horus 2/2021
Schwerpunktthema: "Kinder, Kinder"
Titelbild: Wortwolke in Form einer Sprechblase mit bunten Stichworten: Sorgeberechtigte, Inklusion, Elternsein, Stolz, Geschwister, Mama, Opa, Verantwortung, Entwicklung, Förderplan, Oma, Geburt, Kinder, Freude, Papa, ICV-CY, Erziehung, Organisation. Bild: blista
Inhalt
- Vorangestellt
- Aus der Redaktion
- Schwerpunkt: "Kinder, Kinder"
- Dr. Petra Bungart: Von der Kunst, Kinder, Küche und Karriere blind zu managen oder: Gleichberechtigte Teilhabe geht anders
- Sigrun Hartmann und Claudia Rohde: Mittendrin und proaktiv - mit dem iPad in der Kita
- Jane Morgenthal: Erfahrungsbericht der Familie Morgenthal
- Nina Gromes: Inklusion im Montessori-Kinderhaus Marburg bedeutet, dass alle so akzeptiert werden, wie sie sind
- Angelka Quatram: Wie es als Kind blinder Eltern ist? - Ganz normal, würde ich sagen
- Dr. Michael Richter: Elternassistenz: Ein inzwischen etablierter Anspruch?!
- Beruf, Bildung und Wissenschaft
- Laura Lansche: Barrieren im Studium
- Rebecca Bahr und Ramin Siegmund: Digitale Barrieren reduzieren - das Projekt "V#d - Vielfalt digital stärken" der Philipps-Universität Marburg stellt sich vor
- PD Dr. Patrick Schmidt: Blindheit aus der Perspektive der Sehenden. Menschen ohne Augenlicht in den europäischen Periodika des 18. Jahrhunderts, Teil 1
- Recht
- Paritätischer Gesamtverband: Neuer Freibetrag in der Grundsicherung - Betroffene Rentnerinnen und Rentner müssen ihre Ansprüche sichern
- Gemeinsame Stellungnahme des DBSV und des DVBS zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (Barrierefreiheitsgesetz - BFG)
- Vortrag zu den rechtlichen Grundlagen des Nachteilsausgleichs in Prüfungen
- Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen aus einer Hand
- Barrierefreiheit und Mobilität
- Berichte und Schilderungen
- Aus der Arbeit des DVBS
- Aus der blista
- Bücher
- Panorama
- Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen beschlossen
- Homeschooling für Lernende mit Behinderungen
- Neue Audio-Angebote der PRO RETINA: Infocast und Podcast
- Anja Brockhagen: Verzeichnis der Reha- und Teilhabeforschenden 2021: REHADAT veröffentlicht neue Ausgabe
- Inklusive Strukturen und Rahmenbedingungen für Promovierende mit Behinderungen an Hochschulen
- DBSV: Save the Date! Deutscher Hörfilmpreis 2021: Hybride Preisverleihung im Livestream am 16. Juni 2021
- "Anerkennung und Hilfe" verlängert Frist
- SSG-Goalballer erhalten Zusage für die Ausrichtung der ersten Damenmeisterschaft
- SightCity 2021 mit interaktiven Präsentationen online - Präsenzveranstaltung erst wieder 2022
- Schwangerschaftstest mit fühlbarem Ergebnis
- Leserbriefe
- Impressum
- Anzeigen
Vorangestellt
Liebe Leserin, lieber Leser,
Kinder sind eine Herzensangelegenheit. Sind sie nicht auch an und unter dem Herzen der Mutter gewachsen? Kinder sind besonders schützenswert. Und da wir alle einmal Kinder waren, sollten wir eigentlich genau wissen, was für unsere Kinder wichtig und notwendig ist. Aber es ist so schwer, mit unseren kindlichen Augen und Ohren das zu sehen und zu hören, wofür wir Erwachsenen manchmal blind und taub sind.
In diesen seltsamen und schwierigen Zeiten tragen aus meiner Sicht unsere Kinder mit die größte Last. Sie müssen auf so vieles verzichten, was für ihre kindliche Entwicklung und ihr Wohlbefinden wichtig ist. Nicht für alle Altersgruppen unserer Kinder und Jugendlichen war Präsenz auf dem blistaCampus gestattet. Aber in den Kinderhäusern, unserer Grundschule, der Eingangsstufe sowie den Abschlussklassen konnten wir ein verlässliches und kontinuierliches Angebot bieten. So war auch in den letzten Wochen der blistaCampus mit Leben erfüllt. Darüber freue ich mich sehr, und mein Dank gilt allen, die mit viel Engagement dazu beigetragen haben.
So führt sich die 100-jährige Tradition der blista fort: Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg in die Welt zu unterstützen und sie hin zu einem selbständigen Leben zu begleiten. Für mich gehört das mit zu den schönsten Aufgaben.
In dieser Ausgabe des horus lesen Sie beeindruckende und spannende Geschichten und Artikel rund ums Thema "Kinder, Kinder". Dabei werden ganz unterschiedliche Herangehensweisen und Perspektiven beleuchtet. Erwachsenenperspektiven natürlich, aber häufig doch mit den Augen eines Kindes gesehen.
Zum Inhalt
Dr. Petra Bungart beschreibt in ihrem sehr lesenswerten Artikel, was es bedeutet, als blinde Mutter "Kinder, Küche und Karriere" unter einen Hut zu bekommen. Die heutige Richterin am Sozialgericht Oldenburg und frühere Vorstandsassistentin der blista, Angelika Quatram, erzählt lebendig davon, wie es ist, als Kind von blinden Eltern aufzuwachsen. Die umgekehrte Perspektive beleuchtet Jane Morgenthal, die uns an ihren Gefühlen und ihrem Alltag mit einem blinden Kind teilhaben lässt. Nina Gromes nimmt uns mit ins inklusive Montessori-Kinderhaus der blista. Wie digitale Technologien ganz praktisch bei der Frühförderung von Kindern mit Sehbehinderung eingesetzt werden, zeigen Sigrun Hartmann und Claudia Rohde vom blista-Frühförderteam mit ihrem Beitrag auf. Dr. Michael Richter erläutert, was es mit dem Begriff Elternassistenz auf sich hat.
Ich wünsche Ihnen anregende und unterhaltsame Lektüre!
Bleiben Sie gesund und zuversichtlich!
Herzliche Grüße
Ihr
Claus Duncker
Bild: Claus Duncker lächelt. Er hat kurze graue Haare und trägt eine randlose Brille. Foto: Bruno Axhausen
Aus der Redaktion
Mit neuer Leichtigkeit
Hatten Sie als langjährige Leserin und Leser schon Wetten darauf abgeschlossen, dass das Layout der horus-Printausgabe über kurz oder lang modernisiert wird? So, dass das Lesen für sehbehinderte Menschen leichter möglich ist und sich verstärkt an aktuellen Kriterien des inklusiven Kommunikationsdesigns orientiert? Dann wird Sie das vorliegende Heft nicht überraschen. Wir setzen mit linksbündigem Flattersatz und der 2013 entworfenen Schrift "Neue Frutiger® 1450" die Empfehlungen um, die der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) im Rahmen seines Projekts "Inklusives Design" bereits vor einigen Jahren erarbeitet hat. Unterstützt wurde das Projekt unter anderem von der blista, über Hintergründe informiert Sie die Webseite https://www.leserlich.info.
Sie haben die Ergebnisse des Projekts sicher schon in anderen Publikationen kennen gelernt, z. B. in Veröffentlichungen der blista oder wenn Sie die Zeitschrift "Sichtweisen" regelmäßig lesen. Der "horus" reiht sich damit in die Gemeinschaft derjenigen ein, die der Öffentlichkeit auch visuell zeigen möchten, wie angenehm Printprodukte für Menschen gestaltet sein können, deren Sehsinn auf klare Darstellungen angewiesen ist. Und dies ist auch für ein Fachmagazin möglich.
Wir sind gespannt, wie Ihnen das neue "Outfit" gefällt. Schreiben Sie uns Ihre Meinung! Aber nicht nur bei optischen, sondern auch bei inhaltlichen Aspekten freuen wir uns über Ihre Beteiligung. Denn das Schwerpunktthema des nächsten horus lautet "Briefe an die Politik". Schließlich sind wir Mitten im "Superwahljahr" und die Bundestagswahl steht an. Was wollten Sie Politikerinnen und Politikern schon immer mal sagen? Wie werden oder wurden Sie selbst zu einem politisch denkenden Menschen? Welche Formen der Beteiligung nutzen Sie? Senden Sie uns Ihren Beitrag, der nicht länger als 12.000 Zeichen sein sollte, als allgemeiner Bericht bis 4.000 Zeichen, bis zum Redaktionsschluss am 21. Juni. Zum spannenden Wahljahr erwarten wir in horus 3/2021 spannende Beiträge blinder und sehbehinderter Menschen, ob politisch aktiv oder als stille Beobachterinnen und Beobachter der politischen Bühne.
Schwerpunkt: "Kinder, Kinder"
Von der Kunst, Kinder, Küche und Karriere blind zu managen oder: Gleichberechtigte Teilhabe geht anders
Von Dr. Petra Bungart
Neulich erhielt ich einen Anruf der horus-Redaktion. Ich sei doch prädestiniert, für den horus zum Thema Kinder zu berichten. Ich hatte verschiedentlich bei Fachgruppentreffen und in der E-Mailgruppe darüber geklagt, wie anstrengend es sei, als Blinde Kindererziehung und Berufstätigkeit unter einen Hut zu bekommen. Ich sagte sofort und gern zu.
In der Vergangenheit hatte ich in Interviews und Berichten immer wieder beschrieben, wie bereichernd das Leben mit Kindern sei, dass es eine Herausforderung darstelle, Beruf und Kindererziehung zu meistern, dass es Phantasie und Mut bedürfe, das Leben anzupacken; dass es frei nach der Devise, Krise als Chance aufzugreifen, gut funktioniere. Es gehe nicht darum, darüber zu lamentieren, was nicht laufe, sondern für die anstehenden Probleme Lösungen zu finden.
Das Feedback war einhellig: Hut ab, eine tolle Frau - bewundernswert!
Das ist sicherlich richtig, aber nur eine Seite der Medaille.
Dass ich es im Alltag immer wieder auch mit doppelter Diskriminierung oder, besser gesagt, dreifacher Belastung, zu tun habe, ist nämlich die Kehrseite. Diese Kehrseite möchte ich hier einmal genauer beleuchten.
Ich bin 52 Jahre alt, lebe in einer Großstadt, bin promovierte Juristin, arbeite als Familienrichterin und Gerichtsmediatorin, bin verheiratet und habe zwei 14- und 16-jährige Söhne. Ich habe eine fortschreitende Augenerkrankung namens Retinitis Pigmentosa, die mittlerweile zur Erblindung geführt hat.
Im öffentlichen Verkehr bin ich mit dem Blindenlangstock unterwegs und habe in meinem Job Unterstützung durch eine Assistenzkraft. Mein Computer ist mit spezieller Hilfstechnologie ausgestattet, so dass ich die eingescannten Akten selbstständig bearbeiten kann. Als Richterin arbeite ich mittlerweile seit 20 Jahren. Ich habe bei uns am Gericht die Mediationsabteilung mit aufgebaut und die richterliche Fallsupervision eingeführt. Diese Arbeit erfüllt mich sehr. Nach der Geburt der Kinder habe ich jeweils ein Jahr ausgesetzt. Zunächst habe ich dann Teilzeit gearbeitet, seit zwei Jahren bin ich wieder auf einer vollen Stelle tätig.
Zu der Doppelbelastung, die berufstätige Frauen oftmals zu händeln haben, kommen für Frauen mit Behinderung die Erschwernisse hinzu, die mit der Behinderung einhergehen.
Zu nennen wären zunächst gesellschaftliche Vorbehalte, die behinderten Menschen immer wieder begegnen. Die hören sich bei mir so an:
Leben mit Sehbehinderung: Wie kann das gehen?
Blinde Richterin: Das kann ich mir gar nicht vorstellen!
Blinde Mutter: Wie soll das funktionieren?
Ein Berg von Zweifeln, Sorgen und Fragen, dem ich, ohne selbst genau eine Antwort zu kennen, schon von Kind an ausgesetzt war. Ein derartig defizitärer Ansatz erschwert eine freie und selbstbewusste Lebensführung ungemein und bringt mich immer wieder an meine Grenzen.
Des Weiteren ist die systemische Belastung zu nennen, durch die das Leben behinderter Menschen oftmals geprägt ist.
In meinem beruflichen Kontext ist es beispielsweise durchaus noch immer nicht selbstverständlich, dass ich die erforderliche Unterstützung erhalte. Das liegt daran, dass die Personaldecke bei uns am Gericht sehr dünn ist, ich auf Technik angewiesen bin, die nicht immer funktioniert, und ich als Richterin selbst dafür zuständig bin, dass "der Laden läuft". Neben der Tatsache, dass mein Arbeiten aufgrund meiner Blindheit ohnehin schon aufwendiger ist als bei den Sehenden Kollegen, kommt der Stress dazu, der für den Erhalt der erforderlichen Nachteilsausgleiche aufgewendet werden muss.
Im Alltag bin ich darüber hinaus oftmals Diskriminierungen ausgesetzt. Wie oft muss ich mich auf dem Arbeitsweg dagegen wehren, einfach angefasst, mitleidig angesprochen oder wie ein Kind behandelt zu werden. Das weckt Wut und Trauer.
Ein weiterer Aspekt ist die Herausforderung, die die Behinderung für die Partnerschaft und das Familienleben darstellt.
Mein Mann hat sich darauf eingelassen, sein Leben mit mir zu teilen, und zwar mit dem Wissen, dass unser gemeinsames Leben auch immer wieder durch meine Behinderung geprägt ist. Wir müssen gemeinsam damit umgehen, dass uns nicht dieselben Möglichkeiten zur Verfügung stehen wie anderen Familien, und nach entsprechenden Lösungen und Alternativen suchen. Meine Kinder finden es manchmal peinlich, nervig und unkomfortabel, eine blinde Mutter zu haben. Mein sich aus der Behinderung ergebender Unterstützungsbedarf ist oftmals für uns alle anstrengend und frustrierend.
Eine ganz besondere Herausforderung hat sich darüber hinaus für mich aus der Mutterrolle ergeben. Mir war von Anfang an klar, dass ich auf jeden Fall weiter berufstätig bleiben wollte. Ich liebte meinen Job und konnte mir ein Leben ausschließlich als Hausfrau und Mutter überhaupt nicht vorstellen. Mut machte mir meine sehbehinderte Schwester, die ihr Leben mit zwei Kindern super hinbekam, und die Tatsache, dass sich im öffentlichen Dienst die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung bot.
Nach der Geburt des ersten Kindes bin ich dann erstmal zu Hause geblieben und habe mich um Kind und Haushalt gekümmert. Das war sehr problematisch, weil ich versucht habe, die Dinge, die man normalerweise mit Babys und Kleinkindern unternimmt, auch zu machen. Das hat mich teilweise total frustriert. So war es zum Beispiel absolut stressig, mit dem Kleinen zum Babyschwimmen zu kommen. War ich dann endlich dort und umgezogen im Becken, musste ich mir von anderen Müttern anhören, wie bedauerlich es für das Kind sei, nicht wie die anderen im Kreis springen zu können. Ich konnte in der Krabbelgruppe keine Laterne basteln und habe dumm daneben gesessen, während die anderen Mütter Spaß hatten. Besonders Leid tat es mir, dass ich mit meinen Kindern keine Bilderbücher anschauen konnte. Das war frustrierend und traurig für mich. Was ich in dieser Zeit gelernt habe ist, dass es nichts bringt, irgendwelchen gesellschaftlichen Anforderungen hinterher zu jagen, die ich sowieso nicht erfüllen kann.
Ist es erforderlich, dass ein Baby zum Babyschwimmen geht? Muss es wirklich eine von Mama selbstgebastelte Laterne sein? Bin ich nur eine gute Mutter, wenn ich auch Bilderbücher mit den Kindern schaue? Natürlich nicht. All diese Dinge können die Kinder auch mit Papa oder jemand anderem machen. Dafür kann ich mit den Kindern singen, backen, toben, Geschichten erzählen und vieles andere mehr. Wie dämlich ist es eigentlich, nur das zu sehen, was nicht geht? Weh tut es trotzdem.
Im Beruf hatte ich mir ein Standing erarbeitet, und im privaten Kontext habe ich mich oft defizitär gefühlt. Plötzlich waren ganz andere Kompetenzen gefragt, mit denen ich nicht aufwarten konnte. Hinzu kam dann noch, dass ich den Haushalt gemacht habe und dafür nur wenig Anerkennung erfuhr. Nach einem Jahr zu Hause hatte ich dann so die Nase voll, dass ich wieder angefangen habe zu arbeiten.
Damals war die staatliche Kinderbetreuung noch nicht so weit ausgebaut. Es gab bei uns noch keine Kita für unter Dreijährige und keine Übermittagbetreuung im Kindergarten. Wir haben dann eine Kinderfrau eingestellt, die auch viel im Haushalt gemacht hat. Seitdem ich wieder berufstätig war, haben mein Mann und ich uns die übrige Hausarbeit geteilt. Wir haben andere Leute mit eingespannt. So ist z.B. der Ehemann der Kinderfrau mit den Jungs zum Fußball gegangen. Oma hat mit den Kindern geturnt und zur Musikschule sind die Kinder mit den Eltern der Freunde gefahren.
Was ich mir im Vorfeld an Problemen ausgemalt hatte, ist schließlich nicht eingetreten. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich irgendwelche Gefahren nicht sehen würde, dass die Kinder zum Beispiel weglaufen oder unters Auto kommen würden. Auch hatte ich Angst davor, dass ich nicht mitbekommen würde, wenn sie z. B. von der Kletterstange fallen oder Waschpulver essen würden.
Alles dies ist tatsächlich nicht eingetreten. Die Kinder sind, wenn sie mit mir alleine waren, bis auf wenige Ausnahmen, nicht weggelaufen. Sie haben auf dem Spielplatz keine Kamikazeaktionen gestartet. Anders war es hingegen, wenn mein sehender Mann dabei war.
Wir haben unseren Haushalt so eingerichtet, dass die Kinder nicht an giftige Substanzen rangekommen sind. Ich hatte z. B. einen Laufstall, in den ich die Kinder zur Not hineinsetzen konnte. Ich bin mit den Kindern viel im Straßenverkehr unterwegs gewesen. Wir haben die Regeln zusammen eingeübt. Die Jungs sind schon ab dem 1. Schuljahr allein zur Schule gelaufen. Auch mussten sie ihre anderen Wege oftmals allein machen. Das hatte zur Folge, dass unsere Jungs schon früh verhältnismäßig selbstständig waren. Sie müssen mehr als ihre Altersgenossen im Haushalt mit anfassen, und ich bin der Ansicht, dass ihnen kein Zacken aus der Krone bricht, wenn sie auch Kochen oder die Wäsche sortieren bzw. mir bei der einen oder anderen Sache helfen.
Es hat Zeit gebraucht, bis ich wirklich verstanden habe, dass diese wunderbaren Kinder eine einzigartige Mutter haben. Niemand liebt diese Kinder so wie ich und kann ihnen das geben, was ich geben kann. Egal, was andere machen, "I bang my own drum". Bei uns läuft das halt anders.
Ich musste mich von der herkömmlichen Mutterrolle emanzipieren. Damit ging es uns allen besser.
Meine Kinder müssen wie ich und mein Mann mit der Behinderung leben. Die Behinderung lehrt uns alle, in problematischen Situationen Lösungen zu suchen und zu finden, nicht aufzugeben, obwohl es schwierig wird, und damit zu leben, dass nicht alles perfekt sein kann.
Andererseits halte ich es aber auch für wichtig, die Behinderung und sich selbst nicht immer so wichtig zu nehmen. Es ist legitim, es manchmal einfach zum Kotzen zu finden, nicht sehen zu können. Auch die Kinder dürfen es doof und peinlich finden, dass ihre Mutter nicht sehen kann. Das ist OK.
Jeder in der Familie hat Bedürfnisse, die gesehen und berücksichtigt werden müssen. Da ist die Sehbehinderung nur ein Aspekt unter Vielen und mit Sicherheit nicht der Wichtigste.
Alles in allem ist mein Alltag oftmals sehr stressig.
Als Familienrichterin und Mediatorin habe ich es nicht selten mit schwierigen Fällen zu tun, die mich sehr fordern. Zu Hause gibt es Vokabeln, die gelernt, Probleme, die beraten, Dinge, die beschafft werden müssen. Die Kinder wollen zum Sport und Musikunterricht transportiert werden. All das muss organisiert und gemanagt werden. Die Wäscheberge müssen bewältigt werden und das Abendessen muss auf den Tisch.
Aufgaben, die Sehende wie nebenher bewältigen, sind für mich ungleich anstrengender. Es bedarf sehr viel Kraft, Kommunikationsfähigkeit und Biss, für alles zu sorgen. Nun ist es jetzt nicht so, dass wir das nicht hinbekommen. Mein Mann und ich teilen uns die Arbeiten auf. Die Kinder organisieren sich überwiegend selbst. Zur Not holen wir uns Hilfe von außen.
Für mich war es die richtige Entscheidung, Kinder zu bekommen und weiter berufstätig zu sein.
Funktioniert hat das aber bei uns nur deswegen, weil wir die finanziellen Möglichkeiten haben, Hilfeleistungen, wie eine Kinderfrau und eine Haushaltshilfe, zu bezahlen. Darüber hinaus haben wir immer wieder auch viel tätliche Unterstützung und Zuspruch von der Familie und von Freunden erhalten.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass behinderte Eltern vor vielfältigen Herausforderungen stehen, deren Bewältigung sehr viel Kraft, Mut und Phantasie kostet.
Es ist für behinderte Mütter noch ein weiter und anstrengender Weg zu einer gleichberechtigten Teilhabe, der sich - wie ich finde - zu gehen lohnt.
Zur Autorin
Dr. Petra Bungart hat in Marburg Rechtswissenschaften studiert und ist seit 2001 als Richterin tätig. 2005 promovierte sie an der Uni Hamburg zum Thema Sexualstrafrecht und sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen. Sie engagiert sich in der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe und hat beispielsweise 2013 durch einen Vortrag über ihre Erfahrungen im Bereich der Beweisaufnahme dazu beigetragen, dass blinde Jurist*innen in Österreich als Richter*innen anerkannt wurden.
Bild: Der Wind bläst Petra Bungart die schulterlangen dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Sie steht vor einer Baumgruppe, zur blauen Winterjacke trägt sie einen Schal in kräftigem Orange. Foto: privat
Mittendrin und proaktiv - mit dem iPad in der Kita
Ein Bericht über das blista-Projekt "Mitmachen in der Kita - Inklusion in die Gruppe mithilfe digitaler und interaktiver Frühfördermethoden", das durch Aktion Mensch gefördert wird.
Von Sigrun Hartmann und Claudia Rohde
Seit einigen Jahren arbeiten wir in der blista-Frühförderung bereits mit Tablets. Sie zählen für uns zu den Medien, die die herkömmlichen Medien der Kinderwelt ergänzen können. Ihr Einsatz zeigt oft viele positive Effekte, die Kinder haben raschen Erfolg, intensiven Lernwillen und auch Kinder mit weiteren Einschränkungen neben der Sehbehinderung erfahren ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit. Die Erfahrungen in der Einzelarbeit wollten wir gezielt auf Gruppenprozesse ausweiten. Denn eine Frühförderung in der Kita, die nicht nur am individuell betroffenen Kind ansetzt, sondern die gesamte Gruppe einbezieht, kann soziale Kompetenzen stärken und dazu beitragen, die gelebte Inklusion in der Gruppe zu erhöhen. Ein Projektantrag bei Aktion Mensch, der im Herbst 2020 genehmigt wurde, erlaubte es, dazu u.a. zwei 12,9 Zoll iPads Pro und einen sogenannten "Mini-Beamer" zu erwerben.
Ein iPad stellt im Rahmen der Frühförderung zunächst ein Multifunktionsgerät dar, das für die Nutzenden und ihr Umfeld sehr attraktiv ist: smart, intuitiv und nicht stigmatisierend. Wichtig zu erwähnen ist, dass es sich hier um eine Art prothetischen Einsatz handelt, da Sprach-, Sinnes- und Körperbehinderung durch entsprechende Gestaltung der Software bzw. der Apps ganz oder teilweise ausgeglichen werden können. Der Bildschirm zeichnet sich durch seine "Sehfreundlichkeit" aus, denn Kontrast, Helligkeit und Vergrößerung können ideal auf den individuellen Bedarf von Kindern mit Sehbehinderung angepasst werden.
Im Rahmen des Projektes war es wichtig, die iPads mit einer festen Hülle auszustatten, damit die Kinder es möglichst eigenständig bedienen, ihre "Blickwinkel" beim späteren Anschauen wiedererkennen und sich in die jeweilige Situation erneut einfühlen können. Durch die Projektion des iPad-Bildschirms per Mini-Beamer werden die Teilnahme und der Einbezug einer größeren Gruppe von Kindern als Zuschauer*innen ermöglicht.
Anna (5 Jahre) gelingt es zum Beispiel, bei Ausflügen in die Natur oder im Wohnviertel Eindrücke als Fotos aufzunehmen. So kann sie in der Ferne liegende visuelle Informationen (z. B. Was passiert am Baukran? Hast du die Hütte im Wald gesehen?) genauer wahrnehmen und zudem mit den anderen Kindern das Geschehene besprechen. Mona (6 Jahre) fotografierte im Garten, der vom Schnee bedeckt war. Beim Betrachten der Bilder mit den Eltern und der Frühförderin sieht sie plötzlich die Spuren der Katze im Schnee.
Franziska (3 Jahre) hat ein einfaches Spiel auf dem iPad gelernt. Bei dem Bildaufbauprogramm geht es darum, vorgegebene Bilder durch Tastenklicks Schritt für Schritt zu vervollständigen. Das Spiel beginnt beispielsweise damit, dass Franziska eine Trommel auswählt, der sie durch einen zweiten Klick Farben hinzufügt, beim dritten Klick kommen die Schlägel dazu und beim vierten wackelt die bunte Trommel und bringt Töne hervor. In der Kinderkrippe dürfen die anderen Kinder raten, was Franziska jeweils erstellt hat. Natürlich wird später auch getauscht und ein anderes Kind bedient diese App.
Mit Luna (3 Jahre) wurde nach dem Backen der Weihnachtsplätzchen zunächst eine Abfolge von Fotos erstellt. So konnte sie erst ihrem Vater beim gemeinsamen Anschauen vom Backen berichten und später anderen Kindern in ihrer Kita. Für Luna war es ein großer Schritt, sich zu präsentieren und von sich zu erzählen.
Wie es Clara (5 Jahre) im Rahmen des Projektes gelang, den Kindern ihrer Kindergartengruppe von ihrem Hobby zu berichten und wie die digitalen und interaktiven Frühfördermethoden die soziale Dynamik ihrer Kita-Gruppe beeinflussen, sei nachfolgend beispielhaft ausführlich vorgestellt:
"Ich mag Pferde"
Wie bereits ihre Mutter und auch die große Schwester ist Clara begeistert von Pferden. Im Garten steht ein Holzpferd, auf dem sie bereits bei den vorausgegangenen Frühförderbesuchen zeigte, was sie über Pferde und Reiten alles weiß. Dann ist es so weit. Mit dem iPad darf die Frühförderin sie bei einer Reitstunde, zu der sie wöchentlich mit ihrer Mutter geht, begleiten. Clara erklärt, was zur Pflege des Tieres gebraucht wird, und demonstriert an ihrem Pferd, wie es geputzt, getrenst und gesattelt wird. Dann geht es in die Reithalle. Dort werden auch andere Kinder von ihren Eltern auf dem Pferd sitzend herumgeführt. Die Reitlehrerin gibt Tipps zur richtigen Haltung, denn die Pferde sind flott unterwegs. Für Clara ist das kein Problem, im Trab streckt sie sogar die Hände mutig zu beiden Seiten in die Luft! Die Reitstunde und alles, was drum herum dazugehört, werden anhand von Fotos und kleinen Videos dokumentiert.
In der nächsten Frühfördersitzung ist Clara begeistert, sich alles in Ruhe auf dem zwölf Zoll großen Display des Tablets anschauen zu können und sich dabei das eine oder andere Detail nochmals zu vergrößern. Ihr Visus liegt unter 0.1 und von den Möglichkeiten (u.a. Zoom, Kontrast, Beleuchtungsstärke) des Tablets profitiert sie sehr. Clara wählt die Fotos und Videos aus, die sie den anderen Kindern zeigen möchte. Noch zu Hause gibt es ein paar Probedurchläufe. Denn obwohl sie sich wünscht, dass die Frühförderin in der Kita dabei ist, muss sie es alleine schaffen, da durch Corona ein Besuch der Frühförderung nicht erlaubt ist.
Auch den Erzieherinnen von Claras Gruppe ist ein wenig mulmig zumute, da sie sich mit der Bedienung der ausgeliehenen Technik unsicher sind. So wird am Telefon erklärt und eine Bedienungsanleitung als Beiblatt zur Sicherheit erstellt.
Schließlich ist es so weit. Da draußen die Sonne scheint und sich die Räume nicht verdunkeln lassen, zieht die Gruppe um in einen fensterlosen Flur, der zum Glück auch über eine weiße Wand verfügt. Clara sitzt zwischen den Kindern und bedient das Tablet. Die anderen schauen gebannt auf die "Lein"-wand.
Die Erzieherin berichtet später am Telefon, dass einige Kinder mit offenem Mund staunten, andere wiederum viele Fragen stellten, die Clara sehr geduldig und ausführlich beantwortete. Die Begeisterung unter den Kindern ist so groß, dass es am darauffolgenden Tag eine Wiederholung der Präsentation gibt! In Folge beginnen die Kinder zu berichten, was für Hobbys sie haben oder was sie den anderen in ihrer Gruppe in diesen, außerhalb der Kita begegnungsarmen, Corona-Zeiten unbedingt einmal zeigen möchten. Clara selbst hat mit ihrer Präsentation an Selbstvertrauen gewonnen, auch wenn sie beim nächsten Frühförderbesuch auf die Nachfrage, wie es denn gewesen sei, lediglich antwortet: "Na, was denkst du denn, gut!", und zum nächsten Thema übergeht.
Die Erzieherin überlegt nun zusammen mit der Kita-Leitung, einen Mini-Beamer für die Einrichtung anzuschaffen. Dieser ermöglicht, schnell und räumlich flexibel mit Video oder Foto festgehaltene Aktionen zu präsentieren. Ob am Tablet oder vor der Leinwand, Clara ist immer mit dabei.
Fazit
Medienkompetenz wird zunehmend zu einer wesentlichen Voraussetzung für die Verwirklichung von Bildungs- und Teilhabechancen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und im umfassenden Sinne für eine souveräne Lebensführung. Eine Herausforderung besteht darin, jede Sozialisationsinstanz - Familie, Kindertagesstätte, später auch Schule, Peergroup, Jugendarbeit - dabei zu unterstützen, ihre je eigene Aufgabe bei der Medienkompetenzentwicklung zu erkennen und wahrzunehmen.
Neben der Familie sind auch die Frühförderstellen wichtige Begleitende für die Entwicklung von Medienkompetenz in der frühen Kindheit. Mit der Durchführung dieses Projektes haben wir viele gute Erfahrungen gesammelt. Unter Beachtung der individuellen Anpassung der Inhalte und didaktisch-methodischen Prinzipien wird der Einsatz von iPad und Mini-Beamer von nun an zum regulären Förderprozess gehören.
Zu den Autorinnen
Sigrun Hartmann ist Diplom-Pädagogin und seit 20 Jahren für die blista als Frühförderin und im Begleitenden Fachdienst Frühförderung tätig. Claudia Rohde arbeitet als Diplom-Sozialpädagogin bereits seit 1997 bei der blista und unterstützte zwischenzeitlich für fünf (beurlaubte) Jahre den Aufbau einer Frühförderung in Taiwan.
Bild links: Sigrun Hartmann hat lange, dunkle Haare, dunkle Augen und eine moderne Brille. Sie lächelt. Zur weißen Bluse trägt sie eine schmale Kette. Foto: privat
Bild rechts: Claudia Rohde steht lächelnd vor einem Haus. Ihr langer Pony geht seitlich in etwa kinnlange, graue Haare über. Sie hat blaue Augen, trägt eine Brille und ein warmes, langes türkisblaues Tuch um ihren Hals. Foto: privat
Bilder: Dank iPad kann Clara anderen Kindern zeigen, wie sie freihändig reitet, während das Pony von einer Erwachsenen in der Halle geführt wird (Foto links), aber auch, wie sie selbst das gesattelte weiß-braune Tier an der Leine hält, während sie in Reitstiefeln und Helm neben ihm steht. Fotos: privat. Mittig unten kleines Logo in roter Schrift: "Gefördert durch die Aktion Mensch".
Erfahrungsbericht der Familie Morgenthal
Von Jane Morgenthal
Wie ist es, ein behindertes Kind zu bekommen? Wie geht man mit der ersten Diagnose um?
Wie einfach oder schwierig war es, kompetente Ansprechpartner*innen zu finden: Professionelle Berater*innen und gleich betroffene Eltern?
Wie kamst Du auf die Idee der Elterntreffen und warum findest Du sie wichtig?
Welche Tipps würdest Du anderen Eltern geben - auch in der Erziehung und Förderung ihres Kindes?
Bericht über Elterntreffen
Wie es ist, ein behindertes Kind zu bekommen? Tja, im ersten Moment ganz "normal", würde ich sagen. Vor allem, wenn es das erste eigene Kind ist und die Schwangerschaft / Geburt ohne Komplikationen oder Hinweis darauf verlief.
So war es bei uns. Es stellte sich erst Stück für Stück heraus, dass unser Sohn blind ist, und später kam die Erkenntnis dazu, dass er eine geistige Behinderung hat.
Auf jeden Fall ist wohl jede Familiengeschichte individuell - ob mit oder ohne behindertes Kind.
Die erste Diagnose war furchtbar. Ich war allein mit ihm zur Untersuchung der visuell evozierten Potentiale (VEP), mein Sohn war damals etwa sechs Monate alt, und es hieß: "Da kommt erstmal nichts hinten an ...". Was heißt das? Er sieht dann wohl nichts? Nie? Und keine Antworten auf die vielen Fragen.
Man liest viel, auch Fachliteratur, unterhält sich mit vielen Menschen, stellt viele Fragen und langsam kommen auch Antworten. Manchmal durch die anderen Menschen, manchmal durch das Leben selbst. Dabei auch die Erfahrung, dass wir ein tolles Umfeld haben: Unsere Familien und Freunde waren ergriffen, aber immer bereit, uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Das ist viel Wert, denn ich habe auch erfahren, dass es viele gibt, bei denen es nicht so ist.
Wenn wir nur zu dritt in unserer kleinen Familie sind, ist alles normal: Unser Sohn lacht, weint, ist wütend, bringt uns zum Lachen und zum "an die Decke gehen", und er entwickelt sich Stück für Stück. "Behindert" wird er oder werden wir meist im Kontakt mit den "anderen" - den "Normalen". Da fällt sie auf, die "Andersartigkeit": dass er mit seinen 6 Jahren kaum mit jemand Fremdem kommunizieren oder reden kann, streckenweise noch im Kinderwagen sitzt, nicht mit anderen Kindern spielt und hauptsächlich mit den Fingern isst.
Der Austausch mit anderen über die eigenen Erfahrungen und Fragen war schwierig. Wie fördert man ihn am besten? Haben wir dies oder jenes Problem aufgrund seiner Behinderung oder ist es bei jedem Kind so? Im Freundeskreis sind die Probleme anders gelagert, keiner hat dazu Erfahrung.
Allererste Informationen - auch zu rechtlichen / finanziellen Dingen - kamen über die Sehberatungsstelle, viele emotionale Hinweise über unsere tolle Frühförderung und später über andere Eltern, die auch ein blindes / behindertes Kind haben.
Kompetente Ansprechpartner*innen sind nicht immer einfach zu finden oder herauszufinden, ob sie es sind, wenn man keine Ahnung hat. Da war es ein wenig unser Glück, dass mein Mann und ich beide Ergotherapeuten sind und zumindest etwas über die normale kindliche Entwicklung wussten und was man bei bestimmten Entwicklungsverzögerungen / Auffälligkeiten tun und wie man unterstützen kann. Natürlich ist es noch einmal etwas ganz anderes, ein Kind nicht nur in der Therapie zu haben, sondern Eltern zu sein. So standen und stehen wir oft vor dem Problem, nicht die Therapeuten, sondern in erster Linie Eltern unseres Kindes zu sein. Wir haben bestimmt vier Jahre gebraucht, um ein "Therapeuten- bzw. Unterstützungsteam" zu finden, mit dem wir wirklich zufrieden waren und sind.
Zum Thema Förderung kann ich mit meinem heutigen Wissensstand sagen, dass es wohl am wichtigsten ist, sein Kind gut zu beobachten und GEDULD zu haben. Denn jedes Kind entdeckt immer wieder neue Dinge in seinem Leben und genau dort kann und muss man bei der Förderung ansetzen. Wenn ich meinem Kind immer wieder einen Blindenstock in die Hand drücke, obwohl es noch gar nicht so weit ist und noch allgemein kein Gebrauch von Werkzeug macht, dann kann ich ihm vielleicht dieses Verhalten antrainieren, aber es wird für ihn vielleicht lebenslang negativ behaftet sein, den Stock zu gebrauchen. Natürlich muss man Dinge immer wieder anbieten und nicht, weil das Kind sie im ersten Augenblick nicht haben will, es damit für immer in Ruhe lassen. Aber man muss auch sehr genau darauf achten, was das Kind mit den Dingen macht, und zunächst auch einmal akzeptieren, dass es damit anders umgeht als wir möchten. Es sind oft unsere - elterlichen - Erwartungen, die das Lernen der Kinder beeinflussen. Das allerdings trifft wohl auf jedes Kind mit und ohne Behinderung zu. Ein tolles Team, das ich zu diesem Thema kennen und schätzen gelernt habe, war das von "Bewegung im Dialog". Hier wird man von Therapeutinnen und Therapeuten begleitet, die einem helfen, den individuellen Weg des eigenen Kindes zu sehen und ihn dabei zu unterstützen.
Bei meiner Recherche und Weiterbildung bin ich dann auch auf die "blista" gestoßen, die einen Workshop zum Thema "Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) bei blinden Kindern" für Eltern angeboten hatte. Das war sehr gut. Sowohl die Inhalte als auch der Austausch mit anderen betroffenen Eltern und das Kennenlernen des Vereins BEBSK - Bundesvereinigung Eltern blinder und sehbehinderter Kinder e. V.
Zunächst war ich ein wenig skeptisch: Ein Verein - was habe ich davon? Aber nach dem ersten Familientreffen gab es diese Frage nicht mehr. Der Balsam für die Seele, wenn man auch unter anderen mit seinem Kind "normal" ist, war einfach unbeschreiblich. Im Verein geht es eben immer um "dieses" Thema und es gibt Eltern mit älteren Kindern, denen man nun endlich all die Fragen stellen konnte, und es gab Antworten, die keine professionelle Beratungsstelle kennt. Und auch die schöne Erfahrung, wie und dass sich die Kinder entwickeln und wie auch sie untereinander lernen: Ich bin nicht allein, es gibt noch andere, die so sind wie ich.
Nun ist "BEBSK" ja eine bundesweite Elternvereinigung, und so schön die Kontakte auch sind, die anderen Familien, gerade die, mit denen man sich so toll versteht, wohnen oft weit entfernt. Was ist denn in Berlin? Warum kenne ich kaum andere Familien, die ein blindes / sehbehindertes Kind haben? Wo sind sie denn alle? Nun, Berlin ist groß und bietet viel: 2 große Blindenvereine, einen Verein für Sehbehinderte, einen Elternverein, 4 Frühfördereinrichtungen für blinde Kinder und noch mehr. Da sind die einen bei dem einen Verein, die anderen bei dem anderen, und die nächsten brauchen / möchten keine Anbindung. Das fand ich sehr schade, denn oft erfindet man dabei "das Rad immer wieder neu". Was für Leistungen und Angebote gibt es für uns als Familie - wer kennt Ansprechpartner? Wie ist dies oder das in Berlin geregelt? Gibt es spezielle kulturelle Veranstaltungen, die ich in Berlin mit meinem blinden Kind besuchen kann?
Viele Institutionen kennen bestimmt Antwort auf die eine oder andere Frage, aber ein "Gesamtpaket" erhält man kaum. Daher meine Idee, eine Vernetzung zu schaffen: zunächst alle, die mit den betroffenen Familien arbeiten, und dann auch die Eltern selbst.
Denn wer weiß, wie eine Führung z.B. im Zoo für blinde Kinder ist? Es sind die anderen Eltern, die schon dort waren und die von ihrer Erfahrung berichten können. Wer weiß, wie es ist, wenn andere Menschen auf der Straße fragen: "Ach, ist er müde, der Kleine ...?" - andere Eltern, denen es auch passiert ist, und mit denen man einen Tee trinken und sich darüber austauschen kann.
Denn das ist aus meiner Sicht das Wichtigste: Reden und fragen und sich unterhalten, von Mensch zu Mensch und nicht (ausschließlich) in Foren. Und immer wieder andere Familien und Geschichten kennen lernen und ihre Strategien, wie man umgeht mit der anderen Situation. Und zu sehen, dass es weiter geht, Stück für Stück, Tag für Tag, ein bisschen mehr mit all dem Glück, das JEDES Kind mit sich bringt.
Die BEBSK e. V. ist ein Zusammenschluss von Eltern blinder und sehbehinderter Kinder, die sich einen Rahmen gegeben haben, um ihre Erfahrungen an andere Eltern weiterzugeben und sich mit diesen auszutauschen. Jedes Mitglied profitiert von diesem Austausch, sowohl der Vorstand als auch die Regionalvertretungen und die Mitglieder. Alle Vorstandsmitglieder und Regionalvertreter*innen haben blinde oder sehbehinderte Kinder. Wir sind ehrenamtlich geführt und bundesweit aktiv. Die Vorstandsmitglieder und Regionalvertreter*innen leisten in ihrer Freizeit Hilfen unterschiedlichster Art für Mitglieder und Nichtmitglieder. Darüber hinaus werden regionale und überregionale Aktionen und Veranstaltungen organisiert. Durch die stetig wachsende Mitgliederanzahl ist dies eine immer größer werdende Aufgabe.
Zur Autorin
Jane Morgenthal, geboren 1982, lebt mit ihrem Mann Hannes Morgenthal und ihrem 12-jährigen Sohn Anton in Berlin. Seit 2017 leitet sie die Geschäftsstelle der BEBSK e.V.. Ehrenamtlich organisiert Sie für den Verein und die Familien in Berlin Veranstaltungen, Seminare und vernetzt sich mit verschiedenen Akteuren, die sich für eine gute Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft einsetzen
Bild: Jane Morgenthal hat lockige, rotbraune Haare, trägt eine rote Outdoor-Jacke und lacht. Die Aufnahme wurde im Freien gemacht. Foto: privat.
Kontakt
BEBSK - Bundesvereinigung Eltern blinder und sehbehinderter Kinder e.V.
Geschäftsstelle
Winckelmannstraße 56
12487 Berlin
Tel.: 0178-8685013
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.bebsk.de
Sprechzeiten:
Di 10-15 Uhr, Do 11-16 Uhr
Bild: Logo des BEBSK: Drei schwarze Punkte bilden die Köpfe dreier abstrakter Strichfiguren. Die Figur in der Mitte ist kleiner, der Körper in Gelb stilisiert.
Bild: Eine kleine Gruppe von Kindern mit Mehrfachbehinderung sitzt mit Erwachsenen im Rahmen einer Veranstaltung des Deutschen Technikmuseums auf dem Boden und entdeckt Gegenstände aus offenen Kisten und einem Koffer. Foto: Julia Kuntzsch
Inklusion im Montessori-Kinderhaus Marburg bedeutet, dass alle so akzeptiert werden, wie sie sind
Von Nina Gromes
Wir betreuen in unserem Kinderhaus in der Wilhelm-Roser-Straße bis zu 40 Kindergartenkinder und bis zu 10 Krippenkinder in drei getrennten Gruppen.
Am Standort in der Friedrichstraße können bis zu 10 Krippenkinder betreut werden.
Wir betreuen Kinder mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und können auch Kinder mit Förderbedarf bei uns aufnehmen.
Auch bei der Auswahl der Mitarbeiter*innen sind wir für eine vielfältige Zusammensetzung offen und beschäftigen Fachkräfte mit verschiedenen Interessen, kulturellen Hintergründen und Mitarbeiter*innen mit Einschränkungen.
Doch stellt sich auch oft die Frage, können wir Kinder mit jeder Art von Einschränkung bei uns betreuen, und wie kann Inklusion gut gelingen?
Grundsätzlich geraten wir leider Aufgrund der baulichen Gegebenheiten, bedingt durch den Denkmalschutz, der Kinderhäuser an unsere Grenzen. Diese sind nicht barrierefrei und würden dem Inklusionsgedanken für ein Kind mit starken körperlichen Beeinträchtigungen entgegenstehen.
Doch steht der Inklusion von allen anderen Kindern nichts im Wege. Ein Grundgedanke Maria Montessoris, dass das Kind einen inneren Bauplan hat und so selbst am besten weiß, mit was es sich beschäftigen möchte, erleichtert Inklusion in unserem Kinderhaus.
In unserem Alltag finden sehr viele Hilfsmittel, wie Bildkarten, feste Rituale, eine festgelegte Ordnung im Regal oder farbliche Codierung Anwendung. Dieses erleichtert allen Kindern die eigenständige Betätigung und Orientierung im Kinderhaus und macht sie so weniger abhängig von den Erwachsenen.
Beobachtung und Kenntnis der "sensiblen Phasen"
Wie findet Inklusion im Kinderhaus statt? So individuell wie jedes Kind ist, ist auch die stattfindende Inklusion in unserem Kinderhaus. Jedes Kind nimmt seinen eigenen Weg in der Entwicklung, und die pädagogischen Fachkräfte begleiten es auf diesem. Dazu bedarf es einer guten Beobachtung und der Kenntnis der "sensiblen Phasen" eines Kindes.
Maria Montessori beobachtete, während ihrer Studienzeit in einer Kinderpsychiatrie, die natürlichen Bedürfnisse eines Kindes und stellte dabei fest, dass die Kinder in verschiedenen Altersstufen für bestimmte Bereiche "sensibel" sind.
Die jungen Kinder im Kindernest haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Bewegung, Sprache und Ordnung. Um diesem Bedürfnis gerecht zu werden, werden die Räumlichkeiten entsprechend gestaltet, und die Fachkräfte geben dem Kind die Möglichkeit, sich in dieser Umgebung sicher zu bewegen. Es findet eine sprachliche Begleitung statt. Die jungen Kinder befinden sich in der Phase des "absorbierenden Geistes", das bedeutet, sie saugen Informationen auf, wie ein Schwamm. Das ist eine große Herausforderung für die Fachkräfte, da hier die Vorbildfunktion eine große Wirkung hat. Die Kinder spiegeln die Erwachsenen ständig und regen diese zum Reflektieren an.
Die Kinder im Kinderhaus (3-6 Jahre) haben grundsätzlich die gleichen sensiblen Phasen wie die Kinder in der Nestgruppe (1-3 Jahre). Sie werden aber im Laufe des Aufenthaltes im Kinderhaus vom "unbewussten zum bewussten Schöpfer". Das Interesse an Zahlen und Buchstaben nimmt zu, genauso wie das soziale Interagieren. Es wird nicht mehr alles so ausgeprägt sprachlich begleitet. Am Ende der Zeit im Kinderhaus, wenn die Kinder in die Schule wechseln, sind sie offen für Neues und möchten die Welt erkunden.
Dieses ganze Wissen befähigt die Fachkräfte dazu, jedes Kind so anzunehmen wie es ist und entsprechend zu fördern.
Rituale geben Orientierung
In unserem Kinderhaus ist jedes Kind einer festen Gruppe zugeordnet. Das Kind hat eine feste Bezugsperson, welche für das Kind und die Eltern als Ansprechpartner*in zur Verfügung steht. Für Kinder mit Förderbedarf setzen wir eine Integrationsfachkraft ein, welche mit einem zusätzlichen Stundenkontingent individuell für das Kind da ist. Diese begleitet das Kind durch den Alltag, beobachtet es, erstellt Förderpläne und vernetzt Eltern, Kinderhaus und Fördereinrichtungen, wie z.B. die Frühförderung der blista. Alle anderen Fachkräfte im Montessori-Kinderhaus stehen dem Kind selbstverständlich auch zur Seite.
Der Tag im Kinderhaus beginnt nach der Bringzeit mit dem Morgenkreis. Dieser ist für alle Kinder ein festes Ritual, welches gerade für die Kinder mit Beeinträchtigungen zur Orientierung sehr wichtig ist. Im Morgenkreis bekommt jedes Kind die Möglichkeit sich einzubringen, kann aber auch einfach dabei sein.
Es wird eine Kerze angezündet, über das Datum, den Wochentag und die Jahreszeit gesprochen. Die Kinder suchen Lieder und Fingerspiele aus. Dazu gibt es Bildkarten, welche es den Kindern ermöglichen, eigenständig eine Entscheidung zu treffen.
Um allen Kindern die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen, ziehen die Fachkräfte aus einem Los-Topf einen Namen und fragen das Kind, ob es z.B. die Kerze anzünden möchte. Das vermeidet, dass bestimmte Kinder bevorzugt werden, und garantiert Chancengleichheit für alle.
Jedes Kind nimmt seinen eigenen Weg
Nach dem Morgenkreis, welcher in jeder Gruppe getrennt stattfindet, werden die Gruppen geöffnet. In den Nestgruppen findet im Anschluss das gemeinsame Frühstück statt.
Die Kinder der Nestgruppen bleiben in ihren Gruppen. Sie werden dort bei der Wahl ihrer Beschäftigung von den Fachkräften unterstützt.
Die Freiarbeitsphase beginnt. Die Kinder haben die freie Wahl, wo sie sich aufhalten und was sie tun möchten. Die Kinder der beiden Kinderhausgruppen können in einem festgelegten Zeitrahmen während der Freiarbeitszeit entscheiden, wann und mit wem sie gerne frühstücken möchten.
Alles hat seinen festen Platz
Es gibt im Kinderhaus verschiedene Bereiche, in welchen Materialien angeboten werden. Dazu gehören Mathematik, Sprache, Sinnesmaterial, Übungen des praktischen Lebens und Erkundung der Welt. Darüber hinaus finden die Kinder Kreativmaterial und ein großes Außengelände vor.
Alles hat seinen festen Platz im Kinderhaus. Das gibt den Kindern Sicherheit und hilft ihnen bei der Orientierung. Dieses ist für alle Kinder wichtig, aber für Kinder mit einer Beeinträchtigung sehr hilfreich. Gerade Kinder mit einer Einschränkung des Sehens finden sich sehr gut zurecht, wenn sie Material immer am gleichen Ort vorfinden. Wenn es für die Kinder mit Förderbedarf bestimmte Materialien gibt, ist dieses in einem extra markierten Fach untergebracht. Für Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung z.B. mit einer sehr markanten Farbe wie rot. Auch alle anderen Fächer mit Eigentum des Kindes und der Platz in der Garderobe sind mit einem großen roten Punkt markiert.
Für unsere Kinder mit Förderbedarf werden auch, je nach Bedarf, bestimmte Hilfsmittel und Materialien angeschafft und eingesetzt. Da unser Kinderhaus noch sehr jung ist, können wir hier noch nicht auf einen Fundus zurückgreifen. Die Frühförderstelle der blista berät uns auch in diesem Bereich und stellt uns gerne Material zur Verfügung.
Inklusion in unserem Kinderhaus bedeutet, dass alle Kinder und Fachkräfte verschieden sind und jede Person so akzeptiert wird, wie er oder sie ist. Wir möchten allen Kindern die Möglichkeit eröffnen, eine schöne Kindergartenzeit in unserem Kinderhaus zu erleben.
Ein wichtiger Grundgedanke ist, dass durch die angebotenen Materialien und die Möglichkeit der Kinder, sich mit dem zu beschäftigen, was sie möchten, wenig Wettbewerb entsteht. Wir möchten Konkurrenzen untereinander entgegenwirken und gestehen jedem Kind und jeder Fachkraft die gleichen Rechte zu.
Wir entwickeln uns ständig weiter und versuchen Konzepte zu finden, in welchen dieses gut gelingen kann. Da wir noch ganz am Anfang unserer Arbeit im Montessori-Kinderhaus sind, werden wir noch viele Möglichkeiten ausprobieren und Konzepte im Bereich der Inklusion weiterentwickeln.
Zur Autorin
Nina Gromes ist verheiratet und Mutter von zwei Jungen im Teenager-Alter. Sie ist seit 2018 als Erzieherin und ab März 2020 als Leitung im Montessori-Kinderhaus der blista tätig. Derzeit absolviert Nina Gromes gemeinsam mit anderen Mitarbeiterinnen des Kinderhauses einen BINDI Montessori-Diplomkurs in Göttingen.
In der Freizeit verbringt sie gerne Zeit mit ihrer Familie, ihren Tieren und im eigenen Garten. Gleichberechtigung, demokratische Teilhabe von Anfang an und Nachhaltigkeit im Alltag sind Nina Gromes sehr wichtig.
Bild: Nina Gromes hat rotbraune, kurze Haare, blaue Augen und lächelt. Sie trägt ein pinkfarbenes Shirt und einen Pullover in ähnlicher Grundfarbe mit kleinen Blumenmustern. Ihr Portraitfoto wurde draußen im Grünen aufgenommen. Foto: privat
Bild: Zwei lange Rutschen und hölzerne Hangelgerüste stehen am kleinen Hang vor dem Montessori-Kinderhaus bereit, damit Kinder ihr Bewegungsbedürfnis auch draußen ausleben können. Foto: blista
Wie es als Kind blinder Eltern ist? - Ganz normal, würde ich sagen
Von Angelika Quatram
Der Vater blind, die Mutter sehbehindert. Ich würde sagen, ich habe eine ganz "normale" Kindheit verlebt. Einziger Unterschied: Wir hatten kein Auto. Ein paar mehr Unterschiede gab es wohl schon, aber das ist mir erst später bewusst geworden.
Der erste Unterschied war also das Auto. Andere Kinder wurden zum Musikunterricht oder zum Reiten gefahren. Meine Mutter ist, als ich noch nicht allein fahren konnte, mit mir mit dem Bus durch die halbe Stadt gefahren, damit ich zum Geigenunterricht gehen konnte. Mein Bruder und ich haben nicht vor der Grundschule Lesen gelernt, damit wir unseren Eltern vorlesen konnten. Sie hatten sich bewusst dagegen entschieden, weil sie uns immer ein möglichst normales Leben bieten wollten, und wir sollten auf keinen Fall unter ihrer Behinderung leiden.
Wie alle anderen Kinder auch, habe ich für meine Mutter bunte Bilder gemalt - sie fand sie immer schön, auch wenn sie wegen ihrer Sehbehinderung die Farben nicht sehen konnte. Und eine Aufgabe im Werkunterricht war einmal, den Eltern ein Kästchen zu basteln. Damit mein Vater auch wusste, dass es für ihn war, habe ich mit Uhu "Papi" darauf geschrieben, damit er es fühlen konnte.
Dass wir kein Auto hatten, hat mich in jungen Jahren selbständiger gemacht, denke ich. Meine Eltern haben uns irgendwann zugetraut, die Strecken allein zurückzulegen. Das war eine nicht zu unterschätzende Unabhängigkeit.
Wie alle anderen, sind auch wir in Urlaub gefahren - nur eben mit der Bahn. Wenn die Ansagen durchgegeben wurden, war klar, die sind wichtig, da müssen wir gerade mal still sein. Wenn es um irgendwelche Anschlusszüge ging, dann fragte mein Vater den Schaffner. Auf den Bahnhöfen kannte er sich aus. Wir haben dann mal nach dem passenden Gleis Ausschau gehalten, das war's dann aber auch schon. Problematisch wurde es eher, wenn die Zeit knapp wurde und wir uns beeilen mussten, den Zug noch zu bekommen. Sich dann mit vier Personen und noch den Koffern (sofern sie nicht vorausgeschickt worden waren) durch Menschenmassen zu schlängeln, dauerte dann einfach länger. Meine Mutter hatte meinen Vater am Arm, der zog einen Koffer hinter sich her und dann kamen noch wir beiden Kinder hinterher. Für die Außenwelt hat das sicher mitunter seltsam ausgesehen.
Der Familienurlaub ging jedes Jahr in denselben Ort an die Nordsee. Meine Eltern kannten sich in dem Ort sehr gut aus und der Strand war mit Rasen bewachsen. Das war für meine Mutter wichtig, da Sandstrand sie zu sehr geblendet hätte. Wenn wir in der Nordsee baden waren, haben wir Kinder uns anhand der Fahnen der Strandabschnitte gemerkt, wo unser Strandkorb stand. Da haben unsere Eltern uns vertraut und es hat auch immer geklappt, den Strandkorb wiederzufinden.
Die Schattenseite des Urlaubs war, dass man oft einfach angegafft wurde - nicht nur von Kindern, sondern auch von Erwachsenen. Da waren wir regelrecht Exoten, und dies nicht in einem positiven Sinne.
Wir waren keine Familie, in der über die Maßen Brettspiele gespielt wurden, deswegen hielten sich speziell für Blinde bearbeitete Spiele bei uns in Grenzen. Wir haben eher Spiele wie "Stadt - Land - Fluss" gespielt, wo es nicht auf das Visuelle ankam, oder z. B. "Mensch ärgere Dich nicht!" und dann die Figuren für meinen Vater gesetzt.
Farben konnten mir meine Eltern nicht beibringen, aber wir hatten viel Kontakt zu Sehenden, so dass mein Bruder und ich so etwas dort gelernt haben. Kinderbücher z. B., in denen in Punktschrift oder anders Dinge markiert waren, damit meine Eltern uns vorlesen konnten, hatten wir nicht, was auch nicht nötig war, da meine Mutter ja noch verhältnismäßig viel sah. Und so wurde auch bei uns viel vorgelesen.
Darüber hinaus hatten wir eine ganz liebe kinderlose Nachbarin, die sehr viel mit uns unternommen hat, und so haben wir nebenbei eine ganze Menge gelernt.
Und klar hatten wir auch einen Fernseher, obwohl meine Eltern den sicher nicht gebraucht hätten. So war es dann in der ersten Zeit auch "nur" ein Schwarz-Weiß-Fernseher, und ich kann mich noch gut daran erinnern, als irgendwann so ein modernes Gerät kam, mit dem das Sandmännchen auf einmal in Farbe über den Bildschirm flimmerte.
Ich glaube, es lag in der Natur der Sache, dass es bei uns bestimmte Regeln gab, damit das Zusammenleben gut funktionierte. So sollte kein Spielzeug rumliegen, damit mein Vater nicht darüber stolpern konnte - sollte, haha, naja, natürlich ließen auch wir unseren Krempel rumliegen, und wir konnten sicher sein, dass das Fahrrad auf der Wiese, neben dem in alle Richtungen noch seeeehr viel Platz war, von unserem Vater zielstrebig angesteuert und natürlich erwischt wurde. Auch war klar, dass wir das CD-Regal nicht ausräumen oder umsortieren durften, weil sonst mein Vater nichts mehr wiedergefunden hätte. Dinge sollten immer an dieselbe Stelle zurückgestellt werden. Das klappte meist sehr gut.
Auch haben wir das, was wir taten, gerne verbalisiert: Ich geh mal kurz raus, ich hole mal gerade dieses und jenes, usw.
Das habe ich so verinnerlicht, dass ich das heute noch mache, auch wenn es beim Angesprochenen mitunter Erstaunen hervorruft im Sinne von "Alles klar, aber ich seh' doch, was Du machst!". Bis ich auf diese Eigenheit angesprochen wurde, war mir gar nicht bewusst, dass das andere Leute offenbar nicht so machen.
Mein Vater war handwerklich begeistert, hat Betten und Regale gebaut und hat Holzbretter und alles Mögliche mit der Kreissäge zurechtgesägt. Das stieß allseits immer auf Bewunderung - ein Blinder! Hantiert mit einer Kreissäge!!! Und hatte noch nie einen Unfall und immer noch alle Finger?! Da waren andere immer schwer beeindruckt. Dabei war er noch präziser als so mancher "Sehling", weil er nicht nur gemessen, sondern auch gefühlt hat, ob z. B. Kanten bündig waren. Ich durfte immer helfen und habe von ihm einiges an handwerklichem Knowhow mitbekommen.
Meine Mutter hat mir einiges über Haushaltsführung und Gartenarbeit beigebracht und über's Handarbeiten. Von ihr habe ich Stricken und Häkeln gelernt. Dass sie die Farben nicht gesehen hat, war nicht so wichtig. Dann wurde ich gefragt, ob die Farbe schön aussieht, ob zwei Farben zusammen passen ...
Alles in allem haben sich meine Eltern gegenseitig sehr unterstützt bei dem, was der andere wegen der Behinderung vielleicht nicht so gut konnte. Sie haben sich so gut ergänzt oder Alternativen für sich gefunden (schwere Getränkekisten und kein Auto? Kein Problem, kann man sich auch bringen lassen), dass sie sehr unabhängig waren, und wir Kinder waren ganz einfach Kinder und keine Assistenz.
In unserer Familie gibt es, wie überall, unterschiedliche Begabungen, und wenn es geht, hilft man sich halt. Behinderung hin oder her. Alles eben ganz normal.
Zur Autorin
Angelika Quatram ist seit 2020 Richterin am Sozialgericht Oldenburg (Niedersachsen). Zuvor war sie acht Jahre als Rechtsreferentin und Vorstandsassistenz an der blista tätig.
Bild links: Angelika Quatram lächelt offen. Sie hat braune, wellige kinnlange Haare und trägt zum dunklen Blazer eine helle Bluse und eine Kette. Foto: privat
Elternassistenz: Ein inzwischen etablierter Anspruch?!
Von Dr. Michael Richter
Vor nunmehr fast 12 Jahren hieß es in einer Pressemitteilung des Bundesverbandes behinderter und chronisch kranker Eltern vom 25. November 2009 unter der Überschrift "Behinderte Eltern erstreiten sich Elternassistenz", dass mit Bescheid vom 20.11.2009 einer körperbehinderten Mutter von zwei Kindern erstmals ein Persönliches Budget für Elternassistenz als Teilhabeleistung bewilligt wurde. In der Begründung der Bewilligung stand, dass entsprechend der damals neueren Rechtsprechung die Pflege und Erziehung eines Kindes ein Grundbedürfnis von behinderten und nicht behinderten Eltern sei. Die Verantwortungsübernahme der Eltern für ihr Kind sei eine zentrale Frage der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Dementsprechend seien die erforderlichen Hilfen als Eingliederungshilfe gemäß § 54 SGB XII in Verbindung mit § 55 SGB IX anerkannt worden.
Seit der Reform der Eingliederungshilfe durch das BTHG, die mit dem 01.01.2020 in Kraft trat, wurde die Elternassistenz sogar ausdrücklich in das Gesetz gem. §§ 113 Abs. 3 i.V.m. § 78 Abs. 3 SGB IX aufgenommen. In § 78 heißt es unter der Überschrift "Assistenzleistungen" in Absatz 1 und 3:
"(1) Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.
(3) Die Leistungen für Assistenz nach Absatz 1 umfassen auch Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder."
Was ist aber nun genau Elternassistenz und was ist es eben nicht? Eine Frage, die sich vielleicht immer noch am besten beantworten lässt, wenn man die Ausführungen in der Begründung eines der ersten, einschlägigen Beschlüsse des Verwaltungsgerichtes Minden vom 31.07.2009 (Az.: 6 L 382/09) liest. Dort heißt es z.B.:
- Der Anspruch von Eltern auf die persönliche Betreuung und Versorgung ihrer Kinder im eigenen Familienhaushalt ist ein Ausdruck des gemäß Artikel 6 Abs. 2 und 3 Grundgesetz geschützten Elternrechtes.
- Aufgrund dieser Tatsache müssen sich auch schwerbehinderte Eltern nicht über das übliche Maß hinaus (Kindergarten, Vorschule, Schule) auf öffentliche Kinderbetreuungsangebote in Einrichtungen verweisen lassen.
- Die eigene Pflege und Erziehung eines Kindes ist ein Grundbedürfnis behinderter wie nicht behinderter Eltern und die weitreichendste soziale Bindung überhaupt. Deshalb ist die Ermöglichung der Verantwortungsübernahme von schwerbehinderten Eltern für ihr Kind eine zentrale Voraussetzung für die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
- Der Hilfebedarf liegt ausschließlich bei dem schwerbehinderten Elternteil und nicht beim Kind, denn dieses hat weder selbst einen "Eingliederungshilfebedarf" noch bedarf es der Hilfe zur Erziehung.
Inzwischen gibt es einschlägige Rechtsprechung sowie einige erfolgreich durch die rbm vertretene Fälle auch für sehbehinderte oder blinde Eltern oder Elternteile. Eine Auswertung der bisherigen Erfahrungen zeigt dabei, dass der Anspruch von blinden oder hochgradig sehbehinderten Eltern auf Elternassistenz im Rahmen der Eingliederungshilfe sogar 18 oder mehr Wochenstunden umfassen kann.
Zwar sind blinde oder hochgradig sehbehinderte Eltern - wenn auch erst nach entsprechender fachkundiger Unterweisung in Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) - in der Lage, viele Dinge in der Kinderbetreuung selbst zu erledigen. Allerdings gibt es unstreitig Dinge, die man als alleinverantwortlicher blinder oder sehbehinderter Elternteil nicht leisten kann und die zum Kernbereich elterlicher Pflege gehören. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass "Elternassistenz" kein Betreuungsprogramm für gelangweilte Sprösslinge - auch nicht in Pandemiezeiten - ist und es auch nicht um die Entlastung behinderter Eltern geht.
Elternassistenz soll dem behinderten Elternteil ermöglichen, seine oder ihre Rolle als Vater oder Mutter möglichst umfassend wahrzunehmen, und kommt deswegen auch nicht in Betracht, wenn es darum geht, Defizite der elterlichen Erziehung auszugleichen. Wenn es um das sog. "Kindeswohl" geht, handelt es sich um ein Recht des Kindes und das Jugendamt ist zuständig, und notwendige Hilfen werden nach dem sog. Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) gewährt.
Zum Autor
Dr. jur. Michael Richter berät und vertritt als Anwalt Menschen mit Behinderungen bundesweit vor Sozial- und Verwaltungsgerichten. Er ist Geschäftsführer der "Rechte behinderter Menschen" gGmbH (rbm), der Rechtsberatungsgesellschaft der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe in Deutschland (https://www.rbm-rechtsberatung.de). Der 52-jährige blinde Familienvater lebt in Marburg.
Bild: Das Foto des Autors zeigt sein markantes Profil. Er hat einen kurz geschnittenen Haarkranz und einen Oberlippenbart und trägt ein hellblaues Businesshemd. Foto: DVBS
Beruf, Bildung und Wissenschaft
Barrieren im Studium (*)
Wie können Blinde und Sehbehinderte ohne zusätzliche Hürden an der Online-Lehre partizipieren? Visuellen Präsentationen etwa können sie nicht folgen.
Von Laura Lansche
Anstelle von realen Vorlesungen oder Seminaren besuchen Studierende seit zwei Semestern unzählige Videokonferenzen, denn bei Präsenzveranstaltungen wäre während der Pandemie das Ansteckungsrisiko zu hoch. Doch Studierende haben teils ganz verschiedene Voraussetzungen, um an den digitalen Formaten teilzunehmen.
Für blinde und stark sehbehinderte Studierende bringt die Online-Lehre Verbesserungen, aber auch neue Hürden: "Neue Barrieren entstehen und andere lösen sich auf", sagt Kai Kortus, Referent für Studierende mit Behinderung und chronischen Erkrankungen im Allgemeinen Student*innen-Ausschuss (Asta) der Philipps-Universität Marburg. Dort studieren etwa 150 blinde und sehbehinderte Menschen. Räumliche Barrieren spielten im Online-Studium zwar keine Rolle mehr, erläutert Kortus, dafür kämen aber andere hinzu.
Zu diesen neuen Barrieren gehören fehlende Raumwahrnehmung und kaum direkte Kontakte zu Kommiliton*innen und den Lehrenden. "Die direkte Interaktion fällt weg", sagt Kortus. Und damit auch informelle Unterstützung von Mitstudierenden, die etwa vorlesen oder Tipps geben können. Auch deshalb hält Kortus den direkten Kontakt für wichtig. In Präsenz sei Kommunikation niedrigschwelliger und dadurch oft einfacher. "Der Aufwand miteinander zu kommunizieren steigt im Digitalen", sagt der Asta-Referent. Und: Groß sei die Gefahr aufzugeben, etwa wenn E-Mails lange unbeantwortet bleiben.
Grundsätzlich seien gängige Videokonferenzsysteme wie Zoom, Bigbluebutton und Webex barrierefrei zugänglich. "Wie gut die Studierenden damit klarkommen, hängt allerdings sehr von ihrer individuellen Technikaffinität ab", sagt Kortus. Zoom sei für blinde Menschen am einfachsten zu bedienen. Damit ist er sich einig mit Marianne Preis-Dewey, der Geschäftsführerin des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS).
Bei Zoom sind laut Preis-Dewey die wichtigsten Funktionen über einfache Tastenkombinationen aufrufbar. Allerdings werde Zoom aus Datenschutzgründen oft nicht an Hochschulen genutzt, sagt die DVBS-Geschäftsführerin. Auch Microsoft Teams sei gut bedienbar.
Bei anderen Systemen sei es teils komplizierter. Mehrere Schritte seien nötig, um eine Aktion durchzuführen. Das kann dazu führen, dass blinde Studierende sich nicht interaktiv beteiligen können, da die Suche nach manchen Funktionen zu lange dauert. "Da ist die Abstimmung schon längst vorbei", sagt Preis-Dewey. Nicht barrierefrei seien etwa Umfragen, Chats oder Meldefunktionen.
Präsentationen sind laut Kortus eine weitere Barriere. Blinde Studierende könnten visuellen Vorträgen nicht folgen.
Der Druck steigt, selbst visuelle Präsentationen zu erstellen
Kortus hat den Eindruck, dass diese in der Online-Lehre vermehrt eingesetzt werden und auch der Druck steigt, selbst visuelle Präsentationen zu erstellen. Zugleich ist die Partizipation erschwert. Beispielsweise sei es schwieriger, nach Präsentationen Feedback und Reaktionen wahrzunehmen, sagt Kortus.
Damit digitale Barrierefreiheit vollständig erlangt wird, ist es laut Kortus notwendig, Lehrende und Studierende für das Thema zu sensibilisieren. Man müsse das "Kompetenzniveau der Dozent*innen und Studierenden anheben", etwa durch Weiterbildungen und Leitfäden. Dazu gehört laut Preis-Dewey auch Wissen über das Erstellen barrierefreier Dokumente, die mit Sprachausgaben lesbar sind und so den Zugang zur Teilhabe vereinfachen. "Barrieren entstehen meistens aus Nachlässigkeit, sind aber keine Absicht", erläutert Kortus.
Die Hochschulen in Hessen bemühen sich insgesamt, das digitale Studium barrierefrei zu gestalten, sagt Preis-Dewey. So gab es an der Universität Marburg beispielsweise eine Veranstaltung zu digitalem Empowerment, die im Sommersemester wiederholt wird. Außerdem gibt es verschiedene Netzwerke, die zu digitaler Barrierefreiheit arbeiten. Dazu gehört das Innovationsforum Barrierefreiheit der Goethe-Universität Frankfurt und der Technischen Hochschule Mittelhessen.
Die Digitalisierung der Lehre bringt laut Kortus auch Vorteile mit sich. Lehrmaterialien und Skripte werden nun selbstverständlich digital zur Verfügung gestellt. In dieser Form sind die Dokumente auch für blinde und sehbehinderte Studierende zugänglich. "Zu Kreidevorlesungen sollten wir nicht mehr zurückkehren, sondern digitale Materialien auf jeden Fall beibehalten", sagt daher Kortus.
Digitale Barrierefreiheit
Um Studierenden mit Behinderung ein barrierefreies digitales Studium zu ermöglichen, ist es hilfreich, folgende Punkte zu berücksichtigen:
Zu Beginn kann nach den Bedürfnissen der Studierenden gefragt werden sowie das Webkonferenzsystem und seine Funktionen erläutert werden. Dabei sollte man Geduld haben und auf Reaktionen warten.
Verwendete Dokumente, Präsentationen und Skripte vor der Veranstaltung für blinde und sehbehinderte Studierende barrierefrei zur Verfügung zu stellen, ist sinnvoll. Visuelle Darstellungen in Präsentationen sowie der Chatverlauf sollten bestenfalls auch verbal umschrieben werden. Zudem sollten Rückmeldungen verbalisiert und Personen mit Namen versehen werden.
Studierenden mit Hörbeeinträchtigung hilft es, Störgeräusche zu vermeiden, indem beispielsweise die Mikrofone der Teilnehmenden ausgeschaltet sind. Zudem schaltet die sprechende Person Kamera an. Verwendete Materialien vorher zur Verfügung stellen.
Aus der Handreichung "Barrieren in Online-Lehrveranstaltungen reduzieren - Empfehlungen für Lehrende" der Philipps-Universität Marburg. prla
(*)Text aus: Frankfurter Rundschau 4.2.2021, S. 17. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Societäts-Medien GmbH.
Bilder: Kai Kortus (Philipps-Universität Marburg) und Marianne Preis-Dewey (DVBS) sprechen über Hürden und Vorteile des Online-Studiums. Kortus (linkes Portraitfoto) hat kurze braune Haare und einen gestutzten Vollbart, er trägt eine Sonnenbrille, Rollkragenpullover und Lederjacke. Preis-Dewey (rechtes Foto) trägt eine Bluse in Pink sowie eine zierliche Kette mit einem Anhänger in Form des horus-Auges. Ihre langen dunklen Haare fallen ihr über die Schulter. Beide lächeln. Fotos: links: privat, rechts: DVBS.
Digitale Barrieren reduzieren - das Projekt "V#d - Vielfalt digital stärken" der Philipps-Universität Marburg stellt sich vor
Von Rebecca Bahr und Ramin Siegmund
Die zunehmende Digitalisierung an Hochschulen bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten, der Heterogenität der Studierendenschaft Rechnung zu tragen und Inklusion weiterzuentwickeln. Gleichzeitig können durch Digitalisierung auch neue Hürden entstehen, wenn Barrierefreiheit hierbei nicht ausreichend mitgedacht wird. An der Philipps-Universität Marburg sind nicht zuletzt durch die Nähe zur Deutschen Blindenstudienanstalt ein hoher Anteil an Studierenden mit Blindheit und Sehbehinderung eingeschrieben. Daher ist die Frage, wie gut zugänglich die verschiedenen digitalen Prozesse an der Universität Marburg für diese Studierendengruppe sind, besonders relevant. Ein zentrales Ziel des Projektes "V#d - Vielfalt digital stärken" ist deswegen, einen Überblick über die digitalen Prozesse im Student-Life-Cycle in Bezug auf ihre Zugänglichkeit zu erhalten und hierfür Erfahrungen und Bedarfe von Studierenden mit Blindheit und Sehbehinderung zu erheben. Ein weiteres Projektziel ist es, die verschiedenen Akteurinnen und Akteure in Schnittstellenpositionen an der Philipps-Universität Marburg rund um das Thema Digitalisierung und Barrierefreiheit stärker miteinander zu vernetzen und so zu mehr Sensibilisierung für digitale Barrieren und deren Reduzierung beizutragen. Das Projekt wird aus Mitteln des Studienstrukturprogramms durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert und findet in Kooperation mit dem Dezernat III - Studium und Lehre und dem Institut für Erziehungswissenschaft statt.
Digitale Barrieren im Studium - Befragung von Studierenden mit Blindheit und Sehbehinderung
Im Rahmen des Projektes führten wir eine Bedarfserhebung unter Studierenden mit Blindheit und Sehbehinderung an der Philipps-Universität Marburg durch. Dabei ging es um die Erfahrungen und Bedarfe der Studierenden in Bezug auf die Zugänglichkeit von digitalen Angeboten und Prozessen der Universität sowie um die Frage, welche bisher analogen Vorgänge durch Digitalisierung zugänglicher gemacht werden könnten. Ebenfalls interessierte uns, wie Studierende mit Blindheit und Sehbehinderung damit umgehen, wenn sie auf digitale Barrieren stoßen, und ob bzw. an wen sie diese Barrieren melden. Die Bedarfserhebung führten wir im Rahmen einer Online-Umfrage durch und ergänzten sie durch vier qualitative Interviews. Die Daten sind nicht repräsentativ (geringe Fallzahl), dennoch geben die Ergebnisse einen ersten Einblick in relevante Tendenzen und wichtige Impulse für das weitere Vorgehen in Bezug auf die Entwicklung digitaler Barrierefreiheit an der Philipps-Universität Marburg.
Die empirischen Ergebnisse verdeutlichen, dass sich digitale Barrieren im Studium an der Philipps-Universität Marburg einerseits auf der Ebene der konkreten Online-Anwendung bzw. Gerätenutzung ergeben. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Online-Lernplattformen nicht ausreichend barrierefrei gestaltet sind, zum Beispiel ein schlechtes Kontrastverhältnis aufweisen oder eine umständliche Navigation per Screenreader erfordern. Die verschiedenen gängigen Online-Anwendungen an der Universität Marburg variieren dabei nach Ansicht der Befragten im Grad der Zugänglichkeit.
Andererseits können Barrieren durch Anwenderinnen und Anwender bzw. Redakteurinnen und Redakteure entstehen. Barrieren entstehen hier vor allen Dingen dann, wenn Dokumente erstellt und zur Verfügung gestellt werden, die nicht barrierearm aufbereitet wurden. Darunter können Arbeitsblätter, Vorlesungsfolien und Lektüretexte fallen, aber auch Informationsbroschüren oder Formulare. Zudem kann es vorkommen, dass Anwenderinnen und Anwender nicht wissen, wie sie die vorhandenen Plattformen etc. so nutzen, dass dadurch möglichst wenige Barrieren entstehen. Einige der befragten Studierenden wünschen sich mehr Wissen bei den Dozierenden, Verwaltungskräften sowie Kommilitoninnen und Kommilitonen hinsichtlich digitaler Barrieren. Zum anderen wird darauf hingewiesen, wie hilfreich es ist, wenn Lehrende eine Offenheit dafür signalisieren, ihre Lehre möglichst barrierearm umzusetzen.
Aus den Befragungen ergibt sich zudem, dass sich Studierende mit Blindheit und Sehbehinderung bei auftretenden Problemen der digitalen Zugänglichkeit vornehmlich Unterstützung in ihrem privaten Umfeld suchen oder aber versuchen, das Problem alleine zu lösen. Gleichzeitig legen die Ergebnisse nahe, dass digitale Barrieren bisher nur selten an die Anlaufstellen des Hochschulrechenzentrums gemeldet werden. Wenn sich Studierende beim Stoßen auf Barrieren an eine hochschulinterne Anlaufstelle wenden, dann meistens an die Servicestelle für behinderte Studierende (SBS).
Aus den Ergebnissen leiteten wir verschiedene Handlungsempfehlungen für die Universität Marburg - insbesondere zur Struktur- und Prozessentwicklung - ab. Zu diesen Handlungsempfehlungen zählt insbesondere die Gründung eines Netzwerks zum Abbau digitaler Barrieren an der Universität Marburg, um eine nachhaltige Struktur dafür zu schaffen, den Stand der digitalen Barrierefreiheit fortlaufend zu besprechen und voranzutreiben. In diesem Rahmen sollten verschiedene Prozesse und Strukturen in den Blick genommen und weiterentwickelt werden. So sollte zum Beispiel eine Prozessstruktur für das Melden und Bearbeiten von Barrieren weiterentwickelt und anschließend aktiv bekannt gemacht werden oder aber sich der Frage angenommen werden, wie bei Neuanschaffungen auf digitale Barrierefreiheit geachtet werden kann.
Angebote zur Sensibilisierung und Wissensvermittlung
Neben der Bedarfserhebung ist ein wichtiges Projektziel, zu mehr Sensibilisierung für digitale Barrieren beizutragen und Wissen dazu zu vermitteln, wie Barrieren reduziert werden können. In diesem Rahmen organisierten wir Workshops für unterschiedliche Zielgruppen an der Universität. So führten wir beispielsweise in Kooperation mit der Hochschuldidaktik und der Servicestelle für behinderte Studierende (SBS) der Philipps-Universität Marburg einen Workshop zu inklusiver Hochschuldidaktik durch. Die umfangreichste Veranstaltung war jedoch ein Thementag zur Reduzierung digitaler Barrieren an der Philipps-Universität Marburg, der im Dezember 2020 stattfand. Ziel war eine Sensibilisierung und Reflexion sowie konkrete Wissensvermittlung, rund um die Frage, wie digitale Barrieren an der Philipps-Universität Marburg identifiziert und reduziert werden können. Aufgrund der pandemiebedingten Situation planten wir den Thementag als Online-Veranstaltung. Die Konzipierung des Thementags erfolgte in Kooperation mit mehreren hochschulinternen Kooperationspartnerinnen und -partnern, zu denen unter anderem die Servicestelle für behinderte Studierende (SBS), die Antidiskriminierungsstelle für Studierende, das Projekt Zukunftswerkstatt für digital gestützte Hochschullehre, das Autonome Referat für Studierende mit Behinderung und chronischen Erkrankungen des AStA als auch Lehrende mit Interesse am Thema zählten. Die Schirmherrschaft für den Thementag übernahm der Vizepräsident für Informationsmanagement der Philipps-Universität Marburg. Gemeinsam mit den Kooperationspartnerinnen und -partnern entwickelten wir Ideen zur Ausgestaltung des Thementags und entschieden uns für eine partizipative Herangehensweise: So wurden im Rahmen eines Aufrufs, sich mit eigenen Beiträgen am Thementag zur Reduzierung digitaler Barrieren zu beteiligen, alle Hochschulangehörigen eingeladen, aktiv am Thementag mitzuwirken.
Sowohl der Aufruf als auch der Thementag selbst stießen auf große Resonanz. Das Thementags-Programm umfasste 11 Workshops, Vorträge und Dialogbeiträge von internen und externen Referierenden. So konnte man sich beispielsweise in einem Workshop Wissen dazu aneignen, wie Barrieren in Word-Dokumenten und PowerPoint-Präsentationen vermieden werden können, oder aber sich darüber informieren, wie ein Screenreader funktioniert. Auch die Perspektive von Studierenden mit Behinderungen einzubringen, war ein wichtiges Anliegen des Thementags. Dies geschah zum Beispiel im Rahmen eines Dialogbeitrags, in dem Studierende, die selbst von behinderungsspezifischen digitalen Barrieren betroffen sind, von ihren Erfahrungen berichteten und mit den Teilnehmenden dazu ins Gespräch kamen. Einen Raum sich untereinander auszutauschen und zu vernetzen erhielten Studierende im Rahmen eines Empowerment-Tags für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. In diesem Rahmen wurden auch praktische Fertigkeiten sowie Tipps und Tricks zum Studienalltag mit Behinderung vermittelt. Den Tag richteten die Antidiskriminierungsstelle für Studierende und das Autonome Referat für Studierende mit Behinderung und chronischen Erkrankungen des AStA im Dezember 2020 gemeinsam aus.
Als im April 2020 pandemiebedingt die Lehre ad hoc auf Online-Lehre umgestellt werden musste, recherchierten wir gemeinsam mit der Servicestelle für behinderte Studierende (SBS) nach geeigneten Handreichungen zur Erstellung barrierefreier Dokumente und hieraus wurde eine Weblinksammlung erstellt. Diese unterstützt Lehrende dabei, ihre digitalen Lehrmaterialien möglichst barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Außerdem erstellten wir gemeinsam mit Dr. Antje van Elsbergen und der Servicestelle für behinderte Studierende (SBS) eine Kurzhandreichung für Lehrende mit Empfehlungen zur Reduzierung von Barrieren in Online-Lehrveranstaltungen.
Ausblick
Die Digitalisierung von Lehre und Verwaltung an Hochschulen nimmt zu und hat durch die ad hoc Umstellung auf digitale Lehre durch die Corona-Pandemie stark an Fahrt gewonnen. Umso wichtiger ist es, dass bei der schnellen Digitalisierung auch auf Barrieren geachtet wird. Außerdem geht es darum, den Blick darauf zu lenken, welche bisher noch analogen Prozesse durch Digitalisierung barrierefreier werden könnten und wie bei ihrer Digitalisierung von Anfang an auf Barrierefreiheit geachtet werden kann. Des Weiteren gilt es auch die Kompetenzen und das Wissen von Studierenden, die selbst von digitalen Barrieren betroffen sind, anzuerkennen, aufzugreifen und den Austausch über dieses informelle Wissen untereinander zu fördern.
Da bei der Vermeidung von Barrieren alle Hochschulangehörigen gefragt sind, zum Beispiel bei der Erstellung barrierefreier Dokumente oder der barrierefreien Webseitenredaktion, bedarf es des Weiteren einer kontinuierlichen Sensibilisierung der Hochschulangehörigen und der Wissensvermittlung im Rahmen der Personalentwicklung. Die große Resonanz auf den Thementag zur Reduzierung digitaler Barrieren verdeutlicht, dass es hierzu eine Bereitschaft gibt, an die es anzuknüpfen gilt.
Blindheit aus der Perspektive der Sehenden. Menschen ohne Augenlicht in den europäischen Periodika des 18. Jahrhunderts(*)
Teil 1
Von PD Dr. Patrick Schmidt
I. Einführung
Im Jahrhundert der Aufklärung waren Sinneswahrnehmungen und ihre Rolle für die Entwicklung des menschlichen Intellekts ein großes Thema in gelehrten Kreisen.[1] Bildung und Erziehung gehörten zu den wichtigsten Fragen für eine Reihe von philosophes - man denke nur an Rousseau und Pestalozzi. Diese beiden geistesgeschichtlichen Tendenzen führten zu einer verstärkten Beschäftigung mit Sinnesbeeinträchtigungen, insbesondere Blindheit und Gehörlosigkeit. Da lag es nahe, die Frage zu stellen, wie sich die Abwesenheit eines Sinnes und seine (Wieder-)Erlangung auf den menschlichen Geist auswirkten. Sie stand vor allem auf der philosophischen Agenda, seitdem William Molyneux sie 1688 in einem Brief an John Locke formuliert hatte: Würde ein Blindgeborener, der gelernt hatte, die Körper 'Kugel' und 'Quader' tastend zu unterscheiden, sie auch mit dem Gesichtssinn unterscheiden können, sobald er diesen durch einen operativen Eingriff erlangt hatte? Ernst Cassirer hat dieses sogenannte Molyneux-Problem als die zentrale epistemologische und psychologische Frage des 18. Jahrhunderts charakterisiert.[2] Michel Foucault hat den Blindgeborenen, der das Augenlicht erlangt, als eine der beiden mythischen Figuren der Aufklärungsphilosophie bezeichnet (die andere war in seinen Augen der Reisende, der erstmals ein fremdes Land betritt).[3] Und tatsächlich hat sich eine lange Reihe bedeutender Philosophen des späten 17. und des 18. Jahrhunderts mit dem Molyneux-Problem auseinandergesetzt. Locke, Leibniz, Diderot und Voltaire können als besonders prominente Beispiele genannt werden.
Diderot widmete sich in seinem berühmten Lettre sur les aveugles au profit de ceux qui voient nicht nur dem Molyneux-Problem, sondern trug auch zu einer Demystifizierung blinder Menschen bei, indem er auf der Grundlage von Gesprächen mit einigen von ihnen Einblick in ihr Seelenleben gab.[4] Er wies zudem auf das Potential hin, welches tastbare Medien für die Bildung blinder Menschen haben könnten. Daher kann die Lettre sur les aveugles als ein Anstoß für jene Bemühungen um eine Blindenschrift gesehen werden, die fast ein Jahrhundert später in die Einführung der Braille-Schrift als universelle Schrift für Menschen ohne Augenlicht mündeten.[5] Die Einsicht, dass blinde Menschen mittels tastbarer Medien Texte rezipieren könnten, ließ es zudem erstmals denkbar erscheinen, ihnen nicht nur durch Einzelunterricht, sondern in der Gruppe Wissen zu vermitteln. Diderots Überlegungen ermutigten daher mehr als drei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen - zusammen mit dem inspirierenden Beispiel der hochgebildeten blinden Musikerin Theresia von Paradies - Valentin Haüy dazu, auf die Gründung der ersten Blindenschule in Paris hinzuarbeiten, die 1784 erfolgte.
Wenig Forschungsliteratur existiert indes zur Sozialgeschichte blinder Menschen im 18. Jahrhundert bzw. generell in der Frühen Neuzeit. Am Ehesten wird die an solchen Fragen interessierte Leserin noch in der Überblicksdarstellung von Zina Weygand über die Geschichte blinder Menschen in Frankreich vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert fündig.[6] Mein Beitrag eröffnet auf der Grundlage von Artikeln und Werbeanzeigen aus britischen, französischsprachigen und deutschen Periodika des 18. Jahrhunderts eine diskursgeschichtliche Perspektive auf Blindheit im Zeitalter der Aufklärung. In den Blick gerät auf diese Weise nicht der philosophische und literarische 'Höhenkamm', für den Locke, Diderot oder Condillac stehen können. Den Gegenstand des Aufsatzes bilden vielmehr rasch zu Papier gebrachte Gelegenheitstexte, wie sie für das journalistische Schreiben (heute wahrscheinlich noch mehr als im 18. Jahrhundert) charakteristisch sind.
Und genau darin, so könnte man sagen, liegt ihr Reiz. Der Umstand, dass in ihnen gebildete Zeitgenossen, die sich aber nicht primär als Gelehrte verstanden, Beobachtungen über blinde Menschen zu Papier brachten, die sie für interessant oder unterhaltsam hielten, verspricht einen Zugang zu vergleichsweise weit verbreiteten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, wie sie in Kreisen jenseits der gelehrten Eliten zirkulierten. Charakteristisch für diese Texte ist, dass in ihnen blinde Menschen in erster Linie als Objekte von Wahrnehmungen und Praktiken greifbar werden, nicht als handelnde Subjekte. Wer die wichtige Frage nach der Selbst- und Weltsicht blinder Menschen behandeln möchte, ist auf andere Quellen angewiesen. Dies können etwa die - für das 18. Jahrhundert freilich nur in geringer Zahl überlieferten - Autobiographien von Betroffenen sein.[7]
In diesem Artikel werden emotionale Reaktionen vorgestellt, welche die Begegnung mit blinden Menschen offenbar häufig hervorrief. Im ersten Teil des Artikels werden das positive Reaktionen sein: Faszination, Bewunderung und Verklärung. Im zweiten Teil, der in der nächsten horus-Ausgabe erscheint, wird es um negative Affekte gehen: um Misstrauen und Ressentiment.
II. Faszination, Bewunderung, Verklärung
Wer in Periodika des 18. Jahrhunderts nach positiven Bildern von blinden Menschen sucht, wird eine Reaktion auf sie erstaunlich selten finden: Mitgefühl.
Dennoch hier das Beispiel eines Gedichts, das 1785 in der Zeitschrift Kinderakademie publiziert wurde. Das lyrische Ich, ein kleiner Junge, hat am Vortag einen blinden Bettler gesehen und sinnt nun über dessen Los nach:
"Er kann nichts sehen; Dunkelheit
verschliesst die Welt ihm weit und breit;
die Sonne geht für ihn nicht auf,
vollendet nicht für ihn den Lauf."[8]
Diese Verse sollen Mitgefühl mit dem blinden Bettler ausdrücken. Doch die letzte Strophe des Gedichts zeigt, dass den jungen Lesern der Zeitschrift noch etwas anderes vermittelt werden soll: Dankbarkeit dafür, dass sie selbst nicht blind sind. Mitleid und Überlegenheitsgefühl berühren sich hier:
"O blinder Mann, du weist es nicht,
wie mir das Herz vor Wehmuth bricht!
Ich fühle meiner Sinne Glück
und danke Gott mit nassem Blick."[9]
Häufiger als Mitleid lösten blinde Menschen bei den Verfassern von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln Faszination und Bewunderung aus. Mit diesen reagierten sie auf drei Eigenschaften, die sie in einzelnen blinden Menschen erkannten: die Fähigkeit, den Gesichtssinn durch andere Sinne zu ersetzen, ausgeprägte Musikalität und ein gutes Gedächtnis. Diese Eigenschaften wiederum versetzten blinde Menschen in die Lage, es sehenden Menschen in verschiedenen Tätigkeiten gleichzutun oder sie sogar zu übertreffen. Bereits in Periodika des 17. Jahrhunderts findet man Artikel, in denen die Aufmerksamkeit der Leser auf solche Fälle gelenkt wird.
Im Jahr 1659 berichtet eine deutsche Zeitung über einen blind geborenen jungen Mann, der im französischen Charenton "eine Predig [!] in den Oster=Feyrtagen gethan / mit grosser Verwunderung vieler tausenden Menschen so wol Römisch Catholischen als anderen / und solches mehr seiner ungemeinen Eloquentz, Gaben und Eyffers als angebohrnen Blindheit halber".[10] In den 1680er Jahren veröffentlicht Eberhard Werner Happel in seiner damals vielgelesenen Zeitschrift Relationes Curiosae mehrere Artikel über blinde "Künstler" oder "Meister" - Menschen ohne Augenlicht, die in verschiedenen Handwerken oder als Bildhauer Großes geleistet hätten.[11] 1693 publiziert eine englische Zeitung einen Dialog über Menschen mit außergewöhnlich gutem Gedächtnis. Als "the greatest Memory that our Age affords us" wird eine in der Kindheit erblindete Frau präsentiert, die in der Lage sei, jeden Text aus der Bibel wortwörtlich zu zitieren und ihm die korrekte Bibelstelle zuzuordnen.[12]
Bewunderung für diese Art von Gedächtnisleistung kehrt in Artikeln aus dem 18. Jahrhundert wieder. Die profunde Bibelkenntnis zweier Frauen in der Universitätsstadt Gießen, die aufgrund ihrer Blindheit genötigt waren, die gehörten Texte auswendig zu lernen, steht im Mittelpunkt eines Zeitschriftenartikels aus dem Jahr 1784.[13] Besondere Bewunderung findet bei dem anonymen Verfasser die etwa fünfzigjährige Maria Catharina Lampussin, weil sie ihr herausragendes Gedächtnis in den Dienst der Allgemeinheit stellte. Lampussin, die infolge einer Pockenerkrankung in der Kindheit erblindet war, besuchte häufig den Gottesdienst und sang sehr gerne Kirchenlieder. "Durch diese ununterbrochene Uebung", so heißt es in dem Artikel, "hat sie es so weit gebracht, daß sie nicht allein mehrere hundert geistliche Lieder, sondern auch beynahe die ganze heilige Schrift auswendig weiß".[14] Ihr solcherart geschultes Gedächtnis stelle die blinde Frau in den Dienst einer guten Sache: Sie besuche alte und kranke Menschen, die am Gottesdienst nicht mehr regelmäßig teilnehmen könnten, und trage ihnen aus der Erinnerung die Predigten vor. Eine frappierende Kenntnis geistlicher Texte attestiert der Artikel auch der 22jährigen Susanna Vogt. Sie habe es "bey ihrem bewundernswürdigen Gedächtniß so weit gebracht [...], daß sie Luthers kleinen Katechismus, das ganze erste Buch Moses, die meisten Psalmen, alle sonntäglichen Evangelien und Episteln, nebst den Capiteln, woraus sie genommen sind, und eine sehr große Anzahl von geistlichen Liedern auswendig wußte".[15]
Andere Autoren schrieben blinden Menschen ein Talent für Musik zu. Der spanische Humanist Juan Luis Vives hatte schon 1526 in seiner Abhandlung über eine Reform der Armenpolitik, De subventione pauperum, bemerkt, einige Blinde seien musikalisch begabt, weshalb man sie ermuntern solle, mit dem Musizieren ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 1784 plädierte Edme Régnier dafür, es blinden Menschen zu ermöglichen, sich von ihrer eigenen Hände Arbeit zu ernähren. Auch Régnier nannte neben einer Reihe von Handwerken Gesang und Instrumentalmusik als für sie geeignete Tätigkeitsfelder.[16] Insofern erstaunt es nicht, dass blinde Musiker in den Periodika des 18. Jahrhunderts gelegentlich thematisiert wurden.
So druckte 1760 eine Londoner Zeitung "The History of Carolan, the last Irish Bard".[17] Turlough O'Carolan (1670-1738) erblindete im Alter von 18 Jahren nach einer Pockenerkrankung und gelangte danach als Harfenist und Komponist zu Ruhm.[18] Im Zeitungsartikel wird behauptet, er sei blindgeboren. Diese Behauptung ist deswegen signifikant, weil postuliert wird, sein außergewöhnliches Gedächtnis und sein Witz seien ihm ebenfalls schon in die Wiege gelegt worden. Zwischen beidem - der Beeinträchtigung und den Begabungen - wird ein Kausalzusammenhang hergestellt. Die Vorstellung, 'Mutter Natur' oder Gott in seiner Weisheit kompensiere Beeinträchtigungen dergestalt, dass diejenigen, die eine solche Hypothek in die Wiege gelegt bekämen, einen Ausgleich in Form einer besonders gut ausgeprägten Körperfunktion oder eines besonderen Talents erhielten, war im 18. Jahrhundert häufiger anzutreffen. Dass gerade blinde Menschen über besondere Gaben verfügten, war zudem ein seit der Antike bekannter Topos, für den die Figur des blinden Sehers Teiresias sinnbildlich steht. [19]
Die Fähigkeit blinder Menschen, sich trotz des fehlenden Sinnes räumlich zu orientieren, wird in einem französischen Artikel aus dem Jahr 1784 hervorgehoben. In Amsterdam habe kürzlich so dichter Nebel geherrscht, dass es zu einer Reihe von Unfällen gekommen sei. [20] Das erinnere an eine Begebenheit, die sich in Den Haag bei ähnlich dichtem Nebel abgespielt habe. Ein englischer Reisender habe gewünscht, zum Palast des Statthalters geführt zu werden. Angesichts des Wetters habe es aber zunächst niemand gewagt, mit ihm die Brücken zu passieren. Schließlich habe ein armer Mann den Reisenden bei der Hand genommen und zum Palast geführt. Als der Gentleman seinen Führer bezahlen wollte, habe ihn ein Wachtposten darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem um einen Blinden handele. Der Engländer habe daraufhin die Bezahlung für jenen Mann verdoppelt, "qui n'avoit pas besoin du jour pour trouver son chemin" (der kein Tageslicht benötigte, um seinen Weg zu finden).[21]
Berichte über tastbare Medien, die es Berühmtheiten wie Nicholas Saunderson oder Maria Theresia Paradies erlaubt hatten, in der Mathematik bzw. der Musik zu reüssieren, hatten die Bildungschancen verdeutlicht, die solche Medien für blinde Menschen bargen. Ein standardisiertes System wie die Braille-Schrift gab es aber noch nicht, weshalb individuelle Lösungen Aufsehen erregten. Für seine 1784 eröffnete Pariser Blindenschule ließ Valentin Haüy beispielsweise Bücher mit erhabenen Buchstaben drucken und Landkarten herstellen, auf denen Landesgrenzen mit stecknadelgroßen Erhebungen markiert waren.[22] Diese Schule, mit welcher der organisierte kollektive Unterricht für blinde Menschen begann, erregte in den ersten Jahren ihres Bestehens große öffentliche Aufmerksamkeit. Vor diesem Hintergrund ist ein Artikel zu lesen, der 1784 im Journal von und für Deutschland erschien.
Der Text eröffnet mit der Ankündigung des Verfassers, er werde darin "Nachricht von einer der sonderbarsten Erscheinungen in der Geschichte verstümmelter Menschen geben, von denen ich wenigstens noch gehört habe".[23] Im Folgenden schildert er den Lebensweg des "Blinden Jakob", wie der Beiname des etwa fünf Jahre zuvor verstorbenen Mannes aus Hessen gelautet habe. Jakob sei im Alter von eineinhalb Jahren nach einer Pockenerkrankung erblindet. Seine Eltern hätten ihn in die Schule des heimatlichen Dorfes geschickt, doch habe er vom Unterricht zunächst kaum profitiert. Das habe sich erst geändert, als Jakob sein eigenes Aufschreibesystem entwickelt habe. Dieses habe aus Holzstöcken bestanden, "ungefähr ellenlange[n] und einen kleinen Finger dicke[n] Stäbe[n]".[24] In diese habe er mit dem Messer Kerben geschnitten, die für Buchstaben und Zahlen stehen konnten. Der wissbegierige Jakob habe sich von seinen Mitmenschen - Lehrern wie Mitschülern - aus Büchern vorlesen lassen und die Informationen auf seinen Stöcken mitgeschrieben. Fortan habe er so schnell und gut gelernt, dass man ihm erlaubt habe, dem Unterricht für adlige Kinder beizuwohnen. Später habe Jakob Mathematik unterrichtet und sei als Arzt tätig gewesen.
Die Bewunderung des anonymen Verfassers galt besonders dem blinden Menschen, der ein für ihn nutzbares Medium entwickelt hat. Wie sehr das letztere den Autor faszinierte, zeigt sich darin, dass er dem Artikel eine Abbildung der eingekerbten Stöcke beifügt und dass er dem Herausgeber der Zeitschrift sieben dieser Stöcke zusendet - alle, die noch erhalten seien. Denn Jakobs Bibliothek sei es nach seinem Tode ergangen "wie der Alexandrinischen": Die Leute, denen er seine Stöcke in Verwahrung gegeben habe, hätten mit ihnen den Ofen geheizt.[25]
Fortsetzung folgt in horus 3/2021.
(*)Anmerkung
Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors für horus gekürzt. Die Originalfassung finden Sie einschließlich des ausführlichen Literaturverzeichnisses in: Alexa Klettner, Gabriele Lingelbach (Hg.): Blindheit in der Gesellschaft. Historischer Wandel und interdisziplinäre Zugänge. Frankfurt, New York: Campus, 2018. (Disability History, Bd. 6), S. 35-64.
Fußnoten
[1] Vgl. bspw. Vila, Anne C., Introduction. Powers, Pleasures, and Perils of the Senses in the Enlightenment Era, in: dies. (Hg.), A Cultural History of the Senses in the Age of Enlightenment, London [u.a.] 2014, S. 1-20.
[2] Vgl. Paterson, Mark, Seeing with the Hands. Blindness, Vision, and Touch after Descartes, Edinburgh 2016, S. 16.
[3] Vgl. ebd., S. 7.
[4] Vgl. ebd., S. 9.
[5] Vgl. ebd., S. 110f.
[6] Vgl. Weygand, Zina, The Blind in French Society from the Middle Ages to the Century of Louis Braille, Stanford, Ca., 2009.
[7] Vgl. Baczko, Ludwig von: Geschichte meines Lebens. Drei Bände, Königsberg 1824.
[8] Kinderakademie, 6. Stück, Juni 1785, S. 253f., zitiert nach: Volrad Deneke, J.F.: Arzt und Medizin in der Tagespublizistik des 17. und 18. Jahrhunderts. Köln / Berlin 1969, S. 253f.
[9] Ebd.
[10] Europäische Relation Auß Unterschiedlichen frembden Oertern, April 1659, S. [7].
[11] Von großen Künstlern und vielen in der Natur verborgenen Wundern, in: Relationes Curiosae, der erste Theil, 1683, S. 45; Der blinde Meister, in: Relationes Curiosae, der erste Theil, 1683, S. 101f.; Der blinde Künstler, in: Relationes Curiosae, der vierte Theil, 1689, S. 102f.
[12] Athenian Gazette or Casuistical Mercury, 27. Mai 1693, S. [1].
[13] Vgl. Journal von und für Deutschland, 1. Band, sechstes Stück, 1784, S. 649f.
[14] Ebd., S. 649.
[15] Ebd., S. 649f.
[16] Weygand, The Blind in French Society, S. 85.
[17] Lloyd's Evening Post and British Chronicle, 4.-6. August 1760, S. [6].
[18] Vgl. Ó Madagáin, Breandán, Carolan, Turlough, in: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 10, Oxford 2004, S. 200-202.
[19] Vgl. Barasch, Moshe, Blindness. The History of a Mental Image in Western Thought, New York / London 2001, S. 28-36.
[20] Vgl. Affiches, annonces et avis divers, ou Journal général de France, 3. Februar 1784, S. 69.
[21] Ebd.
[22] Vgl. Weygand, The Blind in French Society, S. 97f.
[23] Journal von und für Deutschland, zweiter Band, zehntes Stück, 1784, S. 234-237, Zitat S. 234.
[24] Ebd.
[25] Ebd., S. 235.
Recht
Neuer Freibetrag in der Grundsicherung - Betroffene Rentnerinnen und Rentner müssen ihre Ansprüche sichern
Vom Paritätischen Gesamtverband
Neben Arbeitslosen und Alleinerziehenden stehen besonders auch Rentnerinnen und Rentner an der sogenannten Armutsgefährdungsschwelle. Die Tendenz ist steigend. Um der Armut im Alter entgegenzuwirken, trat zum 1. Januar 2021 das Gesetz zur Grundrente in Kraft. Es soll Menschen zugutekommen, die trotz jahrelanger Arbeit und Beitragszahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung nur eine geringe Rente erhalten.
Die Grundrente ist ein individueller Zuschlag zur bisherigen Rente bzw. zur künftigen Rente. Die Grundrente muss nicht beantragt werden. Ob Anspruch auf einen entsprechenden Zuschlag besteht, prüft die Rentenversicherung von sich aus.
Hauptvoraussetzung sind mindestens 33 Jahre mit Beiträgen, Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen. Die Regelung ist relativ kompliziert und bedarf verschiedener Ermittlungen durch die Rentenversicherung. Eine Antwort auf die Frage der Bürgerinnen und Bürger, ob und in welcher Höhe überhaupt eine Grundrente gewährt wird, ist deshalb frühestens im August oder September 2021 zu erwarten und kann sich bis zum Ende des Jahres 2022 erstrecken.
Die Grundrente ersetzt nicht die Grundsicherung. Manchmal wird es so sein, dass Grundrente und Wohngeld zusammen höher ausfallen als die Grundsicherung. Trotz Grundrente werden aber auch künftig viele Menschen auf Grundsicherung angewiesen sein, weil sie nicht genügend Beitragsjahre haben oder auch der Grundrentenzuschlag noch zu niedrig ausfällt.
Es werden auch tendenziell mehr Menschen als bisher einen Anspruch auf Grundsicherung haben. Das liegt an einem neuen Freibetrag, der zum 1. Januar 2021 eingeführt wurde. Er soll Zeiten in der Rentenversicherung belohnen (vgl. § 82a SGB XII). Wenn die Voraussetzungen des § 82a SGB XII vorliegen, werden zwischen 100 € und 223 € Alterseinkünfte nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Damit werden mehr Rentnerinnen und Rentner grundsicherungsberechtigt als bisher. Ebenfalls steigt das Leistungsvolumen.
Da Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nur ab Antragstellung gewährt wird und eine nachträgliche Antragstellung nicht möglich ist, empfiehlt es sich, einen "vorsorglichen" Antrag auf Grundsicherungsleistungen zu stellen, wenn Aussicht besteht, den neuen Freibetrag zu bekommen. Der Antrag macht natürlich nur Sinn, wenn der Anspruch nicht ohnehin an zu viel Einkommen oder Vermögen scheitert. Bekanntlich gibt es keine allgemeine Einkommensgrenze, an der man einen Anspruch auf Grundsicherung festmachen könnte. Ein Anspruch hängt ganz entscheidend von der Höhe der Wohnkosten ab.
Wenn man vom derzeitigen Regelsatz für Alleinstehende von 446 € und dem höchstmöglichen Freibetrag nach § 82a SGB XII von 223 € ausgeht, kann man vereinfacht sagen, dass sich ein Grundsicherungsantrag lohnt, wenn nach Zahlung der Warmmiete monatlich nur höchstens 700 € zur Verfügung stehen.
Für detaillierte Informationen siehe den ausführlichen Beitrag von Werner Hesse und Katharina Heck auf der Webseite des Paritätischen Gesamtverbands unter: http://www.der-paritaetische.de/fachinfo/grundsicherung-im-alter-beantragen/.
Die Webseite hält weitere nützliche Links bereit sowie die PDF-Datei der Broschüre des Paritätischen zur Grundrente (https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/Grundrente_Broschuere.pdf)
Gemeinsame Stellungnahme des DBSV und des DVBS zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (Barrierefreiheitsgesetz - BFG)
(Auszug)
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der European Accessibility Act (EAA) jetzt in deutsches Recht umgesetzt wird. Mit dem BFG wird es erstmals in Deutschland Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen geben. Ein verbindlicher und adressatengerechter Rechtsrahmen bietet die Chance, zu deutlich mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Alltag beizutragen. Leider ist der bislang vorliegende Entwurf schwer verständlich formuliert und bleibt teilweise hinter den Anforderungen des EAA zurück. Die folgenden Änderungen am BFG-Entwurf sind aus Sicht von DBSV und DVBS daher zwingend:
- In den Anwendungsbereich des Gesetzes sollten Menschen mit funktionellen Einschränkungen einbezogen werden.
- Die Regelungen zu Verkehrsdienstleistungen sind klarer zu fassen und alle Anforderungen des Gesetzes müssen für den Regional-, Stadt- und Vorortverkehr gelten.
- Der Anwendungsbereich muss auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen erweitert werden, wo dies ohne wesentliche Mehrbelastung für die Wirtschaft möglich ist.
- Bestimmte Definitionen sind zu straffen und zu ergänzen.
- der Begriff einer unverhältnismäßigen Belastung im Sinne eines Ausnahmetatbestandes ist schärfer zu konturieren.
- Es ist für eine zentral organisierte und effektive Marktüberwachung zu sorgen, die den Herausforderungen der Digitalwirtschaft gerecht wird.
- Die Rechtsdurchsetzung ist zu stärken. Das betrifft die Überprüfungsmöglichkeiten im Verwaltungsverfahren und das daran anschließende Verbandsklagerecht für Verbände, die Möglichkeit, nach dem Unterlassungsklagegesetz vorgehen zu können und die Einführung einer niedrigschwelligen und effektiven Schlichtungsmöglichkeit.
- Die für digitale Dienstleistungen vorgesehenen Übergangsfristen sind abzukürzen.
DBSV und DVBS erwarten auch, dass Deutschland für die Bereiche, für die der EAA keine Regelungen vorsieht, in absehbarer Zeit auf nationaler Ebene aktiv wird, um Barrierefreiheitsanforderungen rechtlich verbindlich vorzugeben - von der eigenständigen Lebensführung (z. B. barrierefreie Haushaltsgeräte), Gesundheitsversorgung (z. B. barrierefreie Arztpraxen und Medizinprodukte) über die Bildung, die Arbeitswelt bis hin zur Kultur. Leider enthält der Referentenentwurf auch keine Anforderungen an die Barrierefreiheit der bebauten Umgebung. Dabei ist ein barrierefreier Geldautomat für Menschen mit Behinderungen nutzlos, wenn sie das Gebäude der Bank nicht betreten können. Daraus ergibt sich die Erwartung an den Gesetzgeber, baldmöglichst auch die Barrierefreiheit der bebauten Umwelt sicherzustellen.
Im Einzelnen
(...)
Zu Abschnitt 6
DBSV und DVBS fordern eine zentral organisierte Marktüberwachung. Der Gesetzentwurf geht demgegenüber von einer alleinigen Zuständigkeit der einzelnen Bundesländer aus. Wir sehen die große Gefahr, dass bei einer eigenverantwortlichen und damit ungesteuerten Länderzuständigkeit eine effektive Marktüberwachung nicht gewährleistet ist, weil:
- eine einheitliche Rechtsanwendung nicht zu erwarten steht,
- für Dienstleistungen - anders als für Produkte - bislang keine Erfahrungen und Konzepte mit Marktüberwachung auf Länderebene bestehen,
- das Knowhow zum Themenkomplex Barrierefreiheit nicht sofort zuverlässig auf regionaler Ebene aufgebaut werden kann und
- gerade mit Blick auf den globalisierten digitalen Dienstleistungssektor eine Überforderung rein regional organisierter Marktüberwachung zu erwarten ist.
DBSV und DVBS fordern, dass die Marktüberwachung so weit wie möglich (...) den Marktüberwachungsbehörden zufällt, die ohnehin mit den jeweiligen Lebenssachverhalten befasst sind. Das sorgt für eine einheitliche Rechtsanwendung und trägt zur Markttransparenz bei. Der bürokratische Aufwand für Marktüberwachungsbehörden und Wirtschaftsakteure sinkt, wodurch Kosten gespart werden.
(...)
Die (...) Marktüberwachungsstrategien sollten unter Beteiligung der Verbände von Menschen mit Behinderungen erstellt werden.
(...) Es ist einheitlich zu regeln, dass die Kosten für barrierefreie Information und Kommunikation von den Marktüberwachungsbehörden zu tragen sind. (...)
Verbraucherinnen und Verbraucher müssen leicht erkennen können, ob und inwieweit Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet sind. Dafür muss auch eine barrierefrei zugängliche Datenbank entstehen, die barrierebehaftete Produkte und Dienstleistungen ausweist.
Hilfreich wäre es zudem, wenn zur Kontaktaufnahme mit Marktüberwachungsbehörden (...) barrierefreie (...) Kontakt- und Feedback-Mechanismen (...) etabliert werden. (...)
Schließlich ist es unbedingt erforderlich, eine wirksame Marktbeobachtung vorzusehen, und zwar durch Verbraucherschutzorganisationen mit dem Knowhow für Barrierefreiheit und unter Beteiligung der Vertretungen der Menschen mit Behinderungen.
Zu §§ 34, 35_E
Bislang sieht der Entwurf in Bezug auf die Rechtsdurchsetzung nur die Möglichkeit vor, ein Tätigwerden der Marktüberwachungsbehörden im Verwaltungsverfahren und - bei dessen Scheitern - gerichtlich zu erwirken. Die vorgesehenen Regelungen sind unzureichend ausgestaltet und müssen ergänzt werden.
(...) Verbänden ist es nach dem bislang vorliegenden Entwurf nicht möglich, Klagen etwa auf die Beseitigung rechtswidriger Barrieren bei Produkten und Dienstleistungen unmittelbar gegen den jeweiligen Wirtschaftsakteur zu richten. Aus Sicht des DBSV und des DVBS sollten die Vorschriften des BFG in § 2 Abs. 2 UKlaG als verbraucherschützende Normen explizit aufgenommen werden, damit derartige Klagen durch anerkannte Verbraucherverbände möglich sind. Für die Aufnahme spricht, dass sich das BFG explizit auf Produkte und Dienstleistungen für Verbraucher bezieht.
Schließlich sollte eine effektive niedrigschwellige Schlichtungsmöglichkeit geschaffen werden, um die Beseitigung von Barrieren bei Produkten und Dienstleistungen zu ermöglichen. (...) Sollte eine Schlichtungsmöglichkeit nicht bei der Schlichtungsstelle nach § 16 BGG möglich sein, muss bei der Universalschlichtungsstelle nach dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) mindestens eine personell und fachlich ausgestattete Abteilung für Anliegen nach dem BFG eingerichtet werden.
Die vorgesehenen Übergangsfristen, insbesondere für digitale Dienstleistungen, sind zu lang und müssen aufgehoben werden. Die Wirtschaftsakteure haben jetzt vier Jahre lang Zeit, sich auf das Inkrafttreten des BFG vorzubereiten und Knowhow zur Barrierefreiheit aufzubauen. Eine noch längere Frist ist gerade vor dem Hintergrund der Schnelllebigkeit der Entwicklung und der Tatsache, dass für digitale Anwendungen Standards für die Barrierefreiheit schon weitgehend bestehen, nicht nachzuvollziehen.
Berlin und Marburg, 11.03.2021
Der gesamte Text der Stellungnahme ist online zugänglich unter https://dvbs-online.de/images/uploads/Stellungnahmen/bf_210311_DBSV_DVBS_stellungnahme_RefE_BFG.pdf
Nachtrag, Stand: 20.4.2021
Inzwischen gibt es den vom Kabinett am 24.3.2021 verabschiedeten Regierungsentwurf (Bundesrats-Drucksache 240/21). Dabei hat das Gesetz seinen Namen geändert und heißt jetzt Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Die in der Stellungnahme aufgeführten Kritikpunkte von DBSV und DVBS haben im Wesentlichen leider keinen Eingang mehr in den Regierungsentwurf gefunden.
Nach unserem aktuellen Kenntnisstand wird es nach der ersten Lesung des Entwurfs im Bundestag dazu vermutlich am 17.5. eine Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales geben. Sodann soll das Gesetz schon am 20/21.5. vom Bundestag endgültig verabschiedet werden.
Ob es im parlamentarischen Verfahren noch gelingt, substanzielle Veränderungen zu erreichen, ist fraglich. Gleichwohl werden DVBS und DBSV noch einmal auf uns wichtige Punkte in einer Stellungnahme an die Parlamentarier hinweisen, die bei Erscheinen des horus auf der Homepage des DVBS zu finden sein wird.
Vortrag zu den rechtlichen Grundlagen des Nachteilsausgleichs in Prüfungen
Am 11. Februar 2021 referierte Prof. Jörg Ennuschat, Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungsrecht an der Ruhr-Universität Bochum, auf Einladung des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften (DTIEV) zum Thema "Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderungen in Hochschulprüfungen - Prüfungsrechtliche Bausteine einer inklusiven Hochschule".
Der Vortrag nimmt die Bestimmungen der UN-BRK, des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in den Fokus. Die Rechtsprobleme kreisen um den Gleichheitsgrundsatz, Art. 3 Abs. 1 GG, und das Benachteiligungsverbot, Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. Die Rechtsfragen gelten gleichermaßen für Prüfungen an Schulen.
Das Handout zur Veranstaltung sowie der Vortrag sind dokumentiert und online zugänglich auf der Webseite der FernUniversität in Hagen unter https://www.fernuni-hagen.de/dtiev/veranstaltungen/Ennuschat
Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen aus einer Hand
Teilhabeleistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sollen künftig von der Jugendhilfe kommen. Dies wird aus aktuellen Beratungen des Bundestags und Bundesrats deutlich, in denen es um eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe geht. Zu den Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe gehört es, Eltern bei der Erziehung zu unterstützen, junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern und Kindeswohlgefährdungen zu verhindern. In einem dreistufigen Verfahren, das über sieben Jahre andauern soll, ist geplant, dass die Jugendhilfe am Ende Leistungen aus einer Hand auch für alle jungen Menschen mit Behinderungen erbringt. Bisher kamen die Leistungen von unterschiedlichen Leistungsträgern.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) hält eine inklusive Ausrichtung des Jugendhilferechts für dringend notwendig. Diese muss aber nach seiner Überzeugung zwingend dazu führen, die Teilhabemöglichkeiten aller jungen Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien substanziell zu verbessern. Das wird nicht, wie bislang offenbar vorgesehen, zum Nulltarif möglich sein. Auch darf es nicht zu Leistungseinschränkungen oder Qualitätsminderungen führen. Die Familien dürfen nicht verstärkt zur Kostenübernahme herangezogen werden, und Eltern müssen darauf vertrauen dürfen, dass ihre Erziehungskompetenz nicht in Frage gestellt wird, wenn ihr Kind behinderungsbedingt notwendige Leistungen wie Hilfsmittel oder eine Assistenz benötigt. Aus diesen Gründen hat der DBSV eine Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) verfasst, die abrufbar ist unter www.dbsv.org/stellungnahme/KJSG-RegE.html.
Barrierefreiheit und Mobilität
Der europäische Standard EN 301 549 zur Barrierefreiheit von IKT
Von Andreas Carstens (*)
Die öffentlichen Stellen in Bund, Ländern und Kommunen sind verpflichtet, ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten. [1] Außerdem sehen die gesetzlichen Vorschriften Im Bund und in zahlreichen Bundesländern vor, dass die öffentlichen Stellen auch die Software an den Arbeitsplätzen der Beschäftigten (E-Akten, IT-Fachanwendungen, ...) barrierefrei gestalten.[2] Hierzu haben die europäischen Normungsinstitute im August 2018 den Standard EN 301 549 "Accessibility requirements for ICT products and services" in der Version 2.1.2 veröffentlicht.[3] Der europäische Standard EN 301 549 definiert Anforderungen an die Barrierefreiheit von Hardware, Software, Websites, mobilen Anwendungen und elektronischen Dokumenten. Die für Websites (Internet und Intranet) und mobile Anwendungen nach den EU-Vorgaben mindestens einzuhaltenden Anforderungen werden in dessen Annex A in den Tabellen A.1 und A.2 aufgelistet. Eine deutsche Übersetzung wurde im Februar 2020 als DIN EN 301 549 "Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen" veröffentlicht. Sie wird vom Beuth-Verlag, der die Normen des DIN e.V. vertreibt, zum Preis von 348,40 € (Papierdokument) bzw. 288,40 € (PDF) zum Kauf angeboten.[4] Während die englische Fassung im Internet kostenfrei heruntergeladen werden kann, war die deutsche Übersetzung bisher nur gegen Bezahlung erhältlich. Der DVBS e.V. hat sich daher in den Beratungen zur Neufassung der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) im Jahr 2019 dafür eingesetzt, auch die deutsche Übersetzung der EN 301 549 kostenfrei zugänglich zu machen.[5]
Die Überwachungsstelle des Bundes für die Barrierefreiheit von Informationstechnik bietet in ihrem Webauftritt[6] nunmehr einen kostenfreien Zugang zu der deutschen Fassung der EN 301 549. Hierzu ist es erforderlich, sich im Webauftritt der Überwachungsstelle zu registrieren.[7] Voraussetzung für die Freigabe ist außerdem ein berechtigtes Interesse. Hierzu reicht es beispielsweise aus, dass blinde oder sehbehinderte Menschen die Standards zur Barrierefreiheit selbst nachlesen möchten, Schwerbehindertenvertretungen die Standards für ihre Arbeit in Behörden oder Unternehmen benötigen oder öffentliche Stellen sich über die einzuhaltenden Standards informieren wollen. Die europäischen Normungsinstitute haben den Standard EN 301 549 im November 2019 in der Version 3.1.1 veröffentlicht.[8] In Kürze soll der europäische Standard in der Version 3.2.1 veröffentlicht werden. Vorgesehen ist, auch die dann aktuelle Version in einer deutschen Übersetzung des DIN e.V. im Webauftritt der Überwachungsstelle kostenfrei zugänglich zu machen. Allerdings hat der DIN e.V. in der Vergangenheit immer sehr lange gebraucht, bevor er eine deutsche Übersetzung veröffentlicht hat.
(*) Der Autor ist als Vertreter des DVBS e.V. Mitglied im Ausschuss für barrierefreie Informationstechnik nach § 5 der BITV 2.0.
Fußnoten
[1] Siehe § 12a Abs. 1 Satz 1 BGG und die Parallelvorschriften in den Landesgesetzen
[2] Siehe z.B. § 12a Abs. 1 Satz 2 BGG, § 9a Abs. 1 Satz 2 NBGG, § 4 Abs. 1 Satz 2 BIKTG Bln, § 13 Abs. 1 Satz 5 BremBGG u. § 12a Abs. 1 Satz 2 SBGG
[3] Kostenfreier Download: www.etsi.org/deliver/etsi_en/301500_301599/301549/02.01.02_60/en_301549v020102p.pdf
[4] Bezug über: www.beuth.de
[5] Siehe hierzu auch die Begründung zur Änderungsverordnung zur BITV 2.0: BAnz AT 29.05.2019 B1, Seite 4 f.
[6] Überwachungsstelle des Bundes: www.bfit-bunde.de
[7] Link zur Registrierung: https://www.bfit-bund.de/Login/Login/login_node.html
[8] Kostenfreier Download: www.etsi.org/deliver/etsi_en/301500_301599/301549/03.01.01_60/en_301549v030101p.pdf
Berichte und Schilderungen
Zeitenwende - Vom Leben nach der blista:
Beamter in der bayerischen Staatsfinanzverwaltung
Von Daniel Ammon
Sommer 2014: Jetzt stand mir die Welt offen. Sieben schöne Jahre an der Carl-Strehl-Schule in Marburg lagen mit Aushändigung des Abiturzeugnisses hinter mir. Der beschaulichen Studentenstadt an der Lahn sagte ich Auf Wiedersehen und wandte mich meiner alten Heimat Bayern zu.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einen konkreten Berufswunsch: Beamter. Eher der sichere Arbeitsplatz als - um das Klischee zu bedienen - stundenlanges Kaffeetrinken und während der Dienstzeit im Büro zu schlafen, reizte mich am öffentlichen Dienst. Auch hatte ich während der Berufsorientierungstage in der Oberstufe schon zwei Wochen am heimischen Landratsamt in die öffentliche Verwaltung hineinschnuppern können.
Um eine Ausbildung im bayerischen Staatsdienst beginnen zu können, ist allerdings ein zentrales Auswahlverfahren zu bestehen. Doch genau an diesem Tag im Oktober 2013 befand ich mich auf unserer Abschlussfahrt zum Gardasee, sodass ich für das nächste Jahr eine Alternative brauchte.
Da mir das Schreiben schon immer leichtfiel, entschied ich mich für ein Journalismus-Studium an der Hochschule Ansbach. Dort studierte ich vier Semester, während ich weiterhin versuchte, meinen eigentlichen Berufstraum zu verwirklichen.
"Ich bin nicht beim Finanzamt"
Der Tag des Auswahlverfahrens für das Einstellungsjahr 2016 war da. Beim schriftlich abzulegenden Test musste ich Fragen zur Allgemeinbildung sowie logischem und mathematischem Denken innerhalb von vier Stunden beantworten.
Nach einigen Monaten erhielt ich dann das Ergebnis, das sich aus der Note des Tests und den Schulnoten des Abschlusszeugnisses der Fächer Deutsch und Mathematik zusammensetzte. Auf Basis dieser Endnote wird dann eine bayernweite Liste erstellt, nach der die staatlichen Behörden ihre Bewerber*innen zu Vorstellungsgesprächen einladen. Also galt es für mich, erst einmal abzuwarten. Natürlich hatte ich mich während dieser Zeit auch bei weiteren Stellen beworben. Aber dann erhielt ich die Möglichkeit, eine Ausbildung beim Landesamt für Finanzen zu beginnen. Ausbildungsort wäre die Dienststelle Ansbach; also in jener beschaulichen Beamtenstadt, in der ich bereits studierte.
Doch was macht diese Behörde genau? Auch mir war sie vorher unbekannt. Vorneweg: Es ist nicht das Finanzamt. Das Landesamt für Finanzen (LfF) ist eine Landesoberbehörde, die dem Bayerischen Staatsministerium der Finanzen und für Heimat direkt unterstellt ist. In allen sieben Regierungshauptstädten bestehen Dienststellen. Das LfF ist für die Festsetzung und Abrechnung der Bezüge der Beamt*innen, Arbeitnehmer*innen und Versorgungsempfänger*innen des Freistaates Bayern sowie für die Auszahlung von Reisekosten, Kindergeld und Beihilfe zuständig.
Nachdem ich alle nötigen Unterlagen an die Zentralabteilung nach Würzburg geschickt hatte, die die Ausbildung organisiert, erhielt ich Mitte Februar 2016 einen Termin für ein Vorstellungsgespräch in Ansbach. Neben der Dienststellenleiterin waren der örtliche Ausbildungsleiter und die Schwerbehindertenvertretung anwesend. Schnell war klar, dass ich gut in diese Behörde passen würde, und die Dienststellenleiterin sicherte mir sofort jegliche Unterstützung zu.
Das Landesamt bot mir im Vorfeld eine Hilfsmittelerprobung am Berufsförderungswerk Würzburg an. In diesen drei Tagen testete ich verschiedenste Hilfsmittel, die mir die Ausbildung erleichtern sollten. Durch meine Kurzsichtigkeit bin ich auf vergrößernde Hilfsmittel angewiesen. So schaffte die Behörde für mich neben einem Laptop mit Vergrößerungssoftware einen 27-Zoll-Monitor, ein mobiles Kamerasystem und eine elektronische Leselupe an. Zudem wurde noch eine Arbeitsplatzbegehung vor Ort durchgeführt.
Zwei Jahre hartes Lernen
An meinem ersten Arbeitstag erhielt ich die Ernennungsurkunde zum Beamten auf Widerruf aus den Händen des stellvertretenden Dienststellenleiters. Dies war ein feierlicher Moment. Zur Orientierung und zwecks Erprobung der Hilfsmittel fand meine Ernennung eine Woche vor dem regulären Ausbildungsbeginn statt. Am 1. September erschienen dann meine Mitauszubildenden und wir lernten zusammen die Örtlichkeiten kennen. Die Aufnahme durch Kolleg*innen und Mit-Azubis war freundlich und meine Sehbehinderung kein großes Thema, sodass ich mich bereits zu Beginn gut integriert fühlte.
Die zweijährige Ausbildung gliederte sich in neun Monate Theorie- und 16 Monate Praxisabschnitte. Die Theorie vermittelten uns haupt- und nebenamtliche Dozentinnen und Dozenten an der Landesfinanzschule Ansbach (LFS), Außenstelle Herrieden. Dort hatte jeder ein Einzelzimmer, also optimale Bedingungen zum Lernen.
Die Hilfsmittel kamen mit an die Schule, sodass ich damit den Unterricht gut verfolgen und bewältigen konnte. In der Fachtheorie mussten wir mit dicken Gesetzesordnern arbeiten. Die Dozent*innen verwendeten zur Wissensvermittlung Tafel und Beamer. Das mobile Kamerasystem ermöglichte mir das Ablesen der Tafelanschriften. Man muss sich die Lehrgänge als Frontalunterricht im Klassenverbund wie in der guten alten Schulzeit vorstellen. Wir waren mit 22 Anwärtern die kleinste von drei Klassen.
Alle Dozent*innen boten mir bereits ab der ersten Stunde ihre Unterstützung an; etwa aufgelegte Texte länger liegen zu lassen, damit ich in Ruhe die dort angebrachten Verweise in meine Gesetze übertragen konnte. Doch meistens war ich damit früher fertig als so mancher Mitschüler.
Doch was lernt man jetzt eigentlich hier? Auf dem Stundenplan standen die klassischen Bezüge-Fächer, wie Besoldungs-, Tarif- und Versorgungsrecht. Auch Beamtenrecht, Staatskunde und Haushaltsrecht mussten wir uns aneignen. Vormittags fand der Unterricht statt, danach mussten wir Übungen erledigen, die das Erlernte vertiefen und uns auf die Prüfungen am Ende jedes Lehrganges vorbereiten sollten. Der Einstieg in die doch auf den ersten Blick trockene und langatmige Rechtsmaterie gelang mir relativ gut.
Ich habe zu Beginn einen Antrag auf Zeitverlängerung bei Prüfungen gestellt. Diesen genehmigte die LFS nach einer Begutachtung durch den Amtsarzt. Auch hier half mir meine Hilfsmittelausstattung, die Prüfungen von verschiedenster Länge zu bewältigen.
Nach dem ersten Theorieabschnitt im Dezember 2016 war ich ganz schön geschafft. Nun freute ich mich auf die abwechslungsverheißende Praxisphase in der Behörde.
Ich durchlief die Abteilungen im örtlichen Amt, so wie jeder Anwärter. Aufgrund meiner Hilfsmittel setzten sich die Sachbearbeiter*innen zu mir an den Schreibtisch, was für alle eine Umstellung war; schauen ihnen doch normalerweise die Anwärter*innen beim Arbeiten über die Schulter. Schnell und sicher erledigte ich die mir gezeigten Tätigkeiten, was natürlich positiv ankam. Da das Vergrößerungssystem einwandfrei mit den Computerprogrammen des LfF kompatibel ist, war ich immer sofort einsatzbereit. Das war nicht selbstverständlich, fragten sich doch die IT-Verantwortlichen im Vorfeld, ob die Programme sich vertragen würden. Bei jedem Standortwechsel zog dann die gesamte Ausrüstung zur nächsten Ausbildungsstätte mit - sogar quer durch Bayern mussten wir reisen.
Viel zu schnell verging der Praxisabschnitt und die nächsten Theoriewochen rückten unaufhaltsam näher. Zügig schaltete ich wieder ins Lernen um. Neue Fächer kamen hinzu: Sozialversicherungsrecht und Lohnpfändung waren nicht nur für mich bis eine Stunde vor der Klausur ein Buch mit sieben Siegeln. Da der zweite Lehrgang im Sommerhalbjahr stattfand, waren gemeinsame Grillabende und sonstige Feiern eine schöne Abwechslung zu den langen Lernnachmittagen. Dadurch rückte die Klassengemeinschaft enger zusammen.
Erneut wiederholten sich Prüfungen und Berufspraxis. Dann kam Anfang 2018 der gefürchtete Schlusslehrgang, an dessen Ende im April die Qualifikationsprüfung für den Einstieg in die 2. Qualifikationsebene der Fachlaufbahn Verwaltung und Finanzen mit fachlichem Schwerpunkt Staatsfinanz stand.
Bis einen Tag vor der Qualifikationsprüfung versuchten uns die Dozent*innen neuen Stoff beizubringen. Wir waren alle nervlich am Ende. Bis dahin konnte ich eine recht gute Leistung vorweisen, also würde die letzte Hürde doch auch zu meistern sein, dachte ich mir.
Und ja: Ich schaffte sie. Die mündliche Prüfung im Juli in Würzburg komplettierte den Prüfungsmarathon. Damit konnte ich den Vorbereitungsdienst erfolgreich beenden. Zum 1. September 2018 wurde ich dann zum Regierungssekretär ernannt und darf nun die Berufsbezeichnung "Verwaltungswirt" führen. Da Bayern nach Bedarf ausbildet, stand eine Übernahme bereits zu Beginn fest.
Der Abschlussball mit Aushändigung des Prüfungszeugnisses an der LFS bildete Ende Oktober 2018 einen schönen Abschluss für zwei Jahre harten Arbeitens und Lernens.
Irgendwer ist immer der Erste
Mein Fazit: Ich war sowohl beim Landesamt für Finanzen als auch an der LFS der erste Anwärter mit einer Sehbeeinträchtigung, der diesen fachlichen Schwerpunkt absolvierte. Dafür, dass bis dato dort keine Erfahrungen mit Sehbehinderten gemacht wurden, lief die Ausbildung fast schon reibungslos ab. Ich befürchtete zu Beginn des ersten Theorieabschnittes, dass das Tempo zu schnell sein würde und ich Probleme hätte hinterherzukommen. Dies war über die drei Lehrgänge bei den verschiedensten Dozent*innen, die in manchem Fach jedes Mal wechselten, überhaupt nicht der Fall. Auch die Sachbearbeiter*innen in den Praxisabschnitten waren mir gegenüber positiv aufgeschlossen und interessierten sich für meine elektronischen Hilfsmittel. Also kann ich nur Positives vermelden.
Jedoch hatte ich auch das Glück, dass an den obersten Stellen die richtigen Leute saßen, die mir von Anfang an mit Rat und Tat zur Seite standen und mit denen ich mich bereits im Vorfeld viel darüber austauschen konnte, wie die Ausbildung für mich gut zu bewältigen wäre. So viel Unterstützung bereits von Beginn an hatte ich nicht erwartet. Selbst im öffentlichen Dienst ist dies keineswegs selbstverständlich. Bevorzugt wurde ich jedoch zu keinem Zeitpunkt. Ich musste die gleichen Leistungen erbringen wie die anderen auch.
Aktuell bin ich in der Bezügeabrechnung für Arbeitnehmer*innen eingesetzt und für einen Buchstabenabschnitt selbst verantwortlich. Ruhige Tage kommen da nur selten vor. Nach Feierabend profitiere ich sogar noch von meinem Journalismus-Studium. Die freie Mitarbeit bei einer Zeitung ist ein schöner Ausgleich zum Hauptberuf.
Ach ja: Kaffeetrinken kann ich nur in den Pausen und Schlafen muss ich doch zu Hause. Auch ich als Beamter muss normal für mein Gehalt arbeiten. Und Steuern zahlen muss ich auch.
Es war die richtige Entscheidung, diese doch relativ unbekannte Ausbildung gemacht zu haben. Man muss das Glück packen, wenn es einem über den Weg läuft.
Aus der Arbeit des DVBS
DVBS-Mitgliederversammlung 2021 - Die Planung läuft
Von Ursula Weber
Auf der Sitzung am 29. und 30. Januar 2021 hat der Vorstand des DVBS beschlossen, die nächste Mitgliederversammlung (MV) für den 25. September 2021 einzuberufen. Auf dieser Sitzung wird auch der neue Vorstand gewählt. Die Versammlung wird in Anbetracht der Pandemieentwicklung als rein digitale Veranstaltung geplant und findet von 9:00 bis circa 15:00 Uhr statt. Das bedeutet: Sie haben als Mitglied die Möglichkeit, via Internet an den Beratungen mitzuwirken, online abzustimmen und so aktiv auf den Verlauf der Mitgliederversammlung Einfluss zu nehmen und sich an der Vorstandswahl zu beteiligen. Die Einladung mit Tagesordnung wird rechtzeitig erfolgen. Allerdings kann in diesem Jahr die MV nicht wie üblich im Rahmen der Selbsthilfetage erfolgen. Auch die Treffen der Untergliederungen können nicht stattfinden.
Da wir unsere für letztes Jahr geplanten Selbsthilfetage mit MV und Vorstandswahlen leider absagen mussten, sind auch die bereits erfolgten Nominierungen der Kandidat*innen hinfällig. Deshalb musste das Nominierungsverfahren erneut durch die Bezirks-, Fach-, Interessen- und Projektgruppen des Vereins angestoßen werden. Inzwischen haben auch schon einige Versammlungen im Rahmen einer Telefon- oder ZOOM-Videokonferenz stattgefunden. Das Nominierungsverfahren ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Noch bis Mitte Juni können Sie bei weiteren Treffen der Untergliederungen Ihr Vorschlagsrecht nutzen und weitere Kandidat*innen vorschlagen und nominieren. Nur ein ordentliches Mitglied, das von zwei Vereinsgliederungen vorgeschlagen ist, kann von der Mitgliederversammlung in den Vorstand gewählt werden.
Nach § 10 unserer Satzung muss das Verfahren drei Monate vor der Mitgliederversammlung abgeschlossen sein. Für den Sommer ist die Vorstellung der nominierten Kandidat*innen als "DVBS intern spezial" auf CD vorgesehen, die allen Mitgliedern zugehen wird.
Im September haben Sie die Chance, die Geschicke des Vereins zu steuern und Ihre Kandidat*innen digital zu wählen. Eines steht fest, der Vorstand wird sich ändern. Unser zweiter Vorsitzender Uwe Bruchmüller und die Beisitzerin Andrea Katemann werden nicht mehr kandidieren, neue Kandidat*innen werden gewählt. Beteiligen Sie sich am Verfahren - wenn noch nicht geschehen - und wirken Sie daran mit, dass auch für den DVBS das Jahr 2021 zu einem "Super-Wahljahr" wird!
Projekt agnes@work geht online
Von Savo Ivanic
Seit Kurzem ist die Webseite des DVBS-Projekts agnes@work - Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige - freigeschaltet. Unter www.agnes-at-work.de finden Interessierte in Kürze neben Projektdetails vielfältige Informationen rund um das Projektthema Arbeit 4.0 und berufliche Weiterbildung mit Seheinschränkung.
Die Seite gliedert sich aktuell in die drei Hauptbereiche "Angebote", "Wissen" und "News". Der Menüpunkt Angebote wird unter anderem Informationen über barrierefreie Weiterbildung, über Hilfen am Arbeitsplatz durch die Task-Forces und über das agnes@work Seminar- und eLearning-Angebot enthalten. "Wissen" soll zahlreiche Handreichungen wie Broschüren, Flyer, Material zu Rechtsfragen sowie Videos, nützliche Weblinks und ein Wiki bereitstellen. Unter "News" finden sich dann aktuelle Nachrichten und Infobriefe.
Die Seite ist barrierefrei und wird kontinuierlich erweitert. Das Projektteam freut sich über Ihre Rückmeldungen und Wünsche an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Bild: Das Pojektlogoe enthält im rechten Teil die Worte "Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige", im linken Teil das Akronym, in dem das @-Zeichen als stilisiertes Auge gestaltet wurde. Durch eine sich überlappende gelbe und blaue Hintergrundfläche entsteht eine neue Farbnuance.
Neues aus der DVBS-Geschäftsstelle
Von Andrea Katemann
Thomas Jarrar: Neuer Koordinator für politische Interessenvertretung
Seit dem 1. April 2021 ist Thomas Jarrar als Koordinator für politische Interessenvertretung in der DVBS-Geschäftsstelle tätig. Die Wichtigkeit, sich als Selbsthilfe-Organisation im Sinne der Mitglieder politisch aktiv einzubringen, wird u. a. beim Blick auf die zahlreichen Gebiete deutlich, bei denen sich der DVBS an Gesetzgebungsverfahren beteiligt.
So haben der DVBS und der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) beispielsweise bereits in diesem Jahr eine Stellungnahme zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 über Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen in deutsches Recht verfasst (siehe Beitrag in der Rubrik "Recht"). Stellung bezogen hat der DVBS in den letzten Jahren u. a. immer wieder zu Änderungen in den Landesgleichstellungsgesetzen, zu beruflichen Themen und zur elektronischen Akte, die mindestens für Menschen, die in juristischen oder Verwaltungsberufen arbeiten, in Bezug auf eine barrierefreie Zugänglichkeit von großer Bedeutung ist.
Bei der Vielzahl der Themen ist eine hauptamtliche Person, die sich fortwährend an der konzeptionellen Arbeit für eine vielseitige Interessenvertretung beteiligen kann, von großer Wichtigkeit. Dabei geht es einerseits um die Kommunikation der politischen Ziele des Vereines nach innen und nach außen, doch auch darum, frühzeitig zu erkennen, dass es sinnvoll ist, sich im Sinne blinder und sehbehinderter Menschen zu bestimmten Sachverhalten und/oder Prozessen zu äußern, die politisch langfristig von Bedeutung sind.
Der Vorstand und das Team der Geschäftsstelle wünschen Thomas Jarrar viel Glück und Geschick bei den für ihn neuen Herausforderungen. Sicherlich wird in einer der nächsten horus-Ausgaben noch Weiteres über Thomas Jarrar und über seine Tätigkeit zu lesen sein.
Bild: Thomas Jarrar hat dunkelblaue Augen, kurze braune Haare und einen rot-braunen Vollbart, dessen Ende etwa bis zur Höhe der Schlüsselbeine reicht. Der 31-Jährige trägt einen dunklen Hoodie und blickt Betrachtende des Portraitfotos lächelnd und direkt an. Foto: DVBS
Dank an unsere Geschäftsführerin Marianne Preis-Dewey
Der Vorstand, der Arbeitsausschuss und die Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle danken Marianne Preis-Dewey für ihre in zweieinhalb Jahren geleistete Arbeit als Geschäftsführerin des DVBS. Der Dank gilt vor allem ihrem Engagement, ehrenamtlich tätige Menschen für den Verein stärker zu vernetzen und so im Sinne der Selbsthilfe zu einem verstärkten Austausch insbesondere der Leitungsteams beigetragen zu haben.
Marianne Preis-Dewey wird die Position als Geschäftsführerin nur noch bis zum 30. Juni ausüben. Wir wünschen ihr alles Gute für bevorstehende Herausforderungen und hoffen auch nach dem 30. Juni auf ihre zahlreichen Beiträge und auf ihr Engagement im Sinne der Blinden- und Sehbehinderten-Selbsthilfe.
Seminare
Von Christian Axnick und Uwe Boysen
Ehrenamtsakademie
Bildungsarbeit
In einem Online-Seminar der DVBS-Ehrenamtsakademie ging es am 10. April um Bildungsarbeit in der Selbsthilfe. 18 Teilnehmerinnen und Teilnehmer tauschten sich darüber aus, wie die Corona-Pandemie sich auf die Seminararbeit ausgewirkt hat und welche Anforderungen daraus für die Zukunft entstehen.
Auch wenn in der letzten Zeit Präsenzveranstaltungen immer wieder abgesagt werden mussten, wurde doch betont, dass sie weiterhin wichtig bleiben. Sie eröffnen eher die Möglichkeit, den Austausch auf emotionaler und inhaltlicher Ebene zu verbinden. Daneben haben sich aber auch Telefonchats mit inhaltlichen Vorträgen bewährt - es muss nicht immer ein ausgewachsenes Seminar sein, wenn ein bestimmtes Thema bearbeitet werden soll.
Wichtig werden aber auf jeden Fall auch Online-Seminare bleiben. Im Moment ist es schwierig, allgemeine Kriterien dafür zu benennen, wann ein Seminar thematisch oder methodisch besonders fürs Online-Format geeignet ist. Hier sind Ideen und Konzepte gefordert, und ein Ergebnis vom 10. April ist, dass wir uns in nächster Zeit wieder treffen wollen, um genau diese konzeptionelle Arbeit zu beginnen.
Öffentlichkeitsarbeit
Ebenfalls im Rahmen der Ehrenamtsakademie ist für den 12. Juni 2021 ein Online-Seminar zur Öffentlichkeitsarbeit in der Selbsthilfe geplant. Es soll darum gehen, sich einen Überblick über die Mittel der Vereinskommunikation und der Außendarstellung zu verschaffen, die jeweils zur Verfügung stehen. Welche Medien werden bedient - eine Webseite, Social Media, Podcast, die Vereinszeitschrift, Newsletter - und welche Möglichkeiten gibt es, sich daran zu beteiligen? Wo ist sinnvoll ein Schwerpunkt zu setzen, und wie sollte das vorhandene Angebot ergänzt werden? Das sind einige der Leitfragen, die dort behandelt werden sollen.
Barrierefreiheit
Für den 26.6. ist ein ganztägiges Zoom-Seminar unter dem vorläufigen Titel "Erfolgreich Barrieren melden" geplant. Dabei wird es um die Web-Richtlinie zu barrierefreien Webseiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen sowie deren Umsetzung in Vorschriften der Behindertengleichstellungsgesetze gehen. Ein zentraler Punkt dieser Reform besteht in der Möglichkeit für Nutzerinnen und Nutzer, einen sog. Feedbackmechanismus in Gang zu setzen. Damit können sie der öffentlichen Stelle, die die Webseite oder mobile Anwendung verantwortet, Barrieren melden, auf die sie gestoßen sind. Aber wie läuft dieser Prozess ab? Was sollte man dabei beachten? Und was kann man tun, wenn die angesprochene Stelle nicht oder nicht adäquat reagiert? Diese Fragen wollen wir näher betrachten und soweit wie möglich klären.
Die Veranstaltung wird online auf Zoom durchgeführt und steht allen Interessierten sehbehinderten und blinden Nutzerinnen und Nutzern offen. Anmeldungen sind ab sofort in der DVBS-Geschäftsstelle bei Christian Axnick möglich.
Das ausführliche Programm steht auf www.dvbs-online.dezur Verfügung.
Seminare der Fach- und Interessengruppen
Für den Rest des Jahres sind bisher Seminare der Fachgruppe Wirtschaft und der Fachgruppe Musik im September vorgesehen, und die Seminarwoche der Gruppe Ruhestand, die im Mai ausfallen musste, soll vom 27.11. - 4.12.2021 nachgeholt werden.
Aktuelle Informationen
Nähere Informationen sind auf der DVBS-Webseite zu finden oder per Mail erhältlich. Kontakt:
Christian Axnick
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Telefon: 06421 94888-28.
Aus der blista
Viele Wege führen zum Buch - Neues aus der Deutschen Blinden-Bibliothek
Von Andrea Katemann
Seit Anfang März können Hör- und Punktschriftbücher der Deutschen Blinden-Bibliothek (DBB) über verschiedene Wege ausgeliehen werden. Man kann, wie gewohnt, die Hörerbetreuung kontaktieren, entweder telefonisch unter 06421 6060 oder per Mail unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!,und ein Buch bestellen, oder sich bei der Auswahl beraten lassen. So kann man Themengebiete oder die Lieblingsautor*innen nennen, von denen man gerne etwas erhalten will. Die entsprechenden Bücher werden dann an die angegebene Adresse geschickt.
Aber viele Nutzer*innen möchten auch selbstständig recherchieren und ihre Literatur online ausleihen. Dafür steht ihnen jetzt ein neuer Onlinekatalog und das Spezialprogramm "Blibu" für den PC zur Verfügung. Über beide Wege können Bücher nicht nur ausgesucht, sondern auch direkt bestellt werden, und es gibt jetzt auch Hörproben von ca. drei Minuten, um sich einen ersten Eindruck von der Aufsprache zu verschaffen. Bei Hörbüchern hat man zudem die Wahl, sich ein Buch auf CD per Post zuschicken zu lassen oder es direkt herunterzuladen.
Das Programm "Blibu für PC" bietet zusätzlich die Möglichkeit, Titel direkt über einen integrierten "Daisyleser" abzuspielen.
Dass es sehr wichtig ist, viele unterschiedliche Wege für die Nutzer*innen anzubieten, zeigte sich auch während der Onlineveranstaltungen, bei denen die Mitarbeiter*innen der DBB Fragen zum neuen System beantworteten. Die Vorlieben und Gewohnheiten sind da sehr unterschiedlich. "Ich nehme lieber den Onlinekatalog, das Programm "Blibu" hat sich mir spontan nicht so gut erschlossen", so lautete ein erster Eindruck. Es gab aber auch ganz andere Meinungen: "Blibu ist ein wirklich tolles Programm, und ich konnte mich sofort darin orientieren", erklärte eine andere Hörerin. Sowohl der Onlinekatalog als auch "Blibu" sind barrierefrei zugänglich. Daran kann die vollkommen unterschiedliche Wahrnehmung unserer Hörer*innen nicht liegen. Vielmehr lassen sich unterschiedliche Gewohnheiten von Nutzer*innen feststellen. Freuen sich die einen darüber, dass auf allen Internetseiten für blinde Menschen mit dem gewohnten Screenreader immer die gleichen Tastaturkürzel zur schnellen Navigation bereitstehen, empfinden die anderen Internetseiten als unübersichtlich, kleinteilig und sich stets schnell ändernd, was für diesen Personenkreis eine Herausforderung ist.
Durch eine große Systemumstellung wird es nun möglich sein, all diese unterschiedlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Doch kommen noch weitere Nutzungsmöglichkeiten hinzu. Zukünftig werden unsere Hörbücher über Daisyplayer herunterladbar sein, die die Möglichkeit einer Online-Einbindung vorsehen. Selbstverständlich ist auch eine App für das iPhone und für Systeme unter Android verfügbar, über die sich Hörbücher herunterladen und abspielen lassen. Auch lassen sich über die Apps Bücher als CD bestellen und Werke in Brailleschrift ausleihen. Somit ist es für Schüler*innen attraktiv, sich Werke für den Unterricht und für die Freizeit direkt über ihr Smartphone anzuhören. Selbstverständlich sind auch unsere Apps barrierefrei zugänglich.
Zur kostenlosen Ausleihe steht ein Hörbuchangebot von über 60000 Titeln und ein Sortiment von 11000 Titeln in Blindenschrift bereit. Das Team der DBB freut sich über alle Rückmeldungen und Anregungen.
Unser Katalog ist zu finden unter https://katalog.blista.de
Das Programm "Blibu" ist in unserem neuen Katalog unter dem Punkt Apps zu finden und lässt sich unter dem Link: https://katalog.blista.de/wp-content/uploads/setup_blibu20_marburg.exe herunterladen.
Zeichnung: Zwei hohe stilisierte Buchrücken in Blau und Grün lehnen sich nach Innen an einen gelben kleineren Band an. Links weist ein sonnenförmiges Piktogramm auf "NEU" hin.
Sechs neue Fachkräfte der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation
Von Frank Stollenwerk
Ende Januar beendeten sechs Studierende erfolgreich ihre einjährige Weiterbildung zur "Fachkraft der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation - Schwerpunkt O&M" an der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (blista). Erstmalig wurde die Weiterbildung in der einjährigen Form mit Schwerpunktwahl O&M (Orientierung und Mobilität) oder LPF (Lebenspraktische Fähigkeiten) durchgeführt. Alle Studierenden hatten sich für den Schwerpunkt O&M entschieden. In einem der Folgekurse besteht die Möglichkeit, den zweiten Schwerpunkt in etwa sechs Monaten zu ergänzen.
blista-Direktor Claus Duncker gratulierte den Studierenden zu den bestandenen Prüfungen und zur Berufswahl mit feinen Pralinen-Präsenten aus der Stadt Marburg: "Sie haben einen tollen Beruf gewählt, der sich individuell an den Bedürfnissen und Anliegen der einzelnen Menschen orientiert. Ihre Kompetenz und Fachkenntnis werden sehr gefragt sein." Bei der "kontaktlosen" Zeugnisübergabe würdigte Fachschulleiter Dr. Werner Hecker die Leistungen und das Engagement der Studierenden wie des Fachschulteams. Der grundsätzlich hohe fachliche Anspruch der Weiterbildung habe den Studierenden viel abverlangt und durch die Pandemie zusätzlich viel Flexibilität erfordert. Fortan übernähmen sie als Rehabilitationsfachkräfte in den Schulungen ihrer Klient*innen eine große Verantwortung. Dazu zähle unter Pandemiebedingungen sowohl die Einhaltung der Ausbildungsstandards wie auch der Hygieneanforderungen.
Rehabilitationsfachkräfte schulen Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Blindheit und Sehbehinderung in den Bereichen Orientierung und Mobilität (O&M) und/oder in Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF). Im Mittelpunkt steht das Ziel einer autonomen und selbstbestimmten Lebensführung.
Die Unterstützung von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung im Rahmen von Einzelschulungen biete den Fachkräften eine sinnstiftende und sehr befriedigende Tätigkeit, da der Zuwachs an Kompetenz und Autonomie der Klient*innen in der Regel eindeutig auf das eigene Handeln zurückgeführt werden könne, führte Hecker weiter aus.
Aktuell werden Fachkräfte der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation bundesweit händeringend gesucht. Dementsprechend hatten alle Absolvent*innen schon vor Abschluss der Weiterbildung ihre neuen Arbeitsverträge "in der Tasche". Sie werden nun ihre Tätigkeit in ihrem neuen Beruf an entsprechenden Einrichtungen in Berlin, Hannover, Stuttgart, Bremen, Essen und Marburg aufnehmen.
Die blista-Fachschule ist die bundesweit einzige staatlich anerkannte Fachschule für Fachkräfte der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation. Der nächste Weiterbildungskurs (in Vollzeit) hat bereits begonnen. Für Herbst 2022 ist ein weiterer Kurs geplant. Die Weiterbildung wird durch Stiftungsgelder unterstützt. Der Eigenanteil an den Teilnahmegebühren kann so auf 350 € pro Ausbildungsmonat gesenkt werden.
Ausführliche Informationen über das Berufsbild und die Weiterbildungsmöglichkeiten zur Reha-Fachkraft gibt Frank Stollenwerk, Telefon: 06421 606-173, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Bild: (v.l.n.r.): Sylvia Paproth und Kathrin Laux (Ausbilderinnen) mit den sechs Absolvent*innen Lars Dähne, Rebekka Seidel, Maria Schüller, Jeroen Teulings, Dirk Walter und Sebastian Dohrn sowie Frank Stollenwerk (blista-Abteilungsleiter Weiterbildungen Reha-Fachkraft), Dr. Werner Hecker (Ressort- und Fachschulleiter) und Christel Burghof (Ausbilderin) in einem großen Besprechungsraum. Alle tragen Masken, die Absolvent*innen halten ihre Zeugnisse in den Händen. Foto: blista
Sonderpreis des IT-Awards 2020 für Melanie Siefert
Am 10. November 2020 wurde - Corona-bedingt diesmal online - zum 14. Mal der IT-Award verliehen. Der Nachwuchswettbewerb wird jährlich vom IT-Netzwerk Nordhessen ausgerichtet und fördert herausragende Leistungen von Auszubildenden in der Informationstechnologie. Eingereicht werden die Projekte, die zur IHK-Abschlussprüfung erarbeitet worden sind. Mit Melanie Siefert wurde eine Absolventin des Zentrums für berufliche Bildung der blista ausgezeichnet. Ihr Projekt "Spezifikation und Nutzungsempfehlung von Microsoft Teams als Lern-, Informations- und Kommunikationsplattform", das sie im Rahmen ihrer Ausbildung zur Informatikkauffrau/Kauffrau für Digitalisierungsmanagement eingereicht hat, erhielt den Sonderpreis der Jury für eine besonders erwähnenswerte Leistung. Darüber berichtet Melanie Siefert im Gespräch mit Ausbildungsleiter Otfrid Altfeld.
Herzlichen Glückwunsch zum IT Award. Welche Ziele hast du mit deinem Sieger-Projekt verfolgt?
Auch während der Corona-Pandemie werden die Ausbildungen im Zentrum für berufliche Bildung weitergeführt. Das Ziel war es, mit MS Teams ein System zu testen, das auch im Lockdown für die Ausbildung im Online-Verfahren eingesetzt werden kann. Der Focus lag auf der Barrierefreiheit, damit die Auszubildenden mit Sehbehinderung und Blindheit damit auch wirklich arbeiten können. Getestet werden sollten Video- und Audiokonferenzen, eine Chat-Funktion, der Austausch von digitalen Dokumenten über eine Cloud und die Möglichkeiten zur Gestaltung von Zugriffsberechtigungen. Ich interessiere mich sehr für Themen der digitalen Forensik, deswegen war es für mich besonders spannend, das System hinsichtlich der Fragestellungen zur Datensicherheit und zum Datenschutz zu untersuchen.
Wie hat die Jury die Vergabe des Sonderpreises für dein Projekt begründet?
Die Jury war zunächst einmal offenbar überrascht, dass ein recht komplexes und - wie sie sagte - modernes Projekt von einer Person mit einer starken Sehbehinderung erarbeitet werden konnte. Es hat aber sicher auch eine Rolle gespielt, dass mein Projekt ein aktuell wirklich relevantes Thema bearbeitet hat. Außerdem hat die Jury berücksichtigt, dass meine Arbeit mit dazu beigetragen hat, dass das System seit einigen Monaten in der Ausbildung - und mittlerweile auch in anderen Bildungsangeboten - erfolgreich eingesetzt wird.
Gab es ein Preisgeld?
Der Preis war ein Bildungsgutschein über 500 Euro für IT-Fortbildungen bei einem Bildungsunternehmen in Kassel, das Weiterbildungen vom Projektmanagement bis zu Datenbanken und Cloud-Computing anbietet. Ziemlich interessant.
Was hast du damit vor?
Ich lasse mir noch ein bisschen Zeit und entscheide, wenn ich weiß, welche Anforderungen meine zukünftigen Arbeitgeber stellen. Dann werde ich eine passende Fortbildung für mich heraussuchen, um besser in den Job hineinzukommen.
Die Teilnahme am Award steht am Abschluss deiner Ausbildung zur Informatikkauffrau. Warum hast du diesen Beruf ausgewählt?
Ich finde das Berufsbild abwechslungsreich und spannend. Weil ich sowohl die IT als auch den kaufmännischen Bereich in der Ausbildung kennengelernt habe, bin ich vielseitig einsetzbar und kann zwischen den beiden Welten vermitteln. Das ist gerade heute wichtig: Die Unternehmen digitalisieren sich immer stärker, aber die ITler verstehen die Kaufleute oft nicht - und umgekehrt. Deswegen ist mein Wunschjob, hier dafür zu sorgen, dass die Kommunikation funktioniert, damit alle verstehen, dass und wie die Digitalisierung funktioniert. Davon hat das Unternehmen etwas - und ich einen spannenden Job.
Nähere Infos zu den Ausbildungen und Umschulungen des "Zentrum für berufliche Bildung" (ZBB) der blista finden Sie unter www.blista.de/ausbildungen-und-umschulungen
Bild: Melanie Siefert zeigt lächelnd ihre Urkunde des IT-Netzwerk e. V. Kassel über ihre Nominierung beim Berufsschulwettbewerb "IT-Award 2020". Vor ihr liegt die Computertastatur. Foto: blista
Gemeinsam häkeln und stricken für mehr Kontraste
"Pollermützen"-Mitmachaktion rund um den Sehbehindertentag am 6. Juni 2021
Von Thorsten Büchner
Unangenehme Begegnungen mit schlecht kontrastierenden Straßenpollern und Warnschranken hat wohl jeder Mensch mit Sehbehinderung - und vielleicht auch verträumte Passant*innen ohne Seheinschränkung - schon einmal erlebt. Poller dienen als sinnvolle Begrenzung von Plätzen, können aber zu lästigen Hindernissen werden, wenn sie nicht ordnungsgemäß rot-weiß-gestreift und so für alle gut wahrnehmbar sind.
Dieses Thema greift die blista auf und beteiligt sich zum 6. Juni 2021 anlässlich des bundesweiten Sehbehindertentags an einer kreativen und öffentlichkeitswirksamen Sensibilisierungs- und Aufklärungsaktion gemeinsam mit dem Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) sowie dem Blinden- und Sehbehindertenbund in Hessen (BSBH). Graue, rostige und anderweitig schlecht kontrastierende Poller im Marburger Stadtzentrum sollen rot-weiß-gestreifte "Pollermützen" verpasst bekommen.
Dafür wird im Vorfeld auf dem blistaCampus fleißig gehäkelt, gestrickt und kooperiert. Wer weder stricken noch häkeln mag, der kann gern mittun und Bommeln basteln.
Damit genügend rot-weiße Pollermützen samt Bommel zustande kommen, freut sich die blista-Öffentlichkeitsarbeit über viele strickende und häkelnde Hände! Die handgefertigten "Pollermützen" können bei uns abgegeben werden.
#PollerRotWeiß
Damit am Aktionstag, dem Sehbehindertentag am 6. Juni, die vorüberziehenden Passant*innen verstehen, was es mit den rot-weißen "Pollermützen" auf sich hat, werden Infozettel auf die Bedeutung von guten Kontrasten im öffentlichen Raum hinweisen. Zurück geht diese tolle Idee auf den Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg, der diese Aktion bereits im letzten Oktober erfolgreich durchgeführt hat. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) bittet dieses Jahr alle Organisationen aus der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe, sich an dieser bundesweiten Aktion zu beteiligen. Die blista und der DVBS sind da natürlich mit von der Partie.
In der Universitätsstadt Marburg wird das Thema Barrierefreiheit im öffentlichen Raum bereits großgeschrieben. In enger Zusammenarbeit mit dem Behindertenbeirat legt die Stadt viel Wert auf sehbehinderten- und blindengerechte Verkehrsraumgestaltung. Auch für die Hinweise aus der Reha-Fachschule der blista hat die Stadt ein offenes Ohr, und so ist es erfreulicherweise nicht ganz einfach, mangelhaft markierte Poller zu entdecken. Insofern freut sich die blista-Öffentlichkeitsarbeit auch über alle Tipps und Hinweise, wo sich in Marburg Poller verstecken, die dringend eine rot-weiß-gestreifte "Pollermütze" vertragen könnten.
Häkel- und Strickanleitungen
Schulklassen, AGs und Handarbeitskundige, die sich gerne häkelnd und strickend an dieser Mitmachaktion beteiligen möchten, finden auf der DBSV-Webseite entsprechende Anleitungen, auch für die Herstellung der obligatorischen Bommel: dbsv.org/sehbehindertentag.html
Bücher
Hörbuchtipps aus der blista
Von Thorsten Büchner
Catrin George Ponciano: Leiser Tod in Lissabon
Emons, Köln, 2020. Bestellnummer: 1471601, Laufzeit: 9 Std. 15 Min.
Der Hitzesommer hat Portugals Hauptstadt fest im Griff, als ein Toter in der Kirche Sao Miguel im malerischen Altstadtviertel Alfama gefunden wird. Inspetora-Chefe Dora Monteiro erkennt auf den ersten Blick, dass der Mord nicht zufällig genau an dieser Stelle geschah. Ein vergilbtes Foto führt sie auf die Fährte eines mächtigen, aber seit Jahrzehnten tot geglaubten Mannes. Ist er der Mörder? Je weiter Dora ermittelt, desto tiefer gerät sie in ein gefährliches Netz aus alten Seilschaften, die weit in die Geschichte Lissabons zurückreichen ...
Anna Fifield: Kim. Nordkoreas Diktator aus der Nähe
Edition Körber, Hamburg, 2020. Bestellnummer: 1463941, Laufzeit: 13 Std.
Ist Kim Jong-un die Karikatur eines Staatenlenkers mit seltsamer Frisur und exzentrischen Vorlieben? Ein unkalkulierbarer Tyrann, Herr über 25 Millionen geknechtete Untertanen und die Atombombe? Oder ein schlauer Machtpolitiker, der sein erstarrtes Land vorsichtig reformiert? Anna Fifield gelingt eine faszinierende Nahaufnahme von Nordkoreas Diktator.
Carel van Schaik und Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern
Rowohlt, Hamburg, 2020. Bestellnummer: 1434671, Laufzeit: 25 Std. 03 Min.
Die Autoren erklären, wie es menschheitsgeschichtlich zu der Rollenverteilung von Mann und Frau gekommen ist, wieso sich die Diskriminierung so hartnäckig halten konnte und warum es uns selbst heute noch so schwerfällt, die Situation realistisch zu analysieren, geschweige denn zu verändern. Und sie zeigen, wie sehr die beiden großen prägenden Faktoren unserer Entwicklungsgeschichte, die Sesshaftigkeit und die Religion, dazu geführt haben, dass Frauen das beherrschte Geschlecht wurden.
Hörbücher zum Schwerpunkt "Kinder, Kinder"
Michaela Schonhöft: Kindheiten. Wie kleine Menschen in anderen Ländern groß werden
Pattloch, München, 2013. Bestellnummer: 753261, Laufzeit: 12 Std. 36 Min.
Die weitgereiste Soziologin und Journalistin erzählt, wie Erziehung in anderen Ländern und Kulturkreisen funktioniert. Weltweit teilen Eltern den Wunsch nach Glück für ihre Kinder, was Glück ist und wie es zu erreichen ist, definieren sie jedoch unterschiedlich. Das Buch belegt, dass es Kindern dort am besten geht, wo statt hohem Erwartungsdruck Gelassenheit herrscht und Erziehung nicht als Privatsache, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet wird.
Sandra Schulz: Das ganze Kind hat so viele Fehler. Die Geschichte einer Entscheidung aus Liebe
Rowohlt Polaris, Reinbek, 2017. Bestellnummer: 832301, Laufzeit: 6 Std. 20 Min.
Wie fast jede werdende Mutter nutzte auch die Journalistin Sandra Schulz alle Möglichkeiten, die ihr, der mit 39 Jahren Spätgebärenden, die Pränataldiagnostik bietet. Und wie jede hoffte sie auf ein gutes, sogenanntes unauffälliges Ergebnis. Doch leider kam es anders als erwartet: "Das ganze Kind hat so viele Fehler", weitere Erkrankungen neben dem Down-Syndrom. Vom Tag der Diagnose bis zum zweiten Lebensjahr ihrer Tochter schreibt Schulz Tagebuch. Emotional berührend und schonungslos offen erzählt sie von ihrer schwierigen Schwangerschaft, den ambivalenten Gefühlen, den aufflackernden Hoffnungen, vor allem von dem dramatischen Konflikt: Abbruch ja oder nein.
Aus der Braille-Druckerei: Heitere und ernste Bücher für Kinder und Erwachsene
Von Wencke Gemril und Jochen Schäfer
Passend zum Schwerpunkt stellen wir heute einige Bücher für Kinder, aber auch für Erwachsene vor, und wie man sieht, gibt es diesmal nicht nur heitere, sondern auch ernste Lektüretipps.
Martin Ebbertz: Ein Esel ist ein Zebra ohne Streifen
Der Untertitel des Buches lautet "Onkel Theo erzählt 44 fast wahre Geschichten" und sagt schon einiges über den Inhalt aus: Von diesen Geschichten ist eine verrückter und unglaubwürdiger als die andere. Dabei ist der Ablauf der Rahmenhandlung immer gleich. Zu Beginn kündigt Onkel Theo an, dass die Kinder heute mal wieder etwas lernen werden, sie setzen sich auf sein grünes Sofa und spitzen die Ohren. Mitten in der Geschichte stellt er den Kindern eine Frage, sie schütteln den Kopf, er liefert tolle Erklärungen, und am Ende der Geschichte rufen die Kinder lachend "So ein Quatsch!" Er ist beleidigt, lässt sich dann aber doch dazu überreden, vielleicht ein anderes Mal wieder etwas zu erzählen. Es sind gerade diese "Quatschgeschichten", die sich Onkel Theo immer wieder einfallen lässt, die für Spannung sorgen und zum Weiterlesen und Fantasieren einladen. Eine leichte Sommerlektüre für eine unterhaltsame Zeit. (Bestellnummer: 4933)
Hannah Reuter: Blind mit Kind
Dieses Buch ist im Verlag w_orten & meer am 1.2.2021 erschienen und jetzt auch als einbändiges Kurzschrift- bzw. zweibändiges Vollschriftbuch bei der blista unter der Bestellnummer 4998 erhältlich.
Die Autorin ist blind und lebt mit ihrem ebenfalls blinden Mann, ihrer sehenden 5-jährigen Tochter und ihrer Führhündin in Berlin. Sie erzählt mit Tiefgang, Humor und Selbstironie davon, was es bedeutet, blind zu sein und ein Kind zu haben - in einer Gesellschaft, die stark über Sehen funktioniert. Fremdzuschreibungen, die eine Person auf ihre Blindheit reduzieren, werden so wundernd bemerkt und gleichzeitig freundlich hinterfragt. Ob auf dem Spielplatz, im Straßenverkehr, beim Malen oder Verkleiden, auf Reisen oder Zuhause - in einer unterhaltsamen und sprachgewandten Weise veranschaulichen die Anekdoten dieses Buches die Herausforderungen im (von außen) behinderten Alltag mit Kind.
Ralph Caspers: Wenn Papa tot ist, muss er dann sterben?: Wie wir Kindern in Trauer helfen können.
Der Autor, u.a. bekannt aus der "Sendung mit der Maus", ist Schirmherr von "TrauBe Köln e.V.". Der Verein hilft Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ihre Trauer zu bewältigen; Caspers hat selbst im Teenageralter seinen Vater verloren.
Sein Buch erschien 2020 bei Bastei Lübbe und ist jetzt auch bei der blista als zweibändiges Voll- bzw. Kurzschriftbuch erhältlich (Bestellnummer 4957). Das dreiteilige Nachschlagewerk bietet Antworten und Tipps bei Verlusterlebnissen und in Trauersituationen. Caspers geht dabei auf verschiedene Beziehungssituationen ein, etwa wenn ein Elternteil verstorben ist, beide Elternteile, Oma oder Opa, Onkel oder Tante, Erzieher oder Lehrer, ein Kindergartenfreund, ein Schulfreund oder ein Haustier. Zu den unterschiedlichen Beziehungen gibt es jeweils für verschiedene Altersstufen Vorschläge von Antworten auf einige Fragen. So kann man gezielt die gerade wichtigen Informationen finden.
Dieses Sachbuch ist nicht nur für Eltern, Lehrer*innen und Erzieher*innen eine empfehlenswerte Lektüre. Themen wie Tod, Sterben und Trauer werden oft tabuisiert und verdrängt, obwohl jeder im Laufe seines Lebens damit früher oder später konfrontiert wird. Das Buch liefert viele Ansätze und Vorschläge für die Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen, aber es geht auch um die trauernden Erwachsenen und darum, wie sie mit ihrer Trauer umgehen und die neuen Herausforderungen besser bewältigen können.
Alle vorgestellten Bücher können bestellt werden bei:
Deutsche Blindenstudienanstalt e.V.
Am Schlag 2-12
35037 Marburg
Telefon: 06421 606-0
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
oder über unseren neu gestalteten, barrierefreien Online-Katalog unter https://katalog.blista.de
Panorama
Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen beschlossen
Am 3. März 2021 hat die Bundesregierung nach 2013 und 2017 zum dritten Mal einen Teilhabebericht über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen vorgelegt. Der Bericht zeigt ein differenziertes Bild. Demnach haben mehr Menschen mit Schwerbehinderung eine Arbeit, es gibt weniger Barrieren in Bus und Bahn und die Wahlbeteiligung steigt.
Neben den Fortschritten an wichtigen Stellen gibt es aber auch Bereiche, in denen die Entwicklung stagniert oder sogar rückläufig ist. So ist die Zahl der Auszubildenden mit anerkannter Schwerbehinderung zwar gestiegen, doch sie bleibt insgesamt weiter sehr niedrig. Der Bericht lenkt den Blick auf aktuelle Problemlagen: Einsamkeit und Isolation sowie spezifische Teilhaberisiken von Menschen mit Beeinträchtigungen unter Corona-Bedingungen. Menschen mit Beeinträchtigungen beurteilen ihren Gesundheitszustand häufig negativer und ihre soziale Teilhabe bleibt weiter eingeschränkt. Vor allem in der Corona-Pandemie haben sich diese Einschätzungen gefestigt.
Die Teilhabeberichte der Bundesregierung ermöglichen es, Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu beurteilen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen weiter zu verbessern. In dieser Legislaturperiode hat die Bundesregierung zum Beispiel mit dem Budget für Ausbildung und dem Budget für Arbeit die Chancen für Menschen mit Behinderungen ausgebaut, auf dem regulären Ausbildungs- und Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das Kabinett hat den Bericht nun beschlossen. Dabei ist auch in dem aktuellen Bericht die Expertise von Menschen mit Behinderungen eingeflossen: Drei der neun Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates wurden vom Deutschen Behindertenrat benannt.
Homeschooling für Lernende mit Behinderungen
Beim Homeschooling haben schon viele Schülerinnen und Schüler ohne Behinderungen Probleme. Für Lernende mit Behinderungen werden die Dinge noch viel schwerer, wie eine Umfrage des DBSV-Sozialreferats zeigt.
Die Fragen betrafen Lernplattformen, Lernmedien, Betreuung und Kontakt mit Lehrkräften und anderem Personal im Bildungsbereich. Die 33 Antworten kamen von Schülerinnen und Schülern bzw. deren Eltern, manche mit mehrfacher Behinderung, an allgemeinen Schulen und Förderschulen, Studierenden sowie Lehrenden.
Hierzu wurden u.a. folgende positive und problematische Punkte genannt: Homeschooling und digitales Lernen sind für Lernende mit mehrfachen Einschränkungen ungeeignet. In der Regel ist für sie die Bedienung von Lernplattformen nicht möglich; sie brauchen direkten Kontakt, Ansprache und Rückmeldungen. In den meisten Fällen sind ihre Eltern damit allein gelassen und fühlen sich am Rande eines Zusammenbruchs.
Für manche Lernende bringt digitales Homeschooling aber auch Vorteile: Sie können sich Lernstoff und Aufgaben im eigenen Tempo aneignen, die Möglichkeiten von Hilfsmitteln optimal nutzen und mit ihnen und entsprechenden Strategien, die sie sich erarbeitet haben, ihrem Sehvermögen angemessen arbeiten.
Je besser das Sehvermögen, umso weniger sind Lernende auf barrierefreie Plattformen und Medien angewiesen. So wird dieselbe Lern- oder Konferenzplattform von verschiedenen Personen als unterschiedlich gut nutzbar eingeschätzt. Als nutzbare Konferenzplattformen werden genannt: Zoom, Teams (mit Einschränkung), Big Blue Button, Telefonkonferenz, Skype oder Jitsi (mit vielen Einschränkungen). Viele Lernplattformen der Bundesländer werden als schlecht nutzbar betrachtet - etwa Lernsax (Sachsen), Lernraum (Berlin), der hessische Schulserver sowie die Software WebUntis. Als nutzbar bezeichnet wird dagegen die niedersächsische Bildungscloud. Ein eigener Schulserver oder die Übersendung von Unterrichtsmaterial per Mail klappen gut. Ein Problem ist, dass Lernende sich mit vielen verschiedenen Programmen vertraut machen und jeweils viele Shortcuts lernen müssen.
Blinde Schülerinnen und Schüler, die auf barrierefreie Dokumente angewiesen sind, haben mehr Schwierigkeiten, weil Dateien nicht zugänglich oder Texte schlecht abfotografiert sind. Insgesamt spielt personelle Unterstützung eine große Rolle, die aber nicht allen zur Verfügung steht.
(Nach einer Meldung aus "Sichtweisen", April 2021)
Neue Audio-Angebote der PRO RETINA: Infocast und Podcast
Seit Januar sind zwei neue bzw. neugestaltete Audioangebote der PRO RETINA zu hören:
Zusätzlich zum Newsletter "PRO RETINA News" mit aktuellen Informationen zu Netzhautdegenerationen aus Wissenschaft und Forschung gibt es nun auch eine Hörfassung des Forschungsnewsletters mit dem Titel "Forschung heute - der PRO RETINA-Infocast". Der Infocast erscheint unregelmäßig, anlassbezogen und zeitnah zum versendeten Newsletter.
Jeden 2. Sonntag erscheint außerdem der PRO RETINA Podcast "Blind verstehen" des Arbeitskreises "Social Media". Er liefert interessante Tipps, unter anderem zu Hilfsmitteln und (neuer) Technik, aber auch Erfahrungsberichte und vieles mehr für Betroffene und Interessierte - ganz nach dem PRO RETINA-Motto "Forschung fördern - Krankheit bewältigen - selbstbestimmt leben".
Infocast und Podcast sind zum An- und Nachhören auf allen gängigen Plattformen wie Spotify und iTunes zu hören sowie auf der PRO RETINA-Webseite unter https://www.pro-retina.de/oeffentlichkeitsarbeit-aufklaerung/podcasts. Unter dem Link der PRO RETINA finden Sie auch nähere Infos und einen Audio-Teaser zu Infocast und Podcast.
Verzeichnis der Reha- und Teilhabeforschenden 2021: REHADAT veröffentlicht neue Ausgabe
Von Anja Brockhagen
REHADAT hat das aktuelle Verzeichnis der "Rehabilitations- und Teilhabeforschenden - Akteure und Themen in Deutschland 2021" zum Download bereitgestellt. Das Verzeichnis informiert darüber, welche Personen zu welchen Themen der Rehabilitation, Teilhabe und Inklusion in Deutschland forschen. Neben klassischen Fragestellungen zur Rehabilitation und Teilhabe bearbeiten die Forschenden auch aktuell besonders bedeutsame Themen wie die COVID-19-Pandemie und die voranschreitende Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt sowie spezifische berufsbezogene Themen wie berufliche Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Gesundheitsmanagement und gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung, betriebliche Inklusion und Return to Work.
Das Verzeichnis wird jährlich zum Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium herausgegeben von REHADAT, der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation und der Deutschen Rentenversicherung Bund. REHADAT ist ein Projekt des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln e. V., gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) aus dem Ausgleichsfonds und bietet unabhängige Informationen zur beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Die Informationen richten sich an Betroffene und alle, die sich für ihre berufliche Teilhabe einsetzen. Sämtliche Angebote sind barrierefrei und kostenlos zugänglich.
Die nun 29. Auflage des Verzeichnisses steht im Portal REHADAT-Forschung als PDF-Download bereit: www.rehadat-forschung.de/forschende/reha-teilhabeforschende. Hier finden Sie auch die Übersicht der Forschenden sowie den Online-Meldebogen, wenn Sie sich in das Verzeichnis und in REHADAT aufnehmen lassen möchten.
Inklusive Strukturen und Rahmenbedingungen für Promovierende mit Behinderungen an Hochschulen
PROMI - ein Projekt der Universität zu Köln präsentiert Good Practice Beispiele
Eine wichtige Zielsetzung des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten Projektes ist es, auf Hochschulebene nachhaltig inklusive Strukturen für Promovierende und Wissenschaftler*innen mit Behinderungen zu etablieren. Dafür sind Veränderungen an verschiedenen Stellen und auf verschiedenen Ebenen nötig. Einige Hochschulen haben hier bereits gute Lösungen gefunden. Die Good Practice Sammlung stellt Projekte, Angebote und Initiativen dar, die zur Entwicklung inklusiverer Rahmenbedingungen für Promovierende und Wissenschaftler*innen mit Behinderungen an Hochschulen beitragen.
Die Sammlung ist derzeit in neun Themenbereichen gegliedert und enthält Aspekte, die sich bei der Umsetzung des PROMI-Projektes als relevant erwiesen haben. Hierzu gehören etwa die Themen Unterstützung und Förderung durch Graduierteneinrichtungen, Finanzierung von Qualifizierungsstellen, Peer Counseling und Mentoring-Angebote.
Die Good Practice Beispiele sollen unterstützen, dass Hochschulen und weitere relevante Akteur*innen auf anwendungsbezogener Ebene voneinander lernen und gegenseitig von positiven Erfahrungen profitieren können.
Haben Sie ein Good Practice Beispiel, das die Sammlung ergänzen könnte? Fehlt aus Ihrer Sicht ein wichtiges Oberthema? Das Projektteam freut sich über Zusendungen.
Kontakt: Universität zu Köln
Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation
Herbert-Lewin-Straße 2
50931 Köln
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Save the Date! Deutscher Hörfilmpreis 2021: Hybride Preisverleihung im Livestream am 16. Juni 2021
Vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband
Bereits zum 19. Mal wird am Mittwoch, dem 16. Juni, der Deutsche Hörfilmpreis verliehen. Aufgrund der Corona-Pandemie wird die Preisverleihung als hybride Gala im Livestream zu sehen sein, so dass alle Hörfilmfans dabei sein können.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) wird die diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträger feiern, erneut tatkräftig unterstützt von Moderator Steven Gätjen, der live durch die Preisverleihung führen wird. Mit dem Preis, der in Anlehnung an den Begriff Audiodeskription (AD) auch "Adele" genannt wird, zeichnet eine hochkarätig besetzte Jury herausragende Hörfilmproduktionen in den fünf Kategorien Kino, TV/Mediatheken/Streamingdienste, Dokumentation, Filmerbe und Kinder-/Jugendfilm aus.
"Wir freuen uns, den besten Hörfilmen des Jahres die verdiente Anerkennung zukommen zu lassen und auf diese Weise zu unterstreichen, wie wichtig gerade jetzt Teilhabe und Barrierefreiheit im kulturellen Bereich für blinde und sehbehinderte Menschen sind. Audiodeskriptionen im Allgemeinen und insbesondere Hörfilme haben in Lockdown-Zeiten für viele von uns einen noch höheren Stellenwert eingenommen", so DBSV-Präsident Klaus Hahn.
Hörfilme ermöglichen es blinden und sehbehinderten Menschen, Filme als Ganzes wahrzunehmen und zu genießen. Diese Filme sind mit einer Audiodeskription (AD) versehen, die in knappen Worten zentrale Elemente der Handlung sowie Gestik, Mimik und Dekor beschreibt. Diese Bildbeschreibungen werden in den Dialogpausen eingesprochen.
Der Deutsche Hörfilmpreis 2021 wird von der Aktion Mensch unterstützt. Hauptsponsoren sind Pfizer Deutschland und Novartis Pharma GmbH.
Die Übersicht aller nominierten Produktionen, weitere Informationen und der Livestream am 16. Juni sind zugänglich unter www.deutscher-hoerfilmpreis.de
"Anerkennung und Hilfe" verlängert Frist
Die Anmeldefrist zum Erhalt von Leistungen der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" wurde bis zum 30. Juni dieses Jahres verlängert. Die von Bund, Ländern und Kirchen errichtete Stiftung zahlt Geld an Menschen, die in den Jahren 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) als Kinder in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben.
Außerdem wird die Bearbeitungszeit in den Anlauf- und Beratungsstellen bis zum 31. Dezember 2022 verlängert und das Stiftungsvermögen um rund 17,5 Millionen Euro auf insgesamt mehr als 305 Millionen Euro aufgestockt. Die vorgenommenen Anpassungen sollen sicherstellen, dass alle Anmeldungen, die innerhalb des verlängerten Anmeldezeitraums erfolgen, geprüft und bearbeitet werden, und alle Berechtigten, die sich bis zum 30. Juni melden, Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen bekommen. Für eine Anmeldung bei der Anlauf- und Beratungsstelle genügt ein Anruf oder eine E-Mail.
Beratungsstellen der Stiftung gibt es in allen 16 Bundesländern. Mehr Infos gibt es unter der kostenfreien Telefonnummer 0800 221 2218 (Sprechzeiten Montag bis Donnerstag von 8 bis 20 Uhr), im Internet unter www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de
SSG-Goalballer erhalten Zusage für die Ausrichtung der ersten Damenmeisterschaft
Am 23. Oktober 2021 ist es soweit
Schon seit Oktober letzten Jahres können die Goalballerinnen und Goalballer der SSG Blista Marburg e. V. nicht mehr gemeinsam trainieren. Stattdessen halten sich die Athletinnen und Athleten durch Homeworkouts und Cybertraining allein und digital untereinander fit.
Für einen neuen Motivationsschub, insbesondere bei der Damenmannschaft des aktuellen Vize-Meisters, sorgte nun die Meldung, dass die SSG die erste Auflage der Goalball Damenmeisterschaft ausrichten darf. Mit der Damenmeisterschaft wird nunmehr erstmals in der jungen Geschichte des deutschen Goalballs ein reiner Meisterschaftswettbewerb für Frauen geschaffen. Nachdem sich die Begeisterung für Goalball in der Vergangenheit stetig weiterentwickelt hat, ist die Damenmeisterschaft ein weiterer, nächster großer Schritt in Richtung Professionalität.
Die erste Auflage der Damenmeisterschaft wird am 23. Oktober 2021 in der großen Sporthalle der Carl-Strehl-Schule (blista) stattfinden. "Als Vorsitzender der SSG Blista Marburg freut es mich ganz besonders, dass es uns gelungen ist, die erste deutsche Damenmeisterschaft nach Marburg geholt zu haben, insbesondere weil es in Marburg schon über Jahrzehnte immer wieder erfolgreiche Spielerinnen gegeben hat, die den Sport national wie auch international vorangebracht haben", sagt Dr. Michael Richter.
So bestand die Damen-Nationalmannschaft bei der Goalball-Europameisterschaft 2019 nur aus SSG-Spielerinnen. Damals sicherte sich das Team um die Bundesliga-Torschützenkönigin Charlotte Hartz überraschend die Bronze-Medaille.
Auch Trainer Lucas Daniel freut sich auf das Event an der Lahn: "Das Trainerteam und unsere Mädels sind heiß darauf, ihr Können in eigener Halle zeigen zu können."
Die paralympische Mannschaftssportart Goalball ist weltweit die beliebteste Ballsportart für Menschen mit einer Sehbehinderung. Gespielt wird dabei auf einem 9 x 18 m großen Spielfeld. Das Tor erstreckt sich dabei über die ganze Spielfeldbreite und ist 1,30 m hoch. Die Spieler*innen tragen lichtundurchlässige Brillen und versuchen dabei, den 1,25 kg schweren Klingelball mit ihrer Körperlänge abzuwehren. Die Orientierung funktioniert mittels Kommunikation und fühlbarer Linien auf dem Spielfeld. Ein Spiel besteht aus zwei Halbzeiten à 12 Minuten. Dadurch, dass jede Mannschaft für einen Spielzug nur zehn Sekunden Zeit hat, entwickelt sich für Zuschauende ein dynamisches Spiel, bei dem der Ball Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 80 km/h erreicht.
SightCity 2021 mit interaktiven Präsentationen online - Präsenzveranstaltung erst wieder 2022
Aufgrund der anhaltenden Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie war in diesem Jahr nur eine Online-Messe möglich. Die SightCity Frankfurt ist als Präsenzmesse wieder im Jahr 2022 im Hotel Kap Europa in Frankfurt a. M. vorgesehen.
In diesem Jahr wurde auf der SightCity-Homepage www.sightcity.net eine kostenlose digitale Plattform eingerichtet. An den Messetagen 19.-21. Mai 2021 erwarteten die Besucher*innen hier eine interaktive Präsentation der Produkte, Dienstleistungen und Innovationen. Auch das SightCity Forum fand interaktiv statt. Anschließend war das Online-Angebot mit allen Inhalten bis 26.05.2021 verfügbar.
Schwangerschaftstest mit fühlbarem Ergebnis
Das britische Royal National Institute for the Blind (RNIB) hat mithilfe von 3-D-Druck einen taktilen Schwangerschaftstest entwickelt, der blinden Frauen helfen soll, ihren Schwangerschaftstest allein lesen zu können. Bislang ist der Test noch ein Prototyp: groß, hell und in kontrastreichen Farben gestaltet. Ein positives Ergebnis zeigt der Test mittels Unebenheiten an. Die Idee entstand als Teil der Kampagne "Design For Everyone" (Design für alle) des RNIB.
Leserbriefe
Ihre Meinung ist uns wichtig! Leserbriefe geben ausschließlich Ihre Ansicht als Verfasser*in wieder und stimmen mit der Meinung der Redaktion nicht unbedingt überein. Briefe an die Redaktion erreichen uns per E-Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Zu: Dr. Michael Richter: Phänomen oder Pflegefall, horus 1/2021 S. 28-31.
Offener Brief von Wolfgang Ferber an Herrn Dr. Michael Richter - Eine Replik
Sehr geehrter Herr Dr. Richter, lieber Kollege,
ich schreibe Ihnen als ebenfalls blinder Jurist und mithin Kollege diesen offenen Brief, da ich bei der Lektüre Ihres oben genannten Artikels doch ein erhebliches Unwohlsein und Unbehagen verspürte. Die Gründe hierfür waren schnell gefunden; ich möchte sie Ihnen und der Leserschaft des horus im Folgenden erläutern.
Sie gehen in Ihrem Artikel selbstverständlich zurecht davon aus, dass Menschen miteinander agieren und interagieren; ferner auch, dass die Wahrnehmung sehender Menschen von Blinden durchaus von gewissen Vorurteilen geprägt ist, die oftmals stark von Unsicherheit, auch Angst sowie von Vorstellungen von blinden Menschen geprägt ist, die eher unterschätzen. Auch das Gefühl des Mitleids, aber selbstverständlich auch der Neugierde und Empathie bei sehenden Menschen sollte nicht unterschätzt werden; schließlich wird kaum ein Sehender freiwillig blind werden wollen, und Blindheit wird einfach zumeist in einer negativen Art und Weise betrachtet und auch metaphorisch verwendet. Wer einmal darauf achtet, wie häufig dies geschieht, wird sich leider wundern und wie ich auch ärgern müssen. Nicht zuletzt ist selbstverständlich zutreffend, dass unsere Umwelt auch bei Blinden (bei denen das eigentlich gar nicht unbedingt nahe liegt) trotz der Blindheit auf Äußerlichkeiten achtet, Mimik, Gestik etc.
Allerdings kommen wir hier schnell zum Ende unserer gemeinsamen Auffassungen. Denn mir ist es absolut fremd, mit meinem Auftreten und den leicht zu beeinflussenden Äußerlichkeiten jemanden zu manipulieren, hinters Licht zu führen, zu täuschen oder vorzuspiegeln, jemand anderer zu sein als der, der ich nun einmal bin. Ebenso wenig möchte ich selbst manipuliert und getäuscht werden. Denn in jeder Manipulation steckt nicht nur eine Überheblichkeit, die denjenigen erhebt und überhebt, der manipuliert, gegenüber demjenigen, der manipuliert wird. Das alleine wäre kritikwürdig genug. Mehr noch jedoch steckt in jeder Manipulation auch eine Täuschung, letztlich auch eine Unwahrheit, die so, wie Sie sie beschreiben, sogar vollkommen bewusst, also vorsätzlich herbeigeführt wird, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Hier würde ich von dolus directus ersten Grades ausgehen, da es Ihnen gerade auf diesen Erfolg der Täuschung ankommt.
Darin sehe ich jedoch eine Gefahr für etwas, was wir im Zusammenleben auf allen Ebenen und in jeder Hinsicht brauchen, nämlich Vertrauen. Sei es das Vertrauen darin, dass Vereinbarungen oder Verträge eingehalten werden, dass man normalerweise nicht angelogen oder getäuscht wird, ferner das Vertrauen, in ein Taxi oder einen Zug zu steigen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob der Fahrer oder die Fahrerin tatsächlich dazu in der Lage ist etc.
Auch im juristischen Bereich ist Vertrauen die Grundlage dafür, dass ein Zusammenleben überhaupt möglich ist. Im Zivilrecht kennt man den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB, nach dem z.B. jemand nicht zunächst ein Vertrauen schaffen kann, um es dann hinterher zu missbrauchen (venire contra factum proprium) oder zu brechen. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass man sich sicher sein können soll und muss, dass die hingestreckte Hand die zum Gruß ist und nicht die Hand, die einen ohne Gruß oder sofort nach dem Händeschütteln niederschlägt. Beachtlich dabei ist auch die sprachliche Herkunft von trauen bzw. vertrauen, die naheliegend die Gleiche ist wie die in Treu = Treu und Glauben bzw. auch natürlich die der Untreue.
Darüber hinaus schützt etwa das Verwaltungsverfahrensrecht denjenigen, der von der Verwaltung eine begünstigende Entscheidung erhalten hat, in besonderem Maße davor, dass diese Entscheidung wieder geändert oder aufgehoben wird. Dies ist aufgrund des geschaffenen Vertrauens des Betroffenen zu Recht nur in deutlich eingeschränktem Maße möglich.
Auch die Gründe für eine Wiederaufnahme eines Verwaltungsverfahrens nach Bestandskraft bzw. von richterlichen Entscheidungen nach ihrer Bestandskraft ist nur in engen Ausnahmefällen möglich, weil der Rechtsverkehr auf die Verlässlichkeit und den Bestand dieser Entscheidungen vertrauen können muss.
Auch im Strafrecht schließlich ist an vielen Stellen das Vertrauen Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Bruch eben dieses Konsenses strafbar. So z.B. im Tatbestand der Untreue, aber auch dem Betrug. Bei letzterem täuscht jemand einen anderen, der sich daraufhin irrt, der dann eine Verschiebung seines Vermögens vornimmt, also zahlt und dadurch einen finanziellen Schaden erleidet. Meist bereichert sich dadurch der Täuschende = der Betrüger.
Nun sehe ich zu Ihrem manipulativen Vorgehen, eine unzutreffende Vorstellung bei Ihren Mitmenschen hervorzurufen, durchaus Parallelen. Im Grunde ähnelt dieses Vorgehen stark dem eines Betrügers, rufen Sie doch durch Ihr Verhalten eine Täuschung bei Ihrer Umwelt hervor, wenn Sie absichtlich gegen Stühle laufen, sich gerade nicht kleiden wie man es als Anwalt zu tun pflegt etc. Das erzeugt bei den Menschen Ihrer Umwelt einen Irrtum, mit der Folge, dass diese Mitmenschen sich unzutreffende Vorstellungen von Ihnen als blindem Menschen machen, möglicherweise auch darüber hinaus von Blinden überhaupt. Es kommt dann allerdings zwar nicht zu einer Verschiebung von Vermögen wie beim Betrug, jedoch durchaus zu einer emotionalen Reaktion, vielleicht in Form von Mitleid, vielleicht aber auch Mitgefühl, Unterschätzung und sogar zu einer Verstärkung möglicher Vorurteile, die ohnehin gegenüber Blinden vorhanden sind.
Und dann, lieber Herr Dr. Richter, kommt Ihr großer Auftritt, der Punkt wie Sie selbst schreiben, wenn Sie zur Aggression übergehen. Dann lassen Sie genüsslich die Bombe platzen und das vermeintliche Opfer wird zum Täter, eine gleichermaßen problematische Rolle und verräterische Formulierung Ihrerseits. Dann nämlich zeigen Sie sich als derjenige, der die anderen reingelegt hat, man könnte auch sagen getäuscht, oder volkstümlich verarscht. Das mag Ihnen möglicherweise helfen, Ihr Ziel zu erreichen, das für Ihren Mandanten, und so wie ich Ihren Artikel lese, auch das Ziel für Ihr Ego. Ich frage mich nur, ob es das wirklich Wert ist? Müssen Sie als promovierter Jurist wirklich auf solche Tricks zurückgreifen, wo doch das bessere Argument und die überzeugend vorgetragene sachliche Argumentation ausschlaggebend sein sollte? Vorgetragen mit Ihrer tiefen, sonoren Stimme, aufgrund derer Sie bereits der Aufmerksamkeit Ihrer Umwelt sicher sein können? Und ist es nicht gefährlich und schädlich für uns Blinde insgesamt, wenn wir mit genau dem Gut spielen und es auch verspielen, worauf doch gerade wir in ganz besonderem Maße angewiesen sind? Vertrauen nämlich, jeden Tag vielfach Voraussetzung dafür, als blinder Mensch überhaupt leben zu können. Wenn ich, wie sehr häufig, zu Gerichtsterminen in einer mir vollkommen fremden Stadt unterwegs bin und jemand ist mir beim Überqueren einer komplizierten X-Kreuzung behilflich, dann muss ich demjenigen so sehr vertrauen, dass es buchstäblich mein Leben ist, das ich aufs Spiel setzen würde, wenn ich mir nicht sicher sein könnte, dass derjenige oder diejenige schon dafür sorgen wird, dass ich nicht über den Haufen gefahren werde. Es gibt unendlich viele weitere Beispiele dafür, dass vor allem wir Blinde auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, vertrauen zu können und nicht getäuscht oder verarscht zu werden. Man denke nur an S-Dollar, die alle und unabhängig von ihrem Wert gleich groß sind. Es wäre kinderleicht, einen Blinden andauernd übers Ohr zu hauen und falsche Scheine herauszugeben; mir ist das glücklicherweise bei mehreren längeren Aufenthalten kein einziges Mal passiert. Auch übrigens nicht, als ich mehrere Wochen in Indien in einer bettelarmen Gegend gearbeitet habe und die dort lebenden Menschen jeden Grund gehabt hätten, mich zu betrügen.
Ich würde mir wünschen, lieber Herr Dr. Richter, für Sie selbst und für andere blinde Menschen auch, wenn Sie Ihre Umwelt nicht mehr manipulieren, sondern vielmehr wertschätzen lernen könnten. Denn auch das steckt leider in Ihrer beschriebenen Vorgehensweise, wie ich finde, eine ausgeprägte geringe Wertschätzung oder auch Geringschätzung Ihrer Umwelt. So aber, wie Blinde nicht immer bemitleidet werden sollten oder aufgrund irgendwelcher besonderen Fähigkeiten zu Halbgöttern erhoben werden sollten, so sollten auch wir Blinde nicht manipulieren, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Mit kollegialem Gruß
Ihr
Wolfgang Ferber
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