horus 3/2013 - Die Politik und wir

Inhaltsverzeichnis

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Liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder,

Was für"n Ticker ist ein Poli-Ticker, so fragt Georg Kreisler sich und uns in einem seiner bissig-realistischen Chansons. Nun, liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder, auch nach der Lektüre von Horus 3/2013 werden wir alle darauf keine abschließende Antwort haben. Gleichwohl sollten Sie das Heft jetzt nicht schon resigniert zur Seite legen; denn es gibt vieles zu erfahren auf den nächsten Seiten, so etwa über die Rolle zweier blinder bzw. sehbehinderter Landtagsabgeordneter in den Beiträgen von Irene Müller und Birgit Rydlewski, über den Job eines Landesbehindertenbeauftragten im Artikel von Dr. Joachim Steinbrück oder über den Kampf zur Berücksichtigung von Barrierefreiheit in Gesetzen über den elektronischen Rechtsverkehr und die elektronische Verwaltung im Bericht von Uwe Boysen.

Daran zeigt sich deutlich, wie sehr wir alle von Politik betroffen sind. Und auch die Behindertenrechtskonvention - unsere Allzweckwaffe im täglichen Scharmützel mit Behörden und privaten Organisationen - hat hierzu etwas zu sagen: Artikel 29 verpflichtet die Vertragsstaaten nämlich unter anderem, eine diskriminierungsfreie Teilhabe behinderter Menschen "an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten" zu gewährleisten. Dieser Anspruch muss aber auch von uns eingefordert und dann erfüllt werden. Wollen wir der Politik nicht ausgeliefert sein, so müssen wir uns immer wieder einmischen, unseren Standpunkt vertreten, Überzeugungsarbeit leisten, aber auch einmal mit härteren Bandagen kämpfen, wenn wir sonst nicht vorankommen. Politische Arbeit, sei es nun auf einer großen oder einer kleineren Bühne, bleibt anstrengend, manchmal frustrierend und ist wohl nur selten mit anhaltenden Glücksgefühlen verbunden. Nicht umsonst stehen Politikerinnen und Politiker auf der Beliebtheitsskala der Deutschen nicht gerade ganz weit oben. Wenn wir es aber mit der Volksherrschaft (und nichts anderes heißt ja Demokratie) Ernst nehmen, bleibt uns diese Arbeit nicht erspart, die der große deutsche Soziologe Max Weber einmal als das Bohren dicker Bretter bezeichnete. In diesem Sinne: Werden wir alle zu Tischlerinnen und Tischlern! Das wünscht sich und uns allen

Ihr und Euer

Uwe Boysen

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In eigener Sache

Die Politik und wir

Im September stehen die Bundestagswahlen und Landtagswahlen in Hessen und Bayern an. Ein Grund, sich mit dem Thema Politik zu befassen und den Schwerpunkt dieser horus-Ausgabe unter dem Motto "Die Politik und wir" zu gestalten. Wie können wir als Bürgerinnen und Bürger die Politik aktiv mitgestalten, was macht Politik mit uns, und womit beschäftigt sich ein Landesbehindertenbeauftragter? Antworten auf diese und andere Fragen liefern die Beiträge des Schwerpunkts. Die horus-Redaktion wünscht viel Freude bei der Lektüre!

horus spezial erscheint im September

Komplexe, relevante Themen sind es Wert, sich grundlegend mit ihnen auseinanderzusetzen. Im September wird aus diesem Grund eine horus spezial-Ausgabe erscheinen, die sich intensiv mit dem Gesetz zur sozialen Teilhabe befasst. Im Zentrum der Ausgabe stehen Ausführungen von Dr. Herbert Demmel zu den Entwicklungen bezüglich des Gesetzes zur sozialen Teilhabe. Die Ausgabe des horus spezial bietet Ihnen weiterhin die Möglichkeit, sich über die Eckpunkte eines Gesetzentwurfes zu informieren, die vom Forum blinder Juristinnen und Juristen erarbeitet wurden. Der Koordinator der Kampagne für gesetzliche Regelungen zur sozialen Teilhabe, Ottmar Miles-Paul wird im Interview über die neuesten Entwicklungen bezüglich des Gesetzes zur sozialen Teilhabe sprechen. DVBS und DBSV haben im vergangenen Jahr eine gemeinsame Fachtagung zu diesem Thema veranstaltet. horus-Abonnenten erhalten diese Sonderausgabe wie gewohnt per Post.

"Übergänge": Ausblick auf die nächste Ausgabe

Das horus-Jahr neigt sich dem Ende entgegen, in der Redaktion wird bereits an den Beiträgen für die letzte Ausgabe des Jahres gearbeitet. horus 4/2013 erscheint am 25. November mit dem Schwerpunkt "Übergänge". Übergänge begegnen uns im Leben in vielen Situationen: Der Übergang von der Schule ins Studium oder in den Beruf ist ein entscheidender Einschnitt, ebenso wie der Schritt aus dem Berufsleben in den Ruhestand. Auch der (schleichende) Übergang von der Sehbehinderung zur Blindheit beschäftigt viele Leserinnen und Leser. Welche Übergänge sind oder waren für Sie von besonderer Bedeutung? Welche Rolle hat Ihre Behinderung bei der Bewältigung der für Sie wichtigen Übergänge gespielt? Gerne können Sie Ihre Beiträge zum Thema wie gewohnt per E-Mail an die horus-Redaktion schicken: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Redaktionsschluss ist der 1. Oktober 2013.

Berichte für den Schwerpunkt können bis zu 10.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) lang sein. Gerne können Sie auch Beiträge zu den anderen horus-Rubriken einsenden. Diese allgemeinen Berichte können bis zu 4.000 Zeichen lang werden. Kürzere Meldungen sollten eine Länge von 2.000 Zeichen nicht überschreiten.

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Schwerpunkt: Die Politik und wir

Dr. Heinz Willi Bach

Politik - praktisch und hautnah

Skandal in der Bundesagentur für Arbeit

Vor elf Jahren kostete der sogenannte Vermittlungsskandal - auch Statistikskandal genannt - den beliebten Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit (BA), Bernhard Jagoda den Kopf. Die Sache kam heraus durch einen bei der BA beschäftigten Statistiker, der den Whistleblower gab.

Dieses Mal ist der Whistleblower ein hochoffizieller, der Bundesrechnungshof, der der BA Diskriminierung und Manipulation nachweist. Es herrscht Wahlkampf und was geschieht? Kaum etwas. Zwar feuern "Spiegel" und "Spiegel online", was das Zeug hält, aber die BA konterte mit einer schnellen Presseerklärung. Die übrigen Medien steigen kaum ein. Im Gegenteil: In der FAZ konnte man am 5. Juli 2013 eine richtiggehende Ergebenheitsadresse an Frank-Jürgen Weise, den Vorstandsvorsitzenden der BA lesen. Zwar fordert Brigitte Pothmer, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Bundestags-Grünen Rechenschaft von Weise und der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, zwar steigt z.B. die Liga der hessischen Wohlfahrtsverbände mit Erklärungen ein, aber Breitenwirkung erzeugt das alles offenbar nicht. An dieser Stelle sind nun alle professionellen und Laienpolitologen aufgefordert, Hypothesen zu entwickeln, warum ...

Mit Hypothesen hält sich allerdings die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe nicht auf. Der Prüfbericht des Bundesrechnungshofs förderte nämlich auch spezifische Diskriminierungen zum Nachteil von schwerbehinderten Bewerbern und Rehabilitanden zutage. Er wies auch nach, was wir lange schon vermutet und den Aussagen unserer Mitglieder entnommen haben und empfahl, was bereits seit langer Zeit unsere Forderung an die Politik ist.

Dies nehmen der Vorsitzende des DVBS und die Präsidentin des DBSV zum Anlass, einen offenen Brief sowohl an die Bundesministerin für Arbeit und Soziales als auch an den Vorsitzenden des Vorstandes der BA zu richten, der nachfolgend abgedruckt ist.

Frau Dr. Ursula von der Leyen
Bundesministerin für Arbeit und Soziales
Wilhelmstraße 49
10117 Berlin

Vorab per Fax an ...

Herrn Frank-Jürgen Weise
Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit
Regensburger Straße 104
90478 Nürnberg

Vorab per Fax an ...

Berlin/Marburg, 12. Juli 2013

Offener Brief - Bericht des Bundesrechnungshofes zu Prozesssteuerung und Controlling der Bundesagentur für Arbeit: Schwerbehinderte Arbeitslose erfahren Diskriminierung in mehrfacher Hinsicht

Sehr geehrte Frau Bundesministerin Dr. von der Leyen,

sehr geehrter Herr Weise,

mit überaus großer Sorge haben der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf den Bericht des Bundesrechnungshofes (Gz.: VI 3 - 2011 - 0116 Bonn, vom 7. November 2012) über die Prüfung der Steuerung der Zielerreichung in den strategischen Geschäftsfeldern zur Kenntnis nehmen müssen. Als Vertreter der ca. 1,2 Mio. blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland müssen wir Ihnen die Sorgen und Befürchtungen schwerbehinderter Arbeitsuchender - blinde Menschen gelten sogar als besonders betroffene Arbeitsuchende - auf diesem Wege mitteilen.

  1. Zusätzlich zur allgemeinen Diskriminierung Arbeitsloser durch sog. Creaming (Bestenauslese ohne Rücksicht auf soziale und sonstige Verpflichtungen unter der Maßgabe, quantitative Zielgrößen zu erreichen - und damit gegen das Gebot der Fairness) müssen wir eine spezielle zusätzliche Diskriminierung von schwer- und schwerstbehinderten Arbeitsuchenden konstatieren. Der BRH-Bericht formuliert: "In einigen Fällen stellten wir ein ,Creaming" auch innerhalb marktfernerer Kundengruppen wie beispielsweise der Gruppe der Älteren oder der Schwerbehinderten fest. So bezogen die Agenturen bevorzugt marktnahe Schwerbehinderte oder Ältere in ihre Vermittlungsbemühungen ein." Diese Aussage wird durch drei Praxisbeispiele bekräftigt. Erfahren zu müssen, dass das Steuerungs- und Controlling-System der Bundesagentur für Arbeit sogar zu systematischer Selektion und Schichtung unter schwerbehinderten Menschen führt, um "Zahlen zu machen", ist für uns sehr bitter und empört uns zutiefst. Wir erwarten, dass Verfahren, die zu solchen Resultaten führen, unverzüglich abgestellt werden.
  2. Dem Gutachten müssen wir ferner entnehmen: "Die Agenturen beschränkten den Sofortzugang in der Regel auf bestimmte Kundengruppen. ... Die übrigen Kundengruppen sollten den Sofortzugang nicht nutzen. Sie erhielten einen (späteren) Termin bei einer Vermittlungsfachkraft. Die meisten Agenturen schlossen bestimmte Kundengruppen vom Sofortzugang aus, z. B. ... Rehabilitanden und Schwerbehinderte." Wir empfinden es als nicht hinnehmbar, dass die Menschen, deren Interessen und Belange wir vertreten, durch innerbetriebliche Vorschriften der Bundesagentur derart systematisch diskriminiert werden. Aus Berichten unserer Mitglieder wissen wir, dass sie z. T. Monate auf einen Termin warten mussten und/oder lediglich mit Wartezeiten von vier bis sechs Monaten einen Beratungstermin erhielten. Werden die schwer- und schwerstbehinderten Menschen, auch wenn sie hoch qualifiziert und motiviert sind, durch solche Maßnahmen nicht systematisch in die Langzeitarbeitslosigkeit und in die Grundsicherung getrieben? Es ist noch nicht lange her, dass die Philosophie der damaligen Bundesanstalt für Arbeit lautete, jeder Person, die sich arbeitslos meldet, so früh und umfangreich wie möglich Vermittlungshilfen anzubieten, um Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Offensichtlich gilt das heute nicht mehr.
  3. Die oben geschilderten Verhältnisse sind uns vielfach durch unsere Mitglieder berichtet worden, die Kunden der Arbeitsagentur sind oder waren. Auf Nachfrage und Beschwerde hin wurde abgestritten, dass es ein entsprechendes Verhalten der Arbeitsagentur gebe bzw. wurde ein solches Verhalten als bedauerlicher Einzelfall dargestellt. Das Gutachten stellt nunmehr fest, dass systematisches Vorgehen aufgrund des Ziel- und Steuerungssystems der BA zu diesen nicht zu tolerierenden Ergebnissen führt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die Leitung der BA die berufliche Rehabilitation zu ihrem "Strategischen Geschäftsfeld IV" erklärte. Das BRH-Gutachten sagt: "Die Tatsache, dass wir in allen geprüften Agenturen Fehlsteuerungen festgestellt haben, zeigt, dass es sich um ein grundsätzliches Problem handelt."
  4. Wir stehen voll hinter der zentralen Aussage des BRH-Gutachtens, wonach die Bundesagentur ihre Zielsteuerung verändern und den Blick wieder auf das eigentliche Ziel, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und zu verkürzen, lenken muss. Zutreffend formuliert das Gutachten: "Die gesetzliche Aufgabe einer verstärkten vermittlerischen Unterstützung für Personen mit erschwerter beruflicher Eingliederung muss im Zielsystem Beachtung finden."

Ebenso unterstützen wir die im Folgenden im Gutachten empfohlenen Maßnahmen, die wir seit Langem mehrfach in verschiedensten Gremien den Vertretern der BA und dem BMAS vorgeschlagen haben:

"Dies könnte beispielsweise gelingen, indem Integrationen solcher Kunden höher gewichtet werden. Eine andere Möglichkeit könnte sein, Integrationsgrade speziell für Personen mit erschwerter beruflicher Eingliederung einzuführen oder die Zahl von Übertritten in Langzeitarbeitslosigkeit als neuen Indikator in das Zielsystem aufzunehmen." Um im Zielsystem Fairness und Wettbewerbsneutralität zu fördern und um dem Beratungs- und Vermittlungspersonal der Agenturen für Arbeit Anreize zu geben, schwerer vermittelbaren Kunden verstärkt zu Arbeitsplätzen zu verhelfen, empfehlen wir dringend einen Multiplikator, durch den die Vermittlung beispielsweise eines schwerbehinderten Bewerbers dreifach, diejenige eines besonders beeinträchtigten Bewerbers fünf- bis achtfach gezählt wird. Außerdem erneuern wir unsere seit Langem mehrfach geäußerte Forderung, die sog. RehaSB-Stellen personell quantitativ und qualitativ besser auszustatten und ihnen eigene ausreichende Budgets zur Verfügung zu stellen, die ausschließlich der Unterstützung dieser Personengruppen dienen. Man sollte hier auch durchaus an die Ausweitung von Rechtsansprüchen denken.

Sehr geehrte Frau Dr. von der Leyen, sehr geehrter Herr Weise, als Vertreter der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe bitten wir Sie um Aufklärung zu den geschilderten Fehlentwicklungen und fordern,

  • das Steuerungssystem der BA umgehend diskriminierungsfrei zu gestalten, insbesondere das sog. Creaming innerhalb der schwerer vermittelbaren Bewerber sofort einzustellen,
  • im Zielsystem - wie ausgeführt - den Vermittlungserfolg bei behinderten Bewerbern durch entsprechende Multiplikatoren aufwandsgerecht zu gestalten,
  • die besonderen Vermittlungsstellen für (schwer)behinderte Bewerber personell dem Aufwand entsprechend auszustatten und mehr in die Qualifizierung dieses spezialisierten Personals zu investieren sowie
  • besondere Budgets ausschließlich für die Integration schwerbehinderter Menschen in den Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen.

Mit freundlichen Grüßen,

Renate Reymann
Präsidentin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V.

Uwe Boysen
Vorsitzender des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V.

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Uwe Boysen

Von der Mühsal, einen Gesetzentwurf zu ändern

Wie alles begann

Es war September 2011. In Saarbrücken fand der EDV-Gerichtstag statt; diesmal - anders als im Vorjahr und 2012 - ohne einen Informationsstand des DVBS. Aber präsent waren wir in Person von Andreas Carstens gleichwohl. Er brachte interessante bis beunruhigende Nachrichten von der Saar zurück. Er berichtete von zwei großen Gesetzgebungsverfahren, die dort vorgestellt worden waren und die - so waren wir uns sehr schnell einig - großen Einfluss auf die zukünftige Berufstätigkeit blinder und sehbehinderter Menschen allgemein, aber insbesondere auch für Juristinnen und Juristen mit Seheinschränkungen haben würden. Es ging einmal um einen Gesetzentwurf der Bundesländer zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz (E-Justice) und zum anderen um einen Entwurf zur Forcierung der elektronischen Verwaltung (E-Government), der im Bundesministerium des Inneren (BMI) ausgebrütet wurde. In beiden Entwürfen spielte das Thema Barrierefreiheit damals keine Rolle.

Die ersten Schritte

Zunächst galt es, den Entwurf juristisch zu analysieren und auch über technische Fragen mit unseren eigenen EDV-Experten zu sprechen, um später auf diesem Gebiet keine Fehler zu machen. So trafen sich einige DVBS-Aktivisten Anfang Februar 2012 zu einer ersten kleinen Telefonkonferenz. Ich persönlich war damals skeptisch, ob die Gesetzentwürfe es noch vor dem Ende der Legislaturperiode durch den Deutschen Bundestag schaffen würden. Das durfte uns jedoch nicht davon abhalten, unsere berechtigten Belange in diesem Kontext geltend zu machen und den Versuch zu unternehmen, die Entwürfe in Richtung Barrierefreiheit zu ändern. Folglich erstellte Andreas Carstens - unterstützt durch mich - für den DVBS und den DBSV eine erste Stellungnahme zum Länderentwurf, die wir den Länderjustizministerien zuleiteten. Damals waren unsere Vorstellungen, wie Barrierefreiheit in einen "guten" E-Justice-Entwurf einzubringen sei, noch relativ verschwommen. Wir wussten, dass es eine gesetzgeberische Verpflichtung zur Schaffung von Barrierefreiheit auch für die Justiz aus der Behindertenrechtskonvention heraus gab (vgl. deren Art. 9 und 13), konnten aber die Umsetzung noch nicht genau präzisieren und mussten uns zunächst auf allgemeine Ausführungen beschränken. Ebenso erging es uns beim Diskussionsentwurf zum E-Government-Gesetz, der den Verbänden immerhin offiziell mit der Bitte um Stellungnahme im Februar 2012 übersandt wurde.

Diskussionen ohne Fortschritt

Bei den anschließenden Diskussionsveranstaltungen hatten wir im März/April 2012 noch nicht die Gelegenheit, unseren Standpunkt im Rahmen eines gesonderten Referates vorzutragen, konnten aber in der allgemeinen Diskussion auf das Problem Barrierefreiheit hinweisen, das im E-Justice-Bereich Dank unserer Intervention jedenfalls schon in eine erste Stellungnahme des Deutschen Richterbundes aufgenommen worden war. Weitere Resonanz ernteten unsere Ausführungen damals kaum. Allerdings traute sich auch fast niemand, unseren Standpunkt offen zu kritisieren. Nur die Anbieter von sogenannten De-Mail-Programmen argumentierten, sie hätten nun einmal die Akkreditierung erhalten und seien nicht bereit, sich nachträglich mit neuen Anforderungen zur Barrierefreiheit auseinanderzusetzen.

Neue Perspektiven

Nach diesen eher enttäuschenden Reaktionen zeichnete sich im E-Justice-Bereich eine neue Entwicklung ab. Nicht nur die Länder legten zunächst einen Referentenentwurf vor, sondern auch das Bundesjustizministerium (BMJ) formulierte seinerseits einen Diskussionsentwurf, indes auch hier ohne gesetzliche Regelungen zur Barrierefreiheit. Immerhin wurde der Terminus in der Begründung erwähnt, ohne daraus Konsequenzen für den Entwurf selbst zu ziehen. Dann brachten die Länder im Sommer 2012 ihren Entwurf ohne Berücksichtigung von Barrierefreiheit in das Gesetzgebungsverfahren ein - für uns ein herber Schlag. Der Eindruck, dass sich hier nichts mehr bewegen würde, wurde bei einer Diskussionsveranstaltung in Wiesbaden im August 2012, an der Andreas Carstens teilnahm, noch verstärkt: in den dortigen Referaten kein Wort zur Barrierefreiheit. Nur in am Rande geführten Einzelgesprächen spiegelte sich die Hilflosigkeit der Gesetzesverfasser gegenüber unseren Forderungen in den Begründungen für die Nichtaufnahme in den Gesetzentwurf. Einmal wurde argumentiert, § 11 des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes und die vergleichbaren Vorschriften in den Ländergesetzen würden Barrierefreiheit ausreichend gewährleisten, wobei man schlicht übersah, dass diese Vorschriften gerade für den Justizbereich nicht gelten. Dann wurde ins Feld geführt, der 2002 eingeführte und 2007 modifizierte § 191a des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) löse das von uns angesprochene Problem. Auch das mussten wir zurückweisen, betraf die Vorschrift doch nur Dokumente und hat nichts mit den im Gesetzentwurf neu vorgeschriebenen elektronischen Übermittlungswegen für die Kommunikation zwischen Anwälten oder anderen Verfahrensbeteiligten und den Gerichten zu tun. Das letzte Argument war für mich der Offenbarungseid der Justizverwaltung: Barrierefreiheit der genutzten Programme, so wurden wir beschieden, sei absehbar schlicht nicht erreichbar und könne schon deshalb nicht ins Gesetz aufgenommen werden.

Unsere Annäherungen an die Politik

Was war in dieser Situation, in der wir den Eindruck hatten, auf gesetzgeberischen Granit zu beißen, weiter zu tun? Mit Hilfe bestehender Kontakte versuchten wir die Länderschiene über die dortigen Justizministerien und hatten - jedenfalls partiell - Erfolg. So gelang es, den Thüringischen Justizminister davon zu überzeugen, dass eine Nichtbeachtung von Barrierefreiheit für blinde und sehbehinderte Menschen eine katastrophale Entwicklung einleiten könnte. Und auch in Brandenburg wurde uns bei einem Gespräch mit dem dortigen Justizminister Verständnis für unser Anliegen signalisiert. Beide Länder setzten sich tatsächlich im Nachgang zu diesen Gesprächen im Bundesrat für die Aufnahme von Barrierefreiheit in den Gesetzentwurf der Länder ein. Allerdings gelang es nur, einen kurzen Passus in die Begründung einzufügen. Auch das war natürlich ein kleiner Erfolg, aber einer, mit dem wir noch nicht zufrieden sein konnten. Umso erfreuter waren wir, als zu E-Justice ein Referentenentwurf des BMJ auftauchte, in dem nicht nur in der Begründung, sondern auch in konkreten Vorschriften Barrierefreiheit verankert war. Das war ein erheblicher Etappensieg, wenngleich wir bei näherem Hinsehen feststellen mussten, dass längst noch nicht alle unsere Forderungen durch die geplanten Vorschriften erfüllt waren. Also galt es, auch zu diesem Referentenentwurf eine Stellungnahme zu entwerfen, die inzwischen schon sehr viel präziser als ihre Vorläuferinnen benennen konnte, welche Vorschriften nach unserer Auffassung zur Erreichung von Barrierefreiheit konkret erforderlich waren. Außerdem enthielt sie erstmals Beispiele, die zeigen sollten, welche Konsequenzen eine Ignorierung unserer Anliegen sowohl für blinde und sehbehinderte Rechtsanwälte, aber auch für andere Verfahrensbeteiligte haben würde.

Die Zielrichtungen der Entwürfe

Auch als der E-Government-Entwurf im September 2012 vom Bundeskabinett abgesegnet wurde, enthielt er - wie schon bei E-Justice - zur Barrierefreiheit nur eine unverbindliche Erwähnung in seiner Begründung. Da das Gesetzgebungsverfahren zu E-Justice weiter fortgeschritten war, konzentrierten wir unsere Bemühungen zunächst hierauf. Im Grunde sind es vier Bereiche, die mit Hilfe des neuen Gesetzes geregelt werden: Einmal geht es um die sogenannten Sicheren Elektronischen Übermittlungswege zwischen Anwalt oder einem sonstigen Verfahrensbeteiligten und dem Gericht. Weiter sollen die Verfahrensbeteiligten gezwungen werden, den Gerichten ausschließlich elektronische Dokumente auf den genannten sicheren Übermittlungswegen einzureichen. Sodann will das Gesetz die sogenannte Elektronische Akte einführen. Und schließlich enthält es die Ermächtigung zur Einführung elektronischer Formulare. Viele dieser Punkte finden sich auch im E-Government-Gesetz wieder. Für blinde und sehbehinderte Anwälte bedeutet vor allem die Verpflichtung, auf einem sogenannten Sicheren Übermittlungsweg mit den Gerichten zu kommunizieren, und die Einführung elektronischer Formulare ein großes Problem, wenn nicht gewährleistet ist, dass die Programme, die man zu einer solchen Übermittlung nutzen muss, barrierefrei ausgestaltet sind. Einen solchen Übermittlungsweg gibt es bereits in Form des elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP). Hier mussten wir darauf hinweisen, dass der Zugang zu diesem Dienst nicht barrierefrei ist. Als weiteren sicheren Übermittlungsweg sieht das Gesetz das sogenannte De-Mail-Verfahren vor. Es soll genutzt werden, da sicherere Verfahren, wie sie z. B. auch durch das Signaturgesetz bestehen, nach Ansicht der Gesetzesmacher wegen der Kompliziertheit bei ihrer Handhabung nicht genügend Anklang gefunden haben. De-Mail-Programme werden von privaten Firmen entwickelt und sind offenbar ein besonderes Steckenpferd der Regierungskoalition, aber auch einiger Länderjustizministerien. Jedenfalls hatten wir den Eindruck, als wenn sie unbedingt als Alternative gepusht werden müssten, und zwar bei E-Government noch mehr als bei E-Justice. Dass dabei auch massive finanzielle Interessen von Beteiligten aus der EDV-Branche eine Rolle spielen, lässt sich nur vermuten. Vor allem galt es für uns also, Anforderungen an Barrierefreiheit hinsichtlich des EGVP und des De-Mail-Gesetzes ins Verfahren einzuführen. Im dann vom Bundesjustizministerium vorgelegten Regierungsentwurf gelang das zumindest schon partiell.

Die heiße Phase

Für beide Gesetze begann Anfang 2013 die heiße Phase. Besonders schnell sollte es plötzlich bei E-Government gehen. Noch gerade rechtzeitig zur ersten Lesung im Bundestag, die in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 2013 stattfand, hatten wir auch eine Stellungnahme zum E-Government-Gesetz erstellt und den Abgeordneten des Bundestagsinnenausschusses übermittelt, von dem wir wussten, dass er das Gesetz federführend beraten würde. Der ließ sich auch nicht lange bitten und setzte das Vorhaben E-Government flugs auf seine Sitzung vom 13. März und wollte es mehrheitlich ohne wesentliche Änderungen an den Bundestag zurückgeben. Auf unseren Druck und den einiger Koalitionsabgeordneter sowie des Behindertenbeauftragten Hubert Hüppe - zur Erinnerung: Dieser Entwurf enthielt bislang keinerlei Regelungen zur Barrierefreiheit - tauchte plötzlich dazu ein neuer § 16 auf. Seine Formulierung, die - leider - inzwischen auch Gesetz geworden ist, strotzt allerdings nur so von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensspielräumen, so dass es schwer sein wird, aus ihm erheblichen "Honig zu saugen". Auch darauf versuchten wir noch zu reagieren und schlugen eine alternative Lösung vor, die wesentlich präziser gewesen wäre. In der schon erwähnten Sitzung des Innenausschusses setzten dann SPD und Grüne eine Anhörung zum Gesetzentwurf durch. Das war nur konsequent, hatten ihre Vertreter im Bundestag das Gesetz doch handfest kritisiert. In dieser Phase nahm auch der für die SPD federführende Abgeordnete Reichenbach mit uns Kontakt auf, um Näheres über unsere Argumente zu erfahren. Der von der SPD schließlich als Sachverständiger zur Anhörung im Innenausschuss entsandte Datenschutzbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dankert, war immerhin auch so freundlich, unseren Standpunkt in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Anhörung weiter zu transportieren. SPD und Grüne legten auch einen eigenen Text zu einem § 16 E-GovG vor, der unseren Intentionen jedenfalls erheblich näher kam, als die von der Koalition favorisierte Fassung. Vor der Mehrheit im Innenausschuss fand er jedoch keine Gnade, so dass das Gesetz schließlich am 18. April im Bundestag mit dem unzulänglichen § 16 verabschiedet wurde.

Unsere Hoffnungen auf Verbesserungen setzten wir noch auf den Bundesrat mit seiner Oppositionsmehrheit, der dem Gesetz zustimmen musste.

Schließlich hatte die Opposition ja schon im Bundestag nicht viele gute Haare am Vorhaben der Regierung gelassen. Also wandten wir uns mit Brandbriefen an die Staats- und Senatskanzleien aller Bundesländer. Teilweise halfen hier auch Bezirksgruppenleitungen des DVBS und Landesvereine des DBSV mit. Leider wurden unsere Erwartungen enttäuscht: Aus mehreren SPD-geführten Ländern wurde uns signalisiert, zwar sei man mit verschiedenen Punkten aus dem Gesetz auch dort nicht zufrieden. Man wolle es aber jetzt passieren lassen, da sein Hauptanliegen, die Verwaltung effektiver zu gestalten, auch von den Ländern geteilt werde. Vertröstet wurden wir auf die nächste Legislaturperiode. Da werde es Änderungen geben, und dann sei man auch bereit, weiter über Barrierefreiheit mit uns zu sprechen. Dass wir das nicht für überzeugend hielten und halten, will ich nicht verhehlen. Immerhin ließ sich der Bundesrat noch herbei, Entschließungsanträge von Thüringen und Baden-Württemberg zur Barrierefreiheit zu verabschieden, die der Bundesregierung ins Stammbuch schrieben, dass sie sich in der nächsten Legislaturperiode noch einmal mit dem Thema zu beschäftigen habe.

Die Entwicklung bei E-Justice

Für meinen Geschmack erheblich positiver verlief die Entwicklung bei E-Justice. Hier beschloss der Rechtsausschuss ohne Gegenwehr der Koalition eine öffentliche Anhörung für den 16. April. Dazu hagelte es geradezu Einladungen an uns, dort als Sachverständige mitzuwirken: Sowohl SPD und Grüne wie auch CDU baten um unsere Mithilfe, und so verfasste ich in Abstimmung mit Andreas Carstens eine Stellungnahme und hatte im Paul-Loebe-Haus genau wie alle anderen Sachverständigen fünf Minuten Zeit, sie zu begründen; ein Drahtseilakt, der halbwegs gelang. Auch andere Sachverständige unterstützten unsere Position; am klarsten wohl Prof. Herberger von der Universität Saarbrücken, Vater des EDV-Gerichtstages und ausgewiesener Rechtsinformatiker, der kurz und knapp erklärte, Barrierefreiheit nütze nicht nur blinden Menschen, sondern ein barrierefrei erstelltes EDV-Programm sei schlicht auch stets besser programmiert als ein anderes.

Wir plädierten für eine Verfahrensübergreifende Regelung im GVG, das bereits seit 2002 in § 191a eine - allerdings nur rudimentäre - Verpflichtung der Gerichte enthält, blinden und sehbehinderten Beteiligten Dokumente in einer für sie zugänglichen Form zur Verfügung zu stellen. Uns wurde daraufhin eine nochmalige Prüfung versprochen. Und in der Tat erreichte uns kurz darauf ein - offenbar zwischen den Regierungsfraktionen und dem BMJ abgesprochener - neuer Entwurf. Wir staunten allerdings nicht schlecht, als die für uns wichtigen Passagen hier nicht im GVG, sondern in der sogenannten Zugänglichkeitsmachungsverordnung auftauchten. Abgesehen davon, dass Verordnungen erheblich schneller aufgehoben werden können als Gesetze, bedürfen sie aber immer nach Art. 80 GG einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage. Die gab es nach unserer Ansicht hier so nicht, so dass wir die Idee der Abschiebung in eine Verordnung handwerklich und rechtssystematisch als verfehlt kritisieren mussten. Und siehe da: Diese Kritik muss überzeugt haben; denn der letzte Entwurf zu unserem Thema, wie er schließlich auch Gesetz geworden ist, bringt eine ganze Reihe der von uns gewünschten Bestandteile tatsächlich in einem neuen Absatz 3 des § 191a GVG unter. Trotz seiner sperrigen Juristensprache sei er hier auszugsweise zitiert: "Elektronische Dokumente sind für blinde oder sehbehinderte Personen barrierefrei zu gestalten, soweit sie in Schriftzeichen wiedergegeben werden. Erfolgt die Übermittlung eines elektronischen Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg, ist dieser barrierefrei auszugestalten. Sind elektronische Formulare eingeführt (...), sind diese blinden oder sehbehinderten Personen barrierefrei zugänglich zu machen. Dabei sind die Standards von § 3 der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (...) in der jeweils geltenden Fassung maßgebend."

Statt eines Fazits

Es gibt viele Gründe für unsere Erfolge, aber auch eine Menge aus diesen 18 Monaten harten Kampfes zu lernen. Einige Aspekte werde ich in einem weiteren Beitrag zusammenfassen. Hier sei nur all jenen gedankt, die sich so beherzt mit uns dafür eingesetzt haben, dass das Thema Barrierefreiheit einer ganzen Reihe von Politikerinnen und Politikern jetzt erheblich vertrauter sein dürfte, als das noch vor einiger Zeit der Fall war, und - noch viel wichtiger: Es steht als Forderung in beiden Gesetzen und harrt seiner Umsetzung!

Additiv:

Eine Langfassung des Beitrags ist als horus-Additiv im Internet (...) aufrufbar. [Anmerkung 2018: Die in horus 3/2013 erwähnte Langfassung lesen Sie im Folgenden.)

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Uwe Boysen

Langfassung : Von der Mühsal, einen Gesetzentwurf zu ändern

 

(Anmerkung: Diese Langfassung ist nur online als horus Additiv im Folgenden zugänglich.)

Wie alles begann

Es war September 2011. In Saarbrücken fand wieder einmal der EDV-Gerichtstag statt; diesmal hatte sich der DVBS - anders als im Vorjahr - entschlossen, nicht mit einem Informationsstand daran teilzunehmen. Aber präsent waren wir in Person von Andreas Carstens gleichwohl, und das war - wie sich im Folgenden herausstellen sollte - auch sehr gut so. Andreas brachte nämlich interessante bis beunruhigende Nachrichten von der Saar zurück in die Fachgruppe Jura des Vereins: Er berichtete von zwei großen Gesetzgebungsverfahren, die auf dem EDV-Gerichtstag vorgestellt worden waren und die - so waren wir uns sehr schnell einig - großen Einfluss auf die zukünftige Berufstätigkeit blinder und sehbehinderter Menschen allgemein, aber insbesondere auch für Juristinnen und Juristen mit Seheinschränkungen haben würden. Es ging einmal um einen Gesetzentwurf zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz (E-Justice), den die Bundesländer Anfang 2012 ins Gesetzgebungsverfahren einbringen wollten und zum anderen um einen Entwurf zur Forcierung der elektronischen Verwaltung (E-Government), der im Bundesministerium des Inneren (BMI) ausgebrütet wurde (vgl. Berlit, Notwendige Gemeinsamkeiten und strukturelle Unterschiede der "Reformbestrebungen" bei eJustice und eGovernment, JurPC Web-Dok 181/2011; zu blinden Richtern nunmehr ders., JurPC-Web-Dok. 0077/2012, Abs. 58 f.; zu E-Government Müller-Terpitz/Rauchhaus, Das E-Government-Gesetz des Bundes - ein Schritt in Richtung "Verwaltung 2.0" - Geplante Regelungen und Problembereiche, MMR 2013, 10; Heckmann/Albrecht, Das Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung, ZRP 2013, 42; ISPRAT Dossier, Das E-Government-Gesetz des Bundes, Februar 2013, abrufbar unter www.isprat.net/). In beiden Entwürfen, so mussten wir feststellen, spielte das Thema Barrierefreiheit damals keine Rolle.

Die ersten Schritte

Das blieb auch noch so, als die Länder im Januar 2012 einen ersten Diskussionsentwurf zu E-Justice vorlegten (abrufbar unter: www.eear.de; dazu Radke, Zwischen Wagemut und Angststarre - Elektronischer Rechtsverkehr und elektronische Aktenführung in der Justiz, ZRP 2012, 113 ff.). Was sollten wir in dieser Situation tun? Zunächst galt es, den Entwurf juristisch zu analysieren und auch über technische Fragen mit unseren eigenen EDV-Experten zu sprechen, um später auf diesem Gebiet keine Fehler zu machen. So trafen sich einige DVBS-Aktivisten Anfang Februar 2012 zu einer ersten kleinen Telefonkonferenz. Ich persönlich war damals skeptisch, ob die Gesetzentwürfe - inzwischen wussten wir auch von einem Diskussionsentwurf zu E-Government - es noch vor dem Ende der Legislaturperiode durch den Deutschen Bundestag schaffen würden. Das - so waren wir uns jedoch einig - durfte uns nicht davon abhalten, unsere berechtigten Belange in diesem Kontext geltend zu machen und den Versuch zu unternehmen, die Entwürfe in Richtung auf Barrierefreiheit zu ändern. Folglich erstellte Andreas Carstens - unterstützt durch mich - für den DVBS und den DBSV eine erste Stellungnahme zum Länderentwurf, die wir den Länderjustizministerien zuleiteten . Damals waren unsere Vorstellungen, wie Barrierefreiheit in einen "guten" E-Justice-entwurf einzubringen sei, noch relativ verschwommen. Wir wussten, dass es eine gesetzgeberische Verpflichtung zur Schaffung von Barrierefreiheit auch für die Justiz aus der Behindertenrechtskonvention heraus gab (vgl. deren Art. 9 und 13), konnten aber die Umsetzung noch nicht genau präzisieren und mussten uns zunächst auf allgemeine Ausführungen beschränken. Ebenso erging es uns beim Diskussionsentwurf zum E-Government-Gesetz, der den Verbänden immerhin offiziell mit der Bitte um Stellungnahme im Februar 2012 übersandt wurde.

Diskussionen ohne Fortschritt

Anschließend kam es zu einer Diskussionsveranstaltung zu E-Justice und einer Anhörung des BMI zu E-Government. Bei der E-Justice-Veranstaltung - organisiert von der Europäischen EDV-Akademie des Rechts, einer Ausgründung des EDV-Gerichtstages - hatten wir im März 2012 in Berlin noch nicht die Gelegenheit, unseren Standpunkt im Rahmen eines gesonderten Referates vorzutragen, konnten aber in der allgemeinen Diskussion auf das Problem Barrierefreiheit hinweisen, das im Vorfeld dank unserer Intervention jedenfalls schon in eine erste Stellungnahme des Deutschen Richterbundes vom Februar 2012 aufgenommen worden war (vgl. Stellungnahme 04/12, abrufbar unter www.drb.de/cms/index.php?id=760&L=0&no_cache=1&sword_list%5B0%5D=ejustice; zu weiteren Stellungnahmen siehe www.edvgt.de/pages/weitere-veranstaltungen-des-edv-gerichtstages/bundesratsinitiative-e-justice.php). Viel Resonanz ernteten unsere Ausführungen damals noch nicht. Allerdings traute sich auch niemand, unseren Standpunkt offen zu kritisieren. Immerhin waren unsere Forderungen damit schon einmal in der juristischen Welt angekommen.

Etwas anders sah das Klima beim BMI aus. Auch hier hatten wir nicht die Möglichkeit, Barrierefreiheit im Rahmen eines Referats zu platzieren. Doch auch dort vertrat Andreas Carstens beharrlich zu jedem Punkt, der nach unserer Auffassung Barrierefreiheit tangierte, die Forderung nach deren Gewährleistung. Insbesondere die dort vertretenen privaten Anbieter, die die sog. De-Mail-Programme entwickelt hatten, deren Nichtzugänglichkeit wir kritisieren mussten, standen unserem Ansinnen, diese Programme nunmehr per Gesetz barrierefrei zu machen, skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie hätten, so ihre Argumentation, nun einmal die Akkreditierung erhalten, und seien nicht bereit, sich nachträglich mit neuen Anforderungen auseinanderzusetzen.

Nach diesen beiden Anhörungsrunden, in denen wir nichts erreicht hatten, waren unsere Hoffnungen, die Gesetzentwürfe noch beeinflussen zu können, relativ gering. Aber aufgeben war nicht angesagt, und so schickten wir dem BMI im Nachgang zur Anhörung nochmals eine ausführliche Stellungnahme, in der wir auf die Argumente aus der Veranstaltung eingingen. Ebenso hofften wir, noch Einfluss auf den Referentenentwurf zu E-Justice nehmen zu können. Doch nennenswerte Reaktionen blieben auch jetzt aus.

Neue Perspektiven

Mittlerweile zeichnete sich im E-Justice-Bereich eine neue Entwicklung ab. Nicht nur die Länder legten einen Gesetzentwurf vor, sondern auch das Bundesjustizministerium (BMJ) wurde tätig und formulierte seinerseits einen Diskussionsentwurf , indes auch hier ohne gesetzliche Regelungen zur Barrierefreiheit. Immerhin wurde der Terminus in der Begründung erwähnt, ohne dass daraus jedoch Konsequenzen für den Entwurf selbst gezogen wurden. Dann brachten die Länder im Sommer 2012 ihren Entwurf in das Gesetzgebungsverfahren ein (BR-Drs 503/12), ebenfalls ohne jede Benennung von Anforderungen an Barrierefreiheit - für uns ein herber Schlag. Der Eindruck, dass sich hier nichts mehr bewegen würde, wurde bei einer Diskussionsveranstaltung in Wiesbaden im August 2012, an der Andreas Carstens teilnahm, noch verstärkt: in den dortigen Referaten kein Wort zur Barrierefreiheit. Nur in am Rande geführten Einzelgesprächen wurde deutlich, dass bei den Gesetzesverfassern eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber unseren Forderungen herrschte. Das zeigten auch die Begründungen für die Nichtaufnahme in den Gesetzentwurf, die allesamt als äußerst oberflächlich bis schlicht falsch zu bezeichnen waren. Einmal wurde argumentiert, § 11 des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes und die vergleichbaren Vorschriften in den Ländergesetzen würden Barrierefreiheit ausreichend gewährleisten, wobei man schlicht übersah, dass diese Vorschriften gerade für den Justizbereich nicht gelten. Dann wurde ins Feld geführt, der 2002 eingeführte und 2007 modifizierte § 191a des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) löse das von uns angesprochene Problem. Auch das mussten wir zurückweisen, betrifft die Vorschrift doch nur Dokumente und hat nichts mit den im Gesetzentwurf neu vorgeschriebenen elektronischen Übermittlungswegen für die Kommunikation zwischen Anwälten oder anderen Verfahrensbeteiligten und den Gerichten zu tun. Das letzte Argument war für mich der Offenbarungseid der Justizverwaltung: Barrierefreiheit der genutzten Programme, so wurden wir beschieden, sei absehbar schlicht nicht erreichbar und könne schon deshalb nicht ins Gesetz aufgenommen werden.

Wem bei dieser Chronologie der Ereignisse mit den unterschiedlichen Entwürfen und diversen Verfahrensstadien, mit den verschiedenen Entwurfsverfassern, Institutionen und Interessengruppen, mit engen Zeitplänen und Verfahrensabläufen schon bis hierher schwindelig wird, der hat Recht, sei aber gewarnt: Die nachfolgenden Abläufe machten die Verwirrung auch für uns nicht weniger groß.

Unsere Annäherungen an die Politik

Was war in dieser Situation, in der wir den Eindruck hatten, auf gesetzgeberischen Granit zu beißen, weiter zu tun? Wo waren noch erfolgversprechende Kanäle auszuloten, Menschen für unsere Sache zu gewinnen? Sollten wir uns jetzt schon an die Abgeordneten wenden, oder gab es noch eine Chance den Länderentwurf, der im Gesetzgebungsverfahren zur damaligen Zeit (Anfang September 2012) am weitesten fortgeschritten war, noch in irgend einer Weise zu beeinflussen?

Mit Hilfe bestehender Kontakte versuchten wir die Länderschiene über die dortigen Justizministerien und hatten - jedenfalls partiell - Erfolg. So gelang es, den Thüringischen Justizminister davon zu überzeugen, dass eine Nichtbeachtung von Barrierefreiheit für blinde und sehbehinderte Menschen eine katastrophale Entwicklung einleiten könnte. Und auch in Brandenburg wurde uns bei einem Gespräch mit dem dortigen Justizminister Verständnis für unser Anliegen signalisiert. Beide Länder setzten sich tatsächlich im Nachgang zu diesen Gesprächen im Bundesrat für die Aufnahme von Barrierefreiheit in den Gesetzentwurf der Länder ein (vgl. etwa die Protokollerklärung des Landes Brandenburg in der 901. Sitzung des Bundesrates am 12. Oktober 2012 zu TOP 6). Allerdings gelang es nur, einen kurzen Passus in die Begründung des Entwurfs einzufügen (vgl. BR-Drs 503/12(B)). Auch das war natürlich ein Erfolg, aber einer, mit dem wir noch nicht zufrieden sein konnten; denn Gesetzesbegründungen werden traditionell von Juristen bei der sog. Historischen Auslegung nur herangezogen, wenn sich aus dem Gesetz nicht selbst etwas Handfestes ergibt.

Um so erfreuter waren wir, als zu E-Justice ein Referentenentwurf des BMJ auftauchte, in dem nicht nur in der Begründung, sondern auch in konkreten Vorschriften Barrierefreiheit verankert war. Das war ein erheblicher Etappensieg, wenngleich wir bei näherem Hinsehen feststellen mussten, dass längst noch nicht alle unsere Forderungen durch die geplanten Vorschriften erfüllt waren. Also galt es, auch zu diesem Referentenentwurf eine Stellungnahme zu entwerfen, die inzwischen schon sehr viel präziser als ihre Vorläuferinnen benennen konnte, welche Vorschriften nach unserer Auffassung zur Erreichung von Barrierefreiheit konkret erforderlich waren. Insbesondere forderten wir unter Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), der bisherigen Regelung des § 191a GVG eine generelle Verpflichtung zur Barrierefreiheit voranzustellen, ergänzt um die Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung, die es ermöglicht, die zur Gewährleistung von Barrierefreiheit jeweils einzuhaltenden Anforderungen und technischen Standards sowie den Zeitpunkt ihrer verbindlichen Anwendung festzulegen. Eine solche Regelung, so argumentierten wir, eröffnet zugleich die Möglichkeit, unabhängig von den Vorschriften in den einzelnen Verfahrensordnungen, ausreichende Fristen für die Umsetzung der Anforderungen zur Barrierefreiheit vorzusehen und beispielsweise nach der Art der verwendeten IT-Anwendungen (längere Übergangsfristen für bereits vorhandene, bisher nicht barrierefreie Programme) zu differenzieren.

Die Wiedergeburt des E-Government-Entwurfs

Aufmerksamen Leserinnen und Lesern wird aufgefallen sein, dass in den letzten Abschnitten nicht mehr von E-Government die Rede war. Das hatte seinen Grund. Von diesem Entwurf des BMI war über den Sommer 2012 hinweg nichts zu hören. Er entstieg wie Phoenix aus der Asche im September der Gesetzgebungsmaschinerie und wurde vom Bundeskabinett verabschiedet, ohne dass es dazu nach unserer Kenntnis noch einmal öffentliche Anhörungen oder Diskussionen gegeben hätte (BR-Drs 557/12 = BT-Drs 11/473). Entgegen unseren Hoffnungen war auch jetzt von Barrierefreiheit im Entwurf selbst nichts zu lesen. Lediglich die Begründung enthielt einen "müden Verweis" auf das Thema, wozu ich nur auf die obige Bemerkung zur fehlenden Durchschlagskraft von bloßen Gesetzesbegründungen verweisen will.

Konzentration auf E-Justice

Da das Gesetzgebungsverfahren zu E-Justice zunächst weiter fortgeschritten war (vgl. den Regierungsentwurf - BT-Drs 17/12634), konzentrierten wir unsere Bemühungen zunächst hierauf. Im Grunde sind es 4 Bereiche, die mit Hilfe des neuen Gesetzes geregelt werden: Einmal geht es um die sog. Elektronischen Übermittlungswege zwischen Anwalt oder einem sonstigen Verfahrensbeteiligten und dem Gericht. Weiter sollen die Verfahrensbeteiligten gezwungen werden, den Gerichten elektronische Dokumente auf den genannten sicheren Übermittlungswegen einzureichen. Sodann will das Gesetz die sog. Elektronische Akte einführen. Und schließlich enthält das Gesetz die Ermächtigung zur Einführung elektronischer Formulare. Viele dieser Punkte finden sich übrigens auch im E-Government-Gesetz wieder. Für blinde und sehbehinderte Anwälte bedeutet vor allem die Verpflichtung, auf einem sog. Sicheren Übermittlungsweg mit den Gerichten zu kommunizieren, und die Einführung elektronischer Formulare , ein großes Problem, wenn nicht gewährleistet ist, dass die Programme, die man zu einer solchen Übermittlung nutzen muss, barrierefrei ausgestaltet sind. Einen solchen Übermittlungsweg gibt es bereits in Form des elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP). Hier mussten wir darauf hinweisen, dass der Zugang zu diesem Dienst nicht barrierefrei ist. Das nahm praktisch auch niemand in Abrede. So hatten wir schon Anlässlich der Abschlusstagung des Projekts BIK im Februar 2012 Kontakt mit den "Machern" dieses Projektes, die uns berichteten, ihnen sei das Manko bewusst. Es habe ihnen bloß niemand einen Auftrag erteilt, hier für Barrierefreiheit zu sorgen. Als weiteren sicheren Übermittlungsweg sieht das Gesetz das sog. De-Mail-Verfahren vor. Es soll genutzt werden, da sicherere Verfahren, wie sie z. B. auch durch das Signaturgesetz bestehen, nach Ansicht der Gesetzesmacher wegen der Kompliziertheit bei ihrer Handhabung nicht genügend Anklang gefunden haben. De-Mail-Programme werden von privaten Firmen entwickelt und sind offenbar ein besonderes Steckenpferd der Regierungskoalition, aber auch einiger Länderjustizministerien. Jedenfalls hatten wir den Eindruck, als wenn sie unbedingt als Alternative gepusht werden müssten, und zwar das bei E-Government noch mehr als bei E-Justice. Dass dabei auch massive finanzielle Interessen von Beteiligten aus der EDV-Branche eine Rolle spielen, lässt sich nur vermuten, erscheint mir aber nicht abwegig. Vor allem galt es für uns also, Anforderungen an Barrierefreiheit hinsichtlich des EGVP und des De-Mail-Gesetzes ins Verfahren einzuführen. Im dann von Bundesjustizministerium vorgelegten und von der Bundesregierung verabschiedeten Regierungsentwurf (BR-Drs 818/12) gelang das zumindest schon partiell. Wir hatten nämlich mit der Stellungnahme Beispiele verbunden, die zeigen sollten, welche Konsequenzen eine Ignorierung unserer Anliegen sowohl für blinde und sehbehinderte Rechtsanwälte, aber auch für andere Verfahrensbeteiligte haben würde.

Einige davon seien hier angeführt: Ein blinder Rechtsanwalt will das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) nutzen, um einen Schriftsatz zu übermitteln. Dieses ist aber zurzeit nicht barrierefrei zugänglich, so dass er am elektronischen Rechtsverkehr nicht teilnehmen kann. Außerdem kann er das elektronische Dokument nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen, da auch die hierfür erforderlichen Verfahren nicht barrierefrei sind. Eine blinde Rechtsanwältin möchte die in ihrem elektronischen Anwaltspostfach eingegangenen Zustellungen und Fristsetzungen des Gerichts und die durch das Gericht weitergeleiteten gegnerischen Schriftsätze abrufen. Wenn die bei der Bundesrechtsanwaltskammer eingerichteten elektronischen Postfächer nicht barrierefrei sind, bleibt ihr der Zugang verwehrt. Ein hochgradig sehbehinderter Richter möchte die eingegangenen Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung durcharbeiten. Da die in Papierform eingereichten Schriftsätze beim Einscannen vom Gericht elektronisch nur als Bild erfasst wurden, wird ihr Inhalt von der Sprachausgabe nicht wiedergegeben. Ohne Texterkennung (OCR) sind auch Suchfunktionen in den Dokumenten nicht möglich. Sein blinder Kollege kann sich in einem anderen Verfahren die anwaltlichen Schriftsätze nicht über die Braillezeile wiedergeben lassen, weil die elektronisch eingereichten Dokumente nicht barrierefrei sind.

Ich bin der festen Überzeugung, dass derartige Beispiele, wenn sie gut gewählt sind, oft mehr Durchschlagskraft besitzen als feinsinnige juristische Ausführungen. Deshalb lohnt es sich, darauf erhebliche Sorgfalt zu verwenden.

Die heiße Phase

Für beide Gesetze begann Anfang 2013 die heiße Phase. Besonders schnell sollte es plötzlich bei E-Government gehen (was von der Opposition im Bundestag auch durchaus heftig kritisiert wurde; vgl. den stenografischen Bericht zur 222. Sitzung des Deutschen Bundestages am 21. Februar 2013, TOP 31). Noch gerade rechtzeitig zur ersten Lesung im Bundestag, die in der Nacht vom 21. auf den 22. 2. 2013 stattfand, hatten wir auch eine Stellungnahme zum E-Government-Gesetz erstellt und den Abgeordneten des Bundestagsinnenausschusses übermittelt, von dem wir wussten, das er das Gesetz federführend beraten würde. Der ließ sich auch nicht lange bitten, setzte das Vorhaben E-Government flugs noch auf seine Sitzung vom 13. März 2013 (vgl. die Ergänzung der Tagesordnung zur 96. Sitzung des Bundestagsinnenausschusses) und hatte mehrheitlich eigentlich vor, es ohne wesentliche Änderungen an den Bundestag zurückzugeben.

Inzwischen war aber doch noch einiges geschehen. Auf unseren Druck und den einiger Koalitionsabgeordneter sowie des Behindertenbeauftragten Hubert Hüppe - zur Erinnerung: Dieser Entwurf enthielt bislang keinerlei Regelungen zur Barrierefreiheit - tauchte plötzlich ein neuer § 16 in diesem Gesetz auf, der sich tatsächlich mit Barrierefreiheit befasste. Seine Formulierung, die - leider - inzwischen auch Gesetz geworden ist, strotzt allerdings nur so von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensspielräumen: "Die Behörden des Bundes sollen die barrierefreie Ausgestaltung der elektronischen Kommunikation und der Verwendung elektronischer Dokumente nach § 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes in angemessener Form gewährleisten." Danach wird es schwer sein, aus ihm erheblichen "Honig zu saugen", wenngleich wir das natürlich versuchen werden.

Auch auf diesen "Schnellschuss" mussten wir noch reagieren und schlugen eine alternative Lösung vor, die nach unserer Auffassung wesentlich präziser gewesen wäre: "(1) Elektronische Formen der Information und Kommunikation nach diesem Gesetz müssen technisch so gestaltet sein, dass sie von behinderten Menschen grundsätzlich uneingeschränkt genutzt werden können. Elektronische Dokumente, die eine Behörde in einem Verwaltungsverfahren versendet, sind grundsätzlich barrierefrei im Sinne des § 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes zu gestalten. Für die nach Satz 1 und 2 zu beachtenden Anforderungen gelten die Standards der zu § 11 Abs. 1 BGG erlassenen Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung in ihrer jeweils geltenden Fassung. (2) Weitergehende Regelungen zur Barrierefreiheit, die sich aus anderen Vorschriften ergeben, bleiben unberührt."

In der schon erwähnten Sitzung des Innenausschusses setzten dann SPD und Grüne eine Anhörung zum Gesetzentwurf durch. Das war nur konsequent, hatten ihre Vertreter im Bundestag das Gesetz doch handfest kritisiert. In dieser Phase nahm auch der für die SPD federführende Abgeordnete Reichenbach mit uns Kontakt auf, um Näheres über unsere Argumente zu erfahren. Der von der SPD schließlich als Sachverständiger zur Anhörung im Innenausschuss entsandte Datenschutzbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern Dankert war dann immerhin auch so freundlich, unseren Standpunkt in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Anhörung weiter zu transportieren. SPD und Grüne legten dann auch einen eigenen Text zu einem § 16 E-GovG vor, der unseren Intentionen jedenfalls erheblich näher kam, als die von der Koalition favorisierte Fassung. Vor der Mehrheit im Innenausschuss fand er jedoch keine Gnade (vgl. Bericht und Beschlussempfehlung des Innenausschusses - BT-Drs 17/13139), so dass das Gesetz schließlich am 18. April im Bundestag mit dem unzulänglichen § 16 verabschiedet wurde (vgl. den stenografischen Bericht über die 234. Sitzung des Deutschen Bundestages, TOP 20).

Unsere Hoffnungen auf Verbesserungen setzten wir noch auf den Bundesrat. Immerhin - so sagten wir uns - musste er dem Gesetz, da es auch die Länder in die Pflicht nimmt, zustimmen, und bekanntlich besitzt die Bundestagsopposition hier die Mehrheit. Außerdem hatten ihre Abgeordneten ja schon im Bundestag nicht viele gute Haare am Vorhaben der Regierung gelassen. Also wandten wir uns mit Brandbriefen an die Staats- und Senatskanzleien aller Bundesländer. Teilweise halfen hier auch Bezirksgruppenleitungen des DVBS und Landesvereine des DBSV mit. Leider wurden unsere Erwartungen enttäuscht: Aus mehreren SPD-geführten Ländern wurde uns signalisiert, zwar sei man mit verschiedenen Punkten aus dem Gesetz auch dort nicht zufrieden. Man wolle es aber jetzt passieren lassen, da sein Hauptanliegen, die Verwaltung effektiver zu gestalten, auch von den Ländern geteilt werde. Vertröstet wurden wir mit dem Hinweis, es werde gewiss in der nächsten Legislaturperiode Änderungen am Gesetz geben, und dann sei man auch bereit, weiter über Barrierefreiheit mit uns zu sprechen. Dass wir diese Begründung nicht für überzeugend hielten und halten, will ich nicht verhehlen. Immerhin ließ sich der Bundesrat noch herbei, Entschließungsanträge von Thüringen und Baden-Württemberg zur Barrierefreiheit zu verabschieden, die der Bundesregierung ins Stammbuch schrieben, dass sie sich in der nächsten Legislaturperiode noch einmal mit dem Thema zu beschäftigen habe (vgl. Beschluss des Bundesrates vom 7. Juni 2013 - BR-Drs 356/13(B), und zwar nicht nur im Hinblick auf das E-Government-Gesetz selbst, sondern auch hinsichtlich des De-Mail- und des Signaturgesetzes.

Die Entwicklung bei E-Justice

Für meinen Geschmack erheblich positiver verlief die Entwicklung bei E-Justice. Nach Beratung der Gesetzentwürfe im Plenum des Bundestages Anfang März 2013 beschloss der Rechtsausschuss ohne Gegenwehr der Koalition eine öffentliche Anhörung für den 15. April. Schon vorher hatte Andreas Carstens bei einer neuerlichen Veranstaltung der Europäischen EDV-Akademie in einem Referat unsere Forderungen zusammengefasst (vgl. dazu seinen Aufsatz Barrierefreiheit von E-Justice - ein Auftrag an den Gesetzgeber, JurPC Web-Dok. 76/2013). Hierfür hagelte es geradezu Einladungen an uns, dort als Sachverständige mitzuwirken: Andreas Carstens wurde von der CDU angefragt und mich ereilten solche Bitten sowohl von der SPD wie auch von den Grünen. Wir verständigten uns schließlich darauf, dass ich den Part übernehmen sollte, und so verfasste ich in Abstimmung mit Andreas Carstens eine Stellungnahme und hatte im Paul-Loebe-Haus genau wie alle anderen Sachverständigen 5 Minuten Zeit, sie zu begründen; ein Drahtseilakt, der halbwegs gelang. Auch andere Sachverständige gingen teilweise auf unser Problem ein und hoben die Notwendigkeit der Schaffung von Barrierefreiheit hervor; am klarsten wohl Prof. Herberger von der Universität Saarbrücken, Vater des EDV-Gerichtstages und ausgewiesener Rechtsinformatiker, der kurz und knapp erklärte, Barrierefreiheit nütze nicht nur blinden Menschen, sondern ein barrierefrei erstelltes EDV-Programm sei schlicht auch stets besser programmiert als ein anderes (zu den Stellungnahmen vgl. www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/43_Elektronischer_Rechtsverkehr/04_Stellungnahmen/index.html).

Vor dieser Sitzung hatte Andreas Carstens schon ein längeres Gespräch mit der federführenden Abgeordneten Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU geführt und danach konnten wir auch noch gemeinsam dem Abgeordneten Höferlin von der FDP unsere Sicht der Dinge darlegen. Dabei plädierten wir für eine Verfahrensübergreifende Regelung im GVG, das bereits seit 2002 mit seinem § 191a eine - allerdings nur rudimentäre - Verpflichtung der Gerichte enthält, blinden und sehbehinderten Beteiligten Dokumente in einer für sie zugänglichen Form zur Verfügung zu stellen. Uns wurde versprochen, das nochmals zu prüfen. Und in der Tat erreichte uns kurz darauf ein - offenbar zwischen den Regierungsfraktionen und dem BMJ abgesprochener - neuer Entwurf. Wir staunten allerdings nicht schlecht, als die für uns wichtigen Passagen hier nicht im GVG, sondern in der sog. Zugänglichkeitsmachungsverordnung auftauchten. Abgesehen davon, dass Verordnungen erheblich schneller aufgehoben werden können als Gesetze, bedürfen sie aber immer nach Art. 80 GG einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage. Die vermochten wir hier in der Vorschrift des § 191a GVG nicht zu sehen, so dass wir die Idee der Abschiebung in eine Verordnung handwerklich und rechtssystematisch als verfehlt kritisieren mussten.

Und siehe da: Diese Kritik muss überzeugt haben; denn der letzte Entwurf zu unserem Thema, wie er schließlich auch Gesetz geworden ist, bringt eine ganze Reihe der von uns gewünschten Bestandteile tatsächlich in einem neuen Absatz 3 des § 191a GVG unter. Trotz seiner sperrigen Juristensprache sei er hier auszugsweise zitiert: "Elektronische Dokumente sind für blinde oder sehbehinderte Personen barrierefrei zu gestalten, soweit sie in Schriftzeichen wiedergegeben werden. Erfolgt die Übermittlung eines elektronischen Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg, ist dieser barrierefrei auszugestalten. Sind elektronische Formulare eingeführt (...), sind diese blinden oder sehbehinderten Personen barrierefrei zugänglich zu machen. Dabei sind die Standards von § 3 der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (...) in der jeweils geltenden Fassung maßgebend."

Statt eines Fazits

Es gibt viele Gründe für unsere Erfolge, aber auch eine Menge aus diesen 18 Monaten harten Kampfes zu lernen. Einige Aspekte werde ich in einem weiteren Beitrag zusammenfassen. Hier sei nur all jenen Gedankt, die sich so beherzt mit uns dafür eingesetzt haben, dass das Thema Barrierefreiheit einer ganzen Reihe von Politikerinnen und Politikern jetzt erheblich vertrauter sein dürfte, als das noch vor einiger Zeit der Fall war, und - noch viel wichtiger: Es steht als Forderung in beiden Gesetzen und harrt seiner Umsetzung!

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Irene Müller

Neun Jahre im Landtag Mecklenburg-Vorpommern: ein Blick zurück und ein Blick nach vorn

Seit 1990 war ich aktiv politisch tätig - Nein, eigentlich schon seit 1982. Ich gehöre also zu den Menschen, die im Osten der Republik lebten und auch schon vor 1990 eine politische Vergangenheit hatten. Allerdings lief ich nicht weg, sondern übernahm weiter Verantwortung. Meine Partei war die PDS.

Und der Landtag - das ist eine besondere Geschichte!

Seit 1993 habe ich mich aktiv am Aufbau der Selbsthilfe in Mecklenburg-Vorpommern (MV) beteiligt. Die damalige Vorsitzende unseres Landesverbandes Selbsthilfe e. V. (in anderen Bundesländern heißen die Verbände oft Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe) und ich versuchten, auch Kontakte zu den Politikern des Landtages aufzubauen, die Vorsitzenden verschiedener Ausschüsse zu konsultieren und Gespräche mit dem damaligen Landtagspräsidenten zu führen. Ich kam mir vor wie ein Hamster im Laufrad. Am Ende der Gespräche kam immer wieder die Frage, warum wir als Selbsthilfe nicht in den Paritäter eintreten würden, da hätten wir doch das Dach vieler Vereine und Verbände und die Finanzierung wäre auch gesichert.

Es sollte aber noch schlimmer kommen! Auf einer Landtagssitzung zum Haushaltsplan des Landes MV ließ sich ein Redner sehr beleidigend über die Vorsitzende der Selbsthilfe aus und "begründete" voller Unwissenheit, warum kein Haushaltstitel für die Selbsthilfe notwendig wäre. Unsere Vorsitzende war völlig niedergeschlagen, fühlte sich diskriminiert, war davon überzeugt, dass sie schuldig an der Misere wäre und wollte sofort zurücktreten.

In der folgenden Vorstandssitzung waren wir sehr aufgeregt über die ganze Situation, überzeugten unsere Vorsitzende von ihrem Wissen und Können und stellten fest: Jemand von uns mit der Kompetenz und der Erfahrung eines behinderten Menschen muss in den Landtag! Welche Partei zeigt sich offen, wer soll kandidieren?

Ich sprach mit unserer Landtagsfraktion, mit dem Landesvorstand, in unserem Kreisvorstand war ich selbst Mitglied. Ich kam auf Listenplatz 9 und war damit nach der Wahl 1998 Mitglied der PDS-Fraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommern.

Ich gehörte dem Sozialausschuss und dem Petitionsausschuss an. Die Politikfelder Soziales, Menschen mit Behinderungen und Senioren wurden von mir bearbeitet.

Vorbehalte? Nein, es waren mehr Unsicherheiten und Berührungsängste. Nicht in meiner Fraktion, da kannten mich alle, aber bei den anderen: Wo sollte mein Büro sein, kann ein blinder Mensch Treppen laufen, wie wird das mit der Toilette, was hat es mit Arbeitsassistenz auf sich, wie muss die technische Arbeitsplatzausstattung sein, muss die Assistenz mit in den Plenarsaal ...? Die Landtagsverwaltung stand vor tausend Fragen schon vor Beginn der Legislaturperiode. Zum Glück hatte unser Geschäftsführer den guten Rat gegeben, einfach bei mir anzurufen. Aber eine neue Situation für die Arbeit im Landtag war es schon.

Die Unsitte einer Unmenge von Tischvorlagen hatte sich schnell erledigt. Denn meine Fraktion beantragte für eine jede Tischvorlage erst einmal eine Auszeit. Schließlich hatte ich das Recht, die Vorlage vorgelesen zu bekommen und meine Punktschriftnotizen zu machen. Schnell hatte ich meinen Laptop und bekam alle Vorlagen und sonstige Schriftstücke direkt über das Intranet. Man gewöhnte sich auch ab, mein Postfach mit allen Unterlagen noch einmal in Schwarzschrift vollzustopfen.

In den Ausschusssitzungen wurde ich mit Namen aufgerufen, damit ich wusste, dass in meine Richtung ein nettes Nicken gezeigt wurde. Im Plenarsaal saß ich in der Nähe der Tür. Aber nicht, weil ich blind bin. Wir sitzen in alphabetischer Reihenfolge. So mancher Abgeordnete ging an meinem Platz vorbei und huschte schnell mit den Fingern über meine Brailleschrift-Aufzeichnungen.

Das erste Jahr im Landtag war ziemlich schwierig. Das ist es aber für jeden neuen Abgeordneten. Man muss die Abläufe kennen lernen und genau sortieren, was kurz-, mittel- und langfristig erledigt werden muss. Es gibt auch Dinge im Postfach, die können gleich in den Papierkorb. Da der Arbeitsassistent diese "Lernphase" mitmacht, kann er schon vieles vorsortieren. Allerdings brauchte ich immer viel Zeit zum Vorlesen lassen. "Diagonal-Lesen" ist nun einmal für uns schwierig.

Ich wollte meine Arbeit immer ordentlich machen und das unabhängig von einer Behinderung. Ich fühlte mich nicht besonders gefordert, weil ich blind bin. Ich war besonders inhaltlich gefordert, weil die Barrieren in vielen Köpfen sehr massiv waren. Nicht einmal die Worte "Menschen mit Behinderungen" gingen bei manch einem Abgeordneten über die Lippen. Und das "Totschlagargument", dass alles viel zu teuer sei, war bei so mancher Partei einziges Argument dafür, dass man nichts gegen "Behinderte" habe, aber… Es war also eine anstrengende Arbeit, die nur mühsam und schrittchenweise Ergebnisse brachte.

Eine wichtige Rolle spielte bei meiner Landtagstätigkeit auch die Auseinandersetzung über die Höhe des Landesblindengeldes. Sie führte ich federführend für die Oppositionsparteien (also auch FDP, natürlich nicht NPD!) im Jahre 2008. Die SPD/CDU-Regierung wollte eine Senkung von fast 50 Prozent vornehmen. Sie argumentierte mit der Höhe der entsprechenden Leistungen in den benachbarten Bundesländern. Ich zog die Argumentationslinie, zu der wir uns im BSV und DBSV verständigt hatten, gnadenlos durch. Ich wusste, dass ich als betroffene Frau im Sozialausschuss und im Finanzausschuss des Landtages die Argumentation auf meiner Seite hatte. Ich musste viele Fragen beantworten, darunter durchaus fachliche Fragen, die die Funktion des Landesblindengeldes betrafen. Aber auch merkwürdige Fragen gab es, wie z.B. die des Fraktionsvorsitzenden der SPD: "Ist der Leidensdruck der Blinden in MV so hoch, dass sie so viel mehr Geld brauchen als die Blinden in anderen Bundesländern?" Na ja, da fing ich also noch einmal mit der Erklärung und der Bedeutung des Landesblindengeldes als Nachteilsausgleich an. Nein, die Kürzung des Landesblindengeldes konnten wir als Fraktion DIE LINKE im Landtag MV nicht verhindern. Wir konnten nur erreichen, dass der Kürzungsplan um mehr als die Hälfte zusammengeschrumpft wurde. Das war eine tolle organisatorische Leistung des BSV MV e.V., vieler anderer Vereine und Verbände der Selbsthilfe e.V. und meiner Landtagsfraktion.

Rückblickend kann ich sagen, dass sich die Tätigkeit im Landtag insgesamt gelohnt hat. Es ist richtig und auch anschaulich, wenn wir als behinderte Menschen selbstbestimmt agieren. Manch ein gewählter Volksvertreter benötigt dringend die Zusammenarbeit mit einem behinderten Kollegen, um sich ernsthaft mit unserer Lebenssituation zu befassen. Geben wir ihnen und uns dazu die Chance!

Abschließend noch eine Anekdote am Rand: Kurz bevor ich meine erste Rede im Landtag halten sollte, tauchte ein Journalist des Nachrichtendienstes ADN an meinem Sitzplatz im Plenarsaal auf. Sehr arbeitseifrig wollte er von mir wissen, ob mein Blindenführhund rechts, links oder vor dem Rednerpult liegen würde, wenn ich rede. Er müsse dieses dem Fotografen sagen, damit dieser schon einmal die richtige Position für schöne Fotos einnehmen könne. Bedauernd musste ich ihm mitteilen, dass der Hund hinter dem Rednerpult liege. Ich bat den Journalisten höflich, auf meine Rede zu achten. Es wäre schön, wenn man in seinem Beitrag wichtige inhaltliche Informationen finden könne ...

Zur Autorin

Irene Müller ist 58 Jahre alt und lebt in Goldberg. Sie erblindete 1986. Bis 2011 war sie für die Linke im Landtag Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist Vorsitzende der Selbsthilfe e.V. in Mecklenburg-Vorpommern und im Bundesvorstand der Linken verantwortlich für Behindertenpolitik.

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Christiane Möller und Dr. Herbert Demmel

Eckpunkte des DBSV und des DVBS unter anderem zu einem Bundesgesetz zur sozialen Teilhabe (GsT)

Der Erlass eines Bundesgesetzes zur sozialen Teilhabe ist erforderlich, um einen inklusiven Sozialraum und eine gleichberechtigte selbstbestimmte Teilhabe behinderter Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu verwirklichen und damit die UN-Behindertenrechtskonvention vom 13. Dezember 2006, die seit dem 26. März 2009 in Deutschland geltendes Recht ist, in unserer Rechtsordnung umzusetzen.

Die Forderung nach einem Bundesleistungsgesetz wird gegenwärtig von vielen Seiten erhoben. Zu nennen sind unter anderem

  • die von der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder (ASMK) erstellten Vorschläge zur Reform der Eingliederungshilfe,
  • die Aktionspläne des Bundes und der Länder zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und
  • der Beschluss des Bundesrates vom 22. März 2013 zum Erlass eines Bundesleistungsgesetzes (BR Drucksache 282 12) sowie
  • der Entwurf eines Gesetzes zur sozialen Teilhabe des Forums behinderter Juristinnen und Juristen (Stand Mai 2013).

Im Rahmen des Fiskalpakts wurde im Juni 2012 verabredet, dass Bund und Länder unter Einbeziehung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen in der 18. Legislaturperiode ein neues Bundesleistungsgesetz erarbeiten und in Kraft setzen wollen.

Damit ein Bundesleistungsgesetz den gestellten Anforderungen gerecht wird, müssen die folgenden dem Entwurf für ein Gesetz zur sozialen Teilhabe zugrunde liegenden Eckpunkte erfüllt werden:

  1. Verankerung des Menschenrechts auf soziale Teilhabe und Führung eines selbstbestimmten eigenverantwortlichen Lebens behinderter Menschen gem. der UN-Behindertenrechtskonvention im Sozialrecht. Notwendig ist dazu die Herauslösung der Leistungen zur Sozialen Teilhabe aus dem Fürsorgerecht und die Schaffung einkommens- und vermögensunabhängiger Leistungen zur Sozialen Teilhabe. Im SGB IX ist den Vorschriften über die medizinische Rehabilitation, die Teilhabe am Arbeitsleben und die unterhaltssichernden und ergänzenden Leistungen ein gleichrangiges Kapitel über die "Soziale Teilhabe" an die Seite zu stellen.
  2. Reform des Behindertenbegriffs entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention Präambel e) und Artikel 1 Satz 1. Unterschieden sollte zwischen Behinderung und Beeinträchtigung als Wechselverhältnis von individueller Beeinträchtigung und gesellschaftlichen Barrieren werden. Die Beeinträchtigung spiegelt die Aktivitätseinschränkung "als Wechselverhältnis zwischen der individuellen körperlichen, seelischen und geistigen Verfasstheit und den gesellschaftlichen Anforderungen und Kontextfaktoren" wider. Eine vorhandene "Beeinträchtigung" wird erst dadurch zur "Behinderung", dass umweltbedingte Faktoren, die so genannten Barrieren, hinzutreten. Barrieren sind alle physischen, informationellen, kommunikativen und sonstigen einstellungs- und umweltbedingten Hindernisse, die geeignet sind, Menschen mit Beeinträchtigung an der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe zu hindern.
  3. Prinzip der Inklusion. Verpflichtung der Rehabilitationsträger zur Barrierefreiheit und Inklusion. Die Rehabilitationsträger müssen durch Abbau von Barrieren zu einem inklusiven Sozialraum beitragen. Inklusion muss in den Bereichen Bildung und Ausbildung, Arbeitswelt und soziale Teilhabe verpflichtendes Prinzip sein. Die Maßnahmen der Rehabilitation müssen dem Anspruch auf Inklusion und Teilhabe dienen.
  4. Schulische Aus- und Weiterbildung und Studium als Leistung der Teilhabe am Arbeitsleben und der Sozialen Teilhabe. Die schulische Berufsausbildung und Fortbildung einschließlich derjenigen an einer Hochschule muss der beruflichen Ausbildung und Fortbildung im dualen Kanon gleichgestellt werden, weil sie in der Berufswelt eine zunehmende Bedeutung gewinnt. Lediglich dann sollen Hilfen zu einer den Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Fachschul-, Fachhochschul- und Hochschulbildung sowie Angebote der allgemeinen Weiterbildung als Leistungen der sozialen Teilhabe gefördert werden, wenn sie nicht der Teilhabe am Arbeitsleben zuzurechnen sind.
  5. Förderung der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch ein Budget für Arbeit. Ein Budget für Arbeit soll es behinderten Menschen - vorrangig aus Werkstätten für behinderte Menschen - ermöglichen, eine normale sozialversicherte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu einem tariflichen oder ortsüblichen Entgelt auszuüben. Zu verweisen ist auf erfolgreiche Modellversuche in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Erforderlich ist eine gesetzliche Regelung.
  6. Offener Katalog von Leistungen zur sozialen Teilhabe. Die bisher im SGB XII §§ 53 ff und in der Eingliederungshilfeverordnung geregelten Leistungen der Eingliederungshilfe und die in den §§ 55 ff SGB IX geregelten Leistungen zur Teilhabe an der Gemeinschaft sollen in einem offenen Katalog zu Leistungen zur sozialen Teilhabe als Kapitel 7 des SGB IX zusammengefasst und um weitere notwendige Leistungen ergänzt werden. Als Ausgleichsleistungen müssen sie unabhängig von Einkommen und Vermögen gewährt werden. Sie sollen die Leistungskataloge der gesetzlichen Sozialversicherung (Krankenkasse, Pflegeversicherung, berufliche Rehabilitationsträger) nicht ersetzen sondern ergänzen.
  7. Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes, Recht auf persönliche Unterstützung zur Sozialen Teilhabe. Das Recht, die Form der Leistungen frei zu wählen, muss gewährleistet werden. Die Leistungen müssen personenzentriert und nicht wie bisher Einrichtungszentriert zuerkannt werden. Berechtigten Wünschen von Leistungsberechtigten muss ohne Kostenvorbehalt entsprochen werden. Alle sinnvollen Gestaltungswünsche für erforderliche Bedarfe sind von den Rehabilitationsträgern unabhängig von den Kosten zu berücksichtigen. Eine Unterbringung behinderter Menschen gegen ihren Willen in Sondereinrichtungen oder Alten- und Pflegeheimen nur deshalb, weil diese kostengünstiger als eine ambulante Versorgung ist, darf nicht erfolgen. Damit unabhängig von Art oder Schwere ihrer Beeinträchtigung das Wahlrecht ausgeübt und die Leistungen zur sozialen Teilhabe von behinderten Menschen wahrgenommen werden können, muss ihnen erforderlichen Falls ein Recht auf persönliche Unterstützung gewährt werden. Das kann auch im Rahmen und in der Form einer umfassenden persönlichen Assistenz erfolgen.
  8. Elternunterstützung und begleitete Elternschaft. Soweit behinderte Menschen zur Ausübung der mit der Elternschaft erforderlichen Verrichtungen auf persönliche Unterstützung, besondere Dienstleistungen oder geeignete Hilfsmittel angewiesen sind, müssen sie ein Recht auf die erforderliche Unterstützung haben. Dadurch ist ihr Recht auf Ausübung ihrer Elternschaft zu unterstützen bzw. erst zu ermöglichen.
  9. Ein die Teilhabeleistungen ergänzendes, differenziertes Teilhabegeld. Erforderlich für eine mit anderen gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und für ein so weit wie möglich unabhängiges und selbstbestimmtes Leben umfassende soziale Teilhabe ist ein die Teilhabeleistungen ergänzendes Teilhabegeld. Es soll pauschal den behinderungsbedingten Mehraufwand abdecken, der nicht über spezielle Ansprüche geltend gemacht werden kann, sowie behinderungsbedingte Nachteile pauschal ausgleichen. Da es sich beim Teilhabegeld um eine Leistung zum Ausgleich der durch die Beeinträchtigungen erforderlichen Mehraufwendungen und nicht zur Verbesserung der Einkommenssituation handelt, muss das Teilhabegeld nach dem Grad der Behinderung und nach den Folgen bei bestimmten Beeinträchtigungen in der Höhe differenziert sein. Außerdem muss es wegen seiner Ausgleichsfunktion ebenso wie die anderen Leistungen zur sozialen Teilhabe unabhängig von Einkommen und Vermögen gewährt werden.
  10. Bundesfinanzierung der Leistungen zur Sozialen Teilhabe. Die Teilhabeleistungen müssen aus Steuermitteln des Bundes finanziert werden. Sie dienen der Schaffung einheitlicher Lebensbedingungen im gesamten Bundesgebiet.
  11. Zuständigkeit der Jugendämter und Integrationsämter für die Soziale Teilhabe. Erforderlich ist es, die Zuständigkeiten der Rehabilitationsträger neu zu regeln. Leistungen für behinderte Kinder und Jugendliche sollen - so wie jetzt schon für Nichtbehinderte - ausschließlich vom Jugendamt erbracht bzw. koordiniert werden. Die geltende Beschränkung der Zuständigkeit der Jugendämter auf "seelisch" behinderte Kinder und Jugendliche erscheint nicht sachgerecht. Sie führt zu schwierigen Schnittstellen. Im Sinne einer inklusiven Erziehung sollen alle Leistungen für behinderte Kinder und Jugendliche in die anderen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe integriert werden und zusammen mit ihnen erbracht werden. Zweckmäßig ist es ferner, die Zuständigkeit für Leistungen zur sozialen Teilhabe für erwachsene behinderte Menschen auf die Integrationsämter zu übertragen. Die Integrationsämter müssen dazu Rehabilitationsträger werden und entsprechend mit Steuermitteln ausgestattet werden.
  12. Förderung unabhängiger Beratung und einheitliche Begutachtung. Damit behinderte Menschen die für ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben erforderlichen Leistungen in Anspruch nehmen und ihr Wahlrecht ausüben können, muss eine von den Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige Beratungsstruktur aufgebaut werden. Die Beratung soll möglichst von Betroffenen, die über die erforderliche Qualifikation verfügen, geleistet werden.
    Eine gemeinsame trägerübergreifende Begutachtung mit einem einheitlichen gemeinsamen Votum der begutachtenden Stellen soll sichergestellt werden. Dadurch können unterschiedliche Beurteilungen der verschiedenen Leistungsträger vermieden und die Erbringung von Komplexleistungen erleichtert werden.

Diese Eckpunkte können Maßstab für alle Reformbestrebungen der Eingliederungshilfe bzw. Vorschläge für ein Bundesleistungsgesetz sein.

Diese Eckpunkte wurden im Auftrag des "gemeinsamen Arbeitskreis Rechtspolitik" des DBSV und des DVBS erarbeitet von Christiane Möller und Dr. Herbert Demmel.

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Thorsten Büchner

"Ein bisschen weiter links, Herr Büchner!"

Teilhabe lohnt sich - auch im kommunalen Parlament

So langsam habe ich meine Rolle gefunden. Nach und nach verstehe ich mehr und mehr der Dinge, die im Parlament besprochen und diskutiert werden. Seit Oktober 2009 bin ich einer von insgesamt 59 Marburger Stadtverordneten. Ich bin dort Mitglied in der zahlenmäßig größten Fraktion, der SPD, die seit 16 Jahren mit den GRÜNEN die Mehrheit in der Gemeindevertretung stellt. Als ich vor fast vier Jahren neu ins Parlament kam, hat mich die schiere Masse an Magistratsvorlagen, also Beschlussvorlagen, die von der Stadtverwaltung erarbeitet wurden und von der Stadtregierung in Form von Oberbürgermeister und Bürgermeister ins parlamentarische Verfahren eingebracht werden, Anträge der einzelnen Stadtverordnetenfraktionen, Kenntnisnahmen, Bilanzen, Haushaltstabellen, Einladungen zu Veranstaltungen, schier überwältigt und erschlagen. Das ist auch manchmal heute noch so. In den ersten beiden Jahren war ich Mitglied im Schul- und Kulturausschuss, wechselte dann nach der Kommunalwahl 2011 in den Ausschuss für Umwelt, Energie und Verkehr. Dort gibt es Ausschussmaterialien, die mitunter 300 oder 400 Seiten Umfang besitzen, etwa wenn bei einer neu zu errichtenden Reitanlage in einem Außenstadtteil Marburgs der genaue Bebauungsplan abgedruckt ist mit allen textlichen Erläuterungen und Vorschriften, die zu so einem Bauvorhaben dazugehören. Umweltrechtliches Gutachten, Artenschutzrechtliches Gutachten. Es wird detailliert aufgelistet, welche Auswirkungen der Bau auf die im Baugebiet lebenden Tiere, Pflanzen und Menschen hat, welche Auswirkungen das auf die verkehrliche Infrastruktur des Dorfes haben wird etc. Neben solchen Mammutvorlagen beschäftige ich mich in meiner alltäglichen Ausschussarbeit mit eher kleinteilig wirkenden Dingen wie dem Thema des salzarmen Winterdienstes, der Verbesserung des ÖPNV-Angebots und - in Marburg besonders beliebt - Parkplatzdebatten. Der Umweltausschuss tagt einmal monatlich. Er ist einer von fünf Fachausschüssen, die die Vorlagen und Anträge inhaltlich diskutieren und beraten, bevor sie dann in der großen Parlamentssitzung endgültig diskutiert und verabschiedet werden. Im Prinzip funktioniert die Marburger Stadtverordnetenversammlung wie jeder Landtag oder der Bundestag. Mit einem entscheidenden Unterschied: Wir Stadtverordneten sind keine Berufspolitiker, sondern gehen unseren normalen beruflichen Tätigkeiten nach.

Für mich als blinder Kommunalpolitiker ist das Bewältigen der Masse an zu lesenden Vorlagen eine der größten Herausforderungen. Glücklicherweise hat unser Ausschuss einen der pfiffigsten Geschäftsführer, der nahezu alle Vorlagen, die zu beraten sind, online verfügbar macht. Das erleichtert mir die Arbeit erheblich, kann ich so doch viele Vorlagen gut lesen. Bei den Skizzen von Bebauungsplänen und anderen planerischen Elementen, die in der Kommunalpolitik zum alltäglichen Handwerkszeug gehören, habe ich leider das Nachsehen. Da nützt auch das beste Scanprogramm nichts. Ich muss mir die Baupläne erläutern lassen, eine sehr zeitraubende und nicht ganz einfache Angelegenheit, denn auch das mehrfache Erläutern ist keine Garantie dafür, dass ich den genauen Verlauf des zu bebauenden Gebietes oder die Neugestaltung eines Verkehrsknotenpunktes verstehe. Tröstlich ist für mich, aus eigener Beobachtung, dass viele meiner sehenden Parlamentskolleginnen und -kollegen gelegentlich auch nicht viel mehr von Plänen und Grafiken verstehen als ich, so dass die zumeist anwesende Verwaltung ohnehin viel erläutern und verbalisieren muss. So kann ich dann auch gut folgen und meine Arbeit im Fachausschuss absolvieren. Zu den Unterlagen aus meinem Ausschuss gesellen sich dann noch die Vorlagen der übrigen Ausschüsse. Viele aus unserer Fraktion sind in einem bestimmten Gebiet inhaltlich so fit, dass sie bei Parlamentsdebatten dazu reden können oder zumindest in der Lage sind, sich fit zu machen, um die Debatte im Parlament nicht als Verlierer verlassen zu müssen. Mittlerweile glaube ich, dass ich annähernd einen Überblick über die politischen Debatten in Marburg habe und auch, dass ich zu den verschiedensten Themen "sprechfähig" wäre. Zu Beginn meiner parlamentarischen Arbeit hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mich in eine Debatte zum Für und Wider des salzlosen Streudienstes ans Rednerpult der Stadtverordnetenversammlung begebe.

Eigentlich ist aber genau das, die konkreten Dinge, die jeder tagtäglich vor Ort in der Kommune erlebt, der Reiz an kommunalpolitischer Arbeit. Man sieht, welche Auswirkungen das eigene politische Handeln hat, man argumentiert, debattiert und streitet um die richtige Richtung für seine Stadt, seinen Lebensmittelpunkt.

Marburg ist mit blinden und sehbehinderten Bürgerinnen und Bürgern vertraut. Dennoch bin ich der einzige Stadtverordnete mit einer Behinderung. Es ist anscheinend ungewöhnlich, sich parteipolitisch zu engagieren und das dann auch noch im Parlament. Es ist aber nicht so, dass ich Vorbehalten begegnet wäre, eher Unsicherheiten, wie man mit mir und meiner Behinderung umzugehen habe. Gehe ich etwa zum Rednerpult im Parlament, dirigiert mich nahezu das ganze Haus nach vorne: "Ein bisschen weiter links, Herr Büchner!" oder: "Umdrehen Thorsten!". Auch scheint es manche meiner Kolleginnen und Kollegen zu irritieren, dass ich bislang noch zu keinem behindertenpolitischen Thema im Parlament gesprochen habe, wäre es doch nahe liegend. Bislang hat es sich noch nicht ergeben, dass ich zu solchen Thematiken im Parlament spreche. In den Ausschüssen, in meinem Umwelt- und Verkehrsausschuss oder wenn ich Fraktionskollegen in anderen Ausschüssen vertrete, hat sich gelegentlich schon die Chance geboten, in Diskussionen auf die Situation von Menschen mit Behinderung hinzuweisen. Das ist generell ein Punkt, den ich nach und nach mehr zu schätzen gelernt habe. Allein die Tatsache, dass ich blind bin, eröffnet oft die Möglichkeit, sich über die Situation von Blinden und Sehbehinderten oder Behinderten allgemein auszutauschen.

Die SPD-Fraktion führt viermal jährlich eine Aktionswoche durch, bei der wir Institutionen, Vereine oder in Marburg ansässige Organisationen besuchen. Wir besprechen mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort ihre konkreten Anliegen an die Lokalpolitik und informieren uns über deren Arbeit. Am Rande solcher Termine habe ich schon oft die Erfahrung gemacht, dass man auch das Thema "Blinde und Sehbehinderte" ansprechen kann. Oft kommt die Initiative von den Organisationen selbst, die wir besuchen, gelegentlich schneide ich das Thema an. So ergaben sich Gespräche mit Vertretern der Volkshochschule, der Alzheimer-Gesellschaft oder dem Marburger Tourismus-Büro, welche Berührungspunkte sie bislang mit blinden und sehbehinderten Kundinnen und Kunden hatten und wie deren Situation verbessert werden könne.

Neben diesen fraktionsinternen Besuchen gibt es nahezu täglich Veranstaltungen, Fachgespräche, Einladungen zu Eröffnungen, Vereinsversammlungen oder Festen, an denen man als Stadtverordneter teilnehmen kann. Das schafft man natürlich nicht alles. Man muss sondieren, was einen interessiert und wo Erkenntnisgewinn zu erlangen ist.

Diese Besuche, sei es mit der SPD-Fraktion oder als einzelner Stadtverordneter mit anderen Mandatsträgern zusammen, sind ein weiterer Grund, weshalb ich es nach wie vor toll und aufregend finde, mich kommunalpolitisch zu engagieren. Ich lerne jedes Mal aufs Neue meine Stadt kennen, welche engagierten Menschen hier arbeiten, welche Angebote es gibt, wo in Marburg der Schuh drückt und wie man als Politiker, der man nun mal ist, dagegensteuern kann. Manchmal ergeben sich daraus auch Gespräche, wie ich es als Blinder in Marburg erlebe und welche Herausforderungen auf Blinde, Sehbehinderte und Behinderte allgemein warten, aber auch, was als Behinderter alles möglich ist. Das sind Momente, in denen ich mich besonders freue, politisch aktiv zu sein. Ich lerne viel, kann aber gleichzeitig anderen vermitteln, dass Menschen mit Behinderung ein ganz regulärer Teil der Gesellschaft sind, mit Interesse an Politik, am gesellschaftlichen, kulturellen Miteinander und nicht nur rund um den behinderungspolitischen Tellerrand.

Wobei ich einräumen muss, dass mir genau dieser Tellerrand mindestens genauso wichtig ist wie meine übrigen Tätigkeiten. Schon vor meiner parlamentarischen Tätigkeit war ich Mitglied am "Runden Tisch Barrierefreies Bauen" des Behindertenbeirates Marburg. Dort treffen sich mehrmals jährlich Vertreter einzelner Behinderungsgruppen, Blinde, Sehbehinderte, Rollstuhlfahrer, um gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bauamts der Marburger Stadtverwaltung Bauprojekte zu besprechen und dafür zu sorgen, dass sie barrierefrei oder möglichst barrierearm umgesetzt werden. In diesen, oft hart, aber immer konstruktiv geführten Diskussionen habe ich viel gelernt für meine andere politische Arbeit.

Zusammen, politisches Engagement in der Selbsthilfe, an "Runden Tischen" und eben auch in der aktiven Politik, haben auch wir Blinde und Sehbehinderte die Möglichkeit, unsere Erfahrungen, unser Wissen einzubringen. Teilhabe lohnt sich - auch im politischen Alltagstrott eines kommunalen Parlamentes.

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Dr. Joachim Steinbrück

Ein seltener Beruf: Landesbehindertenbeauftragter

Werde ich nach meinem Beruf gefragt, antworte ich hin und wieder, mein Beruf sei so selten wie derjenige einer Ministerpräsidentin oder eines Ministerpräsidenten. Und dies ist nicht gelogen: In 15 der 16 Bundesländer gibt es Landesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung, wobei die Bezeichnungen teilweise voneinander abweichen. So lautet meine Amtsbezeichnung "Der Landesbehindertenbeauftragte der Freien Hansestadt Bremen", die meines niedersächsischen Kollegen "Der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen" und diejenige meiner Kollegin in Hamburg "Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen". In Mecklenburg-Vorpommern ist der "Bürgerbeauftragte" auch für die Belange von Menschen mit Behinderung zuständig. Auch die Berufung und Stellung der Landesbeauftragten sind unterschiedlich geregelt: In Nordrhein-Westfalen wird der oder die Beauftragte von der Landesregierung berufen. Die Amtszeit endet dabei mit dem Zusammentreten eines neuen Landtages [1] und ist damit an die Dauer der Legislaturperiode gekoppelt. Entsprechend verhält es sich mit dem oder der Bundesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen: Er oder sie wird von der Bundesregierung berufen; die Amtszeit endet mit dem Zusammentreten eines neuen Bundestages [2].

In Bremen hingegen schlägt der Präsident der Bremischen Bürgerschaft (Landtag) die beauftragte Person vor, nachdem er von den Verbänden, die nach dem BremBGG als verbandsklageberechtigt anerkannt sind, eine Stellungnahme zu seinem Vorschlag eingeholt hat.

Die Bürgerschaft (Landtag) wählt die auf Vorschlag des Präsidenten beauftragte Person für einen Zeitraum von sechs Jahren. Sie wird danach vom Vorstand der Bürgerschaft ernannt. Die beauftragte Person soll möglichst ein Mensch mit Behinderung sein. Ausdrücklich geregelt ist darüber hinaus, dass die beauftragte Person in der Wahrnehmung des Amtes unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ist [3].

Die Amtszeit wurde bewusst von der Dauer der Wahlperiode abgekoppelt, die Besetzung der Position einer bzw. eines Behindertenbeauftragten soll unter Beteiligung der verbandsklageberechtigten Behindertenverbände erfolgen und bei der beauftragten Person soll es sich möglichst um einen Menschen mit Behinderung handeln.

Auch gibt es in der dienstrechtlichen und organisatorischen Zuordnung bei den Länderbeauftragten deutliche Unterschiede: Eine Reihe der Beauftragten ist - auch wenn sie weisungsunabhängig sind - den jeweiligen Sozialministerien zugeordnet. Lediglich die Beauftragten der Länder Bremen und Schleswig-Holstein sind dem jeweiligen Landtag zugeordnet.

Die Aufgaben und die Tätigkeit der Behindertenbeauftragten der Länder sowie der Bundesregierung ähneln sich. Dies ergibt sich schon aus dem gesetzlichen Auftrag, der in den jeweiligen Behindertengleichstellungsgesetzen normiert ist [4]. Auch der Erfahrungsaustausch sowie die Diskussionen während der zweimal pro Jahr stattfindenden Treffen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) sowie der Behindertenbeauftragten der Länder und der Bundesregierung zeigen, dass sich die Beauftragten mit gemeinsamen Themen befassen. So wurden während des 45. Treffens im Juni 2013 die "Düsseldorfer Erklärung" zum Reformprozess der Teilhabeleistungen [5]und während ihres 44. Treffens im September 2012 die "Mainzer Erklärung" zur Inklusion behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt[6] verabschiedet.

Die Aufgaben des Behindertenbeauftragten des Landes Bremen ergeben sich aus dem Bremischen Behindertengleichstellungsgesetz (BremBGG). Diese umfassen die allgemeine Verpflichtung, auf gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hinzuwirken. Auch kann sich jede Bürgerin und jeder Bürger an die beauftragte Person wenden, wenn die Ansicht besteht, dass Rechte von behinderten Menschen beeinträchtigt werden. Der Senat hat die beauftragte Person bei allen Vorhaben des Senats, die die Belange behinderter Menschen betreffen, zu beteiligen; sie hat das Recht auf frühzeitige Information und kann jederzeit Stellungnahmen abgeben [7].

In der Praxis haben sich für mich seit meinem Amtsantritt 2005 im Wesentlichen vier Aufgabenfelder herausgebildet:

Auf landespolitischer Ebene versuche ich, auf Gesetzgebungs- und Verordnungsvorhaben, Landesprogramme und weitere Maßnahmen im Sinne einer gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen Einfluss zu nehmen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Stellungnahmen zur Schulreform des Jahres 2009, zur Novellierung der Landesbauordnung sowie des Hochschulgesetzes sowie zu dem Bremischen Gaststättengesetz und dem Bremischen Krankenhausgesetz, der Verordnung für unterstützende Pädagogik auf Grundlage des Bremischen Schulgesetzes sowie zur Neufassung der drei Rechtsverordnungen zum BremBGG, zum Wohnungsbauförderungsprogramm des Senats und zum Nahverkehrsplan des Zweckverbandes Nahverkehrsverbund Bremen-Niedersachsen.

Hin und wieder werden mir auch Gesetz- und Verordnungsentwürfe vorgelegt, bei denen nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, dass sie auch die Belange von behinderten Menschen berühren (können). So dachte ich bei dem Entwurf der "Verordnung über den Gemeingebrauch von Gewässern im Lande Bremen" zunächst, ich müsse hierzu keine Stellungnahme abgeben. Als ich jedoch feststellte, dass der Verordnungsentwurf ein umfassendes Verbot der Mitnahme von Hunden an öffentlich zugängliche Badestrände an Seen und Flüssen vorsah, sah ich mich dazu veranlasst, für Blindenführhunde und Assistenzhunde behinderter Menschen eine Ausnahmeregelung in der Verordnung einzufordern.

Als Behindertenbeauftragter des Zwei-Städte-Staates Bremen nehme ich in Bezug auf die Stadtgemeinde Bremen auch kommunale Aufgaben wahr, d.h. ich werde auch an kommunalpolitischen Entscheidungsprozessen, insbesondere im Bereich Bauen und Verkehr beteiligt. Aktuell ist in Bremen geplant, in Anlehnung an eine entsprechende Richtlinie des Bundes ein Regelwerk zur barrierefreien Gestaltung öffentlicher Gebäude zu erarbeiten, die nicht nur die Belange der verschiedenen Gruppen von Menschen mit Behinderung berücksichtigt, sondern die auch auf den Altbestand öffentlicher Gebäude anwendbar sein soll. Darüber hinaus wird zurzeit auf meine Initiative hin die 2008 vom Senat verabschiedete "Richtlinie zur barrierefreien Gestaltung baulicher Anlagen des öffentlichen Verkehrsraums, öffentlicher Grünanlagen und öffentlicher Spiel- und Sportstätten" [8] mit dem Ziel überarbeitet, sie an die neuen Normen zur Barrierefreiheit, wie z.B. die DIN 32984 über Bodenindikatoren anzupassen.

Als vom Senator für Umwelt, Bau und Verkehr anerkannter "Träger öffentlicher Belange" werde ich auch an konkreten Planungen zur Gestaltung des öffentlichen Verkehrsraums wie z.B. die Neugestaltung von Straßen, Wegen, Plätzen oder die Verlängerung von Straßenbahnlinien beteiligt. Hinzu kommt die Beteiligung an der Gestaltung öffentlicher Gebäude wie zum Beispiel des Fachgerichtszentrums in Bremen, das auch über ein Blindenleitsystem, Induktionsschleifen in einigen Gerichtssälen, kontrastreiche und gut lesbare Beschriftungen und Hinweise in Braille-Schrift verfügt.

Zur "Großbaustelle" hat sich inzwischen meine Beteiligung an den Workshops zur Gestaltung eines "Gemeinsamen Verkehrsraums" - worunter einige der Beteiligten nichts anderes als "Shared Space" zu verstehen scheinen - im Stadtteil Bremen-Osterholz entwickelt. Im Rahmen meiner Beteiligung mache ich dabei in Abstimmung mit Behindertenverbänden immer wieder deutlich, dass "Shared Space" aus Sicht behinderter Menschen, insbesondere auch blinder und stark sehbehinderter Personen, problematisch ist und deshalb andere Konzepte wie das der "Begegnungszone" aus der Schweiz zu bevorzugen sind, bei dem Fußgänger ein "Vorfahrtsrecht" bzw. "Vortrittsrecht" haben.

Meine Dienststelle ist auch Eingabe- und Beschwerdestelle für einzelne Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichsten Anliegen. Das Spektrum der Eingaben und Beschwerden ist sehr breit gefächert. Zu nennen sind z.B. Beschwerden über zu lange Verfahren von Behörden bei der Antragsbearbeitung, die Nichtzuerkennung des Schwerbehindertenstatus oder bestimmter Vermerke auf dem Schwerbehindertenausweis wie z.B. "AG" durch das Versorgungsamt, die Ablehnung der Übernahme der Mietkosten für eine alleinerziehende Mutter mit Rollstuhl durch das Jobcenter, das Fehlen von Schwimmbadliftern in öffentlichen Bädern, die Nichtgewährung von Schulassistenz für behinderte Schülerinnen und Schüler etc. Da meine Mitarbeiter und ich keine Einzelfallbegleitung über einen längeren Zeitraum hinweg leisten können, verweisen wir ratsuchende Personen des Öfteren an Beratungsstellen für behinderte Menschen weiter, weisen sie auf die öffentliche Rechtsberatung in Bremen hin oder empfehlen ihnen die Hinzuziehung einer Rechtsanwältin bzw. eines Rechtsanwalts. Auch leiten wir Beschwerden an die jeweils zuständigen Stellen wie z.B. die Heimaufsicht weiter, von der wir dann eine Rückmeldung erbitten und erhalten. In anderen Fällen wiederum gelingt es, eine Problemlösung herbeizuführen, z.B. bei zu langer Verfahrensdauer.

Als viertes Aufgabenfeld ist die Öffentlichkeitsarbeit zu nennen. Diese umfasst nicht nur die Gestaltung und Pflege der eigenen Internetseite sowie die Herausgabe eines Newsletters sowie von Pressemitteilungen, sondern auch die Durchführung eigener Veranstaltungen, z.B. zur Behindertenrechtskonvention oder zum Thema "Gewalt gegen Frauen und Männer mit Behinderung", das Halten von Vorträgen, z.B. zu Themen wie "Barrierefreiheit und Denkmalschutz", "Inklusion im Sport" oder "Die Bedeutung der Behindertenrechtskonvention für die Bildungspolitik in Deutschland", Interviews und Gespräche mit Medienvertreterinnen und -vertretern sowie das Entrichten von Grußworten bei verschiedenen Veranstaltungen.

Zusätzlich ist mir aufgrund einer Initiative der Bremischen Bürgerschaft (Landtag) sowie eines Beschlusses des Senats der Vorsitz eines "Temporären Expertinnen- und Expertenkreises" übertragen worden, der den Entwurf eines Aktionsplans zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention im Land Bremen erarbeiten soll. In diesem Gremium sind alle Senatsressorts, Vertreterinnen und Vertreter der nach dem BremBGG verbandsklageberechtigten sechs Behindertenverbände, die Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF), der Magistrat der Stadt Bremerhaven sowie als Gäste mit Rederecht jeweils ein Vertreter bzw. eine Vertreterin der in der Bürgerschaft vertretenen Parteien, der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte sowie der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände vertreten. Mein Stellvertreter ist der Staatsrat für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, Horst Frehe. Dem Gremium übergeordnet ist eine Staatsrätelenkungsrunde. Der Entwurf des Aktionsplans wird voraussichtlich im Frühjahr 2014 fertig gestellt sein [9].

Als ich mich 2005 als Richter am Arbeitsgericht beurlauben ließ und meine Tätigkeit als Landesbehindertenbeauftragter aufnahm, war mir nicht bewusst, wie komplex mein neues Aufgabengebiet sein würde. Die von mir zu bearbeitenden Themenfelder reichen - ebenso wie diejenigen der anderen Landesbeauftragten und des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen - von A wie Arbeitsmarktpolitik über B wie Bauen und Bildung bis hin zu V wie Verkehrspolitik, W wie Wohnen für behinderte Menschen sowie Z wie Zugänglichkeit. Hinzu kommen zahlreiche rechtliche Regelungen, die für die Gleichstellung behinderter Menschen von Bedeutung sind. Wie allein schon ein Blick in die Gesetzessammlung "Behindertengleichstellungsrecht"[10]zeigt, ist das Behindertengleichstellungsrecht sehr zersplittert. Wichtige Rechtsquellen sind die Behindertenrechtskonvention, Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union, das Grundgesetz, Landesverfassungen sowie Gesetze und Verordnungen des Bundes sowie der Länder.

Mir persönlich haben meine Kenntnisse und meine Berufserfahrung als Jurist zwar geholfen, den Anforderungen an meine Tätigkeit als Behindertenbeauftragter gerecht werden zu können. Bei meiner Arbeit als Landesbehindertenbeauftragter eines Stadtstaates mit einem hohen Anteil kommunalpolitischer Aufgaben besteht jedoch ständig die Gefahr, sich zu verzetteln oder in dem Netz von Problemen und Aufgaben zu verfangen und dadurch in der eigenen Handlungsfähigkeit eingeschränkt zu werden. So gibt es in Bremen beispielsweise hunderte nicht barrierefreier Bus- und Straßenbahnhaltestellen sowie tausende noch nicht auf drei Zentimeter abgesenkte Bordsteine. Sich um jede einzelne Haltestelle und jeden einzelnen (noch) nicht abgesenkten Bordstein zu kümmern, birgt die Gefahr in sich, sich selbst aufzureiben. Deshalb ist es meines Erachtens wichtig, dass Regeln und Strukturen dafür geschaffen werden, wie in Zukunft mit den Bordsteinen und Haltestellen verfahren werden soll. Dass dies möglich ist, zeigt die Bereitstellung von Mitteln durch den Senator für Umwelt, Bau und Verkehr zur Herstellung von Barrierefreiheit bei mehr als 50 Haltepunkten von Bussen bis 2015. Als Behindertenbeauftragter engagiere ich mich nicht nur und schwerpunktmäßig für die Beseitigung der einzelnen Barriere an einer Haltestelle oder einer Fußgängerquerung, sondern auch für die Schaffung einer Struktur, die gewährleistet, dass die genannten Barrieren nach einer verabredeten Prioritätenliste schrittweise abgebaut werden.

Wenn sich Eingaben einzelner Bürgerinnen und Bürger sowie erwartete fristgebundene Stellungnahmen zu Bau- und Planungsvorhaben sowie zu Gesetz-, Verordnungs- und Richtlinienentwürfen häufen, und gleichzeitig wichtige Ausschusssitzungen stattfinden, bleibt häufig trotz personeller Unterstützung durch meinen kleinen Mitarbeiterstab wenig Raum für die Entwicklung und Umsetzung eigener konzeptioneller Vorstellungen wie beispielsweise die Durchführung von Fachveranstaltungen zu einem einem selbst als bedeutsam erscheinenden Thema. Es ist aber wichtig, den eigenen "roten Faden" in der Hand zu behalten und die eigenen konzeptionellen Vorstellungen weiterzuverfolgen, um nicht vom Akteur zum Reakteur zu werden. Nur unter dieser Voraussetzung kann es gelingen, Programme wie "Inklusion in der Wissenschaft" zu initiieren, mit dem an der Universität Bremen zwischenzeitlich zehn befristetete Arbeitsverhältnisse für schwerbehinderte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler geschaffen werden konnten und das bundesweit als Vorbild für ähnliche Projekte gilt.

Für die Entwicklung in Bremen wünsche ich mir, dass es im Zuge der Erarbeitung des Aktionsplans gelingt, Behindertenpolitik im Sinne eines "disability mainstreaming" als Querschnittsaufgabe zu verankern, so dass bei allen politischen Entscheidungen und Maßnahmen deren Auswirkung auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung beachtet und die Frage einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung bedacht wird. Desweiteren wünsche ich mir, dass das Bremische Behindertengleichstellungsgesetz unter Berücksichtigung der BRK überarbeitet und das Bremische Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit der BRK hin überprüft wird. Auch sollte Bremen mehr als bisher Integrationsbetriebe fördern und auch im öffentlichen Dienst Integrationsabteilungen, z.B. zur Reinigung von Schulen oder in Kantinen von Ganztagsschulen gründen, um hierdurch mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen.

Schön für mich persönlich ist - dieser abschließende Hinweis sei mir gestattet -, dass ich mich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit beim Warten auf die Straßenbahn auf einem kleinen Erfolg von mir ausruhen kann, nämlich einem taktilen weißen Auffindestreifen an der Haltestelle.

Zum Autor

Dr. Joachim Steinbrück studierte ab 1976 Rechtswissenschaft in Bremen. Nach Promotion und Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter war er von 1991 bis 2005 Richter am Arbeitsgericht Bremen und ist derzeit Landesbehindertenbeauftragter im Land Bremen.

Anmerkungen

[1] Vgl. § 11 Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen (BGG NRW). zurück zum Text

[2] Vgl. § 14 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG).zurück zum Text

[3] Vgl. § 14 Bremisches Behindertengleichstellungsgesetz (BremBGG) zurück zum Text

[4] Vgl. z.B. §15 BGG; §12 BGGNRW; Art.17 Bayrisches Behindertengleichstellungsgesetz (BayBGG); §15BremBGG.zurück zum Text

[5] Veröffentlicht unter www.kobinet-nachrichten.org [aufgerufen am 03.07.2013]. zurück zum Text

[6] Veröffentlicht unter www.kobinet-nachrichten.org/de/nachrichten/?oldid=30308 (aufgerufen am 03.07.2013). zurück zum Text

[7] Zu den weiteren Einzelheiten vgl. §15 BremBGG. zurück zum Text

[8] Veröffentlicht unter www.behindertenbeauftragter.bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen55.c.2634.de [aufgerufen am 03.07.2013]. zurück zum Text

[9] Für weitere Informationen s. unter www.behindertenbeauftragter.bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen55.c.4164.de (aufgerufen am 03.07.2013). zurück zum Text

[10] Frehe, Horst; Welti, Felix (HrsG.), Behindertengleichstellungsrecht, 2. Aufl 2012 (Die Printausgabe enthält eine barrierefreie Textversion auf CD-ROM). zurück zum Text

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Birgit Rydlewski

"Ich habe zunächst aus Protest die Piraten gewählt" - Landtagsabgeordnete Birgit Rydlewski im horus-Interview

Birgit Rydlewski ist seit 2009 Mitglied der Piratenpartei und wurde 2012 in den Landtag Nordrhein-Westfalen gewählt. DVBS-Vorsitzender Uwe Boysen sprach mit der sehbehinderten Abgeordneten über ihren Weg in die Politik und die Möglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen, politisch aktiv zu werden.

Boysen: Frau Rydlewski, seit wann interessieren Sie sich für Politik?

Rydlewski: Ich habe mich viele Jahre zwar für Politik interessiert, mich aber kaum politisch engagiert (außer gelegentlicher Teilnahme an Demos, z. B. gegen Naziaufmärsche etc.).

B: Was war dann der Anstoß, sich auch aktiv in politische Diskussionen einzubringen?

R: Vor meiner Landtagstätigkeit war ich Lehrerin am Berufskolleg für alle Wirtschaftsfächer (Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre, Rechnungswesen), Deutsch und gelegentlich Politik und Mathematik. Ich habe mich im Rahmen der Freiräume in den genannten Fächern immer auch zusammen mit Schüler/innen mit aktuellen politischen Themen auseinandergesetzt. Gerade im Fach Volkswirtschaft entstanden dabei auch viele Diskussionen über globale Themen, also zum Beispiel über die Verantwortung von Konsumenten. (Beispielfragestellungen: Wie werden preiswerte T-Shirts oder Jeans produziert? Wie fair wird ein Handy produziert? Was bedeutet das in der globalen Verantwortung? Wie sind die Arbeitsbedingungen in anderen Teilen der Welt? Welche Folgen hat die Politik von Europa [Agrarsubventionen] auf andere Länder [z.B. Afrika]? Wird Schokolade durch Kinderarbeit produziert? Ist die Idee von Wirtschaftswachstum überholt?) In der Folge dieser Themen und Fragestellungen habe ich vor einigen Jahren angefangen, Veranstaltungen von Attac zu besuchen und zu unterstützen, weil ich das Gefühl hatte, zu passiv zu sein und auch etwas bewirken/verändern wollte.

B:Wie kamen Sie dann zu den Piraten?

R: Im Frühjahr des Jahres 2009 war ich zur Europawahl sehr frustriert von den herkömmlichen Parteien. Ich habe dann zunächst aus Protest die Piraten gewählt. Später bin ich dann immer öfter zum Stammtisch der Piraten in Dortmund gegangen und habe mich da sehr wohl gefühlt. Ich habe es als sehr angenehm empfunden, dass ich mitarbeiten konnte, ohne überhaupt Mitglied zu sein. Ich habe dann am Programm für Bildungspolitik mitgeschrieben und bin im Herbst 2009 Mitglied geworden, weil ich bei der Wahl der Direktkandidat/innen mitstimmen wollte. Ein paar Monate später war ich dann (für ein Jahr) Landesvorsitzende von NRW.

B: Waren Sie überrascht, sich dann im Nordrhein-Westfälischen Landtag wiederzufinden?

R: Ja, denn ursprünglich hatte ich nicht geplant, beruflich in die Politik zu gehen. Ich habe das dann im Grunde laufen lassen, mich auf die Liste beworben, Wahlkampf gemacht und bis zur Wahl nicht so richtig daran geglaubt. Es ist aber jetzt eine Chance, mich aktiv an politischen Prozessen zu beteiligen, die ich wohl sonst niemals so bekommen hätte.

B: Welche Politikfelder beackern Sie jetzt speziell?

R: Ich bin ordentliches Mitglied in zwei Ausschüssen: Im Ausschuss für Schule und Weiterbildung und im Ausschuss für Frauen, Gleichstellung und Emanzipation. Im Bereich Bildung bin ich aufgrund der Tätigkeit als Lehrerin sehr gerne tätig, weil es die Möglichkeit bietet, unsere - in meinen Augen - sehr guten Vorstellungen von einem modernen Bildungssystem zu diskutieren. Gerade vor dem Hintergrund von Inklusion ist es uns sehr wichtig, wirklich individuelles Lernen in allen Schulen zu stärken (also wegzukommen vom Frontalunterricht, weg von der Vorstellung, dass alle mit den gleichen Materialien in der gleichen Zeit das Gleiche lernen müssen). Das Thema "Frauen, Gleichstellung, Emanzipation" habe ich vor allem deshalb als sehr spannend kennen gelernt, weil ich gerade in diesem Bereich und bei feministischen Veranstaltungen sehr viele engagierte Menschen kennen gelernt habe. Allerdings wird das Thema als solches in der Partei (also zum Beispiel Frauenquoten, Sexismus, Feminismus etc.) recht kontrovers und oft auch sehr emotional diskutiert.

B: Haben die Piraten, die ja besonders internetaffin sind, auch eine Position zu Fragen von Barrierefreiheit im Netz?

R: Wir haben mehrere Abschnitte im Programm, die Barrierefreiheit umreißen. Zumindest wird formuliert, dass Teilhabe an digitaler Kommunikation und digitalem Leben für alle Menschen offen und möglich sein muss. Ein Zitat aus dem Programm: "Ohne die Möglichkeit zur Teilhabe ist weder echte Meinungsfreiheit noch die freie Entfaltung der Persönlichkeit mehr möglich." Leider fehlt hier die explizite Bezeichnung "Barrierefreiheit" derzeit noch. Generell haben wir mehrere Kandidat/innen für die Bundestagswahl, die das Thema Barrierefreiheit und Inklusion voranbringen wollen - dabei ist zum Beispiel unsere gehörlose Kandidatin Julia Probst. Und in unserer Landtagsfraktion sitzt der Fraktionskollege Stefan Fricke im Rollstuhl. Weiterhin hat der Bundesvorstand der Piratenpartei im Mai beschlossen, dass alle zentralen Veröffentlichungen der Piratenpartei der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung (BITV) gerecht werden sollen.

B: Werden Sie bei Ihrer politischen Arbeit durch Ihre Sehbehinderung beeinträchtigt, und wie gleichen Sie das ggf. aus?

R: Kurz zu meiner Erkrankung: Ich habe das Glück, dass ich zwar eine sehr seltene Netzhauterkrankung habe, diese aber "nur" in Schüben auftritt, und durch Spritzen (neben oder ins Auge, meist Triamcinolon) aufgehalten werden kann, so dass ich dann zwar während des akuten Schubs sehr schlecht sehe, dies sich aber innerhalb einiger Wochen oder Monate wieder weitgehend normalisiert. Bei der Arbeit als Lehrerin war ich dann innerhalb solcher Phasen krankgeschrieben, weil die Arbeit dort so schnell nicht umzuorganisieren war (Klausuren lesen, Auto fahren von einem Schulstandort zum anderen etc.). Im Landtag ist es tatsächlich recht gut möglich, trotzdem zu arbeiten. Das liegt unter anderem daran, dass der Landtag als Arbeitsplatz weitgehend barrierefrei gestaltet ist (auch hier gibt es aber noch Verbesserungsmöglichkeiten). Alle Dokumente sind als Datei verfügbar, so dass ich diese am iPad vergrößert lesen oder mir mit technischer Hilfe vorlesen lassen kann. Zudem können Abgeordnete persönliche Mitarbeiter/innen einstellen, die ebenfalls als Assistenz helfen können. Ich habe daher auch während der Zeit, in der ich kaum sehen konnte, relativ normal weiterarbeiten können. Ich habe mich allerdings nicht sicher genug gefühlt, um in der Zeit auch im Plenum zu reden. Ich denke aber, dass das mehr mit fehlender Gewohnheit von mir zu tun hat. Sollte die Netzhaut langfristig doch stärkere Schäden aufweisen, gehe ich davon aus, dass ich lernen würde, diese Unsicherheit zu überwinden.

B: Was würden Sie abschließend anderen blinden und sehbehinderten Menschen raten: Ist eine politische Karriere für unseren Personenkreis machbar?

R: Ich persönlich habe mal versucht, andere sehbehinderte oder blinde Politiker/innen zu finden. Es gibt leider kaum welche. Ich sehe es durchaus als möglich an, mit einer Sehbehinderung politisch aktiv zu sein. Gerade auch in Landtagen oder im Bundestag ist dies gut möglich, weil in all diesen Bereichen Barrierefreiheit kontinuierlich verbessert wird. Zudem halte ich es für erstrebenswert, dass sich Menschen aus allen Bereichen politisch engagieren. Viele Probleme sehbehinderter und blinder Menschen werden (wie bei allen Behinderungen) eventuell von vielen Menschen gar nicht wahrgenommen. Dies ist mir zum Beispiel aufgefallen, als ich mich kaum sehend in einem Bahnhof orientieren musste - vorher habe ich das gar nicht so empfunden. Ich würde mir daher wünschen, dass Sehbehinderte und Blinde ihre Interessen und Bedürfnisse noch mehr kommunizieren und diese Forderungen auch politisch einbringen. Zudem ist es in einer Gesellschaft, die Inklusion voranbringen und leben will, sinnvoll, dass Menschen mit Behinderungen auch in der Öffentlichkeit stärker präsent sind und dort als "normaler" Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden. Deshalb bieten wir Interessierten aller Altersgruppen gerne die Möglichkeit an, den Landtag NRW zu besuchen oder bei uns/mir ein Praktikum zu absolvieren.

Kontakt/Fragen/Anregungen über Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.birgit-rydlewski.de oder Tel.: 0177 7792284

Zur Autorin

Birgit Rydlewski ist 43 Jahre alt, studierte nach einer Ausbildung zur Steuerfachangestellten Germanistik, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Pädagogik. Nach ihrem Staatsexamen unterrichtete sie am Berufskolleg Wirtschaftsfächer (Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre, Rechnungswesen) und Deutsch. Seit 2012 ist sie für die Piraten Mitglied des Nordrhein-Westfälischen Landtags.

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Maria Schröder

"Einblicke" - Ein Exkurs in die Machtzentrale

Ein außergewöhnliches Praktikum im Abgeordnetenbüro von Antje Tillmann (CDU/CSU)

Zu den Anforderungen der zweijährigen höheren Berufsfachschule für staatlich geprüfte kaufmännische Assistent/innen für Informationsverarbeitung/Wirtschaft (BIW) gehört ein sechswöchiges Praktikum.

Ich habe mir schon sehr frühzeitig Gedanken gemacht, in welche Richtung meines gehen sollte. Mein Ziel war es, ein sehr vielseitiges und für meine Interessen passendes Betätigungsfeld zu finden. Des Weiteren wollte ich ein außergewöhnliches Praktikum durchlaufen. Meine Sehbehinderung ist so stark ausgeprägt, dass dies bei zukünftigen Bewerbungen als Nachteil gesehen werden könnte. Unter diesem Gesichtspunkt wollte ich ein Berufsfeld kennen lernen, welches ich als Aushängeschild verwenden kann.

Die Bundestagsabgeordnete Antje Tillmann der CDU/CSU-Fraktion bot mir die Möglichkeit, mein Praktikum zu splitten, um möglichst viele Eindrücke und Erfahrungen sammeln zu können. So konnte ich nach vier Wochen im Abgeordnetenbüro in Berlin zwei Wochen den Alltag und die Aufgabenbereiche von Antje Tillmann im Bürgerbüro in Erfurt kennen lernen.

Ich wusste, dass ich einiges leisten muss, wenn ich ein so anspruchsvolles Praktikum durchlaufen möchte. Daher hatte ich mich sehr früh beworben. Als ich die Zusage bekam, musste ich manches im Vorfeld organisieren. Ich wohnte bei einer Bekannten, allerdings wohnt diese an der Grenze zu Brandenburg. Dies bedeutete, dass ich in den vergangenen Sommerferien eine Woche dort verbringen musste, um die Wege und öffentlichen Verkehrsmittel kennen zu lernen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich in einer Großstadt zurechtkomme. Aber ich habe es geschafft. Dies war eine sehr wichtige Erfahrung für mich, denn dies zeigte mir, dass ich überall zurechtkommen kann, es bedarf nur ein wenig Übung.

Mitten im politischen Geschehen

Man unterscheidet im Abgeordnetenbüro zwischen Sitzungswochen und sitzungsfreien Wochen. Die Sitzungswochen sind die, in denen alle Abgeordneten in Berlin sein müssen. In diesen Wochen finden Arbeitsgruppen, Ausschüsse, Plenarsitzungen und Veranstaltungen statt. Während meines Praktikums übte ich allgemeine Verwaltungs- und Sekretariatstätigkeiten, wie z.B. Internetrecherchen oder Verfassen von Zeitungsartikeln aus. Darüber hinaus bekam ich die Möglichkeit, am Praktikantenprogramm teilzunehmen. Ich durfte an verschiedenen Veranstaltungen, Diskussionsrunden und Besichtigungen teilnehmen. Als Zuschauerin hospitierte ich außerdem im Finanz- sowie Gesundheitsausschuss in Berlin und ich gewann einen Eindruck von der Tätigkeit der Arbeitsgruppe Kommunales. Diese Hospitationen waren sehr aufschlussreich und haben mein Interesse noch mehr geweckt.

Einmalig waren die Diskussionsrunden, welchen sich einige Abgeordnete stellten. Die Gespräche mit Thomas de Maizière, Dr. Wolfgang Schäuble, Peter Altmaier und weiteren teilnehmenden Abgeordneten waren sehr informativ und für mich eine Herausforderung. Wir haben über Thematiken gesprochen, über die erst Wochen später in den Medien berichtet wurde. Dies gab mir das Gefühl, einen sehr guten Überblick über das politische Geschehen erhalten zu haben.

Ein weiteres Ereignis war, als ich am letzten Praktikumstag an der Nominierung der Direktkandidatin für die kommende Bundestagswahl 2013 für den Wahlkreis Erfurt, Weimar, Weimarerland und Grammetal anwesend sein durfte. Es war der krönende Abschluss meines Praktikums, da Antje Tillmann gewählt wurde.

Es waren spannende Wochen für mich und ich bin froh und auch stolz, dieses Praktikum bewältigt zu haben.

Zur Autorin

Maria Schröder hat in diesem Jahr die Ausbildung zur staatlich geprüften kaufmännischen Assistentin für Informationsverarbeitung/Wirtschaft (BIW) an der Berufsfachschule der blista abgeschlossen.

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Isabella Brawata

Ich kann endlich selber wählen!

Politikmuffel werden meine große Freude darüber, dass ich, seit es blinden- und sehbehindertengerechte Wahlschablonen gibt, nun endlich eigenständig im Wahllokal meine Stimme abgeben kann, nicht nachvollziehen können. Aber als Angehörige gleich mehrerer Minderheiten und benachteiligter Personengruppen -weiblich, behindert und nicht in Deutschland aufgewachsen - ist es mir nicht gleichgültig, wer in Deutschland das Sagen hat.

Es war für blinde und sehbehinderte Menschen zwar auch schon früher, bevor es die extra für sie gefertigten Wahlschablonen gab, möglich, zu wählen, aber das ging nur per Briefwahl. Das bedeutete, man brauchte eine Vertrauensperson, die für einen das Kreuzchen vor die richtige Partei setzte. Und genau hier lag das Problem.

Die Zeit vor den Wahlen ist zumindest für politisch Interessierte aufregend. Man streitet heftig über die Wahlziele der Parteien und alle versuchen, die anderen auf die "richtige" Seite zu ziehen. Mein Chef ist von der Piratenpartei überzeugt, mein Lebensgefährte als Vorsitzender eines SPD-Ortsvereins und Mitglied im Stadtverbandsvorstand der Sozialdemokraten schwört natürlich auf seine Partei, ein Bekannter, der schon lange arbeitsuchend ist, sieht seine Belange am besten durch die Linkspartei vertreten.

Jetzt möchten Sie vielleicht wissen, wen ich gewählt habe. Aber genau das brauche ich nun niemandem mehr zu verraten. Ich muss mich nicht vor der Person, mit deren Hilfe ich früher den Stimmzettel ausgefüllt hatte, dafür rechtfertigen, warum ich mich so und nicht anders entschieden habe. In einer Demokratie hat man das Recht auf geheime Wahlen und dieses Recht kann ich nun wahrnehmen!

Meine erste Nicht-Brief-Wahl im Wahllokal war allerdings nicht ganz so geheim wie sie sein sollte. Mein ebenfalls blinder Lebensgefährte und ich gingen eines Sonntags mit unseren Wahlschablonen wählen. Die Schablone ist aus Pappe und der Stimmzettel wird in sie eingelegt. Da, wo man sein Kreuz machen kann, sind Löcher in die Pappe gestanzt und vor jedem Loch ist sowohl eine Punktschriftzahl als auch eine fühlbare normale Ziffer aufgedruckt. Zu jeder Wahlschablone wird eine CD mitgeliefert, auf der erklärt wird, welches Loch für welche Partei gilt. Damit man den Wahlzettel nicht falsch herum einlegt, befindet sich auf dem Stimmzettel an einer Ecke ein Loch und die Wahlschablone weist an einer Ecke eine Lasche auf. Wenn Loch und Lasche übereinstimmen, kann es mit der Stimmabgabe losgehen.

Unser Wahllokal befindet sich in einem Alten- und Pflegeheim. Jedes Mal suchen wir den Eingang, aber am Wahlsonntag sind ja genug Leute unterwegs, die man fragen kann. Im Wahllokal sind Wahlhelfer den Leuten bei der Stimmabgabe behilflich. Meist sind es Parteimitglieder der verschiedenen Parteien, die als Wahlhelfer tätig sind, daher wurde mein Lebensgefährte, sobald wir das Wahllokal betraten, freudig begrüßt.

Ich war ganz aufgeregt, dass ich zum ersten Mal mit einer Wahlschablone wählen konnte, ließ von einer Wahlhelferin vorsichtshalber noch mal überprüfen, dass der Stimmzettel nicht verrutscht war, denn ich habe jedes Mal beim Wählen Bammel, dass der Wahlzettel nicht ganz richtig in die Schablone eingelegt ist und ich daher aus Versehen den "falschen" Leuten meine Stimme gebe. Ich wollte gerade mein Kreuzchen setzen, als ich plötzlich die verwunderte Stimme der Wahlhelferin hinter mir hörte: "Sind Sie sicher, dass Sie diese Partei wählen möchten?" Die Frau war anscheinend neugierig, wie das mit den Wahlschablonen funktioniert und hatte mir über die Schulter geblickt. Da sie und mein Lebensgefährte Parteigenossen waren, ist sie vielleicht davon ausgegangen, dass ich ebenfalls Genossin wäre. Sie hatte übrigens Recht. Ich wollte wirklich nicht die Partei wählen, die ich angekreuzt hatte, aber vor lauter Aufregung war ich mit den Parteinummern durcheinandergekommen. Ich bekam einen neuen Stimmzettel und durfte erneut mein Kreuz, diesmal jedoch an der richtigen Stelle, setzen. Ich war der Wahlhelferin dankbar, wies sie aber freundlich darauf hin, dass es normalerweise nicht üblich sei, den Leuten beim Wählen zuzuschauen. Die nächsten Wahlen liefen dann auch wirklich absolut geheim ab. Ich bin sehr glücklich, dass Dank der gelochten Wahlschablonen blinden und sehbehinderten Menschen ein großes Stück mehr Selbständigkeit ermöglicht wird.

Info: Wahlschablonen

Blinde und sehbehinderte Menschen werden wie schon bei voran gegangen bundesweiten Wahlen auch bei der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 wieder barrierefrei wählen können - zu Hause mittels Briefwahl oder direkt im Wahllokal. Gleiches gilt ebenfalls für die in diesem Jahr stattfindenden Landtagswahlen. Seit der Bundestagswahl im Jahr 2002 haben blinde und sehbehinderte Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit, selbstbestimmt von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und mittels Wahlschablonen ihr Wahlrecht uneingeschränkt auszuüben. Auf Anfrage über eine bundesweite Hotline 01805 - 666 456 (0,14 €/Min. aus dem deutschen Festnetz) - die automatisch die Verbindung zu dem zuständigen Landesverband herstellt - übersenden dann die Landesvereine des DBSV dem blinden und sehbehinderten Wähler "seine" Wahlschablone. DVBS-Mitglieder bekommen die Wahlschablonen für die Bundestagswahl und die Landtagswahl in Hessen zugeschickt.

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Bildung und Wissenschaft

Thomas Struppe

Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Studenten sind weitestgehend unerforscht

Im Rahmen meiner Abschlussarbeit in Pädagogischer Psychologie beschäftigte ich mich mit der Studienzufriedenheit und dem Studienalltag blinder und sehbehinderter Studenten an deutschen Hochschulen.

Bereits bei der Literaturrecherche stellte sich heraus, dass nur sehr eingeschränkt Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen oder verwertbares statistisches Zahlenmaterial vorlagen.

Da die Studentenwerke und andere Institutionen keine verbindlichen Statistiken erheben, fehlen sogar relevante Zahlen für die Bedarfsplanung seitens der Hochschulpolitik. In den meisten Artikeln wird deshalb auf die vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) geschätzte Angabe von 450 blinden Studenten in Deutschland zurückgegriffen. In einer Umfrage des Deutschen Studentenwerkes im Jahr 2011 unter fast 16.000 Studenten mit Behinderung oder chronischer Erkrankung gaben 0,4 Prozent an, gesetzlich blind zu sein.

In vorangegangenen Arbeiten zum Thema elektronisches Lernen für blinde Nutzer hatte ich bereits feststellen müssen, dass sich die wissenschaftliche Fachliteratur hauptsächlich mit der Zugänglichkeit (oder besser Nicht-Zugänglichkeit) von Onlineangeboten seitens der Universitäten beschäftigte.

Dies bildet aber natürlich nur einen sehr schmalen, und wie Sie später sehen werden, recht willkürlich gewählten Ausschnitt der Bedürfnisse und Probleme ab, welche sich blinden Studenten in ihrem Studienalltag stellen. Aus diesen Erfahrungen erwuchs die Idee einer explorativen Befragung blinder und sehbehinderter Studenten.

Im Mittelpunkt sollte die Frage stehen, wie die Betroffenen typische Probleme im Studienverlauf gewichten, ob es signifikante Unterschiede in der Bewertung der Studienzufriedenheit gibt und welche Wünsche und Vorschläge die Studenten zur Verbesserung der Studienbedingungen haben. Zu diesem Zweck wurde ein Onlinefragebogen konstruiert und im Virtuellen Labor der FernUniversität in Hagen zugänglich gemacht. Nach der Bereinigung gingen die Antworten von 33 Teilnehmern in die weitere Datenanalyse ein, darunter ein Großteil Studenten des Fachs Psychologie, weiterhin der Sonderpädagogik, Humanmedizin, Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaften, Mathematik u.a. Das durchschnittliche Alter der teilnehmenden Studenten betrug 27 Jahre, wobei 22 Teilnehmer weiblich und 11 männlich waren.

Hinsichtlich der medizinischen Kategorisierung gaben elf der Teilnehmer an, gesetzlich blind, sieben sehbehindert und weitere vier hochgradig sehbehindert zu sein. Die restlichen elf Personen machten hierzu keine Angaben. Die medizinischen Diagnosen der Befragten waren sehr heterogen und reichten von Retinopathia pigmentosa und Zapfendystrophie, über Optikusatrophie, bis hin zu Mikrophthalmie. Bei der Einschätzung der Zufriedenheit mit den Studienbedingungen zeigte sich, dass Befragte, welche als gesetzlich blind oder hochgradig sehbehindert galten, signifikant schlechtere Bewertungen abgaben, als Personen, die zur medizinischen Kategorisierung keine Angabe gemacht hatten.

Dieser Effekt konnte durch den starken Einfluss der Zufriedenheit mit den Studieninhalten jedoch aufgehoben werden. Blinde und hochgradig sehbehinderte Studenten wünschen sich also durchaus bessere Studienbedingungen, jedoch leidet ihre Gesamtstudienzufriedenheit nicht unter den empfundenen Mängeln.

Wenn die Betroffenen sich also optimierte Rahmenbedingungen für ihr Studium wünschen, wo sind dann Ansatzpunkte zu suchen? Um diese Frage zu erörtern, wurde den Teilnehmern eine Liste mit typischen behinderungsspezifischen Problemen vorgelegt. Sie wurden aufgefordert, diese anhand der Relevanz für ihr persönliches aktuelles Studium zu ordnen. Die stärkste Bedeutung für die Befragten hatten dabei fehlende Unterstützung durch Lehrkräfte, Zeitdruck und mangelnde behindertengerechte Arbeitsmittel. Die Zugänglichkeit von elektronischen Medien landete neben weiteren Items im Mittelfeld, während erschwerte Orientierung auf dem Campus und Diskriminierung durch Kommilitonen eine sehr untergeordnete Rolle spielten.

Im Anschluss an diese Hierarchisierung wurde noch mittels offener Fragen genauer auf die spezifischen Probleme eingegangen. Hier zeigte sich u.a., dass die fehlende Unterstützung seitens der Dozenten nicht auf mangelnden Willen oder gar Empathie der Lehrkräfte zurückzuführen ist, sondern die Studenten die fehlenden Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit ihrer Behinderung bemängelten. So wurde beklagt, dass die meisten Professoren auch auf mehrmalige Nachfrage nicht fähig seien, ihre Vorlesungen ohne Tafelbild nachvollziehbar zu gestalten, oder bestimmte visuelle Lernerfahrungen anderweitig anzubieten.

Bei den Wünschen und Vorschlägen zur Verbesserung des Studiums tauchten dann auch Dozententrainings auf, welche die Professoren im Umgang mit Seh-, aber auch anderen Behinderten schulen und ihre didaktischen Kompetenzen erweitern sollen. Weiterhin wünschen sich viele Teilnehmer eine zentrale Anlaufstelle oder einen Studienführer, welche alle Informationen über das Studium mit Sehbehinderung übersichtlich und kompakt anbieten sollten. Wo beantrage ich eine Arbeitsassistenz? Wie komme ich an technische Hilfsmittel? Wie verlaufen die schriftlichen Prüfungen? Hier wurde auch vermehrt Unzufriedenheit mit den vorhandenen Behindertenbeauftragten der Hochschulen geäußert. Ganz oben in der Liste der Verbesserungsvorschläge rangierte aber das altbekannte Problem der nicht behindertengerechten Arbeitsmittel. Durchgängig beklagten die Studenten die fehlende oder nur langsam fortschreitende Digitalisierung von Fachliteratur, aber vor allem auch von Vorlesungsskripten.

Neben einigen für die zukünftige Forschung wichtigen Erkenntnissen, nämlich der Verlagerung des Schwerpunktes auf bestimmte soziale und institutionelle Komponenten, waren vor allem auch die Reaktionen der Teilnehmer interessant, welche mir per Mail kundgetan wurden. Viele teilten mir ihre Verwunderung, aber auch Freude darüber mit, dass "sich endlich mal jemand mit unseren Problemen beschäftigt". Gleichzeitig wurde aber auch Misstrauen geäußert, ob und wie gewonnene Erkenntnisse wirklich Eingang in die Hochschulpolitik und somit letztendlich in die Praxis finden würden.

In den Konversationen konnte ich deutlich spüren, dass sich die Studenten als Einzelkämpfer empfanden und keine Hilfe von außerhalb erwarteten. Es liegt in der Verantwortung der deutschen Hochschulpolitik, die Bedürfnisse und Probleme sehbehinderter Studenten ernst zu nehmen und einen Beitrag zu deren erfolgreicher Integration in den Studienalltag zu leisten.

Dies verlangt nicht nur die schlechte Arbeitsmarktsituation blinder und sehbehinderter Menschen (selbst wenn diese um die Altersstruktur bereinigt wurde), vor der ein akademischer Abschluss wahrscheinlich einen gewissen Schutz bieten kann. Auf die Frage nach den Beweggründen für die Aufnahme eines Hochschulstudiums antwortete ein Großteil der Teilnehmer dann auch mit verbesserten Karrierechancen oder dem angestrebten Ausgleich der durch Personalchefs eventuell wahrgenommenen Nachteile eines behinderten Arbeitnehmers.

Auch die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (besonders Artikel 24) sollte dafür eine maßgebliche Grundlage sein. Um Maßnahmen planen und steuern zu können, muss aber vorerst weitere Grundlagenforschung betrieben werden.

Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen ist dabei die Einbeziehung der Betroffenen dringend anzuraten, damit mögliche zukünftige Interventionen deren Zustimmung erhalten und somit höchstmögliche Effektivität erreichen können.

Zum Autor

Thomas Struppe (28) ist aufgrund von Retinopathia pigmentosa erblindet. Der Sportphysiotherapeut ist Student der Psychologie an der FernUni in Hagen und hat besonderes Forschungs- und Erkenntnisinteresse im Bereich blinde und sehbehinderte Menschen und höhere Bildung.

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Winfried Thiessen

"Schritte inklusiver Schulentwicklung" – Vorwärts in die Vergangenheit?

Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) 2009 durch den Bundestag hat die Diskussion um eine allgemeine integrative/inklusive Beschulung behinderter Kinder und Jugendlicher immer weiter an Fahrt gewonnen. Die Idee des gemeinsamen Unterrichts aller Kinder scheint auf den ersten flüchtigen Blick ganz passabel zu sein, jedoch bei näherer und eingehender Betrachtung offenbart sie so manche Tücken. Wir sollten deshalb einmal die Perspektive der Gruppe der sehbehinderten und blinden Schüler einnehmen und den Befürwortern des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern die Gretchenfrage stellen: Sind mit der integrativen Beschulung wirklich tragfähige Konzepte und verlässliche Rahmenbedingungen verbunden, die die Potentiale jedes einzelnen sehbehinderten Kindes und Jugendlichen auszuschöpfen ermöglichen? Oder müssen sie im integrativen Schulalltag nicht vielmehr Konzeptlosigkeit und Barrieren erwarten, für die von Förderschulen wie der blista längst tragfähige Lösungen entwickelt wurden?

Der sehbehinderte Schüler darf sich nicht in der Rolle des sozialen Lernobjekts im Unterricht wiederfinden, sondern für ihn gilt, wie auch für alle seine sehenden Mitschüler, einen möglichst hohen qualifizierten Schulabschluss zu erreichen, und die Schlüsselkompetenzen zu erwerben, die ihn in die Lage versetzen, den Sprung ins Berufsleben erfolgreich zu meistern. Dafür braucht es aber im Vorfeld zielgruppengerechte Unterrichtskonzepte und barrierefreie Lernbedingungen. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, wie es im Moment um die Barrierefreiheit und die Konzepte integrativer Beschulung bestellt ist, denn das Beispiel Dänemark, ein Land, das schon vor mehr als 30 Jahren die Förderschulen für blinde und sehbehinderte Schüler abgeschafft und ganz auf integrative Beschulung gesetzt hat, müsste uns aufhorchen lassen. Soziale Integration, qualifizierte Schulabschlüsse und bezahlte Beschäftigung von Sehbehinderten sind dort rückläufig, und der Trend zeigt weiterhin in die falsche Richtung. Nun sollte man nicht den Fehler machen, die alleinige Ursache für diese Entwicklung in der integrativen Beschulung zu suchen, dennoch, ein genauerer Blick auf die Rahmenbedingungen von integrativer Beschulung in Deutschland könnte hier sehr erhellend wirken. Denn sollten wir wirklich einmal zu einer flächendeckenden und generellen Einführung inklusiver/integrativer Beschulung, wie die UN-Behindertenrechtskonvention es fordert, kommen, dann laufen wir möglicherweise Gefahr, dem dänischen Beispiel zu folgen.

Allgemeiner Stand der Dinge

Am 3. Mai 2013 führte tagesschau.de ein Interview mit Udo Beckmann (Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung und seit November 2010 Mitglied des Expertenkreises Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission). Beckmann wurde gefragt, ob die Schulen auf die Umsetzung der UN-BRK, die vom Bundestag 2009 ratifiziert wurde und jedem behinderten Kind das Recht zugesteht, eine allgemeinbildende Schule zu besuchen, vorbereitet sind.

Beckmann erwidert, dass nach der BRK im Grunde bereits alle (!) Regelschulen darauf vorbereitet sein müssten, Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten. Dies ist aber in Deutschland noch nicht der Fall, wobei es zwischen den einzelnen Bundesländern große Unterschiede gibt. An den Schulen fehlen Lehrer mit sonderpädagogischer Fachausbildung ebenso wie Integrationshelfer und Psychologen. Regelschullehrer sind, so Beckmann weiter, bisher auf diese Aufgabe in der Breite nicht genügend vorbereitet, da Fortbildungsangebote fehlen. Baulich sind viele Schulen nicht in der Lage, Kinder mit Behinderungen aufzunehmen, weil die finanziellen Mittel fehlen. Um die finanzielle Verantwortung tobt im Augenblick ein heftiger Streit zwischen den Kommunen und den Bundesländern. Aus Kostengründen wollen manche Länder, dass inklusives Lernen nur an speziellen Schwerpunktschulen stattfinden soll (man könnte sie dann auch Sonderschulen nennen, die dann sicher auch nicht immer, wie in der BRK gefordert, wohnortnah wären - der Verfasser). Manche Bundesländer, fügt Beckmann hinzu, wollen die Förderschulen beibehalten, andere nicht. Einige Politiker verstehen unter Inklusion eine Schule für alle Kinder und verbinden damit eine Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems. Bayern sieht hingegen kein Problem darin, inklusives Lernen innerhalb der verschiedenen Schulformen umzusetzen. Die Rahmenbedingungen für inklusives Lernen fehlen allerdings fast überall. Beckmann nennt hier viel zu große Klassen, wobei er maximal 25 (!) Schüler nicht überschritten sehen möchte (ein behindertes Kind würde dabei doppelt zählen). Weiter merkt Beckmann an, dass die Lehrer mit den Problemen allein gelassen werden, da in der Regel nur zwei bis drei Stunden in der Woche Sonderpädagogen zur Verfügung stehen, in der restlichen Zeit haben die Lehrer überhaupt keine Unterstützung. Beckmann fordert eine durchgängige Doppelbesetzung. Wie viel das alles kosten würde, weiß keiner so genau, denn es gibt bisher keine Kostenschätzung; zudem sind für die Sachkosten die Kommunen und für die Personalkosten die Länder zuständig, und dem Bund ist es zurzeit verboten, direkt in schulische Bildung zu investieren. Dieses Verbot müsste zunächst gekippt werden, meint Beckmann. Er geht davon aus, wenn die Rahmenbedingungen stimmen würden, dass dann beide Seiten vom gemeinsamen Unterricht profitieren, behinderte und nicht behinderte Kinder. Auch hegen viele Eltern Vorbehalte gegenüber der Idee der Inklusion, da sie befürchten, dass ihre eigenen Kinder leistungsmäßig dadurch Nachteile erfahren, aber mit dem Verweis auf den sozialen Kompetenzgewinn durch die Anwesenheit behinderter Kinder im Unterricht, so Beckmann, kann man auch viele dieser Eltern für die Idee der Inklusion gewinnen.

Ergebnisse einer Auswertungsstudie integrativer Beschulung von sehbehinderten Schüler/innen im Rheinland

Eine Studie von Ursula Böing zur besonderen Situation von hochgradig Sehbehinderten und Blinden in der integrativen Beschulung bestätigt in der Tendenz die Aussagen von Udo Beckmann. Ich habe mir im Folgenden erlaubt, ihre neutrale Bezeichnung "Stichwort" in "Problemzone" umzuwandeln.

Problemzone: Integrationshilfen

Böing weist darauf hin, dass Integrationshelfer für das Gelingen einer erfolgreichen Inklusion/Integration von sehgeschädigten Schülerinnen und Schülern von herausragender Bedeutung sind. Was bisher aber fehlt, ist ein klares Stellen- und Ausbildungsprofil, in dem die Qualifikation, die Tätigkeitsbereiche und die Ausbildungsstandards geklärt sind. Als Integrationshelfer arbeiten im Moment überwiegend Teilnehmer des Freiwilligen Sozialen Jahres, dem Bundesfreiwilligendienst usw., Menschen, die für diesen Job keine Qualifikationen mitbringen, die die komplexen Aufgaben, so Böing, nur unzureichend erfüllen. Unter anderem aufgrund ihres Alters und fehlender Qualifikation werden sie zudem als Störfaktor bei der sozial-emotionalen Integration des sehbehinderten Schülers benannt, da sie soziale Kontakte des sehbehinderten Kindes eher erschweren oder gar verhindern. (vgl. S.17ff.)

Problemzone: sozial-emotionale Integration

Die Studie besagt, dass die soziale Integration von den sehbehinderten Teilnehmern am gemeinsamen Unterricht (GU) als sehr störanfällig erlebt wird. Insbesondere in der Pubertät verstärken sich sozial isolierende Tendenzen. Die soziale Anerkennung von Schülern mit Sehschädigung im integrativen Feld ist brüchig und instabil. Und es sei nicht davon auszugehen, dass eine inklusive Beschulung per se zu sozialer Anerkennung und befriedigenden, stabilen sozialen Kontakten führt.

Die besondere Bedeutung der Lehrperson für die soziale Integration wird auch durch Befunde anderer Untersuchungen gestützt, so Böing. Die Studie zeigt zudem, dass die oft hohen Erwartungen der Eltern, dass ihr Kind - im Gegensatz zur Beschulung in einer Förderschule - sozial weniger isoliert ist und wohnortnahe Kontakte zu Gleichaltrigen ohne Sehschädigung aufbauen kann, nicht in der erhofften Weise erfüllt werden. Andere Studien weisen darauf hin, dass im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung die Peer-Group für Schüler mit Sehschädigung von herausragender Bedeutung ist. Es sind dabei gerade die Kontakte zu Gleichaltrigen, die von ähnlichen Schwierigkeiten und Barrieren betroffen sind, die unter den derzeit gegebenen Bedingungen für die Psychohygiene und eine stabile sozial-emotionale Entwicklung sehr bedeutsam zu sein scheinen. (vgl. S.21ff)

Problemzone: Lehrpersonen

Für den erhöhten Bedarf an Austausch und Kommunikation, den der gemeinsame Unterricht (GU) mit sich bringt, fehlen den Lehrpersonen die Ressourcen, ebenso ist die Einbindung von qualifizierten Blindenpädagogen in die Gestaltung des Unterrichts bisher nicht ausreichend, so Böing. Den - noch freiwilligen - GU-Lehrern wird durchgängig ein hohes Engagement und eine sehr hohe Motivation attestiert. Sie sind die Nahtstellen, die den Austausch und die Kommunikation der unterschiedlichen Akteure sichern, so Böing weiter. Kurz gesagt: Der Inklusionserfolg steht und fällt mit der Person des Lehrers oder anders ausgedrückt: Inklusion ist im Moment mehr oder weniger ein "Privatprojekt" engagierter Lehrer, Eltern (aus der Mittelschicht?) und Schulleitungen (d.Verf.). (vgl. S.23ff)

Problemzone: mediale Ausstattung und didaktische Aspekte

Auch die Bedeutung von Hilfsmitteln und Medien für das Gelingen des gemeinsamen Unterrichts (GU) zeigt sich in den Ergebnissen der Studie. Hier fehlt es an einer besseren finanziellen Unterfütterung, ebenso wie an klaren Zuständigkeitsstrukturen, so dass eine schnelle und unbürokratische Beschaffung von Materialien und Geräten im Augenblick nicht gewährleistet ist. Weiterhin mangelt es an Fachpersonal, so dass auch dadurch ein barrierefreies Lernen nicht immer gesichert ist. Und nicht zuletzt steht noch die Entwicklung von geeigneten fachdidaktischen Konzepten zum Umgang mit heterogenen Schülerschaften aus. (vgl.S.29-30)

Problemzone: Aufnahme und Ausschluss von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf

Lehrer und Schulen erwarten Mindestansprüche, die der sehbehinderte Schüler bei der Aufnahme erfüllen muss, und fordern, die in ihren Augen für den GU nicht geeignete Schülern, ablehnen zu dürfen. Die Schulen wünschen sich sozial-emotional gefestigte sehbehinderte Schüler mit guten lebenspraktischen Kenntnissen und Fertigkeiten, damit ein gemeinsamer Unterricht deren Entwicklung auch positiv unterstützen und stärken kann. (vgl. S.30-33)

Damit steht im Raum, dass integrative Beschulung kein Konzept für alle sehbehinderten Schüler ist. Im Grunde wird damit eingestanden, dass der GU von den beteiligten Akteuren als Gefahrenquelle für die sozial-emotionale Entwicklung und somit auch für den schulischen Erfolg eines sehbehinderten Kindes gesehen wird. Gerade deshalb fordern die Schulen, dass das Kind schon die Kompetenzen mitbringen soll, die es ja eigentlich durch die integrative Beschulung erwerben soll: u.a. ein dickes Fell fürs spätere Leben (d. Verf.).

Problemzone: Familie

Fitness wird aber auch von der Familie erwartet. Die Familie als Unterstützersystem ist ein wichtiger Garant für das Gelingen des GU, so Böing. Die Eltern müssen die Hilfsmittel beantragen, sich um die Kontakte zu den unterschiedlichen schulischen und außerschulischen Hilfsdiensten und Kostenträgern kümmern, ebenso sind sie für die mobilen Fertigkeiten und die Alltagstauglichkeit ihrer Kinder verantwortlich und müssen sich um deren Unterstützungsbedarfe kümmern. Dieser hohe Einsatz überfordert, so die Studie, oft selbst engagierte Eltern und lässt erahnen, dass sehbehinderte Kinder aus bildungsfernen Schichten diese Unterstützungsfunktion nicht werden leisten können. (vgl. S.34)

Fazit:

Allein die Fülle der von Böing aufgezählten und noch zu lösenden Probleme lässt die Herkulesaufgabe erahnen, die es zu managen gilt, damit verhindert werden kann, dass eine flächendeckende integrative Beschulung für sehbehinderte Kinder nicht zu einer Zeitreise zurück zu längst überwunden geglaubten Verhältnissen wird. Es fehlt im Moment einfach noch an allem: an den geeigneten Einstellungen, Strukturen und Zuständigkeiten, an qualifiziertem Fachpersonal und Material, und vor allem aber an einer gesicherten langfristigen Finanzierung. Und: Integrative Beschulung will schon im Vorfeld aussortieren und nur eine Schule für die Fitten sein.

Sehbehinderte Schüler haben einiges zu verlieren

Tagesschau.de berichtet am 30. April 2013 unter der Überschrift: "Rosige Zeiten für den Nachwuchs", dass sich aufgrund des demografischen Wandels in vielen Branchen ein Fachkräftemangel abzeichnet. In den nächsten Jahren werden mehr Arbeitskräfte den Arbeitsmarkt verlassen als neue hineinströmen, d.h. es öffnet sich für die nachwachsende Generation gerade ein historisches Zeitfenster, um mit einer guten Ausbildung eine ambitionierte berufliche Karriere starten zu können. Das gilt auch für den sehbehinderten Nachwuchs. Ihn gilt es deshalb optimal auch auf anspruchsvollere Berufsfelder vorzubereiten.

Dies erfordert Chancengleichheit beim Erwerb von Bildungsabschlüssen durch barrierefreien Unterricht mit zielgruppengerechten Konzepten und Angeboten. Damit dies nicht dem Zufall überlassen bleibt, braucht es heute mehr denn je Förderschulen wie die blista.

blista - vorwärts in die Zukunft

Je geringer der noch zur Verfügung stehende Sehrest ist, umso langwieriger und zuweilen krisenhafter kann sich der Übergang von Schule zu Studium und Beruf gestalten. Gerade hier ist die Expertise der Förderschulen gefragt. Neben einer optimalen Vorbereitung durch Praktika und Bewerbungstraining benötigen die Schüler speziell auf sie zugeschnittene Informationen über die Berufswelt, damit ihnen eine auf ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse ausgerichtete sinnvolle Karriereplanung ermöglicht wird. Dabei kann die blista auf einen großen Pool an Erfahrungen zurückgreifen. Darüber hinaus hat sie als Institution aber auch die Möglichkeit, Initiativen zur Schaffung barrierefreier Studiengänge anzustoßen, Zusammenarbeit mit Unternehmen anzuregen, Vernetzungen von jungen Menschen mit Sehbehinderung zu fördern und, und, und - ja, es braucht immer wieder neue Ideen, Engagement und Kreativität, um das Recht auf Teilhabe und Teilnahme am sozialen und wirtschaftlichen Leben zu ermöglichen - Förderschulen haben hier ein großes Potential, da bei ihnen die Fäden zusammenlaufen und institutionelle Strukturen langfristig Wissen sichern. Demgegenüber ist zu befürchten, dass sehbehinderte Schüler und deren Eltern in der integrativen Beschulung mit vielen Problemstellungen allein gelassen werden. Wunsch und Wirklichkeit stehen sich bei der inklusiven Schulidee - eine Schule für alle Kinder - gegenwärtig oft diametral gegenüber. Aus diesem Grund laufen sehbehinderte Schüler sehr schnell Gefahr, in diesem System nach unten durchgereicht zu werden. Und der Witz dabei ist, dass es wahrscheinlich niemand wirklich merken wird, denn es handelt sich immer um ein individuelles Versagen. Der aktuelle Stand der Integrationskonzepte, die fehlenden finanziellen, institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen legen nahe, dass im Einzelfall integrative Beschulung zwar die richtige Lösung sein kann, für die Gruppe der Sehbehinderten aber bleiben Förderschulen wie die blista mit ihren erprobten Konzepten und dem gesammelten Erfahrungsschatz weiterhin von zentraler Bedeutung.

Zum Autor

Winfried Thiessen ist langjähriger Mitarbeiter im Internatsbereich der blista. Er schreibt seit mehr als zehn Jahren den Buchtipp in den blista news und ist Autor von Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Seine Diplomarbeit in Pädagogik verfasste er über Funktion und Kritik der staatlichen Regelschule und alternative Schulmodelle.

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Angela Seling

Weiterbildungsmaster "Blinden- und Sehbehindertenpädagogik2 in Marburg - Erfahrungsbericht einer Teilnehmerin

Nach der Abgabe meiner Diplom-Arbeit im November 2007 war ich mir sicher: Das war das erste und letzte Mal, dass ich eine schriftliche Arbeit in solch einem Umfang einreichen würde!

Trotzdem fand ich mich im Oktober 2010 in den vertrauten Räumen der Marburger Universität wieder. Was war passiert? Nach zwei Jahren als pädagogische Mitarbeiterin im Internatsbereich der blista, suchte ich eine neue Herausforderung. Deshalb hatte ich mich für den ersten Durchlauf des berufsbegleitenden Weiterbildungsmasters "Blinden- und Sehbehindertenpädagogik" - eine Kooperation der Philipps-Universität Marburg und der blista - beworben und erhielt eine Zusage. So kamen wir von Oktober 2010 bis Mai 2012 an ein bis zwei Wochenenden monatlich aus ganz Deutschland in Marburg zusammen. Außer mir nahmen noch fünf weitere Kollegen der blista aus den Bereichen Internat und Schule teil. Weitere zwei Kolleginnen kamen aus Friedberg, eine Kollegin aus Halberstadt und eine Kommilitonin aus München. Sie arbeiten in Einrichtungen mit zum Teil schwerst mehrfach beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen, die oft zusätzlich noch eine Sehbehinderung haben oder blind sind. Darüber hinaus nahm eine Kollegin aus Mainz teil, die in einer Einrichtung u.a. blinde und sehbehinderte Physiotherapeuten ausbildet. Die Vielfalt unserer Erfahrungen aus den verschiedenen Arbeitsfeldern bildete die Basis für das, was diese Zeit besonders wertvoll machte: Jeder konnte von der (Arbeits- und Erlebens-)Welt des Anderen etwas lernen und für sich mitnehmen.

Das Studium setzte sich aus sieben Modulen zusammen, wobei das siebte Modul die Masterarbeit beinhaltete. An dieser Stelle seien nur einige inhaltliche Schwerpunkte des Studiums benannt: Neben Fördertechniken, Augenheilkunde, Optik, (Raum-)Wahrnehmung und Hilfsmittelausstattung wurde auch der Förderschwerpunkt Sehen vor dem Hintergrund der Inklusionsdebatte und der UN-Behindertenrechtskonvention diskutiert und bearbeitet.

Einen wichtigen Teil des Moduls Fördertechniken gestalteten Kollegen der blista aus der Rehabilitationseinrichtung (RES), der mich besonders geprägt hat und bis heute maßgeblich in der Arbeit begleitet: Die Praxiswochen. Sie dienten zum Einen dazu, Selbsterfahrungen im Umgang mit Sehbehinderung und Blindheit anhand von Simulationsbrillen und Augenbinden zu sammeln. Zum Anderen musste die Studiengruppe selbständig anhand eines Schülers/zu betreuenden Kindes oder Jugendlichen ein LPF-Konzept und ein O&M-Konzept entwickeln. Diese Aufgaben verdeutlichten, wie wichtig Sprache und Begriffsbildung und die Definition dieser sind und zur Erleichterung der Kommunikation von nicht beeinträchtigten Menschen und Menschen mit (Seh-)Beeinträchtigung und/oder Blindheit beitragen.

Auch das Seminar "Theorien und Konzepte zur Beratung/Beratungsansätze" war für meine persönliche Arbeit sehr hilfreich, da Beratungsgespräche mit Eltern und Schülern einen hohen Stellenwert in unserer pädagogischen Tätigkeit haben.

Vor dem Hintergrund des Blickes über den "Tellerrand" war unsere Hospitation in Friedberg an der Johann-Peter-Schäfer-Schule bei den Kolleginnen ein besonderes Highlight: Sie gewährten uns Einblicke in ihren Arbeitsalltag und zeigten uns, dass es zahlreiche Arbeitsschwerpunkte im Blinden- und Sehbehindertenbereich bezüglich der schulischen und außerschulischen Förderung gibt.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass das Studium auf vielen Ebenen für mich sehr bereichernd war: Neben den Lehr- und Lerninhalten habe ich die blista und andere blinden- und sehbehinderten-spezifischen Einrichtungen näher kennen lernen dürfen. Und viele tolle Menschen ebenso! Es herrschte stets eine sehr angenehme Arbeitsatmosphäre. Die gesamte Studienzeit war durchweg von einem wertschätzenden, respektvollen und freundlichen Umgang untereinander geprägt. Wir freuten uns auf die Seminare und unterstützten uns u.a. gegenseitig moralisch sehr in der Klausur-Lerngruppe. Wir litten und lachten gemeinsam und feierten schließlich den Abschluss gebührend!

Ich danke allen Dozenten, Kommilitonen und mittlerweile guten Freunden für diese Zeit! Darüber hinaus sei an dieser Stelle besonders den Schülern, Eltern und allen Kollegen gedankt, die uns während dieser Zeit in jeglicher Form unterstützt und begleitet haben!

Information

Der Weiterbildungsmaster Blinden- und Sehbehindertenpädagogik ist ein berufsbegleitender Studiengang der Philipps-Universität Marburg in Kooperation mit der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista). Er wird seit 2010 am Fachbereich Erziehungswissenschaften angeboten, hat einen Umfang von 60 ECTS, dauert zwei Jahre und schließt ab mit dem "Master of Arts". Er qualifiziert die Studierenden dazu, die Teilhabe von blinden und sehbehinderten Menschen in Prozessen der Bildung und Erziehung in verschiedenen Handlungsfeldern fördernd mitzugestalten. Zur Sicherstellung ihrer sonderpädagogischen Qualität unterstützt die blista die Teilnahme ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch Freistellung im Umfang einer 1/4-Stelle und übernimmt zudem die Studiengebühren. Im WS 2013/14 startet der nächste Durchgang, nähere Informationen gibt es unter www.uni-marburg.de/fb21/studium/studiengaenge/wb-bsp/studium

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Berichte und Schilderungen

Alexander Weiss

BA - Dual - Genial: Ein duales Studium bei der KfW-Bankengruppe

Im August 2011 begann ich mein duales Studium bei der KfW-Bankengruppe, das mit dem Titel "Bachelor of Arts" abgeschlossen wird. Das Studium dauert insgesamt sechs Semester, jedes Semester ist aufgeteilt in eine zehnwöchige Theoriephase an der Hessischen Berufsakademie, an die sich eine dreimonatige Praxisphase in der KfW Bankengruppe anschließt. Zusätzlich nehmen meine Kommilitonen und ich nach eineinhalb Jahren, also am Ende des vierten Semesters, an der ins Studium integrierten IHK-Abschlussprüfung zum Bankkaufmann bzw. Bankkauffrau teil. Dazu findet während der Praxisphase und außerhalb der hessischen Schulferien alle zwei Wochen samstags von 8 bis 14 Uhr zusätzlicher IHK-Unterricht statt, während der Theoriephase liegt der Unterricht teilweise auch in der Woche (drei bis vier Stunden). Da es keine Zwischenprüfungen gibt, wird erst vor der IHK-Prüfung im Mai richtig mit dem Lernen begonnen.

Während des Studiums gibt es also insgesamt sechs Betriebsphasen, in denen es möglich ist, einen Einblick in verschiedene Abteilungen der KfW zu bekommen. Das Kennenlernen der verschiedenen Abteilungen schafft Klarheit, ob die dort anfallenden Aufgaben auch wirklich den eigenen Interessen entsprechen und man sich eventuell vorstellen könnte, dort später zu arbeiten.

Die Ausbildung begann mit einer Einführungswoche im Betrieb, um sich gegenseitig kennenzulernen. Anschließend folgte mein erstes Semester an der Hessischen Berufsakademie. Eine "Uniphase" dauert insgesamt zehn Wochen, aufgeteilt in acht Wochen mit meist ganztägigen Vorlesungen, und zwei Wochen, auch vorlesungsfreie Zeit genannt, für Vorbereitung auf die durchschnittlich fünf bis sechs Klausuren, die ebenfalls in diesen Zeitraum fallen. Natürlich muss schon vorher gelernt werden, generell geht es auch in der vorlesungsfreien Zeit noch in die Unibibliothek (meistens von 10 bis 22 Uhr). Der Lernaufwand pro Semester ist meiner Meinung nach mit dem Aufwand des Abiturs zu vergleichen, aber daran gewöhnte ich mich mit der Zeit. Glücklicherweise stellte mir die KfW-Bankengruppe für die Uniphase eine Kamera für das Abfotografieren von Tafelbildern zur Verfügung. Mit dieser Ausstattung kann ich dem Unterrichtstempo einigermaßen problemlos folgen. Andernfalls besteht die Möglichkeit, die Unterlagen von meinen Kommilitonen zu kopieren. Desweiteren gibt es den Onlinecampus der Hessischen Berufsakademie mit allen Unterrichtsmaterialien in digitaler Form.

In meinem Studiengang sind ca. 70 Kommilitonen mit dem gleichen Studienfach, jedoch aus unterschiedlichen Unternehmen. So kann man sich über die Erfahrungen aus verschiedenen Branchen austauschen. Ich fand mich schnell in dieser Gruppe zurecht und konnte das "richtige Arbeiten" in der KfW kaum erwarten.

Aber zunächst musste ich die erste Klausurphase bewältigen, der ich mit Respekt begegnete, da ich das Leistungsniveau und die Inhalte der Prüfungen überhaupt nicht einschätzen konnte. Die Ergebnisse verschafften mir dann Klarheit. Ich musste leider feststellen, dass ich im ersten Semester wohl nach dem Minimalprinzip agiert hatte. Zwar habe ich das Ziel, die Prüfung zu bestehen, erreicht, jedoch nur mit einem durchschnittlichen Notenschnitt. Oder anders ausgedrückt: die Umstellung auf das an der Uni herrschende Anforderungsniveau war dann doch gewöhnungsbedürftig. Aber der Mensch ist ja lernfähig.

Jetzt folgte die erste Praxisphase, und mit der Zeit erfuhr ich mehr über die KfW. Die KfW ist eine Bank, die zu 80 Prozent dem Bund und zu 20 Prozent den Ländern gehört; zu ihren Tätigkeitsfeldern gehören u.a. die Förderung von Mittelstand und Existenzgründern sowie die Förderung erneuerbarer Energien, Export- und Projektfinanzierung. Die KfW ist auch unter Studierenden bekannt, da von ihr günstige und flexible Studentenkredite vergeben werden. Sprich: für einen Absolventen des Beruflichen Gymnasiums der blista ein sehr interessanter Themenkomplex.

Anfangs war ich in der Abteilung "Credit Operations" in der KfW-Tochterfirma IPEX eingesetzt. Meine Aufgaben bestanden hauptsächlich darin, Kredite zu verwalten, d.h. Zahlungseingänge zu prüfen, Tilgungspläne anzupassen, Zinsen zu berechnen und vieles mehr. Ein Anruf am Anfang der Praxisphase bei der Serviceline der KfW genügte und ich bekam einen Schwenkarm für meinen Bildschirm am Arbeitsplatz montiert. Auch die Arbeitskollegen waren stets sehr hilfsbereit und versuchten, mir alle Dokumente digital zur Verfügung zu stellen. Mit meinem relativ hohen Sehvermögen hatte ich dem Unterricht an der blista problemlos folgen können und meine Sehbehinderung war dort fast gar nicht aufgefallen. Doch nun in der Ausbildung stand ich vor neuen Herausforderungen, die sich allerdings - so konnte ich jetzt feststellen - mit den geeigneten Hilfsmitteln, die mir zur Verfügung gestellt wurden, dann doch ganz gut meistern ließen.

Arbeitstechniken und Sehbehinderung

Ich sehe noch ungefähr 25 Prozent. Schwarzschrift bis Schriftgröße 8 kann ich noch lesen. In der Ferne wird es schon etwas schwieriger, wenn ich optimal direkt vor der Tafel sitze - auf keinen Fall seitlich - kann ich noch fast alles lesen. Das klappt allerdings nicht immer, dann versuche ich, mich an den Aufzeichnungen meines Sitznachbarn zu orientieren, falls die Zeit dafür vorhanden ist. Beamer und Tageslichtprojektoren sind hingegen nicht meine "Freunde". Allerdings stehen die Skripte bei Beamer-Projektionen vorher in digitaler Form zur Verfügung. Bei Tageslichtprojektoren läuft es wie bei der Tafel ab, was ich lesen kann, schreibe ich ab, was nicht, versuche ich beim Nachbarn zu erspähen. Für die Uniphase verwende ich als Hilfsmittel eine Kamera zum Fotografieren der Tafelbilder. Während der Praxisphase in der Bank benutze ich einen Schwenkarm für meinen PC-Monitor mit Vergrößerungsfunktion, diese setze ich aber wegen der mangelnden Übersicht selten ein.

Semester, das zweite

Im zweiten Semester ging es nun ums Rechnungswesen, darunter Buchführung und Kostenleistungsrechnung. Rechnungswesen wurde an der blista sehr ausführlich vermittelt. Achtung! Es lohnt sich auf jeden Fall, schon dort die Ohren für das spätere Leben zu spitzen, denn genau diese Themen werden an der Uni nur sehr komprimiert aufbereitet. Anschließend folgte die zweite Praxisphase, in der ich den Wunsch äußerte, die Abteilung "Transaktions- und Sicherheitsmanagement, Collateral/Verbriefungen" kennen zu lernen. Ein gewohnter Anruf bei der Serviceline, und mein Equipment am Arbeitsplatz wurde erneut sehbehindertengerecht eingerichtet. Die Funktion dieser Abteilung besteht darin, den Handel von CO2-Zertifikaten treuhänderisch für den Bund vorzunehmen und zu überwachen. Weiterhin werden dort Finanz- und Kreditderivate verwaltet (speziell Collateralmanagement). Dabei wird täglich mit anderen Banken kommuniziert, alles in Englisch selbstverständlich.

In dieser Abteilung wurde ich mit meiner Sehbehinderung erneut auf die Probe gestellt: riesige Exceltabellen zum Festhalten des CO2-Handels, selbst ein Ausdruck in A3-Größe wäre unleserlich. Das Arbeiten mit dem Schwenkarm schaffte Abhilfe. Auch in dieser Abteilung fanden sich sehr nette und hilfsbereite Kollegen.

Semester, das dritte

Inzwischen hatte ich genug Erfahrung gesammelt, das Leistungsniveau war mir jetzt klar und ich arbeitete mittlerweile eher nach dem Maximalprinzip, um gute Noten zu erhalten. Trotzdem blieb in diesem Semester noch Zeit, um endlich einmal die Vorzüge eines Studentenlebens etwas genießen zu können. Als dritte Praxisstation wählte ich die Abteilung "Bilanzierung" der Tochterfirma IPEX. Diese Abteilung bildet eine große Schnittstelle nach außen hin. Verschiedene Abteilungen liefern Informationen, die wir aufbereiten bzw. erneut prüfen und beispielsweise an Wirtschaftsprüfer weiterleiten. Da ich in dieser Abteilung von Oktober bis Mitte Februar arbeitete, durfte ich mich an den Jahresabschlussarbeiten beteiligen. Daher waren Handelsbilanz, Gewinn- und Verlustrechnung und weitere Bilanzen mein alltägliches Brot. Auf jeden Fall war dieser Einsatz die Anstrengung wert und eine wichtige Erfahrung für mich, denn wenn ich den Jahresabschluss in Händen halte, weiß ich ganz genau, dass darin auch ein Teil meiner Arbeit steckt. Unter anderem durfte ich in dieser Zeit auch an einem Projekt teilnehmen, das mit der Anschaffung einer speziellen Software befasst war. Meine Aufgabe bestand darin, Fragenkataloge von verschiedenen IT-Unternehmen auszuwerten und die Anbieteranzahl von fünf auf drei zu reduzieren. Anschließend wurden Einladungen zu "Workshops" an die Anbieter verschickt. An diesen Terminen hatten die Unternehmen die Möglichkeit, ihre Produkte vorzustellen, und wir konnten dazu Fragen stellen. Für mich persönlich war dies auch wieder eine große Herausforderung bezüglich meiner Sehbehinderung, denn mein Alltag war von riesigen Exceltabellen geprägt. Durch die gestellten Hilfsmittel war ich jedoch in der Lage, meine Aufgabe erfolgreich zu erledigen.

Semester, das vierte

Im Februar 2013 begann das vierte Semester. Nach der Theoriephase kam die Abschlussprüfung zum IHK Bankkaufmann im Mai 2013. Die KfW-Bankengruppe bietet auch Hospitationen an anderen Standorten für die Praxisphasen an, beispielsweise in Berlin oder Bonn. Für mich persönlich ist es wichtig, diese Chance zu nutzen, und so werde ich im Sommer die Abteilungen in Berlin einmal näher unter die Lupe nehmen.

Ein duales Studium bei der KfW kann ich nur weiterempfehlen, da die Kombination aus Arbeiten und Studieren super abwechslungsreich ist. Der Lern- und Zeitdruck während der Uniphase war für mich ganz praktisch, da ich mich sonst doch eher als einen "Langzeitstudenten" einschätze.

Rund ums Studium

Die Ausbildungsvergütung ist ein klarer Vorteil des dualen Studiums. Im ersten Jahr beträgt sie ca. 650 Euro und im zweiten Jahr um die 700 Euro netto. Das hört sich erst mal viel an, aber Miete und Nebenkosten in Frankfurt sind nicht ohne, und so bin ich trotz allem noch auf die Unterstützung durch meine Eltern angewiesen. Mir war wichtig, alleine zu wohnen, um in Ruhe lernen zu können. Die Umstellung war anfangs sehr schwer, denn man sammelt sehr viele neue Eindrücke, die man gerne auch weitererzählen möchte - nur dann ist da keiner! Aber man gewöhnt sich an so einiges. Meine kleine 2-Zimmer-Wohnung liegt in der Nähe des hessischen Rundfunks, kostet 500 Euro kalt - nur um mal eine Preisvorstellung zu bekommen -plus Nebenkosten und Essen schon ist die Ausbildungsvergütung aufgebraucht. Es macht mich aber stolz, meine "eigenen" vier Wände zu haben. Auch habe ich es zur Arbeit (20 Minuten) und zur Uni (10 Minuten) nicht weit.

Zum Schluss kann ich nur sagen: Zeiten ändern sich, daher sollte man die Schulzeit in vollen Zügen genießen, Herausforderungen im Leben kommen noch früh genug.

Weitere Infos gibt es im Internet unter www.kfw.de und www.ba-frankfurt.de

Zum Autor

Alexander Weiss hat 2011 sein Abitur an der blista gemacht.

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Regina Pfanger

Kindadruf oder: Die anonymen Retter des Gesundheitssystems

Können Sie Fremdsprachen? Dann freuen Sie sich sicher auch, wenn Sie ab und zu Gelegenheit haben, Ihr unter Umständen mühsam erworbenes Wissen an den Mann oder die Frau zu bringen. Ich jedenfalls bin so gestrickt, und ich muss mich oft zusammennehmen, um mit meiner zugegebenermaßen kindlichen Freude an Fremdsprachen in multikulturelle Fettnäpfe zu treten. Nordzyprioten mögen es nicht immer, wenn ihnen ein fröhliches "Kalimera" entgegenschallt, und auch bei Afrikanern habe ich mich schon vertan, wenn ich sie mit einem "Nangadef" vermeintlich kennerhaft als Senegalesen ansprach: Nicht alle Westafrikaner mögen die Senegalesen, und sogar innerhalb des Senegal gibt es Leute, die sich über die Dominanz des Wolof als Amtssprache ärgern.

Dennoch, ich freue mich immer, wenn mir ausländische Mitbürger eine Möglichkeit bieten, ins inländische Einerlei ein bisschen ausländisches Kunterbunt zu bringen, indem sie mich ein paar Sätze Französisch oder Englisch reden oder Spanisch radebrechen lassen. Und besonders bei unangenehmen Augenarztbesuchen ist es geradezu tröstlich, wenn ein ausländischer Arzt mir Gelegenheit gibt, eine Fremdsprache zu sprechen und damit eine Grundintelligenz zu beweisen- zumal ich mich beim Sehtest jedes Mal wie eine komplette Analphabetin fühle ...

So viel als Vorbemerkung und zur besseren Erklärung meines fieberhaften Brainstormings nach der Begrüßung "Kindadruf!", die ich einmal in einem dunklen Kabuff einer Uniklinik vernahm - ohne Kontaktlinsen und mit scheunentorweit geöffneten Pupillen. Noch ehe ich Gelegenheit hatte, zu überlegen, ob es sich um Koreanisch, Thai oder eventuell doch eine afrikanische Sprache handelte, ließ eine ärgerliche Wiederholung der Rätselworte keinen Zweifel daran, dass der Mensch im weißen Kittel keineswegs zu Small-Talk aufgelegt war, sondern ungeduldig etwas von mir forderte. Und weil ich mich in meiner vernebelten Benommenheit nicht schnell genug in Bewegung setzte, zog er mich am Ärmel und drückte mich auf den Sessel, wo er dann die Begrüßungsformel ein drittes Mal und mit deutlich angehobener Stimme wiederholte und ich endlich begriff: Was er beim Hereinkommen in meine Richtung geraunt hatte, war weder "Guten Morgen" noch "Wie geht es Ihnen" in einer fremden Zunge, es war auch kein slawischer Familienname, mit dem er sich etwas kurz angebunden hatte vorstellen wollen, im Sinne von "Gestatten, Dr. Kindadruf" - nein, es war schlicht und einfach die Aufforderung, ich möge zuerst meinen Hintern auf den Behandlungsstuhl und (Kinn da drauf!) möglichst gleichzeitig mein Kinn auf die Mulde des ophthalmologischen Untersuchungsgerätes platzieren ...

So einfach geht das! Keine unnötige Zeitvergeudung mit leeren Begrüßungsfloskeln ohne Informationsgehalt, keine umständlichen Befindlichkeitserkundungen, die doch in Wahrheit keine Seele wirklich interessieren, keine lästigen Fragen nach der Krankheitsgeschichte, die doch nur vom Hölzchen aufs Stöckchen führen würden. Nein, dieser Mann verschwendete keine Zeit damit, in der Vergangenheit herumzustochern, noch belästigte er mich mit beängstigenden Prognosen - nein, er war ganz im Hier und Jetzt, heuchelte weder Interesse noch Mitgefühl und enthielt sich auch jeglicher Wertung, als er in Richtung Sprechstundenhilfe einige Bemerkungen über den Zustand meiner Netzhaut mit der Würdigung "Da is or"ntlich Zuch druff" abschloss und auf meine zugegebenermaßen mehr gestammelte als beherzt vorgetragene Frage, ob man denn nichts tun könne, lapidar beschied, nein, Therapiemöglichkeiten gäbe es keine. Ich könne gehen, beschied er mir knapp, und ich tat es ergeben.

Ich versuchte mein Glück anderswo und habe weitere Augenärzte kennen gelernt in der Folgezeit, oder besser gesagt, deren Sprechstundenhilfen und medizinisch-technische Assistenten, die oft geduldig und mit großem Zeitaufwand immer neue Fluoreszenzangiographien und OCT-Aufnahmen anfertigten, die ihre Chefs dann kopfschüttelnd beschauten und mir dann als Beweisstücke vor die geweiteten Pupillen hielten. Nein, sie beschimpften mich nicht direkt, einer rief sogar einmal "Das sind ja richtige Löcher in der Netzhaut!" mit echter Anerkennung in der Stimme. Zu machen sei da nicht viel, er könne mir nicht noch einmal das teure Lucentis verordnen, aber ich solle regelmäßig Angio- und Tomografien machen lassen ... Wozu, wenn es keine Therapie gäbe, die quälenden Untersuchungen dienen sollten, wagte ich einzuwenden, erhielt dann aber unverzüglich die Antwort, das sei eine völlig unwissenschaftliche Frage, für solche Diskussionen habe er nun wirklich keine Zeit.

Kleinlaut hielt ich mich zurück und begann einzusehen, dass ich mit meinem selbstsüchtigen Wunsch nach Verbesserung meines Sehvermögens eine unzumutbare Belastung für die modernen Jünger des Hippokrates wurde. Fast willenlos wandte ich mich irgendwann, als mein Umfeld befand, ich dürfe meine Augen nicht einfach dem Schicksal überlassen, an eine alternativmedizinisch ausgerichtete Ärztin, gab gleich beim Eintreten demütig zu Protokoll, dass ich von ihr selbstverständlich keine Heilung erwartete, sondern lediglich ein paar Placebokügelchen zur Erhaltung des Status quo, und versprach auch, sie nicht weiter zu belästigen. Als hätte sie mich nicht verstanden, erkundigte sie sich so ausführlich nach Vorerkrankungen, Stressfaktoren und sogar nach der Gesundheit meiner verstorbenen Eltern, dass ich misstrauisch wurde und sie durch den Hinweis, ich sei keine Privatpatientin, zu stoppen versuchte - aber auch dadurch konnte ich sie nicht davon abhalten, einzeln und umständlich meine gesammelten Netzhautfotos gründlich zu studieren. "Homöopathie hat ihre Grenzen", beschied sie mir, als sie mich einen Tag danach zu Hause anrief, in meinem Fall gäbe es, nach gründlicher Überlegung, nur eine schulmedizinische Therapie, Lucentis und Avastin, und zwar ganz bald ...

Es half, Woche für Woche sah ich ein wenig mehr, und in meinem Glücksrausch hielt ich diese Ärztin für ein Vorbild, die Retterin meiner Augen und der Ehre ihrer Zunft. Man möge mir zugutehalten, dass ich zwar besser sah, aber keineswegs weiter als bis zum Tellerrand - ohne Blick auf die größeren Zusammenhänge. Irgendwann konnte ich wieder Zeitungsüberschriften und schließlich sogar mit Mühe auch Fettgedrucktes lesen - und begann mit der Lektüre zu begreifen, dass, von höherer Warte betrachtet, aus gesundheitspolitischer Perspektive und unter ökonomischen Gesichtspunkten, die Sache ganz anders aussah: Was dachte sie sich dabei, die Kassen mit den teuren Medikamenten zu belasten? Und was bedeutet es für das Gesundheitssystem, wenn Ärzte sich so viel Zeit nehmen mit ihren Patienten? Werden nicht falsche Standards gesetzt, wenn sie, wie diese Ärztin es tat, sogar zu Hause anrufen, um offene Fragen abzuklären? Müsste man nicht der kassenärztlichen Vereinigung Meldung erstatten über solche Akte der Wehrkraftzersetzung innerhalb der eigenen Reihen? Kann die Ärztekammer solche schwarzen Schafe wirklich dulden?

Sind nicht die anderen die Retter unseres Gesundheitssystems? Stille Helden, denen natürlich keiner von uns ausdrücklich danken wird, wenn wir demnächst die Überschüsse der Krankenkassen ausgezahlt bekommen. Ich überlege, ob ich nicht die einmalige Bonuszahlung dafür verwende, wenigstens einem von ihnen, vorzugsweise meinem persönlichen Favoriten, Herrn Dr. Kindadruf, einen Blumenstrauß zu schenken… Eine Schwarzäugige Susanna vielleicht, mit großen schwarzen Pupillen, damit er am Wochenende was zum Üben hat ...


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Bücher

Sabine Hahn

Hörtipp

Wirklichkeit 2.0: Medienkultur im digitalen Zeitalter.

Herausgegeben von Peter Kemper, Alf Mentzer und Julika Tillmanns. Stuttgart, 2012

Unsere Medienwelt verändert sich: Das Internet ist auf dem Weg zum "Leitmedium", während Printmedien, Radio und TV an Bedeutung verlieren. Welche Folgen hat das für die Politik, für die politische Teilhabe? Wie demokratisch ist das Internet? Das vorliegende Begleitbuch zum Hessischen Funkkolleg bietet in acht Rubriken prägnante Denkanstöße zum World Wide Web, etwa zur Politik im Netz ("Freiheitsversprechen und Herrschaftsformen"), zum Lesen und Schreiben im Netz ("Jenseits der Gutenberg-Galaxis") oder zur Selbstverwirklichung im Netz ("Das digitale Ich").

So formuliert etwa der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber Zweifel am demokratischen Potenzial des Internets. Die Technik habe sich so rapide entwickelt, dass sie der Politik und Moral entglitten sei, schreibt er 1998. Demokratie sei langsam, politisches Denken komplex und nuanciert - im Gegensatz zu digitalem Denken. Und er warnt vor der außerordentlich großen Macht von Softwareplattformen und Zugangskontrolleuren, vor Marktmonopol und Kommerz.

Bei aller Kritik - den Computer einfach ausgeschaltet zu lassen, nützt nicht mehr viel. Die Privatsphäre löst sich auch dann auf, wenn das Handy einen Peilsender hat oder die Panorama-Aufnahmen des eigenen Hauses durch Google Maps oder Google Earth ungefragt ins Netz gestellt werden. Das hr2-kultur-Funkkolleg "Wirklichkeit 2.0" führte mit 23 Themensendungen, die zwischen November 2012 und Mai 2013 ausgestrahlt wurden, an grundlegende gesellschaftliche Fragen heran. Die Sendungen sind auch jetzt noch auf der hr-Website zu hören. Die Textsammlung des Buches ist ein idealer Einstieg, über die Folgen des "Mitmach-Internet" zu diskutieren und die Sendungen zu vertiefen. Hier geht es um Medienerfahrung und Medienkompetenz für ein breites Publikum. Lohnenswert!

Bestellnummer 16908, vorgelesen von Kilian Scherer, 13 Stunden 30 Minuten, 49,50 Euro.

Bestellungen richten Sie bitte an:

DVBS-Textservice, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Tel.: 06421 94888-22, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Savo Ivanic

Buchtipps aus der blista

Hahn, Martina/Herrmann, Frank: Fair einkaufen - aber wie? Der Ratgeber für Fairen Handel, für Mode, Geld, Reisen und Genuss

Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag, 2010

Bestell-Nr.: 4700, reformierte Kurzschrift (KR), 2 Bde., 1 Hbd., 366 S., 57,50 €; auch als DAISY-Ausgabe mit synthetischer Stimme und Blindenkurzschrift kombiniert erhältlich

Fairer Konsum boomt. Er entspricht einer Lebenseinstellung, die Konsum nicht verdammt, solange mit Herz und Verstand eingekauft wird. Verbraucher wollen wissen, wo sie fair gehandelte Lebensmittel bekommen. In welchem Laden T-Shirts hängen, die nicht von Kindern zusammengenäht worden sind. Wo sie eine Reise buchen können, bei der auch das Zimmermädchen einen gerechten Lohn erhält. Oder woran sie erkennen können, welcher Investmentfonds wirklich nachhaltig anlegt. Mit Hilfe dieses Ratgebers kann jede und jeder fair konsumieren - vom Bio-Käufer über den Fair Trade-Einsteiger bis zum Szene-Kenner. Hier finden Verbraucher alles, um sich im Dschungel des Fairen Handels zurechtzufinden: ausführliche Hintergrundinfos, jede Menge Adressen, Weblinks, Literaturempfehlungen und Einkaufstipps.

Schmitt, Oliver Maria: Der beste Roman aller Zeiten

Berlin: Rowohlt, 2009

Bestell-Nr.: 4661, reformierte Kurzschrift (KR), 2 Bde., 340 S., 43 €; auch als PDF-Buch für Sprachausgabe und Braillezeile sowie als DAISY-CD mit synthetischer Stimme und Blindenkurzschrift kombiniert erhältlich

Für Mick Rademann läuft es nur suboptimal. Er ist hoch verschuldet und mehrfacher Single, er hat eine frisch gedruckte Visitenkarte mit der Aufschrift "Coach, Mediator & Dipl.-Entschleuniger", aber keine Kunden. Unschlüssig steht er vor einem Frankfurter Nachtclub, als ihm plötzlich ein Mann vor die Füße fällt. Der Mann heißt Dr. Hollenbach und hat angeblich einen sehr guten Roman geschrieben. Manche behaupten sogar, den besten aller Zeiten. Schnell beschließt Rademann, in die Dienste des Gefallenen zu treten und Hollenbach zu coachen. Plötzlich scheint alles greifbar: Frauen, Ruhm, Geld und die große Freiheit. Doch dann kommt alles ganz anders - und beide finden sich als Entführungsopfer eines "Porno- und Poesie-Verlegers" in den albanischen Bergen wieder…

Kleine-Gunk, Bernd: Das Frauen-Hormone-Buch

Stuttgart: TRIAS, 2010

Bestell-Nr.: 4646, reformierte Kurzschrift (KR), 2 Bde., 260 S., 48,20 €; auch als DAISY-Ausgabe mit synthetischer Stimme und Blindenkurzschrift kombiniert erhältlich

Hormone bestimmen über unser Liebesleben und unser Gewicht und entscheiden mit, ob wir im Alter durch Osteoporose oder Demenz gefährdet sind. Der Autor erklärt nicht nur die verblüffende Wirkung der winzigen Botenstoffe, sondern gibt auch konkrete Hilfestellung: Was tun, wenn die Tage vor den Tagen zur Qual werden, Haut und Haare unter Hormonmangel leiden oder sich die Wechseljahre ankündigen? Zahlreiche Checklisten helfen, den eigenen Hormonstatus besser einzuschätzen. Weitere Themen: Das Pro und Contra der Hormonersatztherapie in den Wechseljahren, Hormone als Anti-Aging-Substanzen oder der Einsatz von Hormonen gegen die Hautalterung.

Fußball-Bundesliga, Saison 2013/14

Bestell-Nr.: 4722, Schutzgebühr: 24,10 € plus Verpackungskosten

In Zusammenarbeit mit dem Sportmagazin "kicker" erscheint unser Punktschrift-Sonderheft zur neuen Bundesliga-Saison. Es enthält unter anderem den Terminkalender für das Spieljahr, Angaben über Vereine und Spieler der 1. und 2. Bundesliga sowie deren Spielpläne und den der 3. Liga.

Ihre Bestellung richten Sie bitte an:

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Postfach 1160, 35001 Marburg. Tel.: 06421 606-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Panorama

Neues aus Wien

In Horus 1/2013 berichteten wir über die Bemühungen, den Richterberuf in Österreich auch für Blinde und Sehbehinderte zu öffnen. Mittlerweile lässt sich Erfreuliches nachtragen: So hat das Österreichische Bundeskanzleramt, das anders als in der Bundesrepublik im Donaustaat für die Einstellung von Verwaltungsrichtern zuständig ist, in einer Ausschreibung blinde und sehbehinderte Juristinnen und Juristen ausdrücklich ermutigt, sich für eine entsprechende Stelle zu bewerben.

Inzwischen hat am 3. Mai außerdem in Wien eine hochrangig besetzte Tagung zur Verwendung blinder und sehbehinderter Richter auch in der ordentlichen Gerichtsbarkeit stattgefunden, zu der die Österreichische Richtervereinigung, die Notarvereinigung Österreichs und das Verfassungsrechtliche Institut der Universität Wien eingeladen hatten. Dazu konnte aus der Bundesrepublik Dr. Petra Bungart (Richterin am Amtsgericht Duisburg und DVBS-Mitglied) über ihre Erfahrungen, insbesondere im Bereich von Beweisaufnahmen, referieren. Nach ihrem Bericht scheinen sich die Vorurteile langsam aufzulösen. So erklärte ihr der Präsident des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofs, er sehe die Dinge jetzt in einem ganz neuen Licht. Außerdem hat sich eine Plattform, bestehend aus den Präsidenten Rupert Wolff des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags, Notariatskammerpräsident Ludwig Bittner sowie Gerhard Jarosch (Vereinigung der Staatsanwälte) und Werner Zinkl (Richtervereinigung) formiert. Ihr Ziel ist es, mehr Menschen mit Beeinträchtigungen in klassische Rechtsberufe zu bringen.

Einen schöneren Erfolg kann man sich wohl kaum vorstellen. Geplant ist jetzt, zur organisatorischen Vorbereitung des Einsatzes blinder Richterinnen und Richter einen deutschen Kollegen für kurze Zeit nach Österreich abzuordnen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Initiative längerfristig dazu führen wird, dass auch in unserem Nachbarland endlich ein Beruf für uns erschlossen wird, der in Deutschland seit Langem für blinde und sehbehinderte Juristinnen und Juristen offen steht.

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Einladung zum Schnupperstudium - "Studieren mit Behinderung/chronischer Krankheit" an der TU Dortmund

Der Bereich Studium und Behinderung des Zentrums für Hochschulbildung (DoBuS) der Technischen Universität Dortmund veranstaltet vom 12. bis 14. November 2013 das dreitägige Schnupperstudium "Studieren mit Behinderung/chronischer Krankheit". Die Veranstaltung richtet sich an alle behinderten und chronisch kranken Studieninteressierten, die an einem Studium in Dortmund interessiert sind. Das Angebot ist für die Teilnehmenden kostenfrei.

Themen des Schnupperstudiums werden sein:

  • Unterstützungsangebote für behinderte und chronisch kranke Studierende an der TU Dortmund
  • Leben und Studieren mit persönlicher Assistenz
  • Finanzierung von technischen und personellen Hilfen im Studium
  • Rechtsansprüche und Nachteilsausgleiche im Studium
  • Literaturbeschaffung - Nutzung der Universitätsbibliothek
  • Besuch einer Vorlesung
  • Erfahrungsaustausch mit behinderten/chronisch kranken Studierenden

Das Schnupperstudium wird in rollstuhlzugänglichen Räumlichkeiten auf dem Campus der TU Dortmund stattfinden. Die Universität ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Dortmunder Hauptbahnhof aus barrierefrei zu erreichen. Bei Bedarf erfolgt die Übersetzung der Veranstaltung in DGS. Anmeldeschluss ist am 25. Oktober 2013. Die Fahrt- (und ggf. Übernachtungskosten) müssen von den Teilnehmenden selbst getragen werden.

Kontakt und Anmeldung:

Technische Universität Dortmund, DoBuS, Dr. Birgit Drolshagen, Emil-Figge-Str. 50, 44221 Dortmund, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Tel.: 0231 755-4579, Fax: /-4638, www.dobus.tu-dortmund.de

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Kursangebot: 10-Finger-Schreiben auf der PC-Tastatur

Der Blinden- und Sehbehindertenverein Mecklenburg-Vorpommern e. V. führt auch 2014 wieder einen dreiteiligen Kurs zum Erlernen des 10-Finger-Schreibens auf der PC-Tastatur durch. Termine sind:

  • 19. bis 22. Januar 2014 Kursteil 1
  • 23. bis 26. Februar 2014 Kursteil 2
  • 12. bis 15. Oktober 2014 Kursteil 3 mit Zertifikatsabschluss

Außerdem werden die PC-Kurse für Windows 7 mit JAWS und Internet mit JAWS für Einsteiger und fortgeschrittene Anwender im Aura-Hotel "Ostseeperlen" Boltenhagen durchgeführt.

Termine:

  • 9. bis 14. März 2014 PC-Kurs Windows 7 mit JAWS für Einsteiger
  • 14. bis 18. März 2014 PC-Kurs Internet mit JAWS für Einsteiger
  • 23. bis 28. November 2014 PC-Kurs Windows 7 mit JAWS für fortgeschrittene Anwender bzw. Einsteiger
  • 28. November bis 2. Dezember 2014 PC-Kurs Internet mit JAWS für fortgeschrittene PC-Nutzer bzw. Einsteiger

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Fünfwöchiges Kurssystem zum Erlernen der Braillevoll- und -kurzschrift

Zum 12. Mal ermöglichen wir 2014 blinden und hochgradig sehbehinderten Menschen durch die Vermittlung der Braillevoll- und -kurzschrift wieder selbstständig schreiben und lesen zu lernen. Hier die Termine des fünfwöchigen Kurssystems, das wieder von Ursula Bamberg, Horst Schuldt und Lydia Barkhau durchgeführt wird.

  • 19. bis 24. Januar 2014 Punktschrift Vollschrift
  • 22. bis 27. Februar 2014 Punktschrift Kurzschrift Teil 1
  • 11. bis 16. April 2014 Punktschrift Kurzschrift Teil 2
  • 12. bis 17. Oktober 2014 Punktschrift Kurzschrift Teil 3
  • 16. bis 21. November 2014 Punktschrift Kurzschrift Teil 4 mit zertifiziertem Abschluss

Natürlich kann auch nur die Vollschrift erlernt werden.

Für Berufstätige wird ein Förderantrag beim Integrationsamt gestellt. Bei Teilnehmern aus den Bundesländern Niedersachsen und Thüringen erhalten diese von uns Unterlagen für den Hilfefonds für Blinde ihres Landes zur Kostenübernahme.

Anmeldungen und Information zu beiden Kursen:

Lydia Barkhau (Tel.-Nr. 038203 62993 (abends) oder am Tag 038203 62029 bzw. unter der E-Mail-Adresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! oder über Aura-Hotel "Ostseeperlen" Boltenhagen, Tel. 038825 3700, E-Mail-Adresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

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Weiterbildung für Blinde und Sehbehinderte zum PR-Juniorberater

Die Frankfurter Stiftung ist Träger der beruflichen Weiterbildung PR-Juniorberater/ PR-Juniorberaterin. Diese inklusive berufliche Qualifizierung für Blinde und Sehbehinderte wird in Verbindung mit wohnortnahen Volontariatsplätzen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit durchgeführt. Ab dem ersten Quartal 2014 werden in einem Einstiegszeitraum von drei Monaten Weiterbildungsplätze zum PR-Juniorberater/zur PR-Juniorberaterin angeboten. Die Maßnahme endet mit einem Zertifikat der Akademie für Kommunikationsmanagement (AKOMM). Bewerber sollten über die allgemeine Hochschulreife und/oder eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Zudem besitzen sie ausgezeichnete deutsche Sprachkenntnisse und sind sicher im Umgang mit dem PC, dem Internet sowie den blindentechnischen Hilfsmitteln. Weitere Informationen: Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte, Ursula Hollerbach, Tel.: 069 955124-61, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Neue zentrale Service-Nummer bei der Deutschen Bahn

Seit dem 1. Juni ist die Deutsche Bahn unter der neuen zentralen Service-Nummer 0180 6 99 66 33 zu erreichen. Damit werden Anrufe bei der DB für die Kunden erheblich preiswerter. Unabhängig von der Dauer des Gesprächs kostet ein Anruf dann 20 Cent aus dem Festnetz und 60 Cent aus dem Mobilfunknetz. Die neue Service-Nummer ist wie bisher rund um die Uhr zu erreichen und ermöglicht weiterhin einen direkten Zugang zu allen telefonischen Dienstleistungen der Bahn AG. Nach der Einwahl erreicht der Kunde schnell und einfach über Sprach- oder Tastaturbefehle den gewünschten Service, zum Beispiel die Buchung von Fahrkarten, die Fahrplaninformation und den Service für mobilitätseingeschränkte Reisende.

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BRK

Dr. Heinz Willi Bach

BRK-konforme behindertengerechte Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik für Deutschland

Ordnungsprozess- und inklusionspolitische Überlegungen

Unter den Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland überwiegend verwirklicht ist, bedürfen die Ergebnisse der Auswahl unter den Bewerberinnen und Bewerbern, die auf den Arbeitsmärkten erfolgen (Selektionsprozess), der Korrektur zugunsten von beeinträchtigten [1] Menschen, damit die Anforderungen des Art. 27 BRK realisiert werden können.

Subjekt dieser Korrekturhandlungen muss notwendig die staatliche Gemeinschaft sein, um Marktversagen hinsichtlich sozial erwünschter Ergebnisse zu korrigieren. Denn die Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer optimieren ihre Wirtschaftspläne jeweils individuell zumeist unter Wettbewerbsbedingungen und haben kein Interesse an in ihren Augen suboptimalen Lösungen. Denn Verzicht auf möglichst große Gewinn- oder Umsatzerzielung kann ihnen im wirtschaftlichen Wettbewerb Nachteile verschaffen. Diese Rahmenbedingungen führen in vielen Fällen zur Diskriminierung beeinträchtigter Menschen im Erwerbsleben. Denn beeinträchtigte, z. B. sehbehinderte und blinde Menschen [2] weisen entweder tatsächlich vorübergehend oder dauerhaft eine geringere Produktivität und/oder Flexibilität als nicht beeinträchtigte Anbieter und Anbieterinnen von Arbeitsleistungen (Wettbewerber) auf, oder sie wird ihnen unterstellt. Das bedeutet eine erhebliche Diskriminierung dieser Personenkreise.

Damit ist ein Konflikt beschrieben, der nur gesellschafts- und sozialpolitisch gelöst werden kann. Es ist somit Aufgabe der Gesellschaft und der staatlichen Gemeinschaft, im wirtschaftlichen Wettbewerb Bedingungen zu gestalten, die im Idealfall für alle Beteiligten am Markt gleiche Auswirkungen haben, sie also gleichstellen im Sinne fairer wettbewerblicher Bedingungen.

Diese Frage ist von ausgesprochen großer Bedeutung, da der beschriebene Konflikt zwischen den individuellen Erwerbsinteressen im Rahmen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems und den Rahmenbedingungen, unter denen sich Arbeit als Menschenrecht von beeinträchtigten Menschen vollzieht, gelöst werden muss.

Um das Menschenrecht auf Arbeit zu gewährleisten, müssen bestimmte Unterstützungsleistungen greifen. Diese sollen dazu führen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Menschen mit Beeinträchtigungen in der Konkurrenz um knappe Beschäftigungsmöglichkeiten mit Entgelt so gestärkt wird, dass die Ziele des Art. 27 BRK verwirklicht werden. Dies gilt für neue ebenso wie für die Sicherung bestehender Beschäftigungsverhältnisse und die Begründung oder Fortführung selbstständiger Existenzen.

Fragt man nunmehr, wie derzeit die Situation von beeinträchtigten und behinderten Menschen am deutschen Arbeitsmarkt und in Beschäftigung beschaffen ist, so stößt man keineswegs auf leicht zugängliche empirische Befunde. Aber der in Kürze erscheinende Teilhabebericht der Bundesregierung mit dem Titel "Teilhabe, Beeinträchtigung, Behinderung - Bericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen" weist im Kapitel "Erwerbsarbeit und Einkommen" u. a. aus, dass

  • Menschen mit Beeinträchtigungen in allen Altersklassen in deutlich größerem Umfang erwerbslos sind als andere.
  • die Arbeitslosenquote der schwerbehinderten Menschen in den letzten Jahren doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote gewesen ist.
  • der Anteil arbeitsloser Schwerbehinderter an allen Arbeitslosen trotz des allgemeinen Beschäftigungsaufbaus in der letzten Zeit anstieg.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen in einem Referenzzeitraum von beispielsweise fünf Jahren deutlich längere Zeiträume an Arbeitslosigkeit zu tragen hatten als andere. Sie sind also erheblich stärker von der als kumulierte Arbeitslosigkeit bezeichneten speziellen Form von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen.
  • nur etwa jede vierte schwerbehinderte Person im erwerbsfähigen Alter in einem Beschäftigungsverhältnis steht. Für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen ist dies bereits in einer infas-Bonn-Studie 1994 nachgewiesen worden.
  • bei schwerbehinderten Menschen mit steigenden Graden der Behinderung die Diskriminierung am Arbeitsmarkt zunahm.
  • beeinträchtigte Menschen hinsichtlich erworbener Qualifikation als auch hinsichtlich des erzielten Arbeitsentgeltes im Vergleich stärker unterwertig beschäftigt sind.

Von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind schwerbehinderte Menschen [3] somit nachweislich deutlich stärker betroffen als andere. Da tröstet nur bedingt, dass die Zahl der erwerbstätigen schwerbehinderten Menschen in den letzten Jahren angestiegen ist.

Gegenüber dem Recht der behinderten Menschen auf gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben stellen Erwerbs- oder Arbeitslosigkeit und die übrigen Befunde eine hohe Barriere dar. Angesichts der großen Bedeutung, die Erwerbsarbeit für gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung einnimmt, ist Arbeitslosigkeit ein erheblicher Exklusionsfaktor. Die Risiken, arbeitslos zu werden und/oder arbeitslos zu bleiben, sind in Deutschland äußerst ungleich verteilt und betreffen bestimmte Personengruppen besonders stark, andere demgegenüber kaum.

Hohes Betroffenheitsrisiko:

Menschen, die ein hohes Risiko aufweisen, arbeitslos zu werden, die also leicht und häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Dies sind z. B. Personen, die in prekären, wenig gesicherten, stark fluktuierenden (z.B. Leiharbeit) Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Unter behinderten Menschen findet man dieses Risiko häufig angesichts geringer oder fehlender beruflicher Qualifikation, bei (zusätzlichen) gesundheitlichen Einschränkungen u.a.m., aber auch bei mehrfachen Wohnortwechseln, die die Aufgabe des Arbeitsplatzes erforderlich machen.[4]

Hohes Risiko dauerhafter Arbeitslosigkeit:

Ursache ist hier oft der Umstand, dass die Selektions- oder Schichtungsprozesse, die bei Auswahlentscheidungen auf den Arbeitsmärkten stattfinden, zumeist zu Ungunsten von Menschen mit Beeinträchtigungen erfolgen, sofern sie im Vergleich erhöhte Risiken oder Kosten hervorrufen oder sofern sie einem solchen Klischee unterliegen (etwa die Behauptung vermeintlicher Unkündbarkeit schwerbehinderter Mitarbeiter)[5].

Hohes Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit wird bei schwerbehinderten Menschen mit hohen GdB-Werten beobachtet und bei Menschen im höheren Lebensalter. Längere Dauer der Arbeitslosigkeit selbst gilt als Risikofaktor für weitere dauerhafte Arbeitslosigkeit. Bei gering qualifizierten beeinträchtigten Menschen kommt im höheren Lebensalter oft zum hohen Betroffenheitsrisiko das der Dauerarbeitslosigkeit hinzu. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist - wie erwähnt - bei schwerbehinderten Menschen deutlich höher als bei allen Arbeitslosen. Dies steht im Gegensatz zu den Standards, die Art. 27 BRK fordert.

In der nächsten Ausgabe von horus lesen Sie: "Was kann, was muss getan werden? Instrumente und strategische Faktoren einer BRK-konformen behindertengerechten Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in Deutschland".

Anmerkungen

[1] In dieser Abhandlung werden Menschen als beeinträchtigt bezeichnet, die - entsprechend der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) und der BRK - bei ihren Aktivitäten eingeschränkt sind und daher im Teilhabebereich Erwerbsleben weniger Handlungsspielräume besitzen als nicht beeinträchtigte Menschen. In diesem Lebensbereich sind sie also durch Beeinträchtigung und Kontextfaktoren an der Wahrnehmung und Entfaltung ihrer eigentlichen Möglichkeiten ge- und behindert. zurück zum Text

[2] "Auch die ungelösten Probleme gehören zu einer Bilanz der letzten 100 Jahre. Blinde und Sehbehinderte haben es immer noch schwer, wenn wir an Bildungswege - vor allem höhere Bildungsabschlüsse - und den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt denken. Dort sind die Barrieren vielfältig, keine Frage, aber ich wage die These: Die größten Hürden sind mentaler und sozialer Art." Aus der Festrede des Bundespräsidenten Joachim Gauck anlässlich des Festaktes "100 Jahre Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband", 2012. zurück zum Text

[3] Siehe: Bundesagentur für Arbeit 2012: Der Arbeitsmarkt in Deutschland - Der Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen, Veröffentlichungen der Arbeitsmarktberichterstattung März 2012. zurück zum Text

[4] Egle, F.: (1977) Zerlegung der Arbeitslosenquote in die Komponenten Dauer und Betroffenheit von Arbeitslosigkeit, in MittAB 2/77; Egle, F.: (2005) Arbeitsmarktintegration, Wiesbaden. zurück zum Text

[5] A.a.O. zurück zum Text

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Barrierefreiheit und Mobilität

Dorothée Lemke

Vom "Mobi-Trainer" zur staatlich anerkannten Rehabilitationsfachkraft

Ein außergewöhnliches Berufsbild erfährt staatliche Anerkennung

Es war ein langer Weg vom "Mobi-Trainer" zur staatlich anerkannten "Fachkraft der Blinden-und Sehbehindertenrehabilitation". Fast 40 Jahre vergingen von den Anfängen erster Kurse zum Orientierungs- und Mobilitätstrainer bis hin zu einer systematischen Qualifikation für Fachkräfte der Rehabilitation für blinde und sehbehinderte Menschen.

Nach einer zunächst vorläufigen Anerkennung im Jahre 2009 hat der Ausbildungsgang an der blista auf der Grundlage einer Prüfung durch das staatliche Schulamt Marburg nun mit Ablauf des Jahres 2012 die endgültige Anerkennung als Fachschule durch das hessische Kultusministerium erhalten.

"Damit bekundet der Staat sein öffentliches Interesse an einer soliden Qualifikation von Reha-Lehrern im Blindenwesen", so der stellvertretende Leiter des Staatlichen Schulamtes in Marburg, Bernhard Drude, der für die Fachaufsicht zuständig ist. Die Fachschule unterliegt der hessischen Schulaufsicht; sie muss den Nachweis führen, auf hohem qualitativem Niveau auszubilden und dieses Niveau ständig verbessernd zu halten. Das Anerkennungsverfahren erforderte die Erstellung eines Curriculums, in dem die Lernziele und Inhalte der Ausbildung einschließlich der zeitlichen Vorgaben festgeschrieben wurden sowie die Formulierung einer Prüfungsordnung. Durch die staatliche Anerkennung wurden Ausbildungsstandards festgeschrieben, die europaweit beispielgebend sind und einen Meilenstein in der Professionalisierung des Fachgebietes der Rehabilitation von Menschen mit einer Sehbehinderung oder Blindheit darstellen. Die Festlegung anspruchsvoller Standards für die Ausbildung der Fachkräfte bildet eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass blinde und sehbehinderte Menschen eine qualifizierte professionelle Schulung in Orientierung & Mobilität (O&M), in den Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) und Low Vision erhalten und so auf ihrem Weg hin zu einer selbstständigen Lebensführung unterstützt werden.

In der 1 ½-jährigen Vollzeitausbildung an der Fachschule der blista in Marburg wird die Befähigung vermittelt, einen systematischen Unterricht mit blinden und sehbehinderten Menschen in den Rehabilitationsbereichen O&M, LPF und in Low Vision durchzuführen. Voraussetzung für die Teilnahme ist eine vorherige Qualifikation in einem pädagogischen, sozialmedizinischen oder sozialrehabilitativen Arbeitsfeld. Die Ausbildung wendet sich somit z.B. an Erzieher, Lehrer, Sozialpädagogen, Orthoptisten, Ergo- oder Physiotherapeuten u.a., die sich für das Arbeitsgebiet der Rehabilitation Blinder und Sehbehinderter weiterqualifizieren wollen.

Wesentliche Ausbildungsinhalte bestehen in der Vermittlung theoretischer Grundlagen, Simulationserfahrungen unter der Augenbinde oder mit verschiedenen Simulationsbrillen sowie der angeleiteten Unterrichtspraxis.

Im theoretischen Teil der Ausbildung werden u.a. medizinische, psychologische und rehabilitationspädagogische Grundlagen vermittelt. Weitere Unterrichtsfächer bereiten konkreter auf die Praxis des Rehabilitationsunterrichts vor. So lernen die Teilnehmer, die Blindenvollschrift und -kurzschrift zu schreiben und mit den Augen zu lesen. Im Fach "Gesprächsführung" werden Grundlagen einer unterstützenden, wertschätzenden und lösungsorientieren Beratung vermittelt.

Selbsterfahrung als Basis für effektives Lehren

Einen wesentlichen zeitlichen und inhaltlichen Schwerpunkt der Ausbildung bilden von Beginn an angeleitete Simulationserfahrungen unter der Augenbinde bzw. mit Simulationsbrillen. Hier erleben die Studierenden vornehmlich funktionale Grundprobleme, die durch eine wesentliche Einschränkung oder den Ausfall des Sehens für die Orientierung und Mobilität oder bei bestimmten alltäglichen Verrichtungen entstehen, quasi "am eigenen Leibe". Gleichzeitig erlernen sie im Austausch mit ihren Anleitern Strategien und Techniken, um die Einschränkungen zu kompensieren.

Die Kursteilnehmer durchlaufen dabei in gewisser Weise exemplarisch eine Schulung in "Orientierung und Mobilität" und "Lebenspraktischen Fähigkeiten", die die Ausbilder mit ihnen als "blinden" oder "sehbehinderten" Klienten durchführen.

In den "Lebenspraktischen Fähigkeiten" (LPF) lernen die Kursteilnehmer klassische Inhalte der persönlichen Lebensführung, um blinde und sehbehinderte Menschen zu befähigen, ein selbstbestimmtes Leben im häuslichen und privaten Alltag zu gestalten (z.B. Nahrungszubereitung/Kochen, Einkaufen, Wäschepflege, persönliche Hygiene u.v.a.m.). In den Modulen zur Orientierung & Mobilität geht es u.a. um grundlegende Orientierungsprinzipien, die Schulung der Wahrnehmung, speziell des Gehörs, den Gebrauch des Blindenlangstocks, sichere Straßenüberquerungen jeglicher Art sowie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Die immer anspruchsvoller werdenden Lernsituationen unter der Augenbinde bzw. Simulationsbrille verlangen von den Studierenden, auf bereits Erlerntes zurückzugreifen und es auf eine neue Situation zu übertragen. Auf diese Weise werden die Studierenden befähigt, sich schrittweise auch unbekannte Umgebungen zu erschließen und sich dort zu orientieren.

Vom Lernenden zum Lehrenden

Schon kurz nach Beginn der Simulationseinheiten schlüpfen die Kursteilnehmer zunehmend in die Rolle des Lehrers und "unterrichten" ihre Mit-Studenten unter der Augenbinde bzw. der Simulationsbrille. Auf diese Weise lernen die Auszubildenden die Vermittlung aller wesentlichen Inhalte des Rehabilitationsunterrichts bei Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung und sie machen sich mit der hohen Verantwortung vertraut, die der Lehrende für die Sicherheit seines blinden oder sehbehinderten Schülers im Rehabilitationsunterricht übernimmt.

Durch diese Praxisnähe sind die Teilnehmer bestens darauf vorbereitet, nach ca. einem Dreivierteljahr den Übergang zur eigenständigen Unterrichtspraxis mit Schülern und Rehabilitanden der blista zu bewältigen. Dabei wird die Planung, Durchführung und Reflexion der Lehrpraxis engmaschig vom Ausbilder-Team begleitet.

Um Erfahrungen im Rehabilitationsunterricht mit Menschen mit zusätzlichem Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung oder körperliche/motorische Entwicklung zu sammeln, absolvieren die Teilnehmer ein vierwöchiges Praktikum in einer Einrichtung für Blinde und Sehbehinderte mit zusätzlichem Förderbedarf. Die Ausbildung endet mit Abschlussprüfungen unter Aufsicht des staatlichen Schulamts Marburg.

Nächster Kurs ab April 2014

Die Berufsaussichten für Fachkräfte der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation sind nach wie vor glänzend. Rehabilitationsfachkräfte arbeiten entweder freiberuflich oder als Angestellte in Institutionen des Blinden- und Sehbehindertenwesens oder der Selbsthilfe. Die Ausbildung kann bei Vorliegen der Voraussetzungen nach Meister-BaFöG finanziell gefördert werden.

Der nächste Ausbildungskurs beginnt voraussichtlich im April 2014. Genauere Informationen gibt es im Internet unter http://www.blista.de/fachschule_reha/index.php oder direkt bei der Ausbildungsleiterin Dorothée Lemke , E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

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WIPO-Konferenz verabschiedet historischen Vertrag zur Beendigung der Büchernot

Darauf haben blinde und sehbehinderte Menschen in der ganzen Welt lange gewartet: Nach schwierigen Verhandlungen haben die mehr als 600 Delegierten der diplomatischen Konferenz der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Marrakesch Ende Juni einen neuen Vertrag beschlossen, der für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen den Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken verbessert. Damit findet eine seit fünf Jahren von der Weltblindenunion (WBU) und Europäischen Blindenunion (EBU) geführte und vom DVBS, DBSV und der blista aktiv unterstützte Kampagne ihren erfolgreichen Abschluss, deren Ziel die Beseitigung der "Büchernot" ist.

Das neue WIPO-Abkommen verpflichtet die Vertragsparteien dazu, im jeweiligen nationalen Urheberrecht eine Regelung zugunsten blinder, seh- und lesebehinderter Menschen vorzusehen, die die Vervielfältigung und Weitergabe von Werken in einem barrierefreien Format erlaubt. Einer Einwilligung der Rechteinhaber bedarf es hierzu nicht. Solche Regelungen gibt es bereits heute in 60 Mitgliedsstaaten der WIPO. Sie gelten jedoch nur national und schließen bislang die Weitergabe über Landesgrenzen aus. Der neue Vertrag harmonisiert die urheberrechtlichen Beschränkungen und Ausnahmeregelungen weltweit, so dass die Blindenbüchereien ihre Bücherbestände künftig auch über Grenzen hinweg austauschen können. Selbst die Lieferung an einzelne Betroffene ist im Rahmen des neuen WIPO-Vertrages erlaubt. Auch blinde, seh- und lesebehinderte Menschen in Deutschland werden von den neuen Regelungen profitieren, weil z. B. der Zugriff auf Buchbestände in anderen Ländern leichter und rascher möglich wird.

In einer ersten Stellungnahme würdigte EBU-Präsident Wolfgang Angermann die Einigung in Marrakesch als historischen Schritt zur Beseitigung der Büchernot und ermahnte die Regierungen, jetzt zügig die Umsetzung des Vertrags anzugehen. "Der WIPO-Vertrag ist ein guter Vertrag. Er wird jedoch erst dann den Zugang blinder, seh- und lesebehinderter Menschen zu Büchern verbessern, wenn er ratifiziert und umgesetzt wird."

Zur Ratifizierung des Vertrags ist die Unterzeichnung durch mindestens 20 WIPO-Mitgliedsstaaten erforderlich. Nach Einschätzung von Experten gilt dies als sicher, zumal mit dem neuen Abkommen einem langjährigen Wunsch vor allem der Entwicklungsländer entsprochen wird.

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Aus der Arbeit des DVBS

Christina Muth

DVBS-Mitglieder spenden Blindenstöcke für Lhasa

Hilfsmittelanbieter Gaudio-Braille aus Marburg unterstützt die Aktion

Sie sind blind, absolvieren eine Ausbildung zum Masseur und sind täglich Verletzungsgefahren ausgesetzt, weil entsprechende Hilfsmittel fehlen: Die Schüler und Angestellten einer kleinen Masseurschule im tibetischen Lhasa müssen sich an Hauswänden und Mauern durch die Straßen "hangeln", um nicht in ein Loch zu treten oder - noch schlimmer - in einen offenen Kanalschacht zu stürzen. Jetzt erwarten die Masseure ein Paket, das die Lösung dieses Problems beinhaltet: Die Mitglieder des DVBS haben Blindenstöcke gesammelt, die nach Lhasa geschickt werden. Von dem Motto des Vereins "Selbsthilfe lohnt sich" profitieren nicht nur die Mitglieder, auch Blinde am anderen Ende der Welt erfahren Unterstützung.

Unternehmer Reinhard Schneider aus Heuchelheim bei Gießen wurde bei einem Aufenthalt in Lhasa auf das Schicksal der Masseure aufmerksam. Er nahm das Angebot der Masseure in Anspruch und erfuhr von den Problemen. "Nur die Leiterin der Schule hatte einen Stock, alle anderen haben sich an den Häusern entlang durch Lhasa gehangelt", erzählt Schneider. "In der Stadt gibt es viele Straßenschäden, und Gullydeckel werden regelmäßig gestohlen, sodass die Schächte offen liegen." Die blinden Masseure verletzen sich häufig. Zurück in Deutschland nahm Schneider Kontakt mit Klaus-Eberhard Völzing (Vorstandsmitglied der Hilfsorganisation Terra Tech und ehemaliger Geschäftsführer der Arbeitsagentur Marburg) auf. Dieser wiederum rief seinen ehemaligen Kollegen Dr. Heinz Willi Bach an, und kurze Zeit später wurden die 1.700 Empfänger des DVBS-Newsletters "horus aktuell" gebeten, gebrauchte Stöcke einzuschicken. Insgesamt zehn Stöcke spendeten die Mitglieder. Hinzu kommen fünf weitere Blindenstöcke, die der Marburger Hilfsmittelanbieter Gaudio-Braille gestiftet hat.

Reinhard Schneider zeigte sich überwältigt von der Hilfsbereitschaft der selbst blinden und sehbehinderten DVBS-Mitglieder. "Vielen Dank, Sie haben dazu beigetragen, den betroffenen Blinden in Lhasa eine Riesen-Freude zu machen", sagte Schneider.

Gemeinsam mit einem befreundeten Spediteur will er jetzt dafür sorgen, dass die Stöcke nach Lhasa transportiert werden.

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Klaus Sommer

Totgeglaubte leben länger - geglückte Reaktivierung einer Fachgruppe

Noch vor zwei bis drei Jahren blickten Vorstand und Arbeitsausschuss sorgenvoll auf die inaktiv gewordene Berufsfachgruppe der Verwalter. Doch dann ließ die 2012er Veranstaltung in Berlin mit nennenswerter Beteiligung und attraktivem Programmangebot wieder auf eine ersprießliche Selbsthilfearbeit hoffen. Zu Beginn des Jahres 2013 breitete die Fachgruppe ihre Flügel weit aus und bietet seither allen Berufsgruppen innerhalb der Verwaltung ein Forum. Das diesjährige Verwaltungsseminar überstieg sogar die Erwartungen: 27 Teilnehmer/innen und Begleitpersonen kamen im April nach Erfurt und wohnten ein Wochenende im ehrwürdigen evangelischen Augustinerkloster (auch eine Herausforderung an Orientierung und Mobilität). Der Seminarinhalt umfasste Themen wie Kommunikation zwischen Assistenznehmenden und Assistenzkräften im Arbeitskontext; Beihilfe, eine Fürsorgeleistung des Dienstherrn (wann sind Sehgeschädigtenhilfsmittel beihilfefähig?); Barrierefreiheit in einem E-Government- und E-Justice-Gesetz; Informations- und Kommunikationstechnik im Büro von heute - von der Barrierefreiheit zur Inklusion. Eine Führung durchs Kloster, in dem vor 500 Jahren Luther als Mönch lebte, und durch die Stadt Erfurt mit ihren Kleinodien wie der Krämerbrücke rundeten das Programm ab.

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Christina Muth

Mentoring-Projekt "TriTeam" geht an den Start

Blind oder sehbehindert ein Studium zu absolvieren und einen erfolgreichen Start in das Berufsleben zu meistern, ist für die betroffenen Studierenden eine Herausforderung. Um Studierenden die Möglichkeit der Unterstützung durch Mentoren zu bieten, hat der DVBS das Mentoringprojekt "TriTeam" ins Leben gerufen. Zunächst auf die Region Marburg begrenzt, bietet der DVBS in seinem Projekt Unterstützung für Blinde und Sehbehinderte,

  • die ein Studium begonnen haben,
  • die vor dem Ende des Studiums stehen und
  • die ihr Studium gerade abschlossen und auf den Arbeitsmarkt drängen.

Den Studierenden werden jeweils ein sehender Karrierementor und ein blinder oder sehbehinderter Handicapmentor zur Seite gestellt, gemeinsam bilden sie ein "TriTeam".

"TriTeam" wird von der Commerzbankstiftung gefördert. Die Modellphase des Projektes startet im Herbst 2013 in der Region Marburg. Die Schirmherrschaft für diesen Projektabschnitt hat Sören Bartol (MdB) übernommen. Ein Jahr lang werden bis zu sechs sogenannte Mentees begleitet und gefördert.

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Terminvorschau

Seminartermine 2013:

20. bis 22. September: Fortbildungsseminar der FG Jura in Kassel

27. bis 29. September: Bundesweites Treffen Studierender der Fachgruppe Ausbildung in Bad Homburg

7. bis 14. Oktober: Seminar der Gruppe Ruhestand in Timmendorfer Strand

11. bis 13. Oktober: Psychodrama-Selbsterfahrungsseminar (fachgruppenübergreifend) in Saulgrub

18. bis 20. Oktober: Fortbildungsseminar der FG Soziale Berufe und Psychologie in Hünfeld/Hessen

24. bis 27. Oktober: Fortbildungsseminar der FG Wirtschaft, Zeit- und Selbstmanagement in Herrenberg

22. bis 24. November: Fortbildungsseminar für Ehrenamtliche im DVBS in Kirchheim

Weitere Informationen zu den Terminen finden Sie unter www.dvbs-online.de/php/aktuell.php

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Personalien

Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen hat 2011 Herrn Dr. Heinz Willi Bach in den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales berufen, der die Gestaltung des Teilhabeberichtes der Bundesregierung zu den Lebenslagen der Menschen mit Beeinträchtigungen (Teilhabe, Beeinträchtigung, Behinderung) wissenschaftlich begleitet. Dr. Bach gehört nunmehr ebenfalls dem Beirat zur Erstellung der "Vorstudie für eine Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen" an. Diese Studie wird die Möglichkeiten der Verbesserung der Datenlage für kommende Teilhabeberichte der Bundesregierung zum Thema haben.

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Aus der blista

Wir gratulieren unsren Absolventen

Gymnasium

Josephine Ahrens, Hatice Altinbas, Svenja Bader, Kevin Barth, Sophia Marie Elbert, Heiko Forro, Georgia Gkountroumpi, David-Alessandro Günther, Patrick Herres, Rieka Kamps, Martina Kiefer, Stefanie Koch, Fabiana Kühl, Taime Kuttig, Johannes Lambertz, Ines Matic, Anna Michels, Pierre Niclas Milano, Sachem Moore, Sarah Pisek, Anna-Lydia Schneider, Kerstin Susota, Michaela Tschirner, Alexander Tyssen, Lena-Marie Urbanczyk, Jonathan Wollenberg, Laura Wunsch.

Berufliches Gymnasium - Fachrichtung Wirtschaft

Siratt Alam, Kim-Alexander Brodowski, Dustin Dziembala, Ursula Eggs, Sebastian Ritzenhofen, Dominik Vogelaar, Max Walbaum.

Fachoberschule - FR Sozialwesen:

Cagla Ayboga, Steven Bedard, Stefanie Döffinger, Franziska Engesser, Germain-Oliver Fowler, Gisa Gutsche, Maren Lara Hoffmann, Michelle Knäpper, Tizia Kreß, Ayasha Mack, Pia Schau, Thorsten Roman, Georg Schramm.

Fachoberschule - Fachrichtung Wirtschaft

Anita Budimlic, Robert Denk, Richard Ben Feißt, Stefanie Kahn, Janneke Langenfurth, Maximilian Nigges, Alexander Scherrer, Kim-Christian Sterkel.

Kaufmännische Assistenten für Informationsverarbeitung:

Ceyhun-Ihsan Gülacan, Moslem Haidari, Haqil Haidari, Elisabeth Rahmig, Maria Schröder, Eduard Storz, Tobias Wenzel, Izzeddin Yilmaz.

Insgesamt acht Auszubildende haben ihre Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer erfolgreich abgelegt.

Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung/Informatikkaufmann

Immanuel Bartkowski, Cihan Celebi, Thomas Draheim, Christoph Garms, Dominik Hagen, Toni Hoxha, Imam Kahraman, Stefano Munisteri.

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blista lädt ein zum Schnuppertag am 16. November

Nach der 5. Klasse aufs Gymnasium oder eher auf die Realschule? Nach der mittleren Reife das Abitur anstreben, auf eine Fachoberschule wechseln oder doch gleich eine Berufsausbildung? Zu Hause bleiben oder an ein spezielles Förderzentrum wie die blista in Marburg wechseln ...? Weil dies für Eltern und Kinder oft keine einfachen Entscheidungen sind, tut es gut, sich Zeit zu nehmen und die Palette der Möglichkeiten kennenzulernen. Die Antworten sind gerade für sehbehinderte und blinde junge Menschen von zentraler Bedeutung für die späteren Berufschancen.

Schnuppertag für Eltern und Schüler aller Jahrgangsstufen

Die Teilnahme am blista-Schnuppertag soll Schüler und Eltern darin unterstützen, den Bildungsweg zu planen und sich erste Eindrücke für weitere Überlegungen zu verschaffen. Am 16.11.2013 geht es darum, Unterricht zu erleben, der genau auf die Belange sehbehinderter und blinder Schülerinnen und Schüler zugeschnitten ist, eine der vielen, über die Stadt verteilten Wohngruppen kennenzulernen, sich über die vielfältigen Fördermöglichkeiten der Reha-Abteilung wie zum Beispiel Orientierung & Mobilität, Lebenspraktische Fähigkeiten, Low Vision- und Sehhilfenberatung zu informieren und sich einen Überblick über die Vielzahl der angebotenen Arbeitsgemeinschaften und Freizeitmöglichkeiten an der blista und in der Universitätsstadt Marburg zu verschaffen.

Der Schnuppertag ist als Ergänzung zu den Orientierungswochen, die im Zeitraum Februar - April 2014 an der blista durchgeführt werden, konzipiert. Für nähere Informationen stehen Frau Landmesser (E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Tel. 06421 606-361) und die Schulleitung (E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Tel. 06421 606-113) gern zur Verfügung.

Anmeldeschluss ist der 1. Oktober 2013

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Pierre-de-Coubertin-Schulsportpreis für Taime Kuttig

Für sein "Vorbildliches Engagement im Bereich Sport und Bewegung für die Gesamtheit der Schule" wurde Taime Kuttig, der vor wenigen Wochen sein Abitur an der Carl-Stehl-Schule abgelegt hat, im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung des blista-Sommerfestes mit dem "Pierre-de-Coubertin-Schulsportpreis 2013" des Landessportbundes und der Sportjugend Hessen ausgezeichnet. "Mit und durch Sport hast Du es geschafft, der verantwortungsvolle Mann zu werden, der Du heute bist", freute sich die Sport- und damalige Eingangsklassenlehrerin Barbara Zink bei der feierlichen Übergabe durch Direktor Claus Duncker und Schulleiter Joachim Lembke.

Taime hatte von Geburt an eine Sehbehinderung und kam mit 11 Jahren an die blista. Unerwartet und plötzlich erlitt er im ersten Jahr einen Sehverlust, der zur Erblindung führte. Um weiterhin in seiner 5. Klasse mithalten zu können, wurden sofort Rehabilitations- und Fördermaßnahmen eingeleitet, zusätzlich zum Unterricht wurde Taime jetzt in Punktschrift, Orientierung&Mobilität und in Lebenspraktischen Fähigkeiten geschult. Diese Zeit, so beschreibt es Taime heute, erlebte er als anstrengend, stressig und zeitlich extrem eingespannt. Doch Taime ist ein Kämpfer im Sport und im Leben: Er entschied sich trotz des ganzen Stresses für eine neue Sportart und ging fortan regelmäßig zum Torball-Training. Der Sport bot die Möglichkeit, sich nach Herzenslust frei zu bewegen, den Körper, die eigenen Muskeln zu spüren, sich zu fordern und auszupowern, körperliche Leistung anzustreben und zugleich Teil einer Gruppe zu sein.

Diese Erfahrung und das gute Gefühl von Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und sozialen Kontakten, das sich für ihn damit verbindet, als Blinder auf sportlichem Wege Erfolge zu erleben, möchte er weitergeben: Taimes vorbildliches Engagement liegt daher nicht allein in den herausragenden Leistungen. Immerhin wurde er in der letzten Saison als bester Mittelfeldspieler der Blindenfußball-Bundesliga ausgezeichnet, ist mit 20 Jahren bereits fester Bestandteil der Blindenfußball-Nationalmannschaft und hat mit seinen Teams im Goalball und im Blindenfußball 2012 die Deutsche Meisterschaft nach Marburg geholt. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich als Co-Jugendtrainer für die 11-16-Jährigen und trägt mit seiner Sportberichterstattung dazu bei, die Öffentlichkeit über die sportlichen Möglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen zu informieren und so wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten.

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Impressum

Herausgeber:

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

Redaktion:

DVBS (Uwe Boysen, Michael Herbst, Andrea Katemann und Christina Muth) und blista (Isabella Brawata, Thorsten Büchner, Rudi Ullrich und Marika Winkel)

Koordination:

Christina Muth, Geschäftsstelle des DVBS, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon: 06421 94888-13, Fax: 06421 94888-10, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.dvbs-online.de

Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung der Redaktion.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.):

Michael Herbst (DVBS) und Rudi Ullrich (blista)

Erscheinungsweise:

Der "horus" erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und auf einer CD-ROM, die die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version und die Braille-, RTF- und PDF-Dateien enthält.

Jahresbezugspreis:

22 Euro (zuzüglich Versandkosten) für die Schwarzschriftausgabe, 35 Euro für alle übrigen Ausgaben.

Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres.

Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

Bankkonten des DVBS:

Sparkasse Marburg-Biedenkopf (BLZ 533 500 00), Konto 280

Commerzbank AG Marburg (BLZ 533 400 24), Konto 3 922 945

Postbank Frankfurt (BLZ 500 100 60), Konto 149 949 607

Verlag:

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg

ISSN 0724-7389, Jahrgang 75

Punktschriftdruck: Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Marburg

Digitalisierung und Aufsprache: Geschäftsstelle des DVBS, Marburg

Schwarzschrift-Druck: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen

Die Herausgabe der Zeitschrift "horus" wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der "Glücksspirale" unterstützt.

Titelbild:

Die Politik und wir. Foto: Christina Muth/DVBS

Nächste Ausgabe (horus 4/2013):

Schwerpunktthema: Übergänge

Erscheinungstermin: 25. November 2013

Anzeigenannahmeschluss: 25. Oktober 2013

Redaktionsschluss: 4. Oktober 2013

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