organisation des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes, welcher hier als Beispiel für eine Landesselbsthilfeorganisation genommen wird, ist in den §§ 11 ff. der Satzung geregelt. Nach § 11 Abs. 1 der Satzung sind Organe:
- die Landestagung,
- der Landesausschuss,
- der Landesvorstand,
- der Landesvorsitzende,
- die Bezirksgruppenversammlung,
- der Bezirksgruppenausschuss,
- der Bezirksgruppenleiter.
Der BBSB ist in regionale Bezirksgruppen unterteilt.
Die Landestagung hat die Funktion der Mitgliederversammlung für die Gesamtorganisation. Die Einzelmitglieder werden in ihr durch den in den Bezirksgruppenversammlungen gewählten Delegierten vertreten. Die Bezirksgruppenversammlungen sind die für das Gebiet der Bezirksgruppe zuständigen Mitgliederversammlungen. In ihr sind die einzelnen Mitglieder teilnahme- und stimmberechtigt.
Die Zusammensetzung der Landestagung ergibt sich aus § 12 der Satzung. Ihre Aufgaben sind in § 13 der Satzung geregelt. Dazu gehören u.a.:
- Entgegennahme der Tätigkeits- und Finanzberichte,
- Entlastung des Landesvorsitzenden, seines Stellvertreters und der übrigen Vorstandsmitglieder,
- Neuwahl des Landesvorsitzenden, seines Stellvertreters und der übrigen Mitglieder des Landesvorstands,
- Erledigung von Anträgen und Beschwerden,
- Beratung und Verabschiedung von Leitlinien für die Vereinsarbeit und von Resolutionen,
- Änderungen und Ergänzungen der Satzung,
- Wahl der Delegierten für den Verbandstag des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V.
Dem Landesausschuss gehören gem. § 14 der Satzung die Mitglieder des Landesvorstands und die Bezirksgruppenleiter als stimmberechtigte Mitglieder an. Der Landesausschuss hält mindestens einmal jährlich eine Sitzung ab.
Zu den Aufgaben des Landesausschusses gehören gem. § 15 der Satzung u.a.:
- Prüfung der Tätigkeit des Landesvorstandes,
- Entgegennahme der geprüften Jahresrechnung,
- Erledigung von Anträgen und Beschwerden,
- Ersatzwahl ausgeschiedener Vorstandsmitglieder,
- Wahl von Sachprüfern für den Jahresabschluss,
- Bildung von Ausschüssen für Sonderaufgaben.
Nach § 15 Abs. 2 der Satzung ist der Landesausschuss an die Beschlüsse der Landestagung gebunden.
Die Zusammensetzung des Landesvorstandes ist in § 16 der Satzung geregelt. Ihm dürfen nur ordentliche Vereinsmitglieder angehören. Der Landesvorstand besteht aus dem Landesvorsitzenden, seinem Stellvertreter und fünf weiteren Mitgliedern.
Aufgabe des Landesvorstandes ist gem. § 17 der Satzung die Fassung von Beschlüssen zur Erfüllung der Vereinsaufgaben. Aus dem hierarchischen Aufbau des Vereins ergibt sich die Einschränkung auf solche Vereinsaufgaben, für welche nicht die Landestagung oder der Landesausschuss zuständig ist. Ferner obliegt dem Landesvorstand die Überwachung der Geschäftsführung.
Gem. § 18 Abs. 1 der Satzung sind der Landesvorsitzende und sein Stellvertreter Vorstand im Sinn von § 26 BGB. Der Verein wird vom Landesvorsitzenden oder seinem Stellvertreter gerichtlich und außergerichtlich vertreten.
In § 18 Abs. 2 der Satzung wird klargestellt, dass der Landesvorsitzende an die Beschlüsse der Landestagung, des Landesausschusses und des Landesvorstands im Sinn von § 16 der Satzung gebunden ist und deren Vollzug zu überwachen hat. Der Landesvorsitzende und sein Stellvertreter tragen als gesetzliche Vertreter die Verantwortung für die Wahrnehmung der Aufgaben des Vereins durch die Landesgeschäftsführung, die Beschäftigten und die ehrenamtlichen Mitarbeiter (§ 18 Abs. 2 der Satzung).
Regionale Zusammenschlüsse der Mitglieder sind die Bezirksgruppen. Sie haben keine eigene Rechtspersönlichkeit. Ihre Aufgabe ist die Wahrnehmung örtlicher Angelegenheiten (§ 20 Abs. 1 der Satzung). Die Mitglieder der Bezirksgruppen wählen aus ihrer Mitte den Bezirksgruppenleiter, seinen Stellvertreter und die weiteren Mitglieder des Bezirksgruppenausschusses sowie die Delegierten zur Landestagung. Die von den Bezirksgruppen wahrzunehmenden Aufgaben sind in § 20 Abs. 4 der Satzung in einer nicht abgeschlossenen Aufstellung aufgelistet. Dazu gehören u.a. die Beratung der Mitglieder, die Durchführung von Begegnungsveranstaltungen, die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen, Kontakt zu lokalen Behörden und Organisationen und regionale Öffentlichkeitsarbeit.
Nach § 24 der Satzung des BBSB kann der Landesvorstand zur Wahrnehmung spezieller Bereiche Referenten berufen. Beispiele sind Referenten zur Förderung der Jugendarbeit, Referenten für die speziellen Belange taubblinder Menschen, Referenten für die Elternarbeit. Nach § 20 Abs. 2 der Satzung sind die Referenten an die Beschlüsse der Vereinsorgane und die Weisungen des Landesvorsitzenden gebunden.
Nach § 24 Abs. 3 der Satzung obliegen den Referenten folgende Aufgaben:
- fachliche Beratung und Unterstützung der Vereinsorgane,
- fachliche Betreuung Ratsuchender,
- Bereitstellung von Informationen zu Fachthemen,
- Vorbereitung und Durchführung von zentralen und örtlichen Fachveranstaltungen.
Bei den Bezirksgruppenleitern und ihren Stellvertretern (§ 20 der Satzung des BBSB) sowie den Referenten (§ 24 der Satzung des BBSB) handelt es sich um "besondere Vertreter" im Sinn von § 30 BGB. Dieser lautet:
"Durch die Satzung kann bestimmt werden, dass neben dem Vorstand für gewisse Geschäfte besondere Vertreter zu bestellen sind. Die Vertretungsmacht eines solchen Vertreters erstreckt sich im Zweifel auf alle Rechtsgeschäfte, die der ihm zugewiesene Geschäftskreis gewöhnlich mit sich bringt."
In der Rechtsprechung wird § 30 BGB weit ausgelegt. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil für Schäden, die der besondere Vertreter verursacht, für den Verein keine Entlastungsmöglichkeit gem. § 831 BGB besteht, sondern die Haftung für das Handeln von Organen gem. § 31 BGB eintritt (Palandt Rn. 1 zu § 30 BGB). Zu Haftungsfragen vgl. unten 5.5.
5.3 Rechte und Pflichten der Mitglieder
Auch hier wird beispielhaft auf die Satzung des DBSV als Spitzenverband und des BBSB als Mitgliedsorganisation des DBSV eingegangen.
5.3.1 Rechte der Mitglieder
Die Rechte der Mitglieder sind in der Satzung des DBSV nicht extra geregelt. Sie ergeben sich aus der Satzung insgesamt. Es handelt sich um die Mitwirkungsrechte z.B. beim Verbandstag (§ 8), im Verwaltungsrat (§ 9) und im Präsidium (§ 10).
In der Satzung des BBSB sind die Rechte des ordentlichen Mitglieds in § 6 geregelt. Dieser lautet:
"(1) Das ordentliche Mitglied ist berechtigt,
- die Einrichtungen und die Hilfe des Vereins in Anspruch zu nehmen,
- Anträge an die Organe des Vereins zu stellen,
- ab Vollendung des 16. Lebensjahres sein Stimmrecht bei der Landestagung durch gewählte Delegierte und bei der Bezirksgruppenversammlung durch eigene Stimmabgabe auszuüben. Hat das ordentliche Mitglied das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet oder ist es nach Vollendung des 16. Lebensjahres wegen einer geistigen Behinderung nicht in der Lage, die Rechte nach Satz 1 auszuüben, können diese Rechte vom gesetzlichen Vertreter wahrgenommen werden.
(2)
- Nach Vollendung des 18. Lebensjahres ist das ordentliche Mitglied wählbar
- a) als Beisitzer in den Bezirksgruppenausschuss,
- b) als Beisitzer in den Landesvorstand,
- c) als Delegierter zur Landestagung,
- d) als Delegierter zum Verbandstag des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V.
- Mit Vollendung des 25. Lebensjahres und nach dreijähriger Zugehörigkeit zu einer Blinden- und / oder Sehbehindertenselbsthilfeorganisation ist das ordentliche Mitglied wählbar
- a) als Landesvorsitzender oder stellvertretender Landesvorsitzender,
- b) als Bezirksgruppenleiter oder stellvertretender Bezirksgruppenleiter."
Damit die Mitglieder ihre Rechte wahrnehmen können, muss erwartet werden, dass z.B. bei der Einladung zu Mitgliederversammlungen, bei der Abstimmung über Beschlüsse und bei der Stimmabgabe bei Wahlen auf die Blindheit oder Sehbehinderung der Teilnehmer Rücksicht genommen wird.
Auf Wunsch sollte die Anwesenheit von Begleitpersonen gestattet sein.
Wenn den Bedürfnissen blinder oder sehbehinderter Teilnehmer in Versammlungen nicht genügend entsprochen wird, sind gegebenenfalls Beschlüsse zur Geschäftsordnung zu beantragen.
Zur Form von Einladungen von Organversammlungen oder -Sitzungen enthält die Satzung des DBSV nur, dass dies durch Rundschreiben erfolgen muss. Vgl. z.B. § 8 Abs. 2 Nr. 7 für die Einberufung des Verbandstags, § 9 Abs. 2 für die Einberufung des Verwaltungsrats und § 10 Abs. 5 für die Einladung des Präsidiums.
Auch die Satzung des BBSB bestimmt in § 2 der Geschäftsordnung (diese ist der verfahrensrechtliche Teil der Satzung) lediglich, dass Ladungen schriftlich erfolgen müssen.
Im Interesse der Barrierefreiheit ist es jedoch seit langem Praxis, dass die Ladung nicht nur durch Rundschreiben im Postweg, sondern auch durch Übermittlung der Rundschreiben per E-Mail und auf Wunsch in Blindenschrift erfolgt.
Bei der Durchführung von Abstimmungen und Wahlen muss, um die unabhängige Ausübung von Mitgliedsrechten zu gewährleisten, ein Verfahren gewählt werden, welches auch von blinden Personen ohne Hilfe durchgeführt werden kann.
In der Satzung des DBSV wird die Aufgabe dem Versammlungsleiter bzw. dem Wahlausschuss übertragen. In § 13 Abs. 2 Nr. 8 wird lediglich bestimmt, dass Wahlvorschläge "schriftlich (Punkt- oder Schwarzschrift)" abzugeben sind.
In der Satzung des BBSB ist die Form der Beschlussfassung in § 8 der Geschäftsordnung geregelt. Soweit nicht geheime Abstimmung verlangt wird, erfolgt sie durch Handzeichen. Die Form bei geheimen Abstimmungen bestimmt der Versammlungsleiter.
Die Form von Wahlvorschlägen ist in § 13 der Geschäftsordnung geregelt. Schriftliche Wahlvorschläge sind in Punkt- oder Schwarzschrift abzugeben. Bei Wahlen wird zwischen offenen und geheimen Wahlen unterschieden. Bei offenen Wahlen erfolgt die Stimmabgabe gem. § 13 Abs. 3 der Geschäftsordnung "mittels eines Symbols oder in einer anderen vom Versammlungsleiter bestimmten geeigneten Form". Für geheime Wahlen bestimmt § 13 Abs. 4 der Geschäftsordnung: "Die Form des Wahlverfahrens bei geheimer Wahl bestimmt im Einzelnen der Versammlungsleiter. Dabei ist ein Verfahren zu wählen, bei dem jeder Wahlberechtigte unabhängig von sehenden Personen seinen Willen äußern kann."
Eine weitere Frage ist, inwieweit bei Versammlungen oder Sitzungen Tonaufzeichnungen zulässig sind.
In den Satzungen des DBSV und des BBSB finden sich dazu keine Regelungen und zwar auch nicht im Zusammenhang mit den Bestimmungen über die Protokollführung (§ 14 der Satzung des DBSV und § 17 der Geschäftsordnung zur Satzung des BBSB).
Zu Tonaufzeichnungen ist jedoch in jedem Fall das Einverständnis der Mitglieder der Versammlung bzw. der jeweiligen Redner einzuholen. Das ergibt sich aus dem grundrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
Artikel 2 Abs. 1 GG lautet:
"(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."
Artikel 1 Abs. 1 GG lautet:
"(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Neben dem Recht am eigenen Bild, besitzt eine Person auch das Recht am eigenen gesprochenen Wort. Bei Verletzung dieses Rechts wird ein Unterlassungsanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit einer Analogie aus § 1004 BGB hergeleitet. Beim "allgemeinen Persönlichkeitsrecht" handelt es sich um ein "sonstiges Recht" im Sinn von § 823 Abs. 1 BGB. Das Recht am Wort wird damit analog dem Recht am Eigentum behandelt.
§ 823 Abs. 1 lautet:
"(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet."
§ 1004 Abs. 1 BGB lautet:
"(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen."
5.3.2 Pflichten der Mitglieder
In der Satzung des DBSV sind die Pflichten der ordentlichen und korporativen Mitglieder in § 5 geregelt. Dieser lautet:
"(1) Die ordentlichen Mitglieder sind verpflichtet,
- a)die Mitgliedschaft im Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. in ihren Satzungen zum Ausdruck zu bringen,
- b) sich an die Beschlüsse der Verbandsorgane zu halten,
- c) die festgesetzten Beiträge und Umlagen innerhalb der festgelegten Fristen zu leisten,
- d) dem Verband bis 30. Juni eines jeden Jahres den Bestand ihrer Mitglieder zum 31. Dezember des Vorjahres zu melden,
- e) als ordentliche Mitglieder ihres Vereins nur blinde und sehbehinderte Personen mit einem Sehvermögen von höchstens 3/10 aufzunehmen, wobei am 1. Januar 1991 bestehende ordentliche Mitgliedschaften unberührt bleiben,
- f) Minderjährigen die Mitgliedschaft im Verein zu ermöglichen und deren Vertretung im Verein durch einen Erziehungsberechtigten zu gestatten.
(2) Die korporativen Mitglieder sind verpflichtet, die festgesetzten Beiträge und Umlagen innerhalb der festgelegten Fristen zu leisten."
In der Satzung des BBSB ergeben sich die Pflichten des ordentlichen Mitglieds aus § 8. Dieser lautet:
"Das ordentliche Mitglied ist verpflichtet:
- durch sein Verhalten die Interessen und das Ansehen des Vereins und der Blinden oder Sehbehinderten zu wahren,
- die Anordnungen und Beschlüsse der Vereinsorgane zu befolgen und diese bei der Erfüllung der Vereinsaufgaben zu unterstützen,
- den Jahresbeitrag im ersten Quartal des Kalenderjahres zu entrichten."
Aus dem Kanon der Pflichten wird hier näher auf die Beitragspflicht eingegangen.
5.3.2.1 Regelung der Vereinsbeiträge
Zu den Pflichten der Mitglieder gehört die Entrichtung von Beiträgen. In der Satzung soll gem. § 58 Nr. 2 BGB bestimmt werden, ob und welche Beiträge von den Mitgliedern zu leisten sind. § 58 BGB lautet:
"Die Satzung soll Bestimmungen enthalten: (...) 2. darüber, ob und welche Beiträge von den Mitgliedern zu leisten sind (...)"
Es handelt sich um eine Sollbestimmung. Wenn eine Beitragsregelung in der Satzung fehlt, ist das anders als bei den Mussvorschriften des § 57 BGB kein Hinderungsgrund für die Eintragung des Vereins ins Vereinsregister. In einem solchen Fall kann aber auch durch Beschluss eines Vereinsorgans keine Beitragspflicht begründet werden. Erforderlich wäre erst eine Satzungsänderung.
Nun soll in der Satzung aber nicht nur bestimmt werden, "ob" Beitragszahlungen vorgesehen sind, sondern auch "welche Beiträge zu leisten sind". Wie ist das zu verstehen? Muss auch die Höhe des Beitrags in der Satzung geregelt werden? Nein, der Gesetzeswortlaut meint etwas anderes, nämlich: Es gibt verschiedene Beitragsarten, nicht nur die übliche periodische Geldleistung (monatlich, quartalsweise oder jährlich), sondern auch einmalige Zahlungen wie Umlagen (wenn der Verein einen besonderen Finanzbedarf hat). "Beiträge" können aber auch vom Mitglied zu erbringende Dienstleistungen sein. Diese und ähnliche Sonderformen kann der Verein nur dann wirksam beschließen, wenn die Möglichkeit dazu in der Satzung ausdrücklich geregelt ist. Dasselbe gilt, wenn Beiträge rückwirkend erhöht werden sollen. Rückwirkende Verpflichtungen zur Beitragszahlung - sie sind sowieso nur zulässig für die vergangenen Monate des laufenden Geschäftsjahres - gelten eben nicht mehr als "normal" und bedürfen deshalb generell einer ausdrücklichen Legitimation durch die Vereinssatzung.
Wie gesagt, verlangt § 58 BGB nicht, dass in der Vereinssatzung alle Einzelheiten zu den Beiträgen festgelegt werden. Es reicht schon aus, wenn dort lediglich klargestellt wird, dass ein Beitrag erhoben wird und welches Vereinsorgan (z. B. die Mitgliederversammlung oder der Vorstand) zur Festlegung der Einzelheiten berechtigt ist. Natürlich ist es keinem Verein verwehrt, alle Einzelheiten in der Satzung zu regeln, was übrigens auch in der Weise geschehen kann, dass eine gesonderte Beitragsordnung formuliert und dann ausdrücklich als Bestandteil der Satzung beschlossen wird. In diesem Falle wäre aber für jede Änderung der Beitragsordnung eine förmliche Satzungsänderung (mit satzungsändernder Mehrheit !) erforderlich. Eine solche Regelung ist deshalb nicht zu empfehlen.
Bei einer Beitragsordnung außerhalb der Satzung ist nun andererseits zu beachten, dass dort nicht Regelungen vorgenommen werden, die in der Satzung stehen müssen: zum Beispiel eine Anordnung, dass die Mitgliedschaft ruht, solange der Beitrag nicht bezahlt wird. Denn Einschränkungen der Mitgliedschaftsrechte sind allein in der Satzung zu regeln.
5.3.2.2 Grundsätzliches zur Festsetzung der Beitragshöhe
Grundsätzlich ist der Verein autonom. Er kann deshalb selber entscheiden, wie hoch die Vereinsbeiträge sein sollen, und kann das diesbezügliche Verfahren (Zuständigkeiten, erforderliche Stimmenmehrheiten) selber festlegen. Es sind jedoch folgende Grundsätze zu beachten:
Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitglieder muss beachtet werden. Dieser Grundsatz verbietet es nicht, sondern soll gerade dazu ermuntern, die unterschiedlichen Arten der Mitgliedschaft angemessen zu berücksichtigen. Die Beitragshöhe kann deshalb für bestimmte Gruppen unterschiedlich festgesetzt werden, z.B. für Jugendliche, für Senioren, für in der Ausbildung befindliche Vereinsmitglieder, für Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt oder vergleichbarer Leistungen usw. Innerhalb der Gruppen muss aber der Grundsatz der Gleichbehandlung beachtet werden und sie müssen eindeutig voneinander abgegrenzt sein.
Für die Festsetzung der Höhe der Beiträge ergibt sich aus der so genannten "Treuepflicht" des Vereins das Verbot, Mitglieder wirtschaftlich oder sonst leistungsmäßig zu sehr zu belasten.
Zu beachten ist auch das Gebot, dass das Vereinsmitglied nur in der Weise und in dem Umfang belastet werden darf, wie es von ihm beim Eintritt in den Verein erwartet werden kann. Oder wie es der Bundesgerichtshof formuliert hat: "Die Lasten müssen sich in überschaubaren, wenigstens ungefähr abschätzbaren Grenzen halten." (BGH 130, 243/247). Diese Grenzen sind allerdings fließend und wären im Streitfall anhand der Gegebenheiten des Einzelfalls zu prüfen. Konkret lässt sich vielleicht soviel sagen: Problemlos sind auf jeden Fall Anpassungen der Beitragshöhe an den Kaufkraftschwund, und zwar auch rückwirkend für das laufende Geschäftsjahr - sofern die Satzung die Rückwirkung erlaubt.
Eine deutlich stärkere Erhöhung des Beitrags, die sich aber immer noch im Rahmen des Überschaubaren und Abschätzbaren hält, kann grundsätzlich schon durch eine einfache Mehrheit beschlossen werden. In diesem Fall ist es jedoch empfehlenswert, das Wirksamwerden der Beitragserhöhung so zu terminieren, dass die überstimmten Mitglieder noch genügend Zeit haben, um vorher aus dem Verein auszutreten - und zwar unter Einhaltung der in der Satzung für den Austritt vorgesehenen Fristen.
Wird hingegen eindeutig der Rahmen des Überschaubaren und Abschätzbaren überschritten, zum Beispiel bei einer Beitragserhöhung um 100 Prozent, so ist der Erhöhungsbeschluss nur wirksam, wenn alle betroffenen Mitglieder zustimmen. Insofern gelten dieselben strengen Regeln wie bei der Änderung des Vereinszwecks.
5.3.2.3 Ausbleiben der Beitragszahlung
Während des Bestehens der Mitgliedschaft ist das Vereinsmitglied zur Entrichtung der Beiträge entsprechend den Regelungen in der Satzung verpflichtet. Zwischen dem Verein und seinem Mitglied besteht ein Schuldverhältnis. Die Leistungspflicht ergibt sich aus § 241 Abs. 1 BGB. Wenn das Mitglied seinen Beitrag trotz Fälligkeit nicht leistet, tritt unter den Voraussetzungen von § 286 BGB Schuldnerverzug ein. Das ist der Fall, wenn der Beitrag trotz Mahnung nicht entrichtet wird oder wenn er nicht entrichtet wird, obwohl dafür in der Satzung oder in der Beitragsordnung ein kalendermäßig bestimmter Zahlungstermin festgelegt ist. Der Schuldner kommt gem. § 286 Abs. 4 BGB jedoch "nicht in Verzug, solange die Leistung infolge eines Umstands unterbleibt, den er nicht zu vertreten hat". Das könnte z.B. infolge einer schweren Erkrankung der Fall sein, wenn das Mitglied dadurch an der Entrichtung des Beitrages gehindert war.
Wenn das Mitglied sich mit seiner Pflicht zur Beitragszahlung im Verzug befindet, kann die Beitragsforderung nicht nur gerichtlich geltend gemacht, sondern es können zusätzlich nach § 288 BGB Verzugszinsen verlangt werden.
Kann sich der Zahlungspflichtige dagegen wehren? Jedenfalls nicht damit, dass er geltend macht, der Vorstand oder sonstige Vereinsorgane hätten ihre Pflichten nicht erfüllt. Denn das Mitglied hat zwar einen (notfalls einklagbaren) Anspruch gegen den Verein auf Erfüllung der satzungsgemäßen Pflichten; er darf deswegen aber nicht seine Beitragszahlungen mindern oder einstellen, denn der Beitrag dient - sofern die Satzung nicht etwas anderes vorsieht - der Lebensfähigkeit des Vereins und ist - jedenfalls im Prinzip - nicht Gegenleistung für bestimmte Vereinsleistungen.
Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass das Vereinsmitglied gegen den Verein einen gleichartigen Geldanspruch hat (etwa auf Erstattung von Auslagen); mit diesem kann es gemäß § 387 BGB die Aufrechnung erklären und damit die Beitragspflicht tilgen. Die Beitragspflicht wird in diesem Fall also nicht gemindert, sondern in voller Höhe anerkannt und erfüllt. Allerdings kann die Möglichkeit, die Beitragsschuld durch Aufrechnung zu tilgen, durch die Satzung ausgeschlossen werden.
Kann der Verein, wenn das Mitglied nicht zahlt, sich bei einem Dritten schadlos halten, etwa bei den Eltern eines minderjährigen Mitglieds oder beim Betreuer eines unter Betreuung stehenden Vereinsmitglieds? Die klare Antwort ist nein, denn beitragspflichtig ist immer nur das Mitglied und nicht dessen gesetzlicher oder vertraglicher Vertreter. Dies ergibt sich daraus, dass das Mitgliedschaftsverhältnis als "höchstpersönlich" eingestuft wird. Eine Haftung etwa der Eltern oder eines Betreuers für nicht entrichtete Vereinsbeiträge kann deshalb in der Satzung (!) nicht vorgesehen werden.
Für den Fall, dass das Mitglied seiner Zahlungspflicht für längere Zeit nicht nachkommt (bei einem Jahresbeitrag reicht schon das Ausbleiben dieses Beitrags), sehen Vereinssatzungen bisweilen einen automatischen Ausschluss des Mitglieds aus dem Verein vor; häufiger ist die Regelung, dass das Mitgliedsverhältnisses vorübergehend ruht. In diesem Fall hat der Betreffende die Chance, durch Zahlung der ausstehenden Beiträge die Mitgliedschaftsrechte im vollen Umfang wiederzuerlangen.
5.4 Ende der Mitgliedschaft
Die Mitgliedschaft im Verein kann auf sehr verschiedene Weise ihr Ende finden. Zu nennen sind: Der Austritt aus dem Verein in Form der ordentlichen Kündigung oder in Form einer Kündigung aus wichtigem Grund, ferner der Ausschluss des Mitglieds aus dem Verein. Zu nennen sind außerdem der Eintritt einer auflösenden Bedingung, der Tod des Mitglieds und die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Vereins.
Den Austritt aus dem Verein regelt das BGB wie folgt:
"§ 39 Austritt aus dem Verein
(1) Die Mitglieder sind zum Austritt aus dem Verein berechtigt.
(2) Durch die Satzung kann bestimmt werden, dass der Austritt nur am Schluss eines Geschäftsjahres oder erst nach dem Ablauf einer Kündigungsfrist zulässig ist; die Kündigungsfrist kann höchstens zwei Jahre betragen."
Das bedeutet: Das Mitglied ist jederzeit berechtigt, seinen Austritt aus dem Verein zu erklären, und braucht diesen auch nicht zu begründen. Allerdings darf der Verein in der Satzung regeln, dass die Austrittserklärung die Mitgliedschaft nicht sofort beendet, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, etwa zum Schluss eines Geschäftsjahres oder zum Ende eines Quartals. Als weitere Hürde kann die Satzung eine Kündigungsfrist vorsehen. Beispiel: Die Satzung bestimmt, dass der Austritt nur zum Ende des Geschäftsjahres erfolgen kann und dass außerdem eine sechsmonatige Kündigungsfrist gilt. In diesem Fall bewirkt eine am 30.6. dem Verein zugegangene Austrittserklärung ein Ausscheiden aus dem Verein zum Ende desselben Jahres; geht die Erklärung jedoch erst am 1.7. zu, dann endet das Mitgliedschaftsverhältnis erst mit dem Auslaufen des folgenden Jahres. § 39 BGB steht dieser Folge nicht entgegen, er schließt in Absatz 2 lediglich aus, dass der Betreffende gezwungen wird, mehr als zwei Jahre auf die Beendigung der Mitgliedschaft zu warten.
Über die Form der Austrittserklärung wird in § 39 BGB nichts gesagt. Die Satzung kann deshalb auch in diesem Punkte Vorgaben machen. Üblich ist die Schriftform (§ 127 Abs. 1 BGB). Ähnliches gilt für die Frage, ob die Austrittserklärung auch durch einen Vertreter abgegeben werden kann. Dies ist zu bejahen, sofern nicht etwas anderes in der Satzung geregelt ist (Reichert, Handbuch Vereins- und Verbandsrecht, 12. Aufl. 2010, Rn 1097). Ist aber das Mitglied dauerhaft dermaßen eingeschränkt, dass die Erklärung nur noch von einem Vertreter (einem Betreuer oder einem Angehörigen) abgegeben werden kann, so darf die Vertretung nicht ausgeschlossen werden.
Kann eine einmal abgegebene Austrittserklärung auch wieder zurückgenommen werden?
Tritt nach der Satzung - was selten der Fall sein dürfte - bereits mit dem Zugang der Austrittserklärung das Ende der Mitgliedschaft ein, so ist von diesem Moment an eine Rücknahme der Austrittserklärung nicht mehr möglich. Das Mitglied kann allenfalls erneut wieder in den Verein eintreten. Ist hingegen geregelt, dass die Wirkungen der Austrittserklärung erst später eintreten (nach Ablauf der Kündigungsfrist und/oder zum Jahresende), so kann das Mitglied in dieser Zwischenzeit die Austrittserklärung auch wieder zurücknehmen - aber nur mit Zustimmung des Vereins!
Die Kündigung der Mitgliedschaft ist auch aus "wichtigem Grund" möglich.
Zwischen dem Verein und seinem Mitglied besteht ein so genanntes "Dauerschuldverhältnis". Dort ist nicht nur die ordentliche Kündigung, sondern grundsätzlich auch die Kündigung aus wichtigem Grund und mit sofortiger Wirkung möglich. Geregelt ist dies in den allgemeinen Regeln des Schuldrechts, und zwar in § 314 BGB. Dieser lautet:
"§ 314 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund
(1) Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
(2) Besteht der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Vertrag, ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig. § 323 Abs. 2 findet entsprechende Anwendung.
(3) Der Berechtigte kann nur innerhalb einer angemessenen Frist kündigen, nachdem er vom Kündigungsgrund Kenntnis erlangt hat.
(4) Die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, wird durch die Kündigung nicht ausgeschlossen."
Anders als bei der ordentlichen Kündigung, die keiner Begründung bedarf, hat der Betreffende bei einer Kündigung aus wichtigem Grund überzeugend darzulegen, warum ihm die weitere Fortsetzung der Mitgliedschaft nicht mehr zuzumuten ist, und zwar auch nicht für die Zeit, die eine ordentliche Kündigung in Anspruch nehmen würde. Wann aber sind die Grenzen des Zumutbaren überschritten? Um dies zu klären, ist gemäß § 314 Absatz 1 Satz 2 BGB eine Abwägung vorzunehmen, die die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die dem Betroffenen konkret drohenden Belastungen, aber auch die Interessen des Vereins einbezieht. Das Ergebnis der Abwägung muss eindeutig sein. Dies spricht dafür, dass die Messlatte sehr hoch liegt. Und dementsprechend liest man auch in einem älteren Lehrbuch (Sauter/Schweyer, Der eingetragene Verein, 7. Aufl. 1968, S.35) Aussagen wie diese: Grundsätzlich sei eine Kündigung nur für den Schluss des Geschäftsjahres (und ein entsprechendes Warten müssen auf diesen Zeitpunkt) immer zuzumuten. Eine außerordentliche Kündigung der Vereinsmitgliedschaft sei deshalb überhaupt nur in strengen Ausnahmefällen möglich, und zwar wenn der Verbleib im Verein bis zum Ende der Kündigungsfrist für den Betreffenden eine "unerträgliche Belastung" bedeuten würde. In einem neueren Kommentar (Reichert s.o., Rn. 1115) liest man dagegen folgende Sätze: "Die Austrittsgründe müssen einen Vereinsbezug haben. Sie können allein in der Sphäre des kündigenden Mitglieds liegen (Wegzug, Verarmung, erhebliche und länger andauernde Krankheit) oder in der Sphäre des Vereins, aber auch in dem Verhalten von Vereinsmitgliedern außerhalb einer Mitgliederversammlung." Ein sofortiger Austritt komme "insbesondere" in Betracht "bei wirtschaftlichen Belastungen, die beim Eintritt in den Verein nicht vorhersehbar waren." Bedeutet dies, dass die Messlatte heute nicht mehr so hoch liegt? Wir meinen: nein. Denn was sich geändert hat, sind nicht die Bewertungskriterien, sondern die auftretenden Streitfälle: Dominierten früher die "Idealvereine" mit ihren idealistischen Zielen und mit Ausgaben, die keine hohen Beiträge erforderten, so spielen im heutigen Vereinswesen Konsumverhalten und wirtschaftliche Interessen eine markante Rolle. Der "Verein" ist heute oft nur noch ein Wirtschaftsunternehmen, das sich der Rechtsform des Vereins bedient. Dafür, dass "insbesondere bei unvorhergesehenen wirtschaftlichen Belastungen" ein sofortiger Vereinsaustritt ermöglicht werden muss (Reichert s.o.), ist eben nicht mehr der Taubenzüchterverein das Muster, sondern eher der teure Golfclub, den sich das eine oder andere Mitglied eines Tages nicht mehr leisten kann. Oder anders gesagt: Wir haben es heutzutage mit sehr unterschiedlichen Vereinen zu tun. Deshalb sind auch die gerichtlich entschiedenen Fälle immer nur schwer miteinander zu vergleichen. So viel wird man aber wohl sagen können: Je niedriger die Beiträge sind, desto eher ist die ordentliche Kündigung zum Jahresende zumutbar.
Bei einem Selbsthilfeverein, wie den Blinden- und Sehbehindertenvereinen werden Gründe für eine außerordentliche Kündigung selten anzunehmen sein.
Auch gesundheitliche Gründe werden als Begründung für einen notwendigen Direktaustritt nur dann ausreichen, wenn die ordentliche Kündigung und die damit verbundenen Belastungen unzumutbar sind. Zu beachten wäre außerdem § 314 Absatz 3 BGB: Wenn derjenige, der den Austritt erklärt (das kann auch ein Betreuer sein), wenn also dieser schon längere Zeit vorher wusste, dass ein weiteres Verbleiben des Mitglieds im Verein nicht mehr zumutbar ist, so ist ihm auch die Einhaltung der Kündigungsfrist noch zuzumuten.
Wie ist die Lage bei einem Wegzug (vom Ort eines Ortsvereins oder aus dem Land eines Landesvereins): Hier stellt sich zunächst die Frage, ob vielleicht der Wohnsitz des Betreffenden innerhalb des Vereinsgebiets nicht nur eine Voraussetzung für die Aufnahme in den Verein ist, sondern auch eine auflösende Bedingung für die Mitgliedschaft. In diesem Fall käme es auf eine Kündigungserklärung überhaupt nicht mehr an. Der Betreffende wäre mit dem Wegzug automatisch nicht mehr Mitglied. Dies müsste sich dann jedoch aus der Satzung eindeutig ergeben. Da dies kaum der Fall sein wird, geht es auch hier im Wesentlichen um die Frage: Ist eine ordentliche Kündigung zumutbar? Das wiederum hängt von den konkreten Folgen ab.
In vielen Satzungen ist geregelt, dass die Mitgliedschaft (direkt) mit dem Tod des Mitglieds endet. Doch auch wenn dies nicht in der Satzung geregelt ist, ergibt sich dies aus der "Höchstpersönlichkeit" des Mitgliedschaftsverhältnisses, die wiederum aus § 38 BGB, und zwar aus der dort geregelten Nichtvererblichkeit der Mitgliedschaft gefolgert wird (Bidinger, Verbands-Handbuch, 600 S. 40). Es bedarf hier also - anders etwa als bei einem Wohnungsmietvertrag - keiner Kündigung durch die Erben.
Das Ende der Mitgliedschaft hat auch Auswirkungen auf die Beitragspflicht:
Sind monatlich fällige Beitragszahlungen zu entrichten, so endet die Zahlungspflicht mit Ablauf des Monats, in dem das Mitgliedsverhältnis endet, also im Fall der ordentlichen Kündigung meist zum Ablauf des Geschäftsjahres oder eines Quartals, im Fall einer wirksamen Kündigung aus wichtigem Grund oder im Todesfall entsprechend früher. Die bis zu diesem Monat fälligen Beiträge sind zu zahlen. Wird nach Beendigung der Mitgliedschaft der Beitrag rückwirkend erhöht, so braucht der Betreffende die Erhöhung nicht mehr gegen sich gelten zu lassen. Anders, wenn die Beitragserhöhung (eventuell auch rückwirkend) noch vor der Beendigung der Mitgliedschaft beschlossen wird. Dieser Beschluss gilt dann auch für das Mitglied, das den Austritt bereits erklärt hat, auf die Beendigung der Mitgliedschaft aber noch warten muss. Das Mitglied muss dann die erhöhten Beiträge noch (nach)zahlen.
Nichts anderes gilt für Jahresbeiträge, die einmal im Jahr, etwa im 1. Quartal des betreffenden Jahres zu bezahlen sind. Hier aber stellt sich nun die Frage: Ist der volle Jahresbeitrag auch dann zu zahlen, wenn die Mitgliedschaft schon während des laufenden Jahres endet (durch Kündigung aus wichtigem Grund oder im Todesfall)? Oder ist der Jahresbeitrag gemäß der Dauer der im Verein verbrachten Zeit aufzusplitten? Nun: Die Satzung oder die Beitragsordnung kann ein solches Aufsplitten vorsehen. Wenn eine solche Regelung fehlt wird an sich der gesamte Jahresbeitrag geschuldet. Hier könnte aber ein Erlass des Beitrags ab dem zugrunde liegenden Ereignis im Kulanzweg erfolgen.
5.5 Haftungsfragen
Ein eingetragener Verein nimmt als juristische Person des Privatrechts am Rechtsverkehr teil. Die Rechtsfähigkeit ergibt sich aus § 21 BGB. Für den Verein handeln Personen. Gesetzliche Vertreter sind gem. § 26 BGB die Vorstandsmitglieder. Auf die Geschäftsführung des Vorstands finden gem. § 27 Abs. 3 BGB die für den Auftrag geltenden Vorschriften der §§ 664 bis 670 BGB entsprechende Anwendung. Die Aufgaben des Vorstandes ergeben sich aus der Satzung des Vereins.
Die Satzung kann gem. § 30 BGB vorsehen, dass für bestimmte Bereiche besondere Vertreter bestellt werden. Solche besonderen Vertreter sind z.B. die Bezirksgruppenleiter gem. § 11 der Satzung des BBSB. § 30 BGB lautet:
"Durch die Satzung kann bestimmt werden, dass neben dem Vorstand für gewisse Geschäfte besondere Vertreter zu bestellen sind. Die Vertretungsmacht eines solchen Vertreters erstreckt sich im Zweifel auf alle Rechtsgeschäfte, die der ihm zugewiesene Geschäftskreis gewöhnlich mit sich bringt."
Aber auch andere Personen können mit der Wahrnehmung von Aufgaben für den Verein betraut werden.
Aus den Handlungen des Vorstandes, der besonderen Vertreter oder anderer Personen kann dem Verein oder anderen Personen ein Schaden entstehen. Die Frage ist dann, wer haftet für den Schaden? Mit den damit zusammenhängenden Rechtsfragen befasst sich dieser Abschnitt.
Es geht um folgende Fragen:
Wofür ist ein Organmitglied oder ein besonderer Vertreter eines Vereins dem Verein oder Dritten gegenüber haftbar und damit schadensersatzpflichtig?
Können Schadensersatzansprüche für Schäden, die durch Handlungen oder Unterlassungen eines Organmitglieds oder eines besonderen Vertreters einem Dritten entstanden sind außer gegen den Schädiger auch gegen den Verein geltend gemacht werden?
Kann der Verein Regressansprüche gegen den Schädiger geltend machen?
Gibt es Einschränkungen für Schadensersatzansprüche oder Regressansprüche des Vereins gegen Organmitglieder oder besondere Vertreter?
Hat der für den Verein Handelnde, welcher von dem Geschädigten in Anspruch genommen worden ist, einen Befreiungsanspruch gegenüber dem Verein?
Wie ist die Rechtslage, wenn nicht ein Organmitglied oder ein sonstiger Vertreter, sondern ein Vereinsmitglied ohne eine solche Funktion den Schaden verursacht hat?
Einschlägig für die Beantwortung dieser Fragen sind die §§ 31 bis 31 b BGB.
5.5.1 Haftungsfragen für Organmitglieder und besondere Vertreter
Aus der Amtsführung von Vorstandsmitgliedern oder besonderen Vertretern (Organmitglieder) ergeben sich für den Verein und für sie persönlich weitreichende Haftungsfragen.
Wenn Vorstandsmitglieder oder besondere Vertreter in Ausübung ihrer Aufgaben Dritten einen Schaden verursacht haben ist gem. § 31 BGB der Verein zum Schadensersatz verpflichtet. § 31 BGB lautet:
"Der Verein ist für den Schaden verantwortlich, den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstands oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt."
§ 31 BGB rechnet dem Verein das Handeln seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter als eigenes Handeln zu. Er setzt voraus, dass der verfassungsmäßige Vertreter eine zum Schadensersatz verpflichtende Handlung begangen hat. Es ist gleichgültig, worauf die Schadensersatzpflicht beruht. § 31 BGB ist anzuwenden bei unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff. BGB), Vertragsverletzungen (§ 280 BGB), Verletzung vorvertraglicher Pflichten - so genannte culpa in contrahendo (§ 311 Abs. 2 und 3 BGB), positiver Vertragsverletzung (§ 241 Abs. 2 BGB), Schadensersatzpflicht des Anfechtenden (§ 122 BGB), Schadensersatzforderung statt der Leistung (§ 311a Abs. 2 BGB), schuldlosem, zum Schadensersatz verpflichtendem Handeln (§§ 228, 231, 904 BGB) (Palandt Rn. 2 zu § 31 BGB). Zu Einzelheiten zur Schadensersatzpflicht vgl. Abschnitt 2.4 mit Unterpunkten dieses Heftes.
Der für den Verein als Vorstand oder besonderer Vertreter Handelnde haftet dem Geschädigten für den Schaden gegebenenfalls nach §§ 823 ff. BGB.
Der Verein und der Handelnde sind in diesem Fall Gesamtschuldner (§ 840 BGB). D.h. der Gläubiger kann sich aussuchen, ob er den Verein, das handelnde Organmitglied oder beide zusammen in Regress nimmt.
Anspruchsgrundlagen für Schadensersatz- oder Regressansprüche des Vereins gegen den Vorstand oder besondere Vertreter ergeben sich aus dem schuldrechtlichen Organverhältnis, auf welches gem. § 27 Abs. 3 BGB die Vorschriften über den Auftrag der §§ 664 ff. BGB Anwendung finden. Wenn Organmitglieder ihre Pflicht verletzen und dadurch dem Verein ein Schaden entsteht, ergibt sich der Schadensersatzanspruch aus einer "positiven Vertragsverletzung".
Voraussetzungen für die persönliche Haftung des Vereinsvorstands oder der besonderen Vertreter sind neben dem Bestehen des Schuldverhältnisses als Vorstand oder besonderer Vertreter der Eintritt einer Pflichtverletzung, die Rechtswidrigkeit und das Verschulden hinsichtlich der Verletzungshandlung sowie der Eintritt eines Schadens. Anspruchsgrundlage für die Schadensersatzforderung aus dem zugrunde liegenden Schuldverhältnis ist § 280 Abs. 1 BGB. Dieser lautet:
"(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat."
Wenn der Verein wegen des Schadens in Anspruch genommen worden ist, hat er gegen den Schädiger einen Regressanspruch.
Eine Haftungseinschränkung für Schadensersatzansprüche oder Regressansprüche des Vereins gegen den Vorstand oder besondere Vertreter ergibt sich aus § 31 a BGB.
Wenn der Schädiger vom Geschädigten in Anspruch genommen worden ist, hat er unter den Voraussetzungen von § 31 a Abs. 2 BGB einen Befreiungsanspruch gegen den Verein.
5.5.1.1 Sachverhalte für die Haftung von Organmitgliedern
Die Verpflichtungen zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben sich für Vorstandsmitglieder gem. § 26 BGB und besondere Vertreter gem. § 30 BGB aus der Satzung des Vereins.
Eine Haftung für Schäden, welche von Vorstandsmitgliedern und besonderen Vertretern durch ihre Amtsführung dem Verein entstanden sind, ergibt sich aus ihren dem Verein gegenüber bestehenden Verpflichtungen. Der Vorstand hat nicht nur das Recht, sondern vor allem auch die Pflicht zur Geschäftsführung. Dazu gehören die Verpflichtung, die satzungsmäßigen Aufgaben des Vereins zu erfüllen, seine Ziele zu verfolgen, Beschlüsse umzusetzen und für die notwendigen organisatorischen Maßnahmen zu sorgen. Außerdem besteht die Pflicht, die anderen Organmitglieder und Vereinsgremien über ihre Geschäftsführung zu informieren. Vorstandsmitglieder sind verpflichtet, alles Zumutbare zu tun, um Schaden vom Verein abzuwenden. Wenn Organmitglieder ihre Pflichten verletzen und dadurch dem Verein ein Schaden entsteht, liegt eine "positive Vertragsverletzung" vor. Voraussetzung für eine persönliche Haftung ist schuldhaftes, d.h. vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln oder Unterlassen. Nicht entlasten kann sich der Vorstand mit dem Argument, er sei seiner Aufgabe nicht gewachsen und mit der Amtsführung überfordert gewesen. Wenn er nicht über die Fähigkeiten verfügt, die ihm sein Amt abverlangt, darf er das Amt nicht übernehmen.
Auch bei der Delegation von Vorstandsaufgaben auf einen hauptamtlich angestellten Geschäftsführer haftet der Vorstand, wenn er seinen Überwachungs- und Weisungspflichten nicht nachgekommen ist.
Die Haftung von Vorstandsmitgliedern und besonderen Vertretern für Schäden, die Dritten aus ihrer Amtsführung entstehen, ist, wie folgende Beispiele zeigen, sehr weitreichend:
Gegenüber Außenstehenden (dazu zählen etwa das Finanzamt, Kunden, Förderer) kann der Vorstand mit seinem Privatvermögen haften, wenn ein Organisationsmangel zu einem Schaden führt.
Wenn z.B. der verantwortliche Vorstand nicht dafür sorgt, dass Steuererklärungen gem. § 69 Abgabenordnung (AO) rechtzeitig abgegeben werden bzw. nicht genügend Vermögen zurückgelegt wird, um Steuerschulden zu begleichen, kann er persönlich in die Haftung genommen werden. Der Bundesfinanzhof hat entschieden, dass als steuerlicher Haftungsschuldner der Vorstandsvorsitzende, auch wenn er ehrenamtlich tätig ist, in gleicher Weise herangezogen wird wie der Geschäftsführer einer GmbH. Die Haftung ist in § 69 AO auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt.
Für nicht rechtzeitig bezahlte Sozialversicherungsbeiträge kann der Vorstand ebenfalls und zwar strafrechtlich haftbar gemacht werden (§ 266a StGB). Danach wird, "wer als Arbeitgeber der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthält, ... mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft".
Weiter ist zu denken an die Ausstellung falscher Spenden-Bescheinigungen oder der Fehlverwendung von zweckgebundenen Fördergeldern.
Der Vorstand hat gem. § 40 Abs. 2 BGB im Falle der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen. Wird die Stellung des Antrags verzögert, so sind die Vorstandsmitglieder, denen ein Verschulden zur Last fällt, den Gläubigern für den daraus entstehenden Schaden verantwortlich; sie haften als Gesamtschuldner.
Bei Veranstaltungen des Vereins obliegt dem Vorstand die sog. Verkehrssicherungspflicht, d.h., er muss dafür sorgen, dass alle notwendigen Vorkehrungen getroffen werden, um die Teilnehmer vor Schaden zu bewahren.
Nimmt er diese Pflicht nicht wahr, kann er persönlich haften.
Wenn der Schaden durch Handlungen von Mitarbeitern des Vereins oder Beauftragten verursacht werden, kann das Versäumnis des Vorstandsmitglieds in der Auswahl ungeeigneter Personen oder in einer unzureichenden Überwachung liegen.
Wenn einem Dritten aus einem Vertrag, welchen der Vorstand als gesetzlicher Vertreter des Vereins mit ihm abgeschlossen hat, ein Schaden entstanden ist, haftet ihm gegenüber der Vorstand nicht; denn aus diesem Vertrag wird allein der Verein verpflichtet (§ 278 BGB). Etwas anderes gilt nur dann, wenn in der Vertragsverletzung zugleich auch eine unerlaubte Handlung im Sinn von § 823 BGB liegt oder Verschulden bei Vertragsschluss anzunehmen ist. Die obigen Ausführungen gelten für besondere Vertreter im Sinn von § 30 BGB für ihren satzungsmäßig festgelegten Aufgabenbereich entsprechend.
5.5.1.2 Haftungseinschränkung, Regressanspruch und Befreiungsanspruch
Da auf die Geschäftsführung durch den Vorstand gem. § 27 Abs. 3 BGB die Bestimmungen über den Auftrag gelten, ist Anspruchsgrundlage für einen Schadensersatzanspruch des Vereins gegen Organvertreter § 280 BGB in Verbindung mit §§ 662 ff. BGB.
Wenn der Verein vom Geschädigten in Anspruch genommen worden ist, stellt sich die Frage, ob er einen Regressanspruch gegen das Vorstandsmitglied oder den besonderen Vertreter hat.
Dazu ist Voraussetzung, dass eine zum Schadensersatz führende Handlung des Vorstands oder besonderen Vertreters auch eine Pflichtverletzung gegenüber dem Verein darstellt. Das wird in aller Regel der Fall sein, da zu den Pflichten gehört, Schaden vom Verein abzuwenden.
Der Haftungsmaßstab ergibt sich grundsätzlich aus § 276 BGB, d.h. Vorstand und besondere Vertreter haften für Vorsatz und jede Form der Fahrlässigkeit, also auch für einfache Fahrlässigkeit. Fahrlässig handelt gem. § 276 Abs. 2 BGB, "wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt." In Rechtsprechung und Lehre wird dabei zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit unterschieden.
Haftungseinschränkungen für Schadensersatzansprüche oder Regressansprüche des Vereins gegen Vorstandsmitglieder oder besondere Vertreter ergeben sich aus § 31 a Abs. 1 BGB. Dieser lautet:
"(1) Sind Organmitglieder oder besondere Vertreter unentgeltlich tätig oder erhalten sie für ihre Tätigkeit eine Vergütung, die 720,00 Euro jährlich nicht übersteigt, haften sie dem Verein für einen bei der Wahrnehmung ihrer Pflichten verursachten Schaden nur bei Vorliegen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit. Satz 1 gilt auch für die Haftung gegenüber den Mitgliedern des Vereins. Ist streitig, ob ein Organmitglied oder ein besonderer Vertreter einen Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat, trägt der Verein oder das Vereinsmitglied die Beweislast."
Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfaltspflicht in besonderem Maße verletzt wird.
Wenn das Entgelt höher ist, besteht die Haftung gegenüber dem Verein auch für einfache Fahrlässigkeit.
Die Haftung für leichte Fahrlässigkeit kann aber in diesen Fällen im Innenverhältnis - nicht gegenüber Außenstehenden! - durch eine Regelung in der Satzung ausgeschlossen werden.
Eine Haftungsbegrenzung bis hin zu einem Haftungssauschluss kann sich aus einer Weisung durch die Mitgliederversammlung ergeben; denn der Vereinsvorstand ist an die rechtmäßigen Weisungen der Mitgliederversammlung gebunden, § 27 Abs. 3 BGB in Verbindung mit § 665 BGB. Auch eine Genehmigung oder Zustimmung der Mitgliederversammlung kann einer Haftung entgegen stehen. Gerade bei riskanten Vorgängen sollte daher die Entscheidung der Mitgliederversammlung herbeigeführt werden.
Eine Einschränkung der Haftung der Organmitglieder kann sich auch durch die Entlastung in der Mitgliederversammlung ergeben. Die Entlastung bedeutet Anspruchsverzicht seitens des Vereins. Das gilt aber nur für Sachverhalte, die der Mitgliederversammlung z.B. durch eine eingehende Information im Geschäftsbericht oder durch die Aussprache bekannt sind.
Eine Haftungsbeschränkung für den Vorstand oder weitere Vertreter auch für grobe Fahrlässigkeit kann nur durch eine Regelung in der Satzung oder durch Beschluss in der Mitgliederversammlung erfolgen. Sie könnte in der Satzung auch in der Weise vorgenommen werden, dass bei grober Fahrlässigkeit die Haftung auf einen bestimmten Betrag beschränkt wird.
Wenn das Vorstandsmitglied oder der besondere Vertreter vom Geschädigten in Anspruch genommen worden ist, erhebt sich die Frage, ob er einen Befreiungsanspruch gegen den Verein hat.
Anders als der Schadensersatzanspruch oder Regressanspruch des Vereins gegen Organmitglieder oder besondere Vertreter kann der Schadensersatzanspruch Dritter nicht beschränkt werden. Ihnen gegenüber besteht also die Haftung auch für jede Fahrlässigkeit.
Ob ein Befreiungsanspruch des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds oder besonderen Vertreters gegenüber dem Verein besteht, richtet sich nach § 31 a Abs. 2 BGB. Dieser lautet:
"(2) Sind Organmitglieder oder besondere Vertreter nach Absatz 1 Satz 1 einem anderen zum Ersatz eines Schadens verpflichtet, den sie bei der Wahrnehmung ihrer Pflichten verursacht haben, so können sie von dem Verein die Befreiung von der Verbindlichkeit verlangen. Satz 1 gilt nicht, wenn der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht wurde."
5.5.2 Haftung von Vereinsmitgliedern
Für den Verein handeln nicht nur Organmitglieder oder besondere Vertreter, sondern häufig auch andere Vereinsmitglieder, sei es im Rahmen ihrer Pflichten als Mitglied oder auf Grund eines Auftrags. Sie helfen z.B. bei der Durchführung von Veranstaltungen. Das können z.B. Versammlungen, Begegnungsveranstaltungen oder Ausflüge sein. Dabei aber können dem Verein, anderen Vereinsmitgliedern oder auch sonstigen Personen Schäden entstehen.
5.5.2.1 Anspruchsgrundlagen für die Haftung von Vereinsmitgliedern
Anspruchsgrundlagen für Schadensersatzforderungen des Vereins können sich aus dem zugrunde liegenden Schuldverhältnis ergeben. Das kann z.B. ein Auftrag nach den §§ 662 ff. BGB oder wenn die Tätigkeit ohne Erteilung eines Auftrags, z.B. spontan bei einer Versammlung vorgenommen wird, eine Geschäftsführung ohne Auftrag nach den §§ 677 ff. BGB sein. Anspruchsgrundlage kann auch eine unerlaubte Handlung im Sinn der §§ 823 ff. BGB sein.
Wenn durch die Handlung anderen Vereinsmitgliedern oder sonstigen Personen ein Schaden entsteht, kommt als Anspruchsgrundlage für den Schadensersatz eine Pflichtverletzung aus dem Auftrag unerlaubte Handlung im Sinn der §§ 823 ff. BGB in Frage.
5.5.2.2 Haftungseinschränkung und Befreiungsanspruch
Nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. "Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt" (§ 276 Abs. 2 BGB).
Wenn das dem Schadensersatzanspruch zugrunde liegende Schuldverhältnis eine Geschäftsführung ohne Auftrag im Sinn von § 677 BGB ist, ergibt sich aus § 678 BGB eine erhöhte Haftung. Wenn in diesem Fall die Übernahme der Geschäftsführung mit dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn in Widerspruch steht und der Geschäftsführer dies erkennen musste, so ist er dem Geschäftsherrn zum Ersatz des aus der Geschäftsführung entstehenden Schadens auch dann verpflichtet, wenn ihm ein sonstiges Verschulden nicht zur Last fällt.
Eine Haftungseinschränkung für Schadensersatzansprüche des Vereins gegenüber Vereinsmitgliedern enthält § 31 b Abs. 1 BGB. Dieser lautet:
"(1) Sind Vereinsmitglieder unentgeltlich für den Verein tätig oder erhalten sie für ihre Tätigkeit eine Vergütung, die 720,00 Euro jährlich nicht übersteigt, haften sie dem Verein für einen Schaden, den sie bei der Wahrnehmung der ihnen übertragenen satzungsgemäßen Vereinsaufgaben verursachen, nur bei Vorliegen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit. § 31 a Absatz 1 Satz 3 ist entsprechend anzuwenden. Das bedeutet, dass der Verein die Beweislast trägt, wenn streitig ist, ob der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht worden ist."
Wenn die Vergütung höher als 720,00 Euro jährlich liegt, besteht die Haftung auch für einfache Fahrlässigkeit.
Aus der Tätigkeit kann auch gegenüber einem Dritten oder auch einem anderen Vereinsmitglied die Verpflichtung zum Schadensersatz bestehen. Ob in diesem Fall gegenüber dem Verein ein Befreiungsanspruch besteht, ergibt sich aus § 31 b Abs. 2 BGB. Dieser lautet:
"(2) Sind Vereinsmitglieder nach Absatz 1 Satz 1 einem anderen zum Ersatz eines Schadens verpflichtet, den sie bei der Wahrnehmung der ihnen übertragenen satzungsgemäßen Vereinsaufgaben verursacht haben, so können sie von dem Verein die Befreiung von der Verbindlichkeit verlangen. Satz 1 gilt nicht, wenn die Vereinsmitglieder den Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht haben."
Zum Befreiungsanspruch von Vereinsmitgliedern gegenüber dem Verein vgl. Urteil des OLG Schleswig-Holstein vom 24.09.2009 (Az.: 11 U 156/08).
Bereits im Jahre 2004 hat der BGH eine Freistellungsverpflichtung eines Vereins gegenüber seinen Mitgliedern eingeführt. Dies gilt dann, wenn ein Mitglied satzungsmäßige Aufgaben durchgeführt hat und dabei eine damit typischerweise verbundene Gefahr verwirklicht wurde. Das Mitglied darf dabei weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt haben (BGH-Urteil vom 13. 12. 2004 -II ZR 17/03 ).
Die Grundsätze der internen Haftungsfreistellung gelten danach grundsätzlich für alle Mitglieder des Vereins, die in dessen Auftrag tätig werden und dabei typische Haftungsrisiken und Schäden verwirklichen.
In der amtlichen Begründung zu § 31b BGB heißt es:
"Die Vereinsaufgaben müssen dem Mitglied vom Verein übertragen worden sein, d. h. das Vereinsmitglied muss mit der Aufgabenwahrnehmung vom Verein beauftragt worden sein. Nur dann ist es gerechtfertigt, den Verein für etwaige Schäden, die das Vereinsmitglied verursacht hat, aufkommen zu lassen. Nimmt ein Vereinsmitglied Vereinsaufgaben ohne Wissen des Vereins wahr, dann ist es nicht gerechtfertigt, die Haftung des Vereinsmitglieds gegenüber dem Verein zu beschränken oder dem Vereinsmitglied einen Anspruch auf Befreiung von der Haftung gegenüber Dritten zu gewähren."
Solche ehrenamtlich tätige Beauftragte kommen in Selbsthilfeorganisationen für blinde und sehbehinderte Menschen häufig zum Einsatz, z.B. zur Beratung von Mitgliedern oder anderen sehgeschädigten Personen oder im Rahmen von Hausbesuchsdiensten.
5.5.3 Empfehlung zum Versicherungsschutz
Die weitgehende Haftung aus der Tätigkeit von Organmitgliedern oder sonstigen Vertretern für Schäden, die durch ihre Tätigkeit verursacht werden können, kann viele davon abhalten, eine solche Funktion zu übernehmen.
Auch Mitglieder, die ohne Organmitglied oder besonderer Vertreter zu sein, ehrenamtlich und damit in der Regel unentgeltlich für den Verein tätig sind, tragen ein hohes persönliches Haftungsrisiko. Das könnte ebenfalls dazu führen, nur noch schwer ehrenamtliche Helfer zu finden.
Den Vereinen wird deshalb dringend empfohlen, für einen Versicherungsschutz dieser Personen durch eine Haftpflichtversicherung des Vereins und eine Vermögensschadenshaftpflichtversicherung zu sorgen.
Die unter 5.5.2.2 behandelten Haftungseinschränkungen und Befreiungsansprüche kommen nur Vereinsmitgliedern zugute. Auch ein Versicherungsschutz würde wohl auf Vereinsmitglieder beschränkt. Häufig übernehmen bei Selbsthilfeorganisationen Ehegatten oder Partner von Mitgliedern Aufgaben bei Veranstaltungen. Hier könnte es hilfreich sein, solchen Helfern eine "fördernde" Mitgliedschaft anzubieten.
6 Literaturhinweise
- Blinde im Geltenden Recht 6. Auflage
- Leitfaden zum Vereinsrecht, herausgegeben vom BMJ
- G. Riederle, Der Blindenführhund - Hilfsmittel mit Seele, Reha-Verlag, Bonn 1990
- Looschelders, Dirk: Schuldrecht besonderer Teil. 6. Auflage, München 2011
- Palandt, Kommentar zum BGB
7 Impressum
Schriftenreihe: Rechtsberatung für blinde und sehbehinderte Menschen
Heft 09 "Blinde und sehbehinderte Menschen im privaten Rechtsverkehr"
Stand: März 2014
Von: Dr. Herbert Demmel und Karl Thomas Drerup
Herausgeber: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. und Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.
Diese Schriftenreihe widmen wir dem Andenken an Dr. Dr. Rudolf Kraemer. Zu seiner Person vgl. Heft 01 Abschnitt 1.