horus 2/2013 - Tour de Kultur

Inhaltsverzeichnis

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Vorangestellt

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder,

der Mensch hat immer schon verändernd auf die Welt eingewirkt. Die Gründe dafür können unterschiedlich motiviert sein: von der Notwendigkeit zum Überleben bis zur schöpferischen Gestaltung seiner Umwelt. Die Summe aller dieser Veränderung nennt man Kultur. Ohne Kultur ist also keine zivilisierte Welt vorstellbar; und diese Welt nehmen wir mit unseren Sinnen wahr. Was ist, wenn einer fehlt?

Ich fahre gerne mit Schülern der blista nach Rom. Wenn ich davon Freunden erzähle, ernte ich häufig fragende Blicke. Die sehen doch nicht diese wunderbaren Bauwerke und antiken Stätten. Und im kapitolinischen Museum habt ihr die Bilderabteilung besucht? Ich fahre mit unseren Schülern so gerne nach Rom, weil es mich freut zu erleben, mit welcher Begeisterung, welchem Interesse, welcher Empathie meine Schüler auf ihre ganz eigene Art Kultur hautnah erleben.

Im Englischen werden die Begriffe Kultur und Zivilisation synonym benutzt. Menschen von Teilen der Kultur auszuschließen, heißt Menschen von Teilen der Zivilisation auszuschließen. Um das zu vermeiden, gilt es Hindernisse abzubauen. Natürlich ist es für Museumskuratoren sehr schwer vorstellbar, dass Besucher die Ausstellungsstücke berühren. Doch in den letzten Jahren ist auf diesem Gebiet viel passiert. Immer häufiger heißt es "Anfassen erlaubt" oder sogar "Bitte berühren!"

Doch blinde und sehbehinderte Menschen sind nicht nur Konsumenten im Kulturbetrieb, sie sind auch Kunstschaffende. Sie setzen Gedanken und Emotionen kreativ in den verschiedenen Kunstsparten um und nicht nur in der Musik, wo es am ehesten erwartet wird:

In diesem Heft werden einige Beispiele für den Abbau von Barrieren und die aktive Rolle von blinden und sehbehinderten Menschen in der Kunst gezeigt. Vielleicht ist es für den einen oder anderen von Ihnen Anstoß, sich vor Ort für die Zugänglichkeit von kulturellen Angeboten zu engagieren, oder Sie entdecken Ihr eigenes künstlerisches Potential. Bei beidem wünsche ich Ihnen viel Erfolg.

Ihr Claus Duncker

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In eigener Sache

Tour de Kultur: Von der Bühne über den Bilderrahmen auf die Leinwand

Der Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe hat nicht nur innerhalb des Redaktionsteams die Ideen nur so sprudeln lassen, auch viele horus-Leserinnen und -Leser fühlten sich durch das Thema "Tour de Kultur" angesprochen: Ihre Anrufe und E-Mails mit Anregungen erreichten die Redaktion, und auch einige, "ohne Vorwarnung" eingesandte Texte gingen bei der Koordinatorin ein. Vielen Dank an alle externen Autorinnen und Autoren! Dank Ihrer Erfahrungsberichte als Theaterbesucher, Bildhauer und Museumspädagogin kann sich die Leserschaft ein Bild von der Kulturrezeption blinder und sehbehinderter Menschen machen. Dass bei der Lektüre nicht nur eine Menge Fachwissen vermittelt wird, sondern auch eine gehörige Prise Humor in die Beiträge eingeflossen ist, wirkt sehr erfrischend und lebendig. Gehen Sie auf eine Reise durch die Epochen der Kunstgeschichte, erleben Sie Theaterspiel und lesen Sie von Blinden, die einem auf der Mattscheibe nicht selten als wahre Helden begegnen!

Ein neues Gesicht in der DVBS-Geschäftsstelle

Seit 1. März verstärkt Frauke Onken das Sekretariat in der DVBS-Geschäftsstelle. Sie hat eine halbe Stelle für die Dauer von zwei Jahren angenommen und ist unter anderem Ansprechpartnerin für Einträge in der Mitgliederdatenbank. Frauke Onken erreichen Sie telefonisch unter 06421 - 94 888 27.

Die Politik und wir

Die horus-Ausgabe 3/2013 erscheint am 26. August mit dem Schwerpunktthema "Die Politik und wir". Anlass ist die Bundestagswahl am 22. September 2013. In Hessen findet zudem am selben Tag die Landtagswahl statt. Im Vorfeld der Wahlen fragt die horus-Redaktion nach, welchen Stellenwert die Belange blinder und sehbehinderter Menschen für die Politik haben, die Umsetzung der BRK wird thematisiert und Möglichkeiten vorgestellt, wie Blinde und Sehbehinderte ihre Wahlunterlagen ausfüllen können. Auch die Arbeit blinder und sehbehinderter Politikerinnen und Politiker ist Thema.

Haben auch Sie Anregungen oder eigene Beiträge zu diesem Thema? Diese können Sie wie gewohnt per E-Mail an die horus-Redaktion schicken: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Redaktionsschluss ist der 2. Juli 2013. Berichte für den Schwerpunkt können bis zu 10.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) lang sein, allgemeine Berichte bis zu 4.000 Zeichen. Kürzere Meldungen sollten eine Länge von 2.000 Zeichen nicht überschreiten.

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Schwerpunkt: Tour de Kultur

Dr. Siegfried Saerberg

Blinde Kunst

Der Verein Blinde und Kunst präsentierte in diesen Wochen die Ausstellung "Art Blind". Das Ausstellungsprojekt zeigt blinde und sehbehinderte bildende Künstler aus Europa und den USA. Ausgestellt wurden die Arbeiten 16 internationaler blinder und sehbehinderter Künstler aus neun Nationen.

Vom 5. April bis zum 20. Mai 2013 präsentierte der niederländische Verein KUBES (kunst en cultuur voor blinden en slechtzienden) die Ausstellung "Zinnebeelden an Zee - De kunst van het anders zien XXV". Im Juni vergangenen Jahres war anlässlich des Louis-Braille-Festivals in Berlin unter Kuration von Christine Rieger und Paloma Rendel ebenfalls eine Ausstellung blinder und sehbehinderter bildender Künstler zu sehen. Dies ist ein eisbergspitzer Gipfelpunkt einer Entwicklung, die in den vergangenen 25 Jahren allmählich begonnen hat. 1988 gründete sich in den Niederlanden der Verein KUBES, 1992 in Deutschland der Verein Blinde und Kunst, und in Schweden gibt es seit Jahren einen ähnlichen Zusammenschluss blinder und sehbehinderter Künstler.

Aber auch auf individuellem Niveau hat diese Entwicklung Anfang der Neunziger eingesetzt. Da begannen einige Blinde und Sehbehinderte an Kunsthochschulen und Kunstakademien zu studieren. Zu nennen sind u. a. Flavio Titolo und Jonathan Huxley. Titolo studierte Bildhauerei an der University of the West of England in Bristol, Huxley Malerei an der Royal Academy in London. Ersterer ist leider 1999 tragisch verunglückt, letzterer arbeitet heute als bekannter Künstler und ist durch eine reguläre Galerie auf dem internationalen Kunstmarkt vertreten.

Inzwischen gibt es einige blinde und sehbehinderte Studierende mehr an Kunsthochschulen. Es muss jedoch bei all diesem sich allmählich andeutenden Wandel betont werden, dass er noch mit einer blassen Handschrift gezeichnet ist und der breiteren Basis ermangelt. Woran liegt dies? Erstaunlich ist dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass es berühmte sehbehinderte Maler gab. Claude Monet und Edgar Degas sind hier gemeint. Richard Kendall hat etwa gezeigt, dass Degas' Sehbehinderung für die Weiterentwicklung seines Spätwerks unverzichtbar war. Allerdings ist deren Sehbehinderung kaum bekannt.

Warum wurde dies zuerst verkannt?

Warum hat blinde Kunst nicht schon viel früher begonnen, die Hochschulen und Akademien zu erobern?

Nun, blinde Kunst ist in gesellschaftliche Kontexte und Prozesse eingebunden. Bildende Kunst erscheint üblicherweise visuell und wird fast ausschließlich so präsentiert. Förderung blinder Künstler und Studierender an Kunsthochschulen oder Kunstakademien ist rar. Die sehende Öffentlichkeit weiß ihre Werke nicht einzuschätzen, da die dominante Ästhetik an visuellen Kriterien orientiert ist und Bewertungsmaßstäbe für nicht visuelle Kunst unterentwickelt sind. Aber auch blindes Publikum in Museen bleibt trotz Menschenrechtscharta und Barrierefreiheit noch immer in den Kinderhandschuhen des Anfangs stecken. Dem Kunstunterricht an Blindenschulen fehlt die Flankierung durch angemessene Medien, Pädagogiken und Wissensvermittlung in öffentlichen Institutionen, wie etwa in Museen oder privaten Galerien. Partizipation blinder Menschen als Rezipienten und Produzenten von Kunst ist daher extrem eingeschränkt.

Bringen wir sie also zusammen, die Kunst und die Blinden. Die Malerinnen von Bildern, die sie selber nicht sehen oder nicht mehr sehen oder irgendwie anders sehen mit Händen, Intuition oder der Haut oder womit, wodurch und worin auch immer. Wer kann wissen wie, weil das selbstverständliche "Man sieht mit den Augen" einfach nicht stimmen mag.

Ein blinder Maler? Wie geht das denn? Fehlt da nicht etwas? Eine blinde Bildhauerin? Ist das nicht gefährlich? Das sind erste Antworten so genannter "normaler" Menschen auf das Ausstellungsprojekt Art Blind. Und es ist ein Satz aus dem Leben vieler blinder oder sehbehinderter Künstler, die sich gegen eigene Zweifel und Skepsis seitens ihrer Gesellschaft behaupten müssen. Oft stehen sie isoliert inmitten von Ignoranz.

Nochmals: Art Blind ist in gesellschaftliche Kontexte und Prozesse eingebunden. Das wurde schon allein sinnfällig dadurch, dass die 65 internationalen Bewerbungen aus 16 Ländern meistens auf Fotografien beruhten. Zwar wurden zwecks Tastens so viele Ateliers und Tastausstellungen wie möglich besucht, Beschreibungen der Werke durch die Künstler angefordert, Skulpturen ausdrücklich zur Jury-Sitzung eingeladen, aber dennoch bleibt der Befund, dass in einer so visuell geprägten Gesellschaft Visuelles als Kommunikationsmedium vorherrscht. So unermüdlich hat unsere Kultur seit Jahrtausenden an der Sichtbarmachung der Welt gearbeitet, dass ihre Tastbarmachung völlig zurückbleibt. Wo bleiben kleine, leichte und handhabbare Modelle, die als Abbilder von Skulpturen technisch einfach wie Fotokopien reproduzierbar und verschickbar wären, um Kommunikation zu fundieren!

Aber sehende Menschen sind auch behindert. Möglichkeiten, Kunst anders als visuell zu erfahren, werden vernachlässigt. Anfassen verboten! Aber woher kommt das? War es schon immer so? Liegt es gar in der Natur der Sache?

In der okzidentalen Kultur haben sich die Verbote, Kunstwerke zu betasten, erst seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt.

Classen und Howes haben die historische Entwicklung des Tastverbotes nachgezeichnet. Im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert war das Anfassen und Emporheben von Exponaten zu deren musealer Betrachtung durch die Besucher noch Gepflogenheit. Sophie von La Roche beschrieb 1786 etwa in ihrem englischen Reisetagebuch, wie sie im britischen Museum die Ausstellungsgegenstände betasten konnte. Sie hielt einen karthagischen Helm, dessen Material, Gewicht und Form sie bewunderte, oder einen römischen Spiegel in Händen, sodass sie sich wie eine römische Matrone fühlte. Dieser Möglichkeitsraum veränderte sich innerhalb des neunzehnten Jahrhunderts. Hier fand Demokratisierung und Öffnung der Museen für breite Publikumsschichten statt. Da Arbeiter und Kleinbürger als ungebildet und schmutzig etikettiert wurden, war der enge Kontakt zwischen Exponaten und Besuchern nun verpönt. Die Kunstkritikerin Anne Jameson beklagt so um 1841 die "vulgären Besucher", die im Museum herumplappern, flirten und alle Kunstwerke berühren. Fiona Candlin führt aus, dass eine klassenspezifische Distinktion in Bezug auf das Tasten vorlag. Sie hat weiterhin gezeigt, dass das Betasten inzwischen professionsspezifisch geregelt ist: lediglich Konservatoren und Kuratoren ist bis heute das Betasten der Exponate erlaubt.

Entgegen diesem Langzeittrend geben die Ausstellungen blinder Kunst aber auch sehendem Publikum die Chance zu erweiterter Kunstwahrnehmung. Hier laufen sie parallel zu einer breiteren gesellschaftlichen Entwicklung. Es gibt tatsächlich einen Trend zu Tastausstellungen. So findet zurzeit etwa im Lehmbruckmuseum in Duisburg die Ausstellung "nah dran" und im Labor der K20 in Düsseldorf die Ausstellung "Dingfest" statt. Bei beiden Ausstellungen gehört das Betasten der Werke zum Konzept.

Dies ist wiederum erstaunlich, denn Visualität ist ein Wesensmerkmal der Moderne. Einher mit der kulturellen Fixierung auf Sehwerte geht eine Mystifizierung des Blinden als des Anderen. Dem tritt Art Blind entgegen. Denn blinde Künstlerinnen und Künstler sind keine reinen, naturhaften Blinden. Sie sind teils blind, teils sehbehindert, unter den verschiedensten Umständen erblindet, sehbehindert geworden. Sie haben Sehen immer auf irgendeine Weise in ihre Kunstproduktion mit einbezogen. Die einen, wie Barbara Romain und Marian Edwards, beschäftigen sich weiterhin mit Licht und Farben aus ihrer sogenannten Sehbehinderung heraus. Andere, so etwa Tim Oegema, Rolf Birge und Haldour Dungall, nehmen Farben als Materialität und schichten sie teils verwoben mit anderen Materialitäten als optisch-haptisch-visuelles Oberflächengewebe auf die Leinwand. George Kabel, Gaetano Ribaudo oder Sanja Falisevac wiederum schaffen tastbare Werke, deren Idee eine Art geistiges Schauen einer Tastproportion oder einer Tastgestalt zum Thema haben, allerdings eine Schau, die Gefühle mit einbezieht. Idealisierte Tast-Formen sind für Karla Faßbender und José Graña Moreira wichtig. Für einen neuen Formbegriff votiert Lynn Cox, für die ein nonvisuelles Formgefühl auch im Werk selber wesentlich fließend und transitorisch ist und der Fixierung durch Sehen entgegensteht. Eckhard Seltmann schließlich erobert durch den Bleistift in zeichnerischen Gesten aus freien Formen und spontanen Emotionen seit seiner Erblindung verlorenes Terrain auf dem Papier auf vorher ungekannte Weise wieder zurück.

Versuchen wir, eine Deutung für die vielen Staunen hervorrufenden Beobachtungen zu finden. Blinde Kunst und Tastausstellungen sowie auch der weltweit erfolgreiche "Dialog im Dunkeln" und seine zahlreichen Nachahmer sind meiner Meinung nach neue Entwicklungen, die zum gleichen Trend unserer modernen Gesellschaft gehören. Auf der einen Seite wird hier Visualität immer bedeutsamer. Wissenschaft ist ohne Visualisierungstechnologien und bildgebende Verfahren unvorstellbar. Das Fernglas und das Mikroskop sind lediglich historische Vorläufer von Lasertechnologien und Magnetresonanztomographie. Aber es ist auf der anderen Seite ein gesellschaftlicher Diskurs darüber entbrannt, wie mit den technischen und medizinischen Neuerungen umzugehen ist:

Wann wird etwa CCTV (Closed-Circuit-Television) zu einer Bedrohung der Freiheit?

Ist etwa ein operativer Eingriff nach einer Krebsfrühdiagnose empfehlenswert, wenn diese ein Risiko, aber keine tatsächliche Erkrankung anzeigt?

Wo liegt der Sinn visuell gebundener Schönheits- und Identitätsvorstellungen, wenn deren Übersteigerung zu einem Normalitäts-Overkill führt?

Man kann daher getrost von einer Krise der Rationalität sprechen, die durch die jüngsten ökonomischen Krisen nur noch verstärkt wird. Da aber in der abendländischen Kultur Visualität eng mit Rationalität verbunden ist, färbt diese Krise auch auf die Wertschätzung des Sehens ab. Es ist sozial nicht mehr als der allein sinngebende Sinn anerkannt. Weiterreichende, andere Sinne inkludierende Konzepte werden gesucht. Sinnentwürfe, die sensorisch vielfältig sind und auf eine kognitive Synthese hinauslaufen, werden angestrebt.

Hier liegt m. E. auch der tiefere, die Gesamtgesellschaft betreffende Sinn von Inklusion und Vielfalt. Soziale Minderheiten, die aus Sicht der bis Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Rationalität als minderwertig stigmatisiert waren, dürfen nun ihre eigene Perspektive auf Leben und Zukunft in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Gehörlose, Blinde oder Menschen mit kognitiven Differenzen waren bis zu dieser Zäsur abendländischer Entwicklung für eine sprechende, sehende und logisch kalkulierende Vernunft ein Anstoß. Nunmehr vermögen sie einer mittels Durchleuchtung geblendeten, durch zahlreiche Lauschangriffe betäubten und durch kurzfristige Gewinnkalkulationen verarmten Vernunft vielsinnige Anstöße zur Neubesinnung zu geben.

Wie gesagt: Die Entdeckung Blinder als Publikum und Produzenten für bildende Kunst setzt die Erkenntnis voraus, dass diese bisher visuell dominiert und nonvisuelle, sensorische Strategien unterdrückt wurden. Die konkrete Umsetzung solcher sensorischer Alternativen heißen wir Inklusion und Barrierefreiheit. Wir meinen damit aber auch nicht lediglich die Öffnung der Kunstschranken, sondern die Umgestaltung der Kunst selbst.

Literaturverweise:

Constance Classen, David Howes: "The museum as sensescape": Western sensibilities and indigenous artifacts. In: Elizabeth Edwards, Chris Gosden, Ruth Phillips (eds): Sensible Objects. Oxford: Berg, 2005, S. 199-222.

Fiona Candlin: "Museums, modernity and the class politics of touching objects." In: Helen Chaterjee: Touch in museums. Policy and practice in object Handling, Oxford: Berg, 2009, S. 9-20.

Zum Autor

Dr. Siegfried Saerberg ist Künstlerischer Leiter und Kurator der Ausstellung Art Blind.

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Dr. Roland Zimmermann

Audiodeskription - ein Beitrag zur Barrierefreiheit für den Zugang zum Medium Film

Die Sensibilität dafür, durch Schaffung von Barrierefreiheit wie auch immer eingeschränkten Menschen die selbständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, ist in den letzten Jahren spürbar gewachsen. Davon zeugen unter anderem auch Abkommen wie die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die dem lange Zeit dominierenden medizinischen Verständnis von Behinderung eine menschenrechtliche Sicht entgegenstellt, was eine neue Herangehensweise etwa an die Sicherung von Rechten der Teilhabe oder auch an die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit bedeutet. Für sehbehinderte und blinde Menschen stellt die Audiodeskription (AD) einen barrierefreien Zugang zum Medium Film her.

Was ist Audiodeskription (AD)?

AD bezeichnet die Verbalisierung visueller Inhalte von Filmen, die in die Sprechpausen des normalen Tons eingelesen und auf einer separaten Tonspur (Zweikanalton) dem Filmton beigemischt wird. So entstandene Hörfilme, die in Fernsehzeitungen oder auf DVDs mit einem durchgestrichenen Auge gekennzeichnet sind, werden im Fernsehen ausgestrahlt, sind in ausgewählten Kinos zu sehen/hören oder auf Video/DVD/Blue Ray käuflich zu erwerben.

Eine gute Audiodeskription beschreibt hierbei nicht nur nonverbale Handlungen oder das Aussehen von Personen und Landschaften, eine gute AD versucht, die Stimmung eines Films einzufangen und einer ganz speziellen Zielgruppe zu vermitteln. Verglichen wird die AD des Öfteren mit der Untertitelung für hörgeschädigte Menschen, was jedoch augenscheinlich nicht vergleichbar ist: Während es beim Untertiteln um das Übersetzen des gesprochenen Wortes geht, geht es bei der Texterstellung für die AD um das präzise selektieren und Verdichten visueller Informationen, die in knapper Sprache zu fassen und in die vorgegebenen Sprechpausen der handelnden Personen einzupassen sind.

Wie entsteht eine solche Audiodeskription?

Idealerweise arbeiten drei Filmbeschreiber in einem Team, von denen einer selbst blind ist. Folgende Arbeitsschritte sind von den Beschreibern zu leisten:

  • Das Anschauen des Films (was das Team gemeinsam tun kann), wobei wichtige Merkmale des Films (Orte, Personen etc.) mit ihren Timecodes notiert werden. So wird eine Art Glossar begonnen, was während der gesamten Arbeit am Film fortgeschrieben wird. In ihm ist beispielsweise abzulesen, wann welche Orte oder Personen erstmals eingeführt worden sind, wann Personen ihre Namen erhalten haben, welche Beziehungen zwischen den Akteuren bestehen usw.;
  • das Durchgehen des Films in einzelnen Sequenzen, bei dem zunächst die sehenden Beschreiber erzählen, was sie sehen. Dies ist ein erster spannender Prozess, da hier oft unterschiedliche Sichtweisen, Wahrnehmungen und Interpretationen aufeinander treffen. Diese werden im Team ausdiskutiert und schließlich vertextet, wobei es sich vor Interpretationen zu hüten gilt. Wie gesagt, es geht bei der AD um das Beschreiben visueller Inhalte und nicht um das Erzählen einer eigenen Geschichte. Die Qualität der AD profitiert hierbei enorm von der Teamarbeit, da subjektive Wahrnehmungen objektiviert und von dem blinden Mitarbeiter darüber hinaus auf ihre zielgruppenadäquate Verständlichkeit hin überprüft bzw. korrigiert werden;
  • permanente Recherche, um Orte oder Gegenstände richtig benennen oder beschreiben zu können, um Handlungen in ihrem historischen Kontext erfassen und benennen zu können etc.;
  • Der Durchlauf, bei dem die Schlüssigkeit des Gesamtwerks und das Ineinanderpassen von AD- und Filmtext überprüft werden;
  • die Endredaktion;
  • die Studioproduktion.

Erfahrungsgemäß benötigt ein Dreier-Team für die Bearbeitung eines 90-minütigen Films zwischen fünf und sechs Arbeitstagen. Innerhalb des Teams hat jeder Autor seine Funktion: Einer steuert den Film, der Zweite übernimmt hauptsächlich die Recherche, der Dritte schreibt den Text, der von allen gemeinsam erarbeitet wird.

Der Markt rund um die Audiodeskription

Hörfilme sind im Kommen. Seit zehn Jahren vergibt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) alljährlich in Berlin im Rahmen einer Gala den deutschen Hörfilmpreis - Öffentlichkeitsarbeit, die Wirkung gezeigt hat: Die Verpflichtung beispielsweise, Filme mit AD zu versehen, ist in die Richtlinien zur Vergabe von Filmfördermitteln aufgenommen worden, so dass künftig öffentlich geförderte Filme mit einer Bildbeschreibung versehen werden müssen.

Im Bereich Fernsehen nickte die Blindenselbsthilfe, als die Kultusminister der Länder beschlossen, Blinde und Sehbehinderte ab 2013 einen ermäßigten GEZ-Beitrag von 6 Euro monatlich bezahlen zu lassen (zuvor war dieser Personenkreis von den GEZ-Gebühren befreit). Doch im Gegenzug verlangte der DBSV mehr Audiodeskription im Fernsehen, und prompt erklärten einige Rundfunkanstalten, sie hätten sich diesbezüglich ehrgeizige Ziele gesetzt. Von 20 Prozent mehr Audiodeskription im Fernsehen sprach z.B. der NDR für die ARD, während sich der zweite öffentlich-rechtliche Kanal, das ZDF, noch nicht positioniert hat.

Damit war ein neuer Markt eröffnet: Teilten sich bislang die Hörfilm gGmbH und Hörfilm e.V. die anfallenden AD-Aufträge, so wittern nun zahlreiche Akteure (wie etwa Synchronstudios) das große Geschäft - Akteure, die i.d.R. über keine Erfahrungen bei der AD verfügen und die nichts von den entwickelten Qualitätsstandards wissen, sie aus Kostengründen auch gar nicht bedienen können.

Die Frage hierbei ist, wie sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten als Auftraggeber auf diesem Markt platzieren und um welchen Preis sie ihr Quantitätsversprechen einlösen werden.

Während der Bayerische Rundfunk, sich den Erfordernissen anpassend, sein Budget für die Produktion von Hörfilmen für 2013 verdreifacht hat, sind Sender wie der MDR dazu übergegangen, mit ihrem unverändert gebliebenen Budget die dreifache Menge an Hörfilmen zu produzieren.

Wie kann das gehen? Ganz einfach - indem man Filme künftig nur noch von einer Person texten lässt und so bezahlt, als würde einer allein die Arbeit des Dreier-Teams in der gleichen Zeit erledigen können. Da dies nicht zu schaffen ist, sitzt der Autor länger am Film, bei einer drastisch gesunkenen Tagesentlohnung.

Wer fällt dieser Entwicklung als erstes zum Opfer? Jawohl, zunächst sind es die blinden Filmbeschreiber, die bei dem Entlohnungssystem von MDR und Co. noch nicht mal beim Durchlauf oder der Endabnahme des Produkts vorgesehen sind. Und damit werden dann auch die Konsumenten zu Verlierern, da die Qualität des Produkts Hörfilm unter den skizzierten Entwicklungen nicht zu halten ist. Dies räumen auch die Sender ein, was für sie aber kein Problem darstellt: "Das versendet sich" hört man von ihnen dazu.

Der Ruin, den ARD-Fernsehanstalten wie der MDR anrichten, ist auch abzulesen am Rückzug der Hörfilm gGmbH (einem Tochterunternehmen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands [DBSV]) aus der Produktion von Hörfilmen der entsprechenden Sendeanstalten, weil das Produkt Hörfilm in seiner jetzigen Qualität unter den diktierten Bedingungen schlicht und einfach nicht zu fertigen ist. Das müsste selbst Menschen in Sendeanstalten und Politik berühren, die sich regelmäßig auf den Galaveranstaltungen zum jährlichen Hörfilmpreis die Klinken in die Hand geben.

Wohin geht der Weg der Audiodeskription insbesondere unter Qualitätsgesichtspunkten?

Bei der Erstellung der AD kommt es - wie gesagt - nicht nur auf Quantität, sondern wesentlich auf Qualität an, um sehbehinderten und blinden Menschen einen barrierefreien Zugang zum Medium Film zu verschaffen - und hier braucht es uns: Einmal als Zielgruppe bei der Beurteilung und dann bei der Erstellung der AD als zielgruppenzugehörige Bildbeschreiber. Qualitätsentscheidend ist unter anderem, dass beim Formulieren auf blindenspezifische Wahrnehmungen bzw. auf blindenspezifische Formulierungen geachtet wird, was sehenden Filmbeschreibern/Filmsehern schwer fällt: Dies bezieht sich beispielsweise auf die Beschreibung von Landschaften und wegen, die von blinden Menschen aufgrund eigener Orientierungserfahrungen anders wahrgenommen wird, oder das bezieht sich auf die Beschreibung individueller Merkmale der handelnden Personen, was letztlich entscheidend für das Identifizieren von Personen und das Folgenkönnen der Handlung ist.

Die Qualitätsdiskussion müssen wir Betroffenen - blinde Filmbeschreiber und sehbehinderte/blinde Konsumenten - führen. Nicht nur die nun auch von uns zu zahlende Rundfunk- und Fernsehgebühr gibt uns das Recht, vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine gute Audiodeskription einzufordern. Insofern kann ich nur dazu aufrufen, sich bei einer misslungenen AD mit Kritik bei den jeweiligen Sendern zu melden. Eine gute AD, bei deren Mitwirkung die Zielgruppe unerlässlich ist, hilft letztlich allen: Uns Konsumenten und den blinden Filmbeschreibern.

Zum Autor

Dr. Roland Zimmermann ist Politikberater und im Projektmanagement tätig. Er lebt in Berlin.

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Das Goldene Zeitalter im Staatlichen Museum der Landeshauptstadt Schwerin

Ein Gespräch zwischen Klaus Düsterhöft und der Museumspädagogin Birgit Baumgart

Mit dem Begriff "Goldenes Zeitalter" bezeichnet man im Allgemeinen das Jahrhundert, nachdem sich die sieben Nordprovinzen der Niederlande von der spanischen Krone losgelöst hatten. Handwerk, Gewerbe und vor allem der Seehandel blühten, und die Bürger nutzten ihre Freiheit vom Adel und der Feudalherrschaft. Nicht nur die Pfeffersäcke, sondern auch kleine Handwerker und Krämer wollten ihren Wohlstand nach außen präsentieren, Häuser, Wohnräume und Kontore wurden mit Bildern geschmückt. professionelle Malwerkstätten schossen wie Pilze aus dem Boden. Die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts spiegelt also in den verschiedenen Genres auf Gemälden und Grafiken das Goldene Zeitalter wider. Der Sammelleidenschaft der mecklenburgischen Herzöge ist es zu verdanken, dass das Staatliche Museum Schwerin über eine der wertvollsten Sammlungen niederländischer Maler verfügt. Kunstinteressierte kommen aus allen Himmelsrichtungen - besonders aber auch aus den Niederlanden -, um die Sammlung zu besichtigen. Was haben wir als Blinde und Sehbehinderte nun davon? - oder wollen wir etwa getreu dem Sprichwort als Blinde mit dem Sehenden über Farben streiten? Zumindest sollten Sie einmal den Versuch unternehmen, der Gemäldesammlung im Staatlichen Museum zu Schwerin etwas Schönes und Nützliches abzugewinnen.

Wenn Sie sich an der Museumskasse mit Ihrer Blindheit oder Sehbehinderung zu erkennen geben, wird Ihnen nicht nur ein Teil des Eintrittspreises erlassen, und Sie erhalten auch nicht nur den in vielen Museen üblichen Audio-Guide, sie erhalten leihweise ein Buch für Ihren Museumsrundgang. Als erstes werden Sie auf dem Buch die Braillebeschriftung "Das Goldene Zeitalter" entdecken. Schlagen Sie das Buch auf, finden Sie Brailleschriftseiten, ganzseitige Reliefs, die vermutlich Gemälde darstellen, und tastbare Seiten, welche sich für viele von uns noch etwas ungewohnt anfassen lassen. Ihr sehender Begleiter wird Ihnen sicherlich sofort erklären, dass unter der Brailleschrift normale Schwarzschrift gut lesbar aufgedruckt ist und unter den Reliefs sehr farbintensiv Gemälde abgedruckt sind. Dieses Buch soll kein Museumsführer oder Ausstellungskatalog sein. Was aber dann? Diese Frage wird uns sicherlich die Ideengeberin und Geburtshelferin dieses Buches beantworten. Birgit Baumgart ist Museumspädagogin im Staatlichen Museum Schwerin.

Klaus Düsterhöft: Bitte erklären Sie unseren Leserinnen und Hörern, was das Besondere an diesem Buch ist.

Birgit Baumgart: Der Ausgangspunkt des Buches sind acht Gemälde. Da kann man schnell denken, es wird damit zu einem reinen Kunstbuch. Aber es ist viel mehr: Das Buch geht neben der Kunst auf viele kulturhistorische Fakten und Ereignisse ein. So erfährt der Leser etwas über den Schiffbau, die Windmühlen oder aber, dass auch schon im 17. Jahrhundert Spekulationen an der Börse nicht immer Geld einbrachten. Kunst und Geschichte verbinden sich auf selbstverständliche Weise. Das Lesetasthörbuch bietet alle Informationen zum Hören und zum Sehen an. Mit Hilfe der Tastbilder erfährt man Wesentliches zu den Bildmotiven und dem Bildaufbau. Es ist der Beginn, Blinden und Sehbehinderten einen individuellen und attraktiven Besuch im Landesmuseum Mecklenburg-Vorpommern zu bieten.

Klaus Düsterhöft: Sollte mit der Kombination aus Sehen, Tasten und Hören nicht etwas Viel mit einem Mal erreicht werden?

Birgit Baumgart: So ähnlich unsere Bedürfnisse sind, die Welt wahrzunehmen, so unterschiedlich ist doch der Zugang. Uns war es wichtig, dass ALLE ihre Informationen entsprechend ihren Zugangsmöglichkeiten finden: Blinde brauchen die Brailleschrift und Tastbilder, parallel zum Tasten aber auch einen Hörtext. Seheingeschränkte brauchen Großschrift und kontrastreiche Abbildungen, und Sehende freuen sich über die vielfältigen Möglichkeiten, Informationen aufzunehmen. Das ist Inklusion.

Klaus Düsterhöft: Ich erinnere mich noch sehr gern an meinen ersten Besuch in einer Gemäldeausstellung. Das war bei Ihnen im Staatlichen Museum.

Birgit Baumgart: An diese erste Führung mit blinden und sehbehinderten Besuchern kann ich mich auch sehr genau erinnern. Die Ausstellung mit allen Werken des Malers Fabritius wurde so großartig beworben, dass auch die Blindenverbände eingeladen wurden.

Klaus Düsterhöft: Es war in der Tat die Fabritius-Ausstellung, die Besucher aus vielen Ländern nach Schwerin lockte. In einem Schreiben des Museums an die Geschäftsstelle des DVBS wurde eine Führung für blinde und sehbehinderte Menschen angeboten. Der Brief wurde an meine Frau Gelva und mich nach Gadebusch weitergeschickt. Nun wollten wir wissen, wie sich die Mitarbeiterinnen des Staatlichen Museums eine solche Führung vorstellten. Zunächst wusste niemand etwas von diesem Brief. Aber es gab nun einmal diese Einladung. Offenbar nach kurzer interner Beratung erreichte mich ein Anruf von Ihnen, liebe Frau Baumgart, dass Sie mit uns eine solche Führung versuchen wollten. Was bewegte Sie damals?

Birgit Baumgart:Heute bin ich mir ganz sicher, dass die Kunstvermittlung für alle Museumsgäste ähnlich ist. Damals ahnte ich es bereits. Am Ende geht es immer um den Besucher selbst. Wenn die Themen der Kunst nichts mit seinem Leben zu tun haben, dann war der Besuch umsonst. Also musste ich mich fragen, ob ich blinden und sehbehinderten Menschen die Kunst nahe bringen kann. Ich liebe Herausforderungen! Natürlich war ich aufgeregt und fragte mich, ob Sie mit meinen Beschreibungen etwas anfangen können.

Klaus Düsterhöft: Wir waren etwa 15 Teilnehmer und uns nach gut zwei Stunden am Ausgang einig: So etwas Schönes darf kein Eintagserlebnis sein. Auch Sie waren sichtbar und hörbar sehr glücklich. Welche Bedeutung hatte diese erste Führung für Sie?

Birgit Baumgart: Da muss ich etwas ausholen: Wir Sehenden sind täglich einer immensen Bilderflut ausgesetzt, die wir schon lange nicht mehr verarbeiten können. Wir müssen also schnell entscheiden, ob das Bild für uns wichtig ist oder nicht. Nun weiß natürlich jeder, dass die Originale im Museum sehr wichtig sind, sonst würde man sie nicht bewahren und präsentieren. Aber wir haben uns eine oberflächliche Bildwahrnehmung angewöhnt, und der Schalter für die intensive Wahrnehmung lässt sich nicht immer gleich finden. Es tat mir einfach sehr gut, mit meinen ausführlichen Beschreibungen mehr zu sehen als vorher. Das war für mich auch eine wichtige Entdeckung für meine Arbeit als Kunstvermittlerin. Wenn ich, für die Kunstwerke zur täglichen Arbeit gehören, schon so manche Details übersehe, wie geht es dann Kindern und anderen Besuchern? Ich sehe meine Aufgabe als Museumspädagogin auch darin, den Besuchern Wege aufzuzeigen, sich auf die Bilder einzulassen und sie intensiv wahrzunehmen.

Klaus Düsterhöft: Tatsächlich blieb diese Führung kein Eintagserlebnis. Das Staatliche Museum hatte regelmäßig große Sonderausstellungen, so z. B. zu Lyonel Feininger oder Jean-Baptiste Oudry, die Sie uns Blinden und Sehbehinderten ebenfalls nahe bringen wollten. Zunächst aber haben Sie ein anderes Projekt, nämlich im Dom, entdeckt.

Birgit Baumgart:2006 hatte ich die Gelegenheit, an einer internationalen Konferenz in Schwerin teilzunehmen. Sie war Teil eines europäischen Projektes mit Finnland, Großbritannien, Griechenland und Deutschland. Der Beitrag der deutschen Projektteilnehmer bestand in einem Domführer für blinde und sehbehinderte Menschen. Ich war von dieser Idee, Kunst und Kultur mit Tastbildern "sichtbar" zu machen, fasziniert, und mein Entschluss stand fest: So etwas will ich auch für die Kunst im Museum.

Klaus Düsterhöft: Wie beurteilten Ihre Kolleginnen und Kollegen im Haus diese Aktivitäten?

Birgit Baumgart:Mittlerweile ist es für alle im Haus selbstverständlich, dass auch blinde und sehbehinderte Besucher die Sammlung sehen wollen. Hier und da fehlt noch das Wissen zum barrierefreien Service. Dazu ist eine umfangreiche Schulung mit unseren Servicekräften noch in diesem Jahr geplant. Besonders freue ich mich über das große Interesse der freien Mitarbeiter des Museums. Vielleicht begegnet Ihnen, Herr Düsterhöft, bei Ihrem nächsten Museumsbesuch eine andere Führungskraft.

Klaus Düsterhöft: Oft ging die Initiative, uns ins Museum zu rufen, von Ihnen aus. Von Mal zu Mal präsentierten Sie uns neue Ideen, um uns den Inhalt eines Gemäldes näher zu bringen. Offenbar lockten die Tierbilder von Oudry besonders, uns etwas tasten zu lassen. Hier bezogen Sie sogar den Schweriner Zoo mit ein.

Birgit Baumgart: Hier kam ich auf die Idee, die Tastbilder der Vögel mit echten Federn zu gestalten. Man kann ja mal im Zoo fragen. Seitdem habe ich nicht nur von diesem kleinen Geschenk von Federn profitiert, sondern stehe in regem Austausch mit dem Besucherdienst im Zoo. Auch dort arbeitet man intensiv an einem barrierefreien Zugang für blinde und sehbehinderte Besucher.

Klaus Düsterhöft: Wie entwickelte sich bei Ihnen aber nun die Idee, etwas Dauerhaftes zu den Gemälden aus dem Goldenen Zeitalter herzustellen?

Birgit Baumgart: Gemeinsam mit der Schweriner Gebietsgruppe des Blinden- und Sehbehinderten-Vereins wählten wir die Bilder aus, die unbedingt in das Buch sollten. So durfte auf keinen Fall ein Blumenstillleben fehlen, ein Totenschädel jedoch wurde abgelehnt. Zur rechten Zeit lernte ich Gregor Strutz kennen, Grafiker und Vertreter des Vereins Andere Augen e.V. Er experimentierte viele Jahre an einem neuen Druckverfahren für Tastseiten (Brailleschrift oder Bildformen). Er hatte selbst ein Fotolesetasthörbuch herausgebracht. Mit seinem Wissen und seinem Engagement konnte ich das Projekt nicht nur starten, sondern auch erfolgreich zu Ende bringen. Wichtige Mitstreiter waren die Texteschreiber Hela Michalski, Martin Conze und Reiner Strutz. Im Laufe der Projektzeit veränderten sich nicht nur Angebotspreise und Terminabsprachen. Wir stellten auch fest, dass unser Buch zu einem Standard werden kann und setzten uns höhere Maßstäbe als am Anfang.

Klaus Düsterhöft: Waren die Führungen für uns durch die Gemäldeausstellungen vielleicht für Sie auch Weiterentwicklungen Ihrer Ideen?

Birgit Baumgart: Ja, mit jeder Führung lerne ich dazu. Zum einen ist jeder Besucher anders und ich erfasse immer besser, was Blinde und Sehbehinderte interessiert, welchen Zugang sie im Einzelnen brauchen und was an Angeboten auch mal nicht gut ankommt. So haben wir festgestellt, dass wir die Audiospur nicht nach dem Buch produzieren können, weil das zu spät ist. Die Wahrnehmung über das Tasten funktioniert nur parallel mit einem Hörtext, im besten Fall mit einer detaillierten, dem Tasten folgenden Bildbeschreibung. Das bedeutete: ohne eingeplante Gelder ausführlichere Texte für die Audiospur schreiben, ein Tonstudio, einen Sprecher und Zeit für die Aufnahmen finden.

Klaus Düsterhöft: Wie notwendig und nützlich waren für Sie die Zusammenkünfte in der Gebietsgruppe Schwerin des Blinden- und Sehbehinderten-Vereins Mecklenburg-Vorpommern, bei denen Sie vom Buch sprachen und unsere Meinungen zu Darstellungsformen und Umfang eines Reliefs hören wollten?

Birgit Baumgart: Sehr wichtig, denn das Buch wird hauptsächlich von blinden und sehbehinderten Lesern genutzt. Nur, wenn wir die Bedürfnisse und Zugänglichkeiten kennen, kann das Buch Erfolg haben. Es kann für 45 € gekauft oder bei einem Besuch der Schweriner Sammlung mit einem Hörstift kostenfrei ausgeliehen werden. Wir arbeiten gerade an einem Fragebogen für die Leser. Die Auswertung wird zeigen, wie gut sich unser Buch wirklich auf die Leser eingestellt hat.

Klaus Düsterhöft: Wer waren Ihre Mitstreiter, insbesondere zur Finanzierung eines solchen Buches?

Birgit Baumgart: Von Anfang an war klar, dass sich das Buch nicht selbst tragen kann. Die Kosten liegen bei der Erstauflage weit höher als der Verkaufspreis. Mit Aktion Mensch fanden wir einen Förderer, dem Bedeutung und Qualität unseres Projektes bewusst war. Der Blinden- und Sehbehindertenverein MV stellte den Antrag und war bei allen wichtigen Entscheidungen des Projektes dabei. Andere wichtige Mitstreiter habe ich bereits vorgestellt.

Klaus Düsterhöft: Im Oktober letzten Jahres konnten Sie dann gemeinsam mit Ihren Partnern das Lesetasthörbuch präsentieren. Fernsehen und Presse griffen das Thema medienwirksam auf, sicherlich ein sehr schöner Erfolg. Wie schätzen Sie aber die Wirkung des Buches ein?

Birgit Baumgart: Es gibt viele sehende Menschen, denen wir mit diesem Buch die Augen geöffnet haben. Noch nie haben sie sich bis dahin die Frage gestellt, wie Blinde und Sehbehinderte die Kunst wahrnehmen können. Das zeigt mir, dass der Weg zur Inklusion noch sehr lang ist. Die Erstauflage von 200 Stück ist fast verkauft. Darauf sind wir sehr stolz. Oft höre ich aber auch die Meinung von Blinden und Sehbehinderten: "Ein schönes Buch, aber für Kunst interessiere ich mich nicht." Das trifft sich natürlich mit der nicht gestellten Frage der Sehenden zur bisherigen Zugänglichkeit von Kunst für Blinde und Sehbehinderte und zeigt mir, dass auch sie umdenken sollten. Ich erwarte nicht, dass nun alle ins Museum stürmen und große Kunstgenießer werden. Aber vielleicht wecken wir mit dem Buch bei dem einen oder anderen Lust auf Kunst und auf die Geschichten, die hinter den Bildern stecken.

Klaus Düsterhöft: Kann eigentlich auch ein normal sehender Mensch Nutzen aus diesem Lesetasthörbuch gewinnen?

Birgit Baumgart: Das Buch hat auch für mich noch einige Entdeckungen bereit, denn ich setze es immer häufiger in meinen museumspädagogischen Veranstaltungen mit Schülern ein. Sie finden es einfach cool, wenn auf den Bänken die aufgeschlagenen Bücher liegen und sie ihre Hände benutzen können. Ich bin erstaunt, wie treffend mir Achtjährige das Wellenspiel beschreiben. Ein kurzes Glücksgefühl durchströmt mich, wenn ich sehe, wie motiviert Jugendliche das Original des Steckbrettes sehen wollen, nachdem sie nur nach der Buchbeschreibung, die ich ihnen mehrmals vorlas, das Bild skizzierten. Ich bin überzeugt, es werden sich noch viele spannende Anknüpfungen für Sehende über das Tasten und Hören ergeben.

Klaus Düsterhöft: Seit Jahren bieten Sie im Museum regelmäßig am Ende des Monats eine öffentliche Führung speziell für blinde und sehbehinderte Menschen an. Sie freuen sich aber auch auf jede Gruppe, die mit Ihnen einen besonderen Rundgang vereinbart. Ich glaube, das Geheimnis des Lesetasthörbuches liegt vor allem darin, dass es im wahrsten Sinne des Wortes inklusiv wirkt. Und wenn man sich tastend, sehend und hörend in ein Bild dieses Buches vertieft, hört man plötzlich im Bild "Bewegte See mit Schiffen" von Ludolf Backhuisen die Wellen rauschen oder man riecht wahrlich die Frühlingsblumen und das würzige Gras im Bild "Girlande aus Blumen und Früchten" von Jan Davidsz. de Heem. Dafür möchte ich mich bei Ihnen und Ihren Mitstreitern herzlich bedanken. Vielleicht locken wir mit diesem Beitrag auch einmal die Leserinnen und Leser des horus ins Staatliche Museum Schwerin.

Birgit Baumgart: Darüber würde ich mich sehr freuen. Leider nutzen nur wenige die erwähnten öffentlichen Führungen. Aber ich weiß, dass es Zeit braucht, um das Museum als einen Ort des Entdeckens und Unterhaltens zu verstehen. Man kann mit mir auch persönliche Führungen vereinbaren. Rufen Sie mich an (Tel. 0385 5958121) oder schreiben Sie mir (E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!). Es lohnt sich auch, unsere Internetseite zum Buch zu besuchen. Wir planen übrigens eine Nachauflage, eine Übersetzung des Buches ins Englische und haben auch schon die Idee für ein neues Lesetasthörbuch.

Klaus Düsterhöft: Liebe Frau Baumgart, noch einmal vielen Dank für dieses Gespräch.

Zum Autor

Klaus Düsterhöft ist Rechtsanwalt und lebt in Gadebusch. Er gehört dem Leitungsteam der Bezirksgruppe Mecklenburg-Vorpommern im DVBS an und ist Mitglied der Fachgruppe Jura.

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Franz Breiner

Vom Juristen zum Bildhauer

Leicht verstaubt - aus der Werkstatt kommend - und gedankenschwer, sitze ich vor meinem PC. Fast ärgere ich mich darüber, der horus-Redaktion einen Artikel zum Schwerpunktthema Kunst versprochen zu haben; denn inzwischen fällt es mir oft leichter, einen Stein zu gestalten als früher Schriftsätze abzufassen.

Leider ist mein Berufsleben als Jurist durch die Privatisierung meines Dienstherrn "Deutsche Bundesbahn" sehr viel früher als geplant durch eine Versetzung in den "Ruhestand" zu Ende gegangen. Weder Mensch noch Maschine vertragen einen plötzlichen Stillstand aus vollem Lauf! Also was tun?

Ich beschloss, in verschiedenen Selbsthilfeorganisationen tätig zu sein, um die grauen Zellen zu beschäftigen und suchte nach einem auch physischen Ausgleich. Dabei stieß ich auf ein Angebot der Werkstattgalerie 37 der Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte zum Arbeiten mit Steatit/Speckstein.

Meine ersten Eindrücke waren so, dass ich gerade überlegt habe, ob ich wirklich darüber berichten soll. Die "Werkstattgalerie" befand sich in einem baufälligen Nebengebäude. Die Wände wiesen Risse auf, durch die man teilweise die Hand nach außen durchstecken konnte. Die Mäuse freuten sich über unseren Kaffeezucker, und bevor dann ein sehr schöner Neubau das alte Gemäuer ablöste, musste dieses noch mit Metallstützen am Einsturz gehindert werden. Der Leiter der Werkstatt war ein "Künstler wie aus dem Bilderbuch": groß, kantig, etwas brummig, rauchend, mit Zopf. Was in diesem Mann alles steckte - Bildhauer, Schnitzer, Glaskünstler, Maler, Marketinggenie und Pädagoge - habe ich erst im Lauf der Zeit erfahren. In der Werkstatt beschäftigten sich mehrere Blinde, Sehbehinderte und zwei Mehrfachbehinderte mit Steinen von Anhängergröße bis Dreizentnerblöcken.

"Was machst du hier eigentlich?", habe ich mich anfangs oft gefragt. "Such dir einen Stein aus, schau, was aus dem werden könnte und fang an", war die Antwort.

Und was hat das nun mit Kunst zu tun?

Zuerst ging es darum, das zu bearbeitende Material, seine Möglichkeiten und Grenzen kennen zu lernen. Dazu war es notwendig, den Umgang mit den entsprechenden Werkzeugen zu erlernen und einzuüben. Als Ergebnis entstand - quasi im Dialog zwischen Mensch und Material oder anders gesagt: Bearbeitenden und Bearbeitetem, das fertige Werkstück. Wie das, was da entsteht, zu bezeichnen ist: Handwerk, Kunsthandwerk, Kunst oder schlicht undefinierbar, darüber lässt sich trefflich streiten.

Leitet sich der Kunstbegriff rein vom "Können" ab, wie uns dies früher häufig in der Schule gesagt wurde? Dann könnte sich Kunst auch schon in reiner Nachbildung bzw. Darstellung in handwerklich perfekter Arbeit erschöpfen. Kunst kommt sicher auch nicht allein aus dem "Wollen", sonst müsste es, wie Friedrich Nietzsche meint, ja "Wunst" heißen. Auch Joseph Beuys möchte ich nicht zustimmen, für den, überspitzt gesagt, jeder ein Künstler und praktisch alles Kunst war.

Nach meinen Lehrjahren in der Werkstattgalerie 37, zahlreichen von mir durchgeführten Workshops, Ausstellungen, Diskussionen und vielen Gedanken bei der Arbeit am Stein, komme ich zu meinem ganz persönlichen Kunstverständnis: Kunst ist für mich immer die Umsetzung von etwas Geistigem - Idee, Aussage - in etwas Körperliches oder sinnlich Wahrnehmbares. Beispiele für die körperliche Umsetzung sind Skulpturen und Bilder; für sinnliche Wahrnehmungen Musik und Vorträge im weitesten Sinn.

Hinter jedem Kunstwerk sollte also eine erkennbare Aussage oder Idee, mindestens aber eine im Vergleich zum Kunsthandwerk auffällige Ästhetik stecken. Das bedeutet allerdings auch, dass Kunst nicht für alle Menschen gleich definiert werden kann und von ihnen auch nie gleich definiert werden wird. Je nach Auffassungsgabe und bildungsbedingter Erkenntnisfähigkeit wird ein individuelles Bild von Kunst entstehen. Das bedingt und erklärt auch, dass Weniges, was unter Kunst firmiert, allgemein anerkannt und verstanden wird.

Wie stellt sich nun die Arbeit eines blinden Bildhauers in der Praxis dar?

Bei dem Begriff Bildhauer denken sicher viele an einen kräftigen Menschen vor einem großen Stein- oder Holzblock, den dieser mit Hammer und Meißel bzw. Stechbeitel und Klüpfel oder maschinell bearbeitet. Das ist bei Hartholz und festem Stein, von Marmor bis Granit, auch kaum anders vorstellbar. Für einen blinden Menschen ist eine derartige Arbeitsweise aber nur sehr eingeschränkt möglich, weil während der Bearbeitung mit beiden Händen eine Kontrolle des Bearbeitungsvorgangs, die ja nur taktil in Frage kommt, ausscheidet.

Gut geeignet und durchführbar sind dagegen bildhauerische Arbeiten mit Materialien und Werkzeugen, die eine direkte manuelle bzw. unmittelbar werkstücknahe Bearbeitung zulassen. Sehr gut zur Bearbeitung eignet sich deshalb Ton oder anderes knetbares Material, das fast ausschließlich direkt mit den Händen geformt wird. Gut geeignet sind aber auch im Vergleich zu Stahl, Glas, Steinen ab Härtegrad 3 auf der Mohsschen Härteskala und Harthölzern, Steatit/Speckstein und Weichhölzer wie z.B. Linde. Bei diesen kann zur Bearbeitung auf Maschinen, Hammer/Klüpfel und Meißel/Stechbeitel verzichtet werden. Raspeln, Feilen, Schnitzmesser, Schleifschwämme und -matten, die unmittelbar oder werkstücknah mit der Hand geführt werden können, reichen aus. Dadurch kann der Arbeitsverlauf ohne Sehvermögen rein manuell kontinuierlich erfasst werden. Optische Unterstützung nehme ich nur bei Fragen zur farblichen Beschaffenheit des Materials, Spiegelung/Brechung von Oberflächen und zur "Endkontrolle" wegen feiner, taktil nicht wahrnehmbarer Kratzer in Anspruch.

Der überwiegende Verzicht auf Maschine und "Schlagwerkzeuge" bedeutet im Gegenschluss die Notwendigkeit Kräfte und Geduld fordernder Handarbeit. Zu Beginn des Arbeitsprozesses oft schweißtreibend, gegen Ende bei feineren Strukturen und beim Polieren eher meditativ.

Ungeduld und zu forsches Vorgehen werden bestraft. So habe ich schon stundenlange Arbeit zerstört und einem werdenden Engel mit einem Schlag einen Flügel amputiert oder beim Einsatz der Bohrmaschine einen schönen großen Stein gesprengt und in zwei Teile zerlegt.

Steatit/Speckstein ist ein schichtig aufgebautes, sensibles Material. So stellt sich auch die Frage, wie kann insbesondere ein blinder Mensch daraus auch feinere Strukturen schaffen?

Zum einen setzt jedes Material aufgrund seiner Beschaffenheit bestimmte gestalterische Grenzen, aber offenbart - wie der weiche Speckstein - auch erst bestimmte Möglichkeiten; dies betrifft den Sehenden wie den Blinden gleichermaßen und macht die Gestaltung feinerer Strukturen zwar nicht unmöglich, aber generell schwierig. Zum anderen habe ich gelernt, dass eine "reduzierte", das heißt auf das Wesentliche beschränkte, Gestaltung meistens sehr viel eleganter und vor allem aussagekräftiger ist, als technisch schwierige filigrane Darstellungen. Das ist nicht nur für einen blinden Bildhauer, der schon mangels mannigfaltiger optischer Eindrücke oft nicht über exakte bildliche Vorstellungen verfügt, von Vorteil. Von Reduktion in der Darstellung profitieren auch Anfänger. Bei einigermaßen vorhandener guter Motorik und Kreativität entstehen oft schon in Einführungsworkshops unter entsprechender Anleitung erstaunliche Resultate.

Das bildnerische Gestalten macht aber nicht nur Freude und führt zu im wahrsten Sinn des Wortes handgreiflichen Erfolgserlebnissen. Mir hat die Beschäftigung mit der Bildhauerei von Anfang an dabei geholfen, innere Probleme körperlich gestalterisch auszudrücken und besser zu bewältigen, ohne dass ich dies beabsichtigt hätte. Es ist ja auch nicht ungewöhnlich, dass gestalterisch tätige Menschen, ob literarisch oder bildnerisch, ihr eigenes Leben bearbeiten.

So ergibt sich auch aus der bildnerischen Arbeit doppelter Gewinn: Einmal das körperlich gestaltete Ergebnis, handfest, greifbar und dauerhaft. Zusätzlich die, meist unbewusste, Bearbeitung innerer Prozesse.

Nach etwa dreijähriger "Lehrzeit" bei meinen Lehrmeistern Dieter-Josef Bauer (Gründer der Galerie 37 FfM) und Heike-Marei Hess (jetzige Leiterin der Einrichtung), besann ich mich darauf, doch immer gerne unterrichtet zu haben. Als Jurist war ich auch als nebenamtlicher Dozent in der Managementfortbildung tätig gewesen. So führte ich Workshops zunächst für die Volkshochschule (VHS) Friedberg und dann für die evangelische Familienbildungsstätte Marburg durch. Die fast durchgängig sehenden Teilnehmer/innen kamen mit den von mir vermittelten Arbeitstechniken sehr gut zurecht. Wobei ich durchaus auch auf die besonderen, speziell für Sehende gegebenen Möglichkeiten, z.B. Vorzeichnen von Strukturen, eingegangen bin. Nicht nur ich hatte dabei viel Freude und Spaß. Auch die TeilnehmerInnen der Kurse gingen, wie mir meine Frau bestätigte, mit ihren Arbeiten fröhlich und zufrieden nach Hause.

Im Ergebnis kann ich deshalb allen interessierten Blinden und Sehbehinderten eine bildhauerische Tätigkeit "staubichst" empfehlen!

Wer tiefer in das Thema einsteigen möchte, rufe im Internet einige der vielen Beiträge über den blinden Bildhauer und Keramiker Dario Malkowski auf. Wer praktisch an die Sache herangehen will, setze sich mit Heike-Marei Hess bei der Stiftung für Blinde und Sehbehinderte Frankfurt unter der Telefonnummer 069 95512430 in Verbindung.

Weil natürlich der Jurist auch als Bildhauer nie ganz vom Recht lässt, noch folgende Episode zum Abschluss:

Unserem Ehrenvorsitzenden Dr. Otto Hauck brachte ich anlässlich einer Einladung zum Gedenken an seine erfolgreiche Karriere als Jurist ein aus Steatit gefertigtes Paragraphenzeichen mit. Otto betrachtete sich den Gegenstand und fragte verwundert: "Was ist das denn?" Die umstehenden Sehenden hatten gut lachen. Da war ein gestandener Jurist, der tausendfach mit Paragraphen höchst professionell gearbeitet hatte. Aber niemand hatte ihm bislang das entsprechende Schwarzschriftzeichen "begreifbar" gemacht. Dr. Hauck nahm"s gelassen: "Jetzt weiß ich endlich, wie das Ding aussieht!"

Zum Autor:

Franz Josef Breiner hat Jura und Sozialwissenschaften studiert und als Personaldezernent vor allem im Bereich Aus- und Fortbildung bei der Deutschen Bundesbahn/Deutschen Bahn AG gearbeitet. Nach seiner Pensionierung ist er unter anderem als Bildhauer tätig und vertritt die Interessen des BSBH und DVBS bei der barrierefreien Umweltgestaltung.

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Tony Garis Khalil

Meine Geschichte und wie ich zum Malen kam - blista-Schüler gewann Jugendkulturpreis des Landkreises Marburg-Biedenkopf

Der Jugendkulturpreis des Kreisjugendparlaments Marburg-Biedenkopf 2012 ging in der Altersklasse der 17- bis 21-Jährigen an den sehbehinderten blista-Schüler Tony Garis Khalil. Er konnte die Jury mit seinen ausdrucksstarken Acrylbildern überzeugen.

Insgesamt wurden in drei Altersklassen: 6 bis 11 Jahre, 12 bis 16 Jahre und 17 bis 21 Jahre Preise vergeben. Beworben hatten sich Kinder und Jugendliche aus dem gesamten Landkreis, die ihre Beiträge am Jugendkulturtag in der Lahntalschule in Biedenkopf präsentierten. Ein vielfältiges Programm aus Artistik, Tanz, verschiedenen musikalischen Beiträgen aus Klassik, Rock, Pop und Rap, Theater, literarischen Beiträgen, Live-Sprayer-Kunst und eben den Gemälden von Tony Garis Khalil wurde Gästen und der hauptsächlich aus Jugendlichen bestehenden Jury, unterstützt von Holger Marks (Jugendförderung des Landkreises), präsentiert.

Im folgenden Text beschreibt Garis, wie er zur Malerei kam und was ihm die Malkunst bedeutet.

Ich bin Tony Garis Khalil und 22 Jahre alt. Geboren bin ich am 17. Dezember 1990 im Südlibanon in einer Stadt mit ca. 40.000 Einwohnern namens Rimeisch. Dort haben meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich bis zu meinem neunten Lebensjahr gewohnt. Ich habe Albinismus und bin hochgradig sehbehindert. Albinismus ist eine Erbkrankheit und verursacht eine Pigmentstörung im Körper. Helles Haar und Haut, pigmentlose Netzhaut in den Augen sind die Erkennungsmerkmale.

Meine kurze Schulzeit an der Grundschule in der Heimat war häufig abenteuerlich. Jeder beäugte mein Aussehen und nur die Wenigsten hatten mehr als Spott dafür übrig. Doch mit der Zeit lernte ich, damit umzugehen, indem ich mich zurückzog. Ich nahm mir vor, dass ich einmal nicht so werden wollte, sondern mich anderen gegenüber fair verhalten würde. Irgendwann würde ich zeigen, was in mir steckt.

Schon als Kind habe ich immer gerne gemalt, damals jedoch mit Stift und Papier. Ich träumte davon, einmal bekannten Künstlern die Hand schütteln zu dürfen.

Das Malen im Rahmen des Unterrichts faszinierte mich immer wieder aufs Neue und ich probierte zu Hause viel aus. Mit der Zeit merkte ich, dass das Malen viel Ruhe in mir bewirkt. All das Erlebte begann ich mit der Malerei zu verbinden und unangenehme wie angenehme Ereignisse dadurch zu verarbeiten. Dies war nun ein Grund mehr für mich, mit der Malerei weiterzumachen.

Anfang des Jahres 2012 lernte ich die Pädagogin und Künstlerin Stephanie Syré-Merkel kennen. Ich zeigte ihr einige meiner ersten Bilder und sie war begeistert. Sie erkannte, dass ich meinen eigenen Stil habe. Seitdem gibt sie mir immer wieder Tipps für meine Weiterentwicklung im Malen. Gemeinsam gründeten wir ein Malstudio an der blista, zu dem wir noch weitere Schüler aufnahmen. Bald wurden die ersten Bilder erstellt. Trotz meiner Ungeduld sollte auch ich noch grundlegende Dinge erlernen, wie z.B. das Mischen von Farben. Auch wurde ich mit der Spachteltechnik vertraut gemacht, was mir gleich großen Spaß machte. Daraufhin sind einige Werke mit Hilfe des Spachtels entstanden. Nicht nur die Farben und die Technik machen meine Bilder aus, oftmals verwende ich Naturmaterialien, wie z.B. Baumrinde oder Sand, die stilgebend für das Bild werden. Auf diese Art sind einige Bilder entstanden, auf die ich stolz bin. Ich war ganz aufgeregt, als wir auf dem Sommerfest unserer Schule unsere Bilder das erste Mal ausstellen durften. Bislang durften nur wenige Menschen meine Bilder bestaunen und ich war unsicher, wie meine Werke ankommen würden. Ich arbeitete hart darauf hin, einige Bilder fertigzustellen. Die Ausstellung wurde ein Riesenerfolg.

Mir hat das den Mut gegeben, mich für den Jugendkulturpreis 2012 des Kreisjugendparlaments in Marburg-Biedenkopf zu bewerben. Ich möchte auch andere Jugendliche dazu ermutigen, kreativ zu werden und ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu finden - egal, was andere davon halten.

Zum Autor

Tony Garis Khalil lebte mit seiner Familie bis zu seinem neunten Lebensjahr im Südlibanon. Als maronitische Christen musste die Familie fliehen und durfte sich nach Jahren der Unsicherheit in Deutschland niederlassen. Seit 2010 besucht er die blista und möchte hier sein Fachabitur machen.

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Ulrike Backofen und Heiko Kunert

Zwischen Mitleid und Happy End: Blindheit in Literatur und TV

Die Darstellung von Blindheit in Literatur, TV und medialer Berichterstattung bewegt sich zwischen Mitleid und Bewunderung. Und sie ist immer noch nicht frei von Stereotypen. Da sind die "Superblinden", die auf keinerlei Hilfe angewiesen sind, deren verbleibende Sinne extrem geschärft sind, die überaus musikalisch und frei von jeder Oberflächlichkeit sind. Und auf der anderen Seite gibt es die hilflosen Blinden, die keinen Schritt allein gehen können, die ein Leben in absoluter Dunkelheit führen, die traurig und wütend sind und sich nach ihrem Sehen sehnen.

Die Lebenswirklichkeit der allermeisten blinden und sehbehinderten Menschen liegt irgendwo zwischen diesen Extremen. Sie führen ein ganz normales und - wenn ihre Umwelt es erlaubt - selbstbestimmtes Leben, und dennoch sind sie hin und wieder auf menschliche Hilfe oder auf Nachteilsausgleiche angewiesen.

Ein verzerrtes Bild

Das vermittelte Bild von blinden und sehbehinderten Menschen weicht erheblich vom Durchschnitt der Personengruppe ab. Die allermeisten Betroffenen sind sehbehindert, sie sind also nicht vollkommen blind. Groben Schätzungen zufolge gibt es knapp 150.000 blinde Menschen, aber 500.000 bis eine Million sehbehinderte Menschen in Deutschland. Dennoch überwiegt bis heute die Darstellung von Blindheit. Und der Durchschnittssehbehinderte ist im Seniorenalter. Über 40 Prozent sind 80 Jahre oder älter. Dennoch zeigen Medien meist jüngere Menschen.

Die Darstellung von Blindheit dient in fiktiven Medien in der Regel nicht dem Zweck, ein realistisches Bild zu zeichnen. Sie ist vielmehr ein dramaturgisches Mittel. Blindheit steht auch häufig symbolisch für Unwissenheit oder Verblendung. Nicht selten wird Blindheit gleichgesetzt mit Dunkelheit, Tristesse, dem Negativen an sich.

Happy End? Oder, was ist für Blinde gut?

Oft wird die mit Blindheit verbundene Ausgangslage in Filmen, Serien und Büchern in einem Happy End aufgelöst. Ulrike Backofen vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg hat 266 Romane und Kurzgeschichten und 433 Spielfilme und Serien, in denen blinde Figuren auftauchen, systematisch nach Happy Ends durchforstet. Ihr Ergebnis: 332 Medieneinheiten wiesen ein Happy End auf, bei dem die blinde Person einen erkennbaren Anteil am Happy End hatte.

Ein Happy End kann vielschichtig sein. Beispiel: Eine blinde Zeugin trägt dazu bei, dass die Gerechtigkeit siegt. Dies wäre ein Happy End. Sie gerät dabei in große Gefahr und wird gerettet, also das zweite Happy End. Und die Krönung, das dritte Happy End ist, dass sie und der Polizist sich verlieben. Insofern gibt es in der folgenden Statistik zahlreiche Mehrfachnennungen.

In 173 Medieneinheiten gibt es ein Happy End für die blinde Person.

In 119 Medieneinheiten macht die blinde Person andere Menschen glücklich.

In 95 Geschichten besteht zumindest ein Teil des Glücks in einer Versöhnung, Freundschaft oder Liebe.

In 81 Medieneinheiten besteht das Glück darin, dass die blinde Person geheilt wird, also in der individuellen Überwindung der Blindheit.

Happy End für die blinde Person

In 45 der erfassten Geschichten besteht das Happy End darin, dass eine blinde Person ihre Blindheit akzeptiert oder lernt, Hilfe anzunehmen. Der Großteil dieser Geschichten handelt von späterblindeten Menschen, die oft plötzlich durch eine Krankheit oder einen Unfall mit der neuen Situation konfrontiert sind.

Obwohl die Dunkelheit vor ihren blinden Augen immerzu fortbestand, fühlte Mona sich nicht mehr so schrecklich fremd in ihrem Körper. Sie hatte akzeptiert, dass sie sich neu erfinden musste. Was für ein Gefühl! Endlich konnte sie freier atmen. Am liebsten wäre Mona nach draußen gerannt, durch die Lindengasse, durch die Heidebachstraße, durch ganz Dortmund, bis nach Wyoming, um allen zuzuschreien: "Ich bin wieder ein ganzer Mensch!"[1]

Aber auch in den Autobiografien geht es manchmal darum, wie aus einem blinden Kind ohne Selbstbewusstsein ein erwachsener selbstbewusster Mensch wird. Diese Geschichten enden oft, wenn der Autor ein bestimmtes Etappenziel erreicht hat, ein sportliches Ziel, einen Universitätsabschluss, eine Familiengründung.

In einigen Lebensgeschichten geht es auch um Selbstbestätigung, um den Beweis, dass man Herausragendes leisten kann.

In 62 der erfassten Geschichten wird die blinde Person aus einer großen Gefahr gerettet. 28-mal wehrt sich die blinde Person erfolgreich.

Selbst wenn der blinde Protagonist wehrhaft dargestellt wird, spielen die Autoren oder Regisseure mit dem vermeintlichen Widerspruch zur Behinderung: Obwohl sich ihre Helden mutig und klug zur Wehr setzen, gibt es doch immer wieder die Momente der Hilflosigkeit, wenn zum Beispiel die Zuschauer den Täter sehen, bevor ihn die blinde Person bemerkt, oder in denen die blinde Person mit zunehmender Panik in der Stimme fragt: "Ist jemand da? Ist jemand da?" Egal wie wehrhaft der Blinde ist, die Blindheit dient in fast allen Fällen der Spannungssteigerung.

In 33 Geschichten und zwei Serien besteht das Happy End für die blinde Person darin, dass sie Zugang zu Bildung erhält oder sich eine berufliche Existenz aufbauen kann. In historischen Geschichten geht es meist darum, dass ein blindes Kind erstmals Zugang zu Bildung erhält. In neueren Geschichten kann es der Besuch eines Blindeninternats, ein Berufsabschluss oder die Möglichkeit sein, im erlernten Beruf zu bleiben.

In 18 Geschichten besteht das Happy End darin, dass die blinde Person Zugang zu Hilfsmitteln erhält. In der Regel handelt es sich dabei um Punktschrift, tastbare Gegenstände oder Hunde. Die originellsten Hilfsmittel sind ein Führesel [2] und ein Führpapagei, der gleichzeitig noch die Farben ansagen kann. [3]

In acht Geschichten kommen die blinden Protagonisten dazu, ihr Leben neu zu sehen. Das kann religiöser Natur sein, aber auch schlicht die Erkenntnis, dass Geld und Macht nicht alles ist.

" ... ich kann Ihnen verraten, dass ich längst nicht mehr so auf mich selbst konzentriert bin, wie ich es früher war.(...) Das Dunkel hilft einem, sich auf das Geistige zu konzentrieren, es kann einem helfen, zu erkennen, was wichtig ist." [4]

Blinde Person macht andere glücklich

In 17 der erfassten Geschichten trägt die blinde Person dazu bei, dass andere einen Reifeprozess durchmachen, in sieben dieser Medieneinheiten sind es Geschichten vom Erwachsenwerden (Initiation-Stories).

Bei Hope Ryden [5] und Adolf Saager [6] sind es Mittelschichtskinder, denen ihre wohlhabenden Eltern bislang alle Sorgen abgenommen haben und denen es imponiert, wie selbstständig blinde Jugendliche in ihrem Alter leben. Dies bringt sie dazu, ihre eigene Rolle zu hinterfragen.

"Nie zuvor in meinem Leben habe ich so viel gelernt, wie in meiner ersten Woche auf der Ranch. Jeder Handgriff musste mir noch gezeigt werden. Und alle erwarteten sie eine ganze Menge von mir. Hier packte jedes Familienmitglied mit an. Sogar Kelly (die blinde Cousine, Anm. der Red.) wurde eingespannt. "Sie muss genauso ihren Mann stehen", pflegte Onkel John zu sagen. Natürlich konnte ich mich unter diesen Umständen nicht davor drücken, auch meinen Teil zu leisten." [5]

Bei Ani [7] dagegen ist das blinde Mädchen reich und wohlhabend, sie versteht viel von gutem Wein und gutem Benehmen, woran es dem Jungen, der aus sehr viel bescheideneren Verhältnissen kommt, eindeutig mangelt. Der sehende Junge, der bisher den Rest der Welt verachtete, fühlt sich auf einmal klein und dumm, und das etwas ältere blinde Mädchen lässt es ihn auf Schritt und Tritt spüren.

Erwachsene, die durch die Begegnung mit blinden Menschen reifen, sind häufig durch Reichtum oder Erfolg geblendet. Hier entsteht der Einstellungswechsel durch die Konfrontation mit der Not der anderen, meist verbunden mit dem wachsenden Respekt davor, wie klaglos sie ihre Blindheit hinnehmen. Eng damit zusammen hängt die Variante, dass blinde Menschen anderen neuen Lebensmut machen. Dazu lagen 16 Geschichten vor.

In der Mehrzahl der Fälle sind es blinde Menschen, die andere blinde Menschen ermutigen, also der Selbsthilfe-Gedanke. In vier Geschichten fühlte sich ein sehender Mensch hässlich und blühte auf, wenn er von blinden Menschen geliebt wurde. In den restlichen Geschichten machen sehende, aber sehr unsichere Menschen zusammen mit blinden Menschen Erfahrungen, die sie über sich selbst hinauswachsen lassen.

In 94 Medieneinheiten haben Versöhnung, Freundschaft und Liebe einen großen Anteil am Happy End. In immerhin 51 Geschichten trägt eine Liebesbeziehung zum guten Ende bei, in 12 Fällen ist sie zumindest angedeutet. Erstaunlicherweise sind nur bei sechs (von über 60) Paaren beide Partner blind, in einem Fall wird dies auch als Notlösung gewertet.

"Hör bitte zu Nicole. Ich habe gründlich nachgedacht. Wir leben nicht mehr ganz in derselben Welt wie die anderen. Ich könnte mir nicht vorstellen, mit einer Sehenden zu leben. Aber wir beide, wir sind doch von derselben Art. (...)" [8]

In 74 Fällen trägt die blinde Person dazu bei, dass die Gerechtigkeit siegt - 22mal als blinder Zeuge, 28mal als blinder Detektiv oder Polizist (darunter sind zwei Serien), 6mal als blinder Rächer. 54mal wird die blinde Person dabei von sich aus aktiv, d.h. in aller Regel sieht sie ein Unrecht und glaubt aus moralischen Gründen handeln zu müssen. Gelegentlich wird sie von der Polizei befragt, oder sie findet sich in einer Notwehr-Situation wieder. 53mal befindet sich die blinde Person in direkter Auseinandersetzung mit Verbrechern, in diesen Situationen wird es richtig gefährlich.

Happy End durch Heilung

In den 81 erfassten Heilungsgeschichten werden 34 Personen durch Operationen geheilt. Der Großteil der Heilungen ist für Augenärzte wahrscheinlich nicht nachvollziehbar.

"Ich glaube, richtig erklären kann das keiner. Weder Benji als Betroffener noch ich als Mediziner. Ich vermute, dass Benji, seit er das Pferd bekommen hat, sich nichts sehnlicher wünschte als es sehen zu können. Er wollte seinen Ringo ansehen und nicht nur fühlen können. Durch diesen unbewusst eisernen Willen muss es zu dieser unglaublichen Heilung gekommen sein. Sie können es aber auch als Wunder auffassen." [9]

Zumeist ist die Wiederherstellung der Sehfähigkeit von zentraler Bedeutung. Oft dreht sich im jeweiligen Film oder Roman alles von Anfang an darum. In diesen Geschichten macht die Hoffnung auf Heilung das Erlernen von Blindentechniken überflüssig, um nicht zu sagen, es erscheint kontraproduktiv.

"Ach Großmutter, " sagte Elschen gedrückt, "ich möchte gar nicht gerne die Blindenschrift lernen. Der Geheimrat hat doch das letzte Mal gesagt, vielleicht kann ich bald wieder sehen. Wenn ich erst einmal die Blindenschrift lerne, kann ich gar nicht mehr daran glauben." [10]

In sehr vielen Fällen geht die Heilung mit weiteren Problemlösungen einher: Kaputte Familien verstehen sich wieder, Liebende dürfen sich finden. So sagt ein frisch geheilter Mann:

"Ich wusste, wenn du und ich noch länger zusammengeblieben wären, wäre ich zusammengebrochen und hätte dir gesagt, dass ich dich liebe. Und ich hatte Angst, dass du Mitleid mit mir haben könntest und mich heiratest. Mich, einen Blinden. Das konnte ich nicht dulden, Jani." [11]

Manchmal wird sogar das Mensch-Sein von der Heilung abhängig gemacht.

"Gott sei gedankt", sagte Christine aus tiefstem Herzen. "Mein Vroneli ist wieder ein ganzer Mensch." [12]

Quellen:

[1] Margot Berger: Blindes Vertrauen, 2007, S. 153f. zurück zum Text

[2] C.E. Pothast-Gimberg: Tonia und Freund Corso, 1962. zurück zum Text

[3] Boomer, der Streuner: Seine große Chance, USA, 1980. zurück zum Text

[4] William Safire: Der Anschlag, 1978, S. 671f. zurück zum Text

[5] Hope Ryden: Mein Sommer mit den Wildpferden, 1997, S. 29. zurück zum Text

[6] Adolf Saager: Die Rettung, 1926. zurück zum Text

[7] Friedrich Ani: Wie Licht schmeckt, 2002. zurück zum Text

[8] Roger Bourgeon: Sieg über die Nacht, 1986, S.148f. zurück zum Text

[9] Christiane Nähring: Auf vier Hufen ins Licht, 1988, S.119. zurück zum Text

[10] Ilse Grasnick: Elschen - ein Mädchen erlebt etwas Wunderbares, 1951, S.8. zurück zum Text

[11] Madeleine Brent: Wenn im Tal der Mondbaum blüht, 1984, S. 336. zurück zum Text

[12] Helen Weilen: Ihr bester Freund, 1967, S. 183. zurück zum Text

Zu den Autoren

Ulrike Backofen leitet seit 1989 die Bibliothek des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg (BSVH). In dieser werden Literatur, Filme und journalistische Artikel gesammelt, die einen Bezug zum Thema Blindheit oder Sehbehinderung haben.

Heiko Kunert ist seit Januar 2013 Geschäftsführer des BSVH. Zuvor betreute er fünf Jahre die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Vereins. Außerdem schreibt Kunert unter blindpr.com und im Inklusionsblog der Aktion Mensch.

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"Was soll's?" - Inklusives Theaterprojekt von blista und Elisabethschule

Nach 100 Minuten packendem, sprachgewaltigem und bildreichem Theater verbeugen sich 27 Jugendliche in der Marburger "Waggonhalle". In diesem Moment liegen acht intensive Monate der Arbeit an "Unter dem Milchwald" von Dylan Thomas hinter ihnen. Auf den ersten Blick ist gar nicht zu erkennen, was diese Theatergruppe von anderen Ensembles unterscheidet. 27 Schauspielerinnen und Schauspieler, die freudestrahlend und voller Stolz ins Publikum blicken.

Die Theatergruppe, die da gerade ihre verdienten Ovationen entgegennimmt, ist der Zusammenschluss der beiden Theatergruppen der "Deutschen Blindenstudienanstalt", "Nachtsicht" und "Augenschmaus" mit dem Oberstufenkurs "Darstellendes Spiel" der Jahrgangsstufe 12 der Marburger Elisabethschule. Die Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 23 Jahren erwecken das kleine, fiktive walisische Dörfchen Llarreggub und seine absurden, schrulligen Bewohner mit viel Liebe zum Detail zum Leben. Unter Einsatz von Geräuschen, Gerüchen, Gesang, Tanz und wortgewaltiger Sprache gelingt es, die lyrisch-poetische Vorlage von Dylan Thomas scheinbar mühelos auf die Bühne zu übertragen. Voller Spielfreude und Leidenschaft sorgen die sehenden, sehbehinderten und blinden Schauspielerinnen und Schauspieler für einen rundum faszinierenden Theaterabend.

"Ich hatte schon lange die Idee, ein inklusives Theaterprojekt mit einer Marburger Schule auf die Beine zu stellen", erinnert sich Monika Saßmannshausen, Lehrerin der Carl-Strehl-Schule, Initiatorin der Theaterarbeit an der blista und seit 16 Jahren zusammen mit Regisseurin Karin Winkelsträter für die Theateraktivitäten verantwortlich. Die blista stellte finanzielle Mittel zur Verfügung, um Projekte, die sich der Umsetzung der "BRK" (Behindertenrechtskonvention) verpflichtet fühlen, zu unterstützen. Die Suche nach interessierten und engagierten Marburger Schulen konnte losgehen. Marion Benz-Hoff, Lehrerin für "Darstellendes Spiel" an der Elisabethschule, zeigte Interesse und so nahm die Gemeinschaftsproduktion beider Schulen ihren Anfang. Seit August 2012 traf man sich, um einmal wöchentlich miteinander zu proben, sich kennenzulernen und gemeinsam an Ideen zu arbeiten, welches Theaterstück sie auf die Bühne bringen wollten. "Die größte Herausforderung war, ein Thema, ein Stück zu finden, bei dem sich alle 27 Beteiligten wohlfühlen", beschreibt Regisseurin Karin Winkelsträter die Startphase. Nach einer mehrtägigen Probenfreizeit im Frankfurter Haus der Jugend entschied sich das Ensemble dann für "Unter dem Milchwald". "Von da an habe ich versucht darauf zu achten dass jede und jeder ungefähr gleich viel Text zu sprechen hat, keine langen Pausen innerhalb der Inszenierung für jeden einzelnen auftreten", so Winkelsträter.

In der alltäglichen Zusammenarbeit war die Sehbehinderung der einen Hälfte des Ensembles und das uneingeschränkte Sehvermögen der anderen Ensemblemitglieder viel weniger Thema als die Initiatorinnen zu Anfang dachten. Lena Hörster, blinde Schülerin der Jahrgangsstufe 11 an der blista, war vom Umgang der Elisabethschüler mit Sehbehinderung und Blindheit begeistert: "Ich fand es toll, wie selbstverständlich unsere Sehbehinderung angenommen wurde. Man merkte es daran, dass die Elisabethschüler manchmal ganz vergessen haben, dass wir an manchen Punkten Hilfe brauchten bei Dingen, die sie ohne Hilfe geschafft haben."

"Beim gemeinsamen Theaterspielen ist genügend Zeit, um Vertrauen aufzubauen entscheidend", beschreibt Rebecca Druschel, Schülerin des Landschulheims Steinmühle Marburg und schon seit zwei Jahren "inklusives" Mitglied der Theatergruppe "Nachtsicht", eine wichtige Voraussetzung für gelungene Zusammenarbeit. "Mit 26 anderen und acht Monaten Zeit ist dass nicht ganz leicht", so Druschel.

Insgesamt ziehen alle Beteiligten ein äußerst positives Fazit: "Es war toll zu sehen, mit welcher Freude alle bei der Sache waren und bei den Aufführungen um 300 Prozent draufgepackt haben", ist Winkelsträter noch immer beeindruckt. Auch Marion Benz-Hoff ist zufrieden mit der gemeinsamen Produktion: "Für meine Schülerinnen und Schüler ist die blista nicht mehr irgendeine besondere Schule, über die man nichts weiß. Sie ist jetzt ein konkreter Ort mit konkreten Menschen. So wurden spielerisch, eben beim Theater, Unsicherheiten und Vorbehalte abgebaut."

Das "inklusive Theaterprojekt von blista und Elisabethschule" war auch in anderer Hinsicht eine Premiere in der Marburger Theaterlandschaft. Erstmals wurde in Marburg ein Theaterstück mit Live-Audiodeskription versehen, um so auch dem blinden und sehbehinderten Publikum die uneingeschränkte Teilhabe am bildgewaltigen Panoptikum von Dylan Thomas zu ermöglichen. Die blista verfügt seit kurzem über 20 Kopfhörer und eine mobile Sendeanlage, die neben demTheater auch bei Sportveranstaltungen und anderen kulturellen Aktivitäten nutzbar ist. Franziska Lüdtke, selbst Theaterregisseurin und seit vielen Jahren Sprecherin in der "Deutschen Blindenhörbücherei" (DBH), übernahm die "spannende Aufgabe", an den vier Aufführungsabenden die Audiodeskription live einzusprechen. Dabei wurde sie von Mitarbeitern der "Deutschen Hörfilm gGmbH" aus Berlin unterstützt. "Das Wichtigste war, die Balance aus zu viel oder zu wenig Beschreibung zu halten und den Text von Dylan Thomas zu ergänzen, ohne das gesprochene Wort zu überlagern oder zu doppeln", beschreibt Lüdtke ihre Erfahrungen. "Meine Arbeit als Regisseurin hat mir dabei sehr geholfen, weil ich dort auch einen geschulten Blick entwickeln muss für die nonverbalen Aktivitäten auf der Bühne." Lüdtke vergleicht die Arbeit an der Audiodeskription mit der Arbeit von Übersetzern und freute sich über die vielen positiven Rückmeldungen, die sie von blinden Zuschauern erhalten hat. Dank der Audiodeskription konnten die blinden und sehbehinderten Theatergänger sich auch an den bunten Kostümen der Darsteller und den Tanzeinlagen erfreuen. Durch die Audiodeskription hatten die blinden Zuschauer gar einen kleinen Vorteil. Die große Anzahl an Rollennamen und Mitwirkenden war für manchen Zuschauer verwirrend und schwer auseinander zu halten. Dank Lüdtke und ihrer Audiodeskription konnte manch blinder Besucher der Waggonhalle seinem sehenden Sitznachbarn den Namen der gerade über die Bühne tänzelnden Figur zuflüstern.

Die vier ausverkauften Abende in der Marburger Waggonhalle waren ein beeindruckender Beleg dessen, wozu Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, wenn sie sich für ein gemeinsames Ziel engagieren. "Einige davon können schlechter sehen", wie Claus Duncker (Direktor der blista) im Programmheft zum Theaterstück schrieb. "Was soll"s?"

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Deutscher Hörfilmpreis geht an "Der letzte schöne Tag" und "Ziemlich beste Freunde"

"Türkisch für Anfänger" gewinnt dank Facebook-Gemeinde den Publikumspreis, "9einhalbs Abschied" erhält Sonderpreis der Jury

Bei der Gala zum 11. Deutschen Hörfilmpreis hat der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband gleich vier der begehrten Auszeichnungen vergeben. In der Kategorie TV konnte sich die WDR-Produktion "Der letzte schöne Tag" durchsetzen. Das Filmbeschreiberteam wurde von Martin Burike, Nicole Engeln und Stefan Zeh vertreten. Sie nahmen den Preis gemeinsam mit Schauspielerin Natascha Paulick, Produzent Eric Moss sowie Marianne Wegmann und Stefan Moll, beide WDR, aus den Händen von Laudatorin Eva Habermann entgegen. Der Kinohit "Ziemlich beste Freunde", eingereicht von Senator Home Entertainment, erhielt die Auszeichnung in der Kategorie Kino. Die Laudatio hielt Schauspieler Roman Knižka, der den Preis an die Filmbeschreiberinnen Susanne Linzer-Elsässer, Evelyn Sallam und Uta-Maria Torp überreichte sowie an die Synchronsprecher der beiden Hauptfiguren Frank Röth und Sascha Rothermund. Röth verlas ein bewegendes Grußwort von Philippe Pozzo di Borgo, dessen Lebensgeschichte im Film erzählt wird.

Ein Sonderpreis der Jury für die besondere Qualität der Filmbeschreibung ging an den Kinofilm "9einhalbs Abschied", eingereicht von der HW Leasing, vertreten durch Thomas Agerholm. Er erhielt den Preis gemeinsam mit Regisseurin Halina Dyrschka und den Schauspielern Ben und Tim Litwinschuh sowie den Filmbeschreiberinnen Uta Borchert, Uta-Maria Torp und Susanne Linzer-Elsässer. Die Laudatio hielt Moderatorin und Schauspielerin Nina Eichinger, die auch zur Hörfilmpreis-Jury gehörte.

Im Anschluss wurde der Publikumspreis an den Kinofilm "Türkisch für Anfänger" übergeben, der sich nach einer beeindruckenden Voting-Welle auf Facebook mit 75 Prozent der Stimmen durchgesetzt hatte. Die blinde Schwimmerin und mehrfache Paralympics-Gewinnerin Daniela Schulte übergab den Preis an Burt Neuber von Highlight Communications/Constantin Film, die den Film eingereicht hatte. An seiner Seite freuten sich Bernd Benecke vom Bayerischen Rundfunk, die Schauspieler Pegah Ferydoni, Arnel Taci und Katharina Kaali sowie die Filmbeschreiber Alexander Fichert und Roswitha Röding über die Auszeichnung.

Durch den Abend führte Fernsehmoderatorin Dunja Hayali. Für die musikalischen Highlights im historischen Atrium der Deutschen Bank Unter den Linden sorgte das weltweit erfolgreiche Quartett Salut Salon.

Zur Jury unter dem Vorsitz des blinden Musik-Kabarettisten Dr. Dietrich Plückhahn gehörten neben der bereits genannten Nina Eichinger auch Angelika Krüger-Leißner, Stv. Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien, Schauspielerin und Regisseurin Brigitte Grothum, die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Claudia Roth, Filmredakteur Lars-Olav Beier (Der Spiegel), Reinhard Glawe (Bert-Mettmann-Stiftung), Hans Joachim Krahl vom Präsidium des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes sowie Regisseur und Grimme-Preisträger Lars Kraume.

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Simon Kuhlmann

Ein unvergesslicher Abend

Drei Blinde tapern durch Bonn. Der vorneweg ist ortskundig (sagt aber von sich, er wisse eigentlich auch nicht Bescheid), in Hörweite dahinter gehe ich mit einer Freundin aus Bayern im Schlepptau, die an diesem Wochenende erstmalig bei mir auf Besuch ist. Dieser kulturell interessierten Schönheit muss ich etwas bieten und weil ich im Veranstaltungskalender meiner Stadt nichts Geeignetes gefunden habe, haben wir uns auf die größere Nachbarstadt verlegt.

Wir sind auf dem Weg zum Contra-Kreis-Theater. Dort steht an diesem Samstag im Juli 2011 "Gut gegen Nordwind" auf dem Programm.

"Moment mal", höre ich jetzt einige fragen, "Gut gegen Nordwind? Ist das nicht dieser E-Mail-Roman?" Ganz richtig, gemeint ist der Bestseller von Daniel Glattauer, der ausschließlich aus E-Mails besteht, und zwar zu 99,9 Prozent aus denen, die sich eine gewisse Emmi Rothner und ein Leo Leike schreiben, nachdem sie aufgrund eines Tippfehlers in der Mailadresse miteinander in Kontakt gekommen sind.

"Und das geht als Theaterstück?" Ich war auch skeptisch, aber ja, es geht, weil die beiden Schauspieler nicht einfach trocken aus dem Buch vorlesen. Immer wieder höre ich Tastaturgeklapper, was dafür spricht, dass auf der Bühne zwei Schreibtische mit Computern stehen, an denen die Darsteller aber keineswegs ständig sitzen. So zieht Leo einmal seine Jacke an und verlässt den Raum. Herrlich sind auch die Szenen, in denen die Charaktere betrunken sind (hier kommen als Requisiten Flaschen mit Getränken und Gläser zum Einsatz), aber nicht nur in diesen stellen die Akteure ihr schauspielerisches Können unter Beweis und lösen Lachsalven im Publikum aus. Kurz: Wir erleben eine wunderbare Theateraufführung.

Nach der Vorstellung stehen wir drei noch eine Weile vor dem Gebäude und überlegen, ob wir noch irgendwo hingehen. Da gesellt sich ein Mann zu uns. Er finde es toll, sagt er, dass wir - und er meint, wir als Blinde - ins Theater gehen. Das ist aus unserer Sicht natürlich eine ziemlich blöde Aussage, aber er meint es ja nicht so. Daher bleiben wir ganz ruhig und es entwickelt sich eine nette Unterhaltung. Wir sagen, dass uns das Stück gefallen hat und es insofern zu uns passt, als dass wir uns bisher auch nur über E-Mail kannten. Dann erzählt der Mann, der so um die 50 sein dürfte, er sei in Sachen E-Mail und Internet nicht so bewandert. Nun gesellt sich noch eine Frau zu uns: "Und hier kommt auch die Emmi." Da fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Der Mann, mit dem wir uns die ganze Zeit unterhalten haben, ist nicht irgendein Theaterbesucher, sondern der Darsteller von Leo, und jetzt war auch noch die Frau dazugekommen, die die Emmi gespielt hat. Unglaublich! Sonst werden die Stars immer vom Publikum angesprochen, doch bei uns war es umgekehrt. Autogramme mussten wir aber keine geben.

Zum Autor

Der 1978 geborene Simon Kuhlmann machte sein Abitur 1999 integrativ am Conrad-vonSoest-Gymnasium in Soest und studierte im Anschluss Sonderpädagogik mit Musik auf Lehramt an der Universität Dortmund. Nach Erlangung des Ersten Staatsexamens orientierte er sich jedoch um und arbeitet heute als Verwaltungsfachangestellter. In seiner Freizeit widmet er sich der Musik und dem Schreiben und moderiert seit mehreren Jahren die Mailinglisten "Stimmgabel" und "Poet" bei www.blindzeln.org.

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Regina Pfanger

Die scheinbare Rücksichtslosigkeit der Museumsdesigner Oder: Die raffinierte Überwindung der Benachteiligung Sehbehinderter

Eine Glosse zu frustigen Museumsbesuchen

Nachdem ich aufgrund meines Augenleidens das Autofahren aufgab und dann nach einer gewissen Schockstarre beschloss, dass das Leben ja weitergehen musste, erkundigte ich mich beim Amt für soziale Angelegenheiten nach möglichen Vergünstigungen zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Nein, wurde mir beschieden, dafür sei mein Grad der Behinderung zu niedrig (60 Prozent), da sei nichts zu machen, aber ich könnte ja einen Verschlimmerungsantrag (sic!) stellen. Als ich den Beamten davon überzeugen konnte, dass eine Verschlimmerung durchaus nicht in meinem Sinn sei und er seinerseits sein Mitgefühl glaubhaft zum Ausdruck bringen wollte, schlug er mir vor, ich solle statt dessen eine Befreiung der Rundfunkgebühren beantragen: "Schließlich können Sie mit Ihrem Augenproblem am kulturellen Leben nicht mehr teilnehmen jetzt", erklärte er so nachdrücklich, dass ich Widerspruch nicht wagte.

Oh. Das hatte ich bis dahin nicht gewusst! Nichtsahnend hatte ich mich auf Konzerten herumgetrieben - gut hören tu ich ja nicht schlecht -, hatte mich in Kinos der Riesenleinwand erfreut und in Ausstellungen der großformatigen Bilder. Nach manchem Theaterbesuch wurde ich von meinen Begleitern getröstet: Es sei doch ab und zu reine Gnade, nicht so ganz genau ansehen zu müssen, was sich da auf der Bühne genau abgespielt hatte. Wie dem auch sei, das mit dem Ausschluss vom kulturellen Leben war mir nicht bewusst gewesen, und so hatte ich monatelang Kultur schmarotzt und nichts davon geahnt. Schuldbewusst verkroch ich mich vorm Fernseher und litt still - aufmüpfig wurde ich erst, als ich mir die Nase so platt gedrückt hatte, dass keine Brille mehr hielt und mir außerdem die GEZ mitteilte, ich hätte weiterhin meine Gebühren zu bezahlen. Ich tat es brav, beschloss aber trotzig, mich quasi am Amt für soziale Angelegenheiten vorbei, klammheimlich wieder in das kulturelle Leben hineinzumogeln.

Es klappte. Ich wagte mit der Zeit sogar, an der Kasse den Behindertenausweis vorzulegen und keck Preisreduktion zu ergattern - niemand hielt mich zurück und ich war fast so weit, zu glauben, der Herr vom Versorgungsamt sei doch etwas zu weit gegangen. Vielleicht stimmte es ja gar nicht mit dem Ausschluss? Vielleicht war ich ja doch willkommen? Langsam traute ich mich aus den dunklen Kinosälen heraus in hellere Konzerträume, und schließlich wagte ich mich auch in Museen und Galerien. Und da erst fiel es mir auf. Doch, es stimmte, das mit dem Ausschluss. Nein, kein Verbotsschild natürlich. Subtiler und mehr auf allmähliche Zermürbung angelegt: Sehr diskret und ästhetisch ansprechend: Die Beschilderung. Immer kleine, mickrige Buchstaben, offenbar mit letzter Tinte ausgedruckt. Unleserlich. In einem Museum habe ich sie erst gar nicht gefunden und bekam dann vom Aufsichtspersonal einen schnippischen Hinweis auf eine etwas unruhige Stelle neben dem Bild: Da, schauen Sie doch! Bordeauxrote Miniaturschrift auf magentafarbener Tapete. Ich ließ mir nichts anmerken und nickte beflissen. Nächster Versuch in einer anderen Stadt: Schillernde Silberlettern auf spiegelnder Vitrine. Was soll"s. Nicht gleich aufgeben. Trick 17 - die geniale Lösung: Audioguide. Das muss doch klappen, wer sagt"s denn? Mist: Die Zahlen an den Exponaten sind leider unentbehrlich - und die sind so zierlich neben die Konsole gehaucht, dass ohne Lupe gar nichts geht. Ich versuch"s trotzdem. Brrrrrrrr!!! Das war die Alarmanlage - wie peinlich. Ich werde gottseidank nicht abgeführt, weil ich jetzt auf- und entkräftet zugebe, dass ich"s mit den Augen hab. Ich seh" ja nicht genau, wie sie gucken, die Aufseher, als ich betreten aus dem Raum schleiche. Aber bestimmt haben sie die Brauen hochgezogen und einander zugeraunt, dass Leute wie ich besser daheim bleiben.

Tu ich eine Weile schmollend. Sollen die doch ihre ollen Schinken selber anglotzen. Ich merke, dass meine Freundin sich Sorgen um mich macht, in Richtung beginnender Paranoia, wenn ich ihr erkläre, dass ich hinter den Nano-Beschriftungen einen perfiden Plan zum Ausschluss Sehbehinderter mutmaße. Nein, sagt sie. Sie wird mitkommen und mir alles vorlesen, sagt sie. Und sie geht gerne mit mir, sagt sie, und dass sie sich freut, mich zu begleiten. Eigentlich ist sie sehr ehrlich, und normalerweise hält sie ihre Versprechen, aber dann kommt es doch ganz anders, als wir in der Ausstellung sind. Das Vorlesen fällt ihr deutlich schwer: Sie hat sich bisher für normalsichtig gehalten, aber da muss auch sie passen: In den diskret und objektschonend abgedunkelten Räumen befinden sich die Erklärungen auf Hüfthöhe… Andächtig sinkt sie wie die anderen Betrachter in die Knie, stockend und mit der Zeit etwas kurzatmig liest sie die Erklärungen vor. Wir brechen das Unternehmen vorzeitig ab. Vorm Gästebuch stehen die Leute Schlange und reiben sich die schmerzenden Rücken, bevor sie zur Feder greifen. Ich warte auch und erlebe einen Glücksmoment: Endlich was in großen Lettern! Der geballte Frust der Kulturnation! Böse Schmähungen auf rücksichtslose Kulturautisten ohne Sinn und Verstand… Ich frohlocke. Wie schön! Das ist wahre Teilhabe! So werden die Grenzen abgebaut zwischen Behinderten und Nichtbehinderten. Wer sagt es denn? Wir sind alle behindert, und wenn wir"s nicht sind, dann werden wir es.

Stimmt aber eigentlich doch nicht, dass die Museumsdesigner selbstgefällige Autisten ohne Einfühlung in die Situation der Besucher sind, denke ich am Abend dieses glücklichen Tages versöhnlich. Im Gegenteil: Sie sind geradezu Lehrmeister der Empathie, wenn sie es schaffen, dass auch sogenannte Normalsichtige an den kleinen Buchstaben verzweifeln und endlich auch einmal am eigenen Leibe spüren, wie sich funktionaler Analphabetismus anfühlen muss.

Doch, inzwischen geh ich wieder gern in Museen. Die Exponate interessieren mich nur mäßig, und die Beschilderungen schon lange nicht mehr - aber es ist so entlastend, die Verzweiflung derer zu beobachten, die sich sehend wähnen und immer noch lesen und verstehen wollen. Und dann die schrillen Klänge beim Auslösen der Alarmanlagen, die gedämpften Ermahnungen und die gewisperten Rechtfertigungen - ein Ohrenschmaus, an dem sich auch ganz Erblindete immer noch erfreuen können! Das lässt doch optimistisch in die Zukunft blicken!

Zur Autorin

Regina Pfanger ist 1957 in Landau /Pfalz geboren und studierte Germanistik und Theologie. Sie unterrichtet "zum Lebensunterhalt" (davon 15 Jahre in Afrika) und schreibt "zur Lebensbewältigung - wenn auch, von einigen kaum bemerkten Veröffentlichungen abgesehen, vor allem für die Schublade…" Zur Zeit absolviert sie eine berufliche Umorientierung aufgrund eines Makulaleidens.

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Juliane Keppler

Als sehbehinderte Historikerin fürs Museum tätig

Mein Name ist Juliana Keppler. Ich bin 34 Jahre alt. Ich bin seit meiner Geburt sehbehindert. Ich habe Retrolentale Fibroplasie. Das ist eine Netzhauterkrankung bei extremen Frühgeburten. Mein rechtes Auge ist erblindet. Das linke Auge sieht 20 Prozent und ist stark kurzsichtig. Ich habe aufgrund des noch recht guten Sehvermögens den Kindergarten und die Regelschulen in meinem Heimatort besucht. Betreut wurde ich während der Schulzeit von einem Rehabilitationslehrer der Hermann-Herzog-Schule Frankfurt am Main (Schule für Sehbehinderte).

Nach dem hart erkämpften Abitur studierte ich dreieinhalb Jahre lang Lehramt an Sonderschulen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Aus mangelnder Eignung für den Lehrerberuf orientierte ich mich im siebten Semester beruflich um. Ich ging mit dem Berufsziel Journalismus an die Universität Karlsruhe und studierte dort Germanistik und Geschichte. Das Studienzentrum für Sehgeschädigte, das es dort gibt, war mir eine große Hilfe.

Extrem wichtig: Praktika und Nebentätigkeiten

Während meines Studiums machte ich Praktika in Redaktionen verschiedener Printmedien. Dazu kamen auch Praktika bei Museen, nachdem ich durch einen Dozenten auf das Berufsfeld Museum aufmerksam geworden war. Fasziniert vom Angebot des Badischen Landesmuseums (Führungen für Blinde und Sehbehinderte) beschloss ich, selber Führungen anzubieten, um in die Museumsbranche hineinzukommen.

Ich fragte beim Stadtmuseum Karlsruhe an und erhielt die Erlaubnis, Führungen auf Anfrage durchzuführen. Gleichzeitig bewarb ich mich auf eine Ausschreibung hin bei ArtRegioTours, einem Anbieter für kunsthistorische und historische Stadtführungen in und um Karlsruhe. Ich wurde genommen und konzipierte für diesen Anbieter eine Führung zur Karlsruher Kriminalgeschichte und eine zur Karlsruher Frauengeschichte.

Sowohl im Journalismus als auch im Museumswesen ist nach dem Studium ein Volontariat die weiterführende Ausbildung, um als Redakteurin bzw. wissenschaftliche Museumsmitarbeiterin arbeiten zu können. In beiden Berufsfeldern kämpft man gegen eine große Konkurrenz an Bewerbern an. Hilfreich ist eine Mitgliedschaft im jeweiligen Berufsverband "Deutscher Museumsbund" oder "Deutsche Journalistenunion" bereits während des Studiums.

Nach meinem Masterabschluss im Jahr 2009 bewarb ich mich auf Volontariate an Museen und hatte enormes Glück. Das TECHNOSEUM - Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim stellte mich als Wissenschaftliche Volontärin ein. Ich zog von Karlsruhe nach Mannheim und begann im Dezember 2009 am Museum zu arbeiten.

Im ersten Jahr meines Volontariats arbeitete ich auf eigenen Wunsch in der Abteilung für Museumspädagogik. Während meiner Nebentätigkeiten im Studium war in mir der Gedanke gereift, selber irgendwann einmal Führungen für Blinde und Sehbehinderte anzubieten. Das setzte ich nun in die Tat um. Nach Rücksprache mit meinen Vorgesetzten konzipierte ich die Führungsreihe "Führungen für Blinde und Sehbehinderte". Ich erarbeitete die Führungen inhaltlich und hielt sie auch vor sehbehindertem Publikum.

Mehrere Monate recherchierte ich danach für ein Ausstellungsprojekt zum Thema "Freizeit in den Fünfziger Jahren". Das Ergebnis war ein Ausstellungskonzept für die Außenstelle des TECHNOSEUM. Im zweiten Jahr meines Volontariats arbeitete ich im Projektteam der Sonderausstellung "Unser täglich Brot... Die Industrialisierung der Ernährung" mit. Ich führte Internetrecherchen durch. In der Abteilung Sammlungen lernte ich Inventarisieren. Erwerbungen und Schenkungen von Stücken an das Museum müssen in einer Datenbank erfasst werden. Diese Datenerfassung übernahm ich und erfasste (= inventarisierte) historische Kleidungsstücke. Dazu nahm ich ein Kleidungsstück in die Hand und breitete es vor mir auf dem Tisch aus. Ich maß es an den äußersten Punkten mit dem Maßband aus, beschrieb es und ordnete es zeitlich in den historischen Kontext ein. All das trug ich in einen Erfassungsbogen ein. Dieser wurde dann später in die Datenbank eingegeben.

Da mich die Restaurierung von Objekten sehr interessierte, hospitierte ich in der Abteilung für Restaurierung. Ich ging der Restauratorin bei Reinigungsarbeiten zur Hand und unterstützte sie beim Schreiben eines Restaurierungsberichts.

Während des Volontariats war meine Sehbehinderung kaum eine Einschränkung. Am PC benutzte ich eine Vergrößerungssoftware. Wenn ich beim Inventarisieren etwas, wie z.B. Gravuren, nicht erkennen konnte, fragte ich meinen Chef. Das war so abgesprochen.

Nach dem Volontariat war ich noch ein Jahr lang freie Mitarbeiterin am TECHNOSEUM und leitete Führungen. Gleichzeitig war ich einige Monate arbeitslos. Dann fand ich für kurze Zeit Arbeit in der Behindertenhilfe. Zurzeit bin ich wieder arbeitslos. Nebenher schreibe ich als freie Journalistin für den "Mannheimer Morgen" über kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte, Ausstellungseröffnungen und Veranstaltungen von Vereinen.

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Bildung und Forschung

Dr. Heinz Willi Bach

DVBS nahm vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages Stellung

Am 25. Februar 2013 fand eine öffentliche Anhörung zu arbeitsmarkt- und behindertenpolitischen Gesetzesinitiativen der CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion gemeinsam, der SPD-Fraktion und der Fraktion der Linken statt. Ich nahm als Sachverständiger für den DVBS die Gelegenheit wahr, die Stellungnahme abzugeben, die Sie in diesem Beitrag abgedruckt finden. Ich möchte sie hiermit gern zur Diskussion stellen. Vielleicht kann sie als eine Grundlage für ein neues oder aktualisiertes Positionspapier dienen, das wir zum 100-jährigen Bestehen unseres Selbsthilfevereins entwickeln können.

Ich spreche hier als Wissenschaftler (als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim BMAS und langjähriger Schwerbehindertenvertreter) und als Zweiter Vorsitzender des DVBS, eines Verbandes, der als Selbsthilfeorganisation die Interessen sehbehinderter und blinder Menschen in akademischen und verwandten Berufen vertritt. Ich bin selbst an Blindheit grenzend sehbehindert.

Ich erlaube mir hier jedoch im Namen aller schwer(st)behinderten Menschen zu sprechen, die qualifizierte Berufslaufbahnen anstreben oder sich in ihnen befinden.

  1. Aus Sicht dieser Menschen ist die Initiative zur Erhöhung der Ausgleichsabgabe sowie auch die Heraufsetzung der Pflichtquote zu begrüßen.
    1. Die Heraufsetzung der Pflichtquote auf sechs Prozent ist vor allem zu fordern angesichts der Tatsache, dass ca. eine Million schwerbehinderter Menschen in Beschäftigung stehen, diesen aber mehr als drei Millionen schwerbehinderter Menschen im erwerbsfähigen Alter gegenüberstehen. Unter schwerbehinderten Menschen beträgt die Beschäftigungsquote weniger als ein Drittel, während sie ansonsten bei knapp 75 Prozent liegt. Hier liegt also ein großes Beschäftigungspotenzial, das gehoben werden muss. Es hat wohl auch viel mit Vorbehalten gegenüber der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zu tun, dass dies auch angesichts steigenden Fachkräftebedarfs nicht geschieht. Die Anhebung der Pflichtquote erhöht die Zahl der Pflichtplätze, bildet also einen Anreiz, die Nachfrage nach qualifizierten schwerbehinderten Arbeitskräften zu erhöhen.
      Es werden dann Betriebe ab 16 Beschäftigte in die Beschäftigungspflicht einbezogen statt bisher ab 20. Beim Mittelstand (KMU) liegt das größte Beschäftigungspotenzial, weil er am umfangreichsten zusätzliche Arbeitsplätze schafft.
      Im Übrigen wird so der Umfang der Beschäftigungspflicht der gewerblichen Wirtschaft dem des öffentlichen Dienstes angepasst. Dies ist ein Gebot der Gerechtigkeit.
    2. Die Erhöhung der Ausgleichsabgabe erhöht das Interesse, mehr schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen, um die Sanktion zu vermeiden. Es wird ebenfalls die Sanktionsintensität erhöht. Der Ausgleichsfonds wird umfangreicher gespeist. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das Mittelaufkommen für den Ausgleichsfonds nicht nur von der Höhe der Ausgleichsabgabe abhängt, sondern ebenfalls davon, in welchem Umfang die Beschäftigungspflicht (nicht) erfüllt wird.
  2. Um schwerstbehinderten, hoch qualifizierten Menschen (besonders betroffene schwerbehinderte Menschen i.S.d. § 72 SGB IX) Zugang, Barrierefreiheit und gleichberechtigte Teilhabe im Erwerbsleben entsprechend der BRK, insbesondere Art. 27 zu sichern, muss das System der Berufsbildung, der Rehabilitation und der Betreuung bei der Suche nach geeigneten Arbeitsplätzen verbessert werden. Dabei wird ein erhöhtes Mittelaufkommen aus der Ausgleichsabgabe von Nutzen sein.
    1. Mehr Mittel in den Forschungsbereich:
      Die beruflichen Möglichkeiten blinder, gehörloser und anders schwerstbehinderter Menschen müssen erweitert und verbessert werden. Hierzu muss gezielt Forschung angeregt werden, insbesondere zur Sicherung und Erweiterung beruflicher Möglichkeiten im Zusammenhang mit neuen Medien und Technologien. Neue Berufsmöglichkeiten müssen regelrecht erkämpft werden, während z.B. traditionelle Blindenberufe von allein untergehen.
    2. Förderung selbstständiger Existenzen:
      Durch den Strukturwandel im System Arbeit ergeben sich auch für schwerstbehinderte, hoch qualifizierte Menschen neue Möglichkeiten, etwa im IKT- oder im Medienbereich selbstständige Existenzen aufzubauen. Diese beruflichen Chancen müssen umfänglich unterstützt werden. Aber auch bestehende Möglichkeiten als selbstständige Rechtsanwälte, Psychotherapeuten oder Physiotherapeuten etc. müssen gesichert werden.
    3. Qualität der Berufsbildung erhalten und verbessern:
      Gute, hohe Qualifikation ist für behinderte Menschen der Schlüssel ins Erwerbsleben. Wenn Qualifizierungen öffentlich ausgeschrieben werden, muss die Anforderung an Zugänglichkeit, Qualität und Barrierefreiheit entsprechend den behinderungsbedingten Bedarfen genau geprüft werden. Die schlichte Zusicherung von Barrierefreiheit öffnet "Billig-Anbietern" Tür und Tor. Berufsbildungswerke und Berufsförderungswerke für blinde und sehbehinderte Menschen können so ernsthaft gefährdet werden. Letztlich geht es darum, fachdidaktische Kompetenzstrukturen nicht zu gefährden.
    4. Das Hochschulstudium muss zukünftig als Rehamaßnahme gefördert werden. Dies verlangt bereits Art. 24 BRK. Studium ist eine Form der Berufsbildung. Derzeit ist die Finanzierung des behinderungsbedingten Mehraufwands keineswegs gewährleistet. Bei Promotionen und der Ausbildung zu psychologischen Psychotherapeuten sieht es noch schlimmer aus.
    5. Es ist notwendig, in Ergänzung der Integrationsfachdienste sachverständige Stellen bei Interessen- und Selbsthilfeeinrichtungen zu beauftragen. Dies erst ermöglicht Peer Counseling und Empowerment qualifizierter schwerstbehinderter Menschen.
    6. Ebenfalls notwendig ist die Einrichtung von nicht interessengebundenen Beratungs- und Berufsfindungseinrichtungen sowie Hilfsmittelberatung. Es ist sinnvoll, die Prüfung von Hilfsmittel- und beruflichen Qualifizierungsbedarfen auf Einrichtungen ohne eigene Interessen zu konzentrieren.
    7. Bei Beginn eines Beschäftigungsverhältnisses mit schwerstbehinderten, hoch qualifizierten Beschäftigten muss der Arbeitsplatz behindertengerecht ausgestattet sein (Arbeitsplatzassistenz, technische Ausstattung, bauliche Veränderungen …). Wartezeiten sind für den Arbeitgeber wie für den Arbeitnehmer nicht zumutbar, hierzu ist ggf. ein Hilfsmittelpool zu bilden.
    8. Unabdingbar ist ein statistisches Berichtssystem, das über Beschäftigung und Arbeitslosigkeit schwer-)behinderter Menschen nach Art und Intensität der Behinderung und weiteren relevanten Merkmalen informiert. Es muss so ausgestaltet sein, dass es die Grundlage einer rationalen Beschäftigungspolitik bilden kann.
    9. Nach unseren Erfahrungen mit den SGB II-Behörden sollte die gesamte Beratung und Finanzierung der beruflichen Rehabilitation zu den Arbeitsagenturen zurückkehren, soweit die BA Rehaträger ist. Bezüglich anderer zuständiger Rehaträger sollte die Arbeitsagentur die Koordinierungsfunktion übernehmen. Die besonderen Stellen nach § 104, Abs. 4 SGB IX - sog. Reha/SB-Teams - müssen personell ausgebaut und mit hinreichenden Budgets ausgestattet werden, denn die Beratung, Vermittlung und Arbeitsplatzausstattung unserer Klientel ist aufwändig und teuer.
    10. Als Sofortmaßnahme müssen die SGB II-Behörden verpflichtet werden, sog. Reha/SB-Teams (analog zu § 104 Abs. 4 SGB IX) zu bilden und umgehend qualifiziertes Fachpersonal zu beschäftigen. Dies muss uneingeschränkt auch für die sog. Optionskommunen (zugelassene kommunale Träger, zkT) gelten. Die SGB II-Träger müssen hinreichend mit speziellen Budgets ausgestattet werden.
    11. Wir begrüßen die Wiedererrichtung der "Vermittlungsstelle für besonders betroffene schwerbehinderte Akademiker" bei der Zentrale für Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) in Bonn mit bundesweiter Zuständigkeit. In dieser Einrichtung ist Fachpersonal tätig, das die Eigenarten der verschiedenen Behinderungen kennt, ebenso das tertiäre Bildungssystem und die relevanten Arbeitsmärkte.
      Problematisch ist jedoch die Organisation des Vermittlungsprozesses. Die Bewerber werden dezentral in den Agenturen für Arbeit oder in den Jobcentern beraten. Sodann werden sie in der ZAV mitbetreut, die allerdings lediglich als Arbeitgeberservice handeln soll. Arbeitgeberservice bedeutet hier, dass die ZAV-Vermittlungsstelle die behinderten Akademiker Arbeitgebern zur Einstellung vorschlägt. Schwerstbehinderte Akademiker kann man aber nicht nach der Papierform in Arbeit vermitteln. Dies verlangt bereits die Sorgfaltspflicht gegenüber dem Arbeitgeber. Es bedarf vielmehr einer ganzheitlichen Betreuung durch kompetentes und erfahrenes Fachpersonal, das auch die Bewerber persönlich kennt und sich somit ein Bild über ihre Kompetenzen, Möglichkeiten und Grenzen machen kann (und auch die Fähigkeit zur Ermutigung [Empowerment] besitzt). Diese Vermittlungsstelle muss personell ausgebaut werden, um ganzheitlich als "Jobcoach" tätig sein zu können und im Sinne der Entbürokratisierung über ein eigenes Budget verfügen.
    12. Ganzheitliche dezentrale Arbeitsvermittlung
      Auch in den Agenturen für Arbeit und Jobcentern erscheint die ganzheitliche Betreuung schwerbehinderter Arbeitsuchender notwendig. Auch hier muss der Vermittlungsprozess bewerberorientiert sein. Ebenfalls notwendig sind spezielle Budgets für Vermittlungs- und Eingliederungshilfen für diesen Personenkreis. Berufliche Inklusion behinderter Menschen ist vergleichsweise teuer und soll aus der Konkurrenz zu anderen, leichter zu erbringenden Erfolgszahlen befreit werden.

Wenn diese Vorschläge realisiert worden sind, sind wir der Verwirklichung der BRK in Deutschland ein gehöriges Stück näher gerückt.

Zum Autor

Dr. Heinz Willi Bach ist zweiter Vorsitzender des DVBS.

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Start für das Projekt PROMI - Promotion Inklusive

Das Projekt PROMI will es in den nächsten Jahren insgesamt 45 Hochschulabsolvent/innen ermöglichen, zu promovieren. Dazu werden in den Jahren 2013 - 2015 jährlich 15 zusätzliche Stellen an 14 Universitäten in 12 Bundesländern für wissenschaftliche Mitarbeiter/innen eingerichtet. Bei den Promotionsstellen handelt es sich um versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse (halbe TVöD E13-Stellen für die Dauer von 3 Jahren).

Durchgeführt wird das Projekt von der Universität Köln in Kooperation mit dem Unternehmensforum e.V. und der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit. Es richtet sich gezielt an schwerbehinderte Akademikerinnen und Akademiker, die bereits arbeitslos sind oder die z.B. aufgrund des absehbaren Studienendes unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht sind.

Bewerberinnen und Bewerber, die Interesse an dem Projekt haben, können direkt Kontakt mit dem Arbeitgeberservice für schwerbehinderte Akademiker der ZAV aufnehmen (Postanschrift: Arbeitgeberservice Schwerbehinderte Akademiker, Villemombler Str. 76, 53123 Bonn; Tel: 0228 - 7131375; Fax: 0228 - 7132701375; E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

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Berichte und Schilderungen

Dr. Johannes-Jürgen Meister

Eine Pionierin in der Sehbehindertenselbsthilfe - Waltraud Roehse zum 90. Geburtstag

Am 17. März 2013 feierte Waltraud Roehse in Gütersloh ihren 90. Geburtstag. In einer Zeit hoher Lebenserwartung mögen manchem 90 Lebensjahre nicht mehr außergewöhnlich erscheinen, aber der Lebensweg von Waltraud Roehse gibt Anlass, darauf ein wenig einzugehen. 1923 In Gütersloh geboren, verbrachte sie eine sehr behütete, zugleich aber auf Selbstständigkeit bedachte Kindheit. Als stark Sehbehinderte besuchte sie zunächst an ihrem Heimatort die Regelschule. Aufgrund ihrer sehr guten schulischen Leistungen rieten die Lehrer zu einem Wechsel an die blista in Marburg. Noch im Kriegsjahr 1944 erwarb sie dort die Hochschulreife. Als erste hochgradig Sehbehinderte in Deutschland studierte sie anschließend an der Universität Münster Krankengymnastik und Physiotherapie.

Mit eisernem Willen, Disziplin und Ausdauer erzwang sie sich die Zulassung zu Staatsexamen in diesen Berufsfeldern. Gegen große Widerstände konnte sie darlegen, dass sie auch als Sehbehinderte in der Lage war, den Anforderungen des Examens gerecht zu werden. Mit ihrem Mut und ihrem unbeugsamen Willen hat sie ohne Zweifel wesentlich dazu beigetragen, dass diese Berufsfelder als eine Berufsmöglichkeit für Blinde und Sehbehinderte erschlossen wurden. Dass dies vor 65 Jahren noch um einiges schwieriger war als heute, ist leicht nachzuvollziehen. Eine denkbar mögliche Anstellung an einem Krankenhaus oder einer anderen entsprechenden Einrichtung nach erfolgreichem Studienabschluss wurde natürlich kategorisch ausgeschlossen, da sie bestimmte unerlässliche Übungen und Handgriffe gar nicht wahrnehmen und nachvollziehen könne. So blieb ihr Ende der 40er-Jahre nichts anderes übrig als sich mit ihren erworbenen Berufsqualifikationen selbstständig zu machen. Als erste und zudem Sehbehinderte eröffnete sie in Gütersloh in ihrem Elternhaus ihre eigene Praxis, die sie dann 60 Jahre lang betrieb.

1960 zog ihre um vier Jahre ältere Schwester Anne-Margit zu ihr, die bis dahin als MTA an der Uni Heidelberg bei dem Nobelpreisträger Prof. Kuhn gearbeitet hatte. Auch sie ließ sich zur staatlich geprüften Physiotherapeutin ausbilden und führte fortan gemeinsam mit ihrer Schwester Waltraud die Praxis in Gütersloh. Die beiden Damen waren, wie sie heute erzählen, glücklich und zufrieden. "Wir bildeten ein fröhliches Gespann", sagen sie heute. Aber sie wollten sich nicht auf dem Erreichten ausruhen. Dank guter Lehrer erweiterten sie im Laufe der Zeit ihr Aufgabenspektrum durch Zusatzqualifikationen für Geburtsvorbereitung, Elektro- und Stotterertherapie und Autogenes Training. Von 1970 an war Waltraud Roehse für viele Jahre Kreisbeauftragte für Sprachtherapie. Darüber hinaus unterrichtete sie 25 Jahre lang autogenes Training an der VHS Gütersloh. Vieles, so ihre Schwester, habe sie nur durch zähen und unbeugsamen Einsatz, Fleiß und Tapferkeit erreicht. Getrübt wurde dieses Glück Anfang des Jahrtausends durch eine erhebliche Verschlechterung der Sehbehinderung bis hin zu einer fast vollständigen Erblindung nach mehreren Operationen. Auch ihre Schwester erlitt in den letzten Jahren nach zwei Stürzen Oberschenkelbrüche, von denen sie sich bis heute noch nicht wieder erholt hat. "Dennoch lassen wir uns unsere Freude und Fröhlichkeit nicht nehmen", sagen beide übereinstimmend.

Waltraud Roehse trat mit 25 Jahren 1948 unserem Verein bei, der damals noch den Namen Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands (VBGD) trug. Sie ist mithin, was die Vereinszugehörigkeit anbetrifft, unser ältestes Mitglied. Noch heute nimmt sie lebhaften Anteil am Geschehen unseres Vereins. So besuchte sie 2012, begleitet von ihrer Schwester, im Mai die Mitgliederversammlung in Marburg und im Oktober die Mitgliederversammlung der Gruppe Ruhestand in Bad Meinberg. Wir wünschen beiden Damen, dass sie noch lang schöne und fröhliche Stunden an ihrem Lebensabend gemeinsam genießen können.

Zum Autor

Dr. Johannes-Jürgen Meister ist Leiter der Gruppe Ruhestand im DVBS.

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Uwe Boysen

Der Quartaner von 1960 feiert 65. Geburtstag

Wolfgang Angermann wurde am 19. März 1948 in Bremen geboren. Kurz nach seiner Geburt wanderte seine Mutter nach Kanada aus und ließ ihn in Deutschland zurück. Ob sie ihn angesichts der strengen Einwanderungsbedingungen hätte mitnehmen können, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls wuchs Wolfgang zunächst bei seiner Großmutter auf und kam dann mit sechs Jahren in die Blindenschule nach Hannover und dann am 21. April 1960 nach Marburg. Dort lernten wir uns als "Quartaner" in Raum null der damals noch sehr neuen Carl-Strehl-Schule kennen und sind nunmehr, so darf ich wohl sagen, seit 53 Jahren befreundet. Die blista hatte damals zwischen 100 und 120 Schülerinnen und Schüler und unsere Klasse zählte beim Abitur gerade noch 6 Jungen im Alter zwischen 18 und ca. 23 Jahren. Der 9. November 1966 war der große Tag, an dem man uns das Zeugnis der Reife aushändigte und schnell stürzten Wolfgang und vier weitere Klassenkameraden sich in das Abenteuer eines Jurastudiums, anfangs eher zweifelnd bis widerwillig, später dann aber mit Zielstrebigkeit und Ehrgeiz, wussten wir doch zu gut, dass nur eine überdurchschnittliche Examensnote eine schnelle Eingliederung in den Arbeitsmarkt für Juristinnen und Juristen ermöglichen würde. Die Examenszeit - eine sechswöchige Hausarbeit, vier Klausuren und eine mündliche Prüfung in vier Fächern - verlangte uns einiges ab. Doch Mitte Juli 1971 waren auch diese Hürden genommen.

Hier trennten sich Wolfgangs und meine Wege. Während ich Marburg verließ, um meine Referendarzeit in Schleswig-Holstein zu absolvieren, begann er eine Promotion im Zivilprozessrecht und unterrichtete daneben Blindenschrift in der blista. Schon vorher hatte er sich in das Wagnis der Ehe mit Sigrid gestürzt. Schnell kamen dann auch die beiden Kinder Angelika und Ralf zur Welt, auf deren Erziehung die Eltern viel Mühe verwendeten.

1974 begann Wolfgang ebenfalls mit der Referendarzeit. Nach dem zweiten Staatsexamen kam es 1977 zu einer entscheidenden Weichenstellung. Wolfgang bewarb sich auf die neu geschaffene Stelle eines Geschäftsführers des VBGD (heute DVBS) und wurde genommen. So bezog er mit einer Assistentin einen Kellerraum am Schlag mit der ihm explizit gestellten Aufgabe, binnen eines Jahres dafür zu sorgen, dass er sein eigenes Gehalt durch Zuwendungen und Spenden zu erwirtschaften habe.

Die sich anschließende Erfolgsgeschichte der DVBS-Geschäftsstelle trägt eindeutig seine Handschrift. ER belebte die schon zuvor gegründeten Fachgruppen und gründete den Aufsprachedienst für wissenschaftliche Literatur (heute Textservice), ein bis dahin einmaliges Experiment in Westdeutschland, wissenschaftliche Werke zu vertonen, die von den Betroffenen selbst ausgesucht wurden. Gleichzeitig wurde er zu einem der wenigen Sozialrechtsexperten im deutschen Blinden- und Sehbehindertenwesen. Wolfgang Angermanns Interesse an internationaler Arbeit für blinde und sehbehinderte Menschen hat ihn sein Leben lang nicht losgelassen, wie u. a. die Tatsache zeigt, dass er heute als erster Deutscher das Amt des Präsidenten der Europäischen Blindenunion bekleidet.

1994 ging die Ära Angermann beim DVBS zu Ende. In der Mitte seines Lebens suchte er noch einmal nach einer neuen Herausforderung. Er fand sie im Deutschen Taubblindenwerk in Hannover, dessen Direktor er ab Anfang 1995 bis Ende Mai dieses Jahres wurde. Hier stürmten ganz ungewohnte Eindrücke auf ihn ein und zwangen ihn, sich nun nicht mehr mit der beruflichen, rechtlichen und sozialen Eingliederung von blinden und sehbehinderten Menschen in akademischen und verwandten Berufen zu befassen, sondern sich für Menschen zu engagieren, die neben dem Sehsinn auch ihr Gehör nicht nutzen können und damit vor ganz besondere Probleme bei der Kommunikation mit ihrer Umwelt gestellt werden. Wie schon zuvor beim DVBS ging Wolfgang auch diese neue Aufgabe mit großem Engagement und Tatkraft an. Immerhin stand er nun einer Organisation mit ca. 360 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor, ein doch erheblicher Unterschied zur damit vergleichsweise eher kuscheligen DVBS-Geschäftsstelle in der Frauenbergstraße Nr. 8 in Marburg. Jetzt sah er sich auch der Aufgabe gegenüber, Neubauten für seine Schützlinge zu planen und einen umfangreichen Heimbereich mit all seinen Tücken zu verwalten. Dass und wie er diese Herausforderungen bewältigt hat, verlangt Respekt und Hochachtung.

Aber nicht nur im beruflichen Bereich war und ist Wolfgang äußerst erfolgreich. Schon seit früher Jugend ist er ein großer Musikfan. Ich erinnere mich noch gern an die Nachmittage, die wir beisammen saßen und gegenseitig aus dem Radio auf Tonband aufgenommene amerikanische und englische Popmusik kopierten, wie zweifelhaft die Qualität dieser Aufnahmen auch manchmal war. Nachdem Wolfgang seinen ursprünglich in Hannover genossenen Klavierunterricht in Marburg nicht fortsetzen konnte (Kostenträger gab es damals dafür nicht!), griff er bald in die 6 und auch die 12 Saiten verschiedener Gitarren. Es folgte die Gründung einer Schulband, der Magic Herbs, bei denen ich während unserer Studentenzeit auch eine musikalische Heimat fand. Rock- und Popmusik lebt vom Experiment, von der immer wiederkehrenden Frage, wie man einen Song gestalten will und kann. Dazu gehört Aufmerksamkeit, Neugier und Fantasie. Diesen Eigenschaften und dem Experimentieren ist Wolfgang treu geblieben und wird er, wenn mich nicht alles täuscht, auch in Zukunft treu bleiben. Das ist vielleicht der beste Garant dafür, dass er auch auf seinem weiteren hoffentlich noch sehr langen Lebensweg mit vielen Freunden schöne Erlebnisse teilen und Horizonte erweitern kann. Das möchte ich ihm jedenfalls von Herzen wünschen.

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Dr. Johannes-Jürgen Meister

Dr. Herbert Mayer zum Gedenken

Herbert Mayer stand nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit, aber Zeit seines Lebens engagierte er sich in der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe für die Belange und Bedürfnisse der Betroffenen und hier in besonderer Weise für die Schwächsten der Schwachen.

Herbert Mayer wurde am 15. Dezember 1922 im bayerischen Schwaben geboren und verlor im frühen Kindesalter bei einer Staroperation das Augenlicht auf dem linken Auge gänzlich. Mit dem verbliebenen Sehrest auf dem rechten Auge konnte er in Dillingen die Regelschulen besuchen. Mitten im Krieg erwarb er 1942 dort an einem humanistischen Gymnasium das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife. Von dort führte sein Lebensweg nach Marburg an die Deutsche Blindenstudienanstalt und an die Philipps-Universität zum Studium der Jurisprudenz. Unterbrochen durch die Wirren am Ende des 2. Weltkrieges setzte er seine Studien zunächst an der katholisch-theologischen Hochschule in Dillingen in den Fächern Philosophie und Kirchenrecht fort, um ab 1946 dann wieder in Marburg Jura zu studieren. 1950 promovierte er zum Dr. jur. 1952 schloss er das Assessorexamen erfolgreich ab, wurde aber erst 15 Jahre später im bayerischen Staatsdienst zum Beamten auf Lebenszeit berufen. Bis zu seiner Pensionierung 1986 arbeitete er im ehemaligen Versorgungsamt München, dem heutigen Zentrum Bayern für Familie und Soziales.

Aus seiner tief religiös geprägten Überzeugung kümmerte er sich schon 1952 um die Taubblinden in Bayern, 60 Jahre bevor diese Gruppe Schwerbehinderter als eine Behindertengruppe besonderer Art anerkannt wurde. Für sie organisierte und betreute er seither Begegnungen und Freizeiten, über viele Jahre hinweg im internationalen Blindenzentrum Landschlacht am Bodensee. 1969 übernahm er als Gründungsmitglied des Deutschen katholischen Blindenwerkes e.V. die Leitung des Referats für Hörsehbehinderte und Taubblinde, die er bis 2002 wahrgenommen hat. 1968 hatte er das Bayerische katholische Blindenwerk BKBW gegründet, dessen Vorsitzender er bis 2000 war. Hinzu kamen weitere Ehrenämter in anderen Selbsthilfevereinigungen, u.a. als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft katholischer Blindenwerke im deutschsprachigen Raum. Als Mitglied im Vorstand des DKBW zeichnete er verantwortlich für die Redaktion der katholischen Blindenverbandszeitschrift im deutschsprachigen Raum "Lux vera". Bereits seit 1962 redigierte er den katholischen Taubblindendienst.

28 Jahre bis in die frühen 1980er Jahre leitete Dr. Herbert Mayer die Bezirksgruppe Südbayern im DVBS. Beigetreten war er unserem Verein schon am 1. Juli 1947. Als Bezirksgruppenleiter gehörte er natürlich auch dem Arbeitsausschuss an und war eine Zeit lang dessen stellvertretender Leiter.

Für dieses große und umfassende ehrenamtliche Engagement hat Dr. Herbert Mayer zahlreiche Ehrungen erfahren. 1980 wurde ihm vom damaligen Erzbischof von München und Freising, Joseph Kardinal Ratzinger, der päpstliche Silvesterorden, eine der höchsten Auszeichnungen der katholischen Kirche für Laien, verliehen. 1991 erhielt er die Verdienstmedaille des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes BBSB. Für sein ehrenamtliches Engagement erhielt er 1994 das Bundesverdienstkreuz am Bande und im Jahre 2000 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Im gleichen Jahr wurde er zum Ehrenmitglied des Bayerischen katholischen Blindenwerkes ernannt.

Im Jahre 2002 fesselte ihn ein Schlaganfall an den Rollstuhl. Gleichwohl blieben sein Interesse und seine Aufmerksamkeit auf die Blinden- und Taubblindenselbsthilfe gerichtet. Dr. Herbert Mayer verstarb am 1. April 2013 im 91. Lebensjahr. Sein ehrenamtliches Engagement kann uns Ansporn und Vorbild sein.

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Bücher

Sabine Hahn

Hörtipp

Netzgemüse: Aufzucht und Pflege der Generation Internet. Von Tanja und Johnny Haeusler. München: Goldmann, 2012.

Fühlen Sie sich wie auf einem anderen Planeten, wenn Ihre Kinder von sozialen Netzwerken wie etwa Facebook schwärmen, YouTube mögen, mit Videospielen die Zeit vergessen, das Smartphone gar nicht mehr aus der Hand legen und Internet-Kontakte besser pflegen als die Begegnung zu den menschlichen Wesen im Haus? Finden Sie es äußerst spannend, wie andere Eltern mit ihren Sprösslingen umgehen, wenn es um Medienerziehung geht? Schließlich wächst hier eine Generation auf, für die Internet & Co selbstverständlich sind, während die meisten Eltern noch eine Kindheit "ohne" verbracht haben.

Wer weiß, dass sorgenvoll aufgestellte Tabus Kinder und Jugendliche nicht aufhalten werden und Medienkompetenz unerlässlich ist, muss sich informieren. Das Autorenpaar beschäftigt sich seit Jahren mit digitalen Medien und beobachtet äußerst unterhaltsam den Erziehungsprozess der eigenen Söhne und das wechselseitige Lernen. Sie erklären die wichtigsten Medien und Sites, Vorteile und Gefahren im Internet und bieten technische Tipps für die Sicherheit. Welche Spielregeln mit den neuen Medien sind altersgerecht und sinnvoll, wie können die Schutzräume für Kinder und Jugendliche im Netz aussehen, über was sollten Sie auf alle Fälle mit den Kindern sprechen? Denn die Autoren sind überzeugt: "Die Praxiserfahrung, die unsere Kinder im Internet sammeln, ist unerlässlich für ihr Leben und Arbeiten im Heute und Morgen (…)"

Gelesen von Sascha Böhmann, 7 Stunden 50 Minuten lang, Sonderpreis 47 €, Bestellnummer 16907.

Bestellungen richten Sie bitte an: DVBS-Textservice, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Tel.: 06421 94888-22, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Savo Ivanic

Buchtipps aus der blista

In den blista-Buchtipps geht"s diesmal um die Themen Politik und Sport. Außerdem haben wir Belletristik aus Frankreich und dem Iran im Angebot.

Stuhler, Ed: Die letzten Monate der DDR. Die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit

Berlin: Christoph Links Verlag, 2010

Bestell-Nr.: 4650, reformierte Kurzschrift (KR), 2 Bde., 342 S., 43 €; auch als Braille-Datei für die Braillezeile erhältlich

Der Journalist Ed Stuhler schildert die dramatische Übergangszeit in der DDR bis zum 3. Oktober 1990 aus der Perspektive der ostdeutschen Regierungsmitglieder. Sie berichten in Interviews über ihre damaligen Erlebnisse - von den internen Parteiquerelen genauso wie von außenpolitischen Konflikten und den Problemen mit den bundesdeutschen Beratern. Ein spannender Blick hinter die Kulissen der Macht.

Grosser, Alfred: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz

Reinbek: Rowohlt, 2011

Bestell-Nr.: 4705, reformierte Kurzschrift (KR), 3 Bde., 428 S., 64,50 €; auch als Blindenschrift-DAISY-Ausgabe mit synthetischer Stimme erhältlich

In diesem Buch zieht der bekannte Politologe und Historiker eine sehr persönliche Bilanz und erklärt, auf welchen Grundlagen sein lebenslanges politisches Engagement beruht. Er erzählt aus seinem facettenreichen Leben und berichtet über die geistigen Einflüsse, die ihn prägten, über politische Freunde und Feinde sowie über seine religiösen Erfahrungen und Überzeugungen.

Ehret, Marie-Florence: Tochter der Krokodile

Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 2009

Bestell-Nr.: 4636, reformierte Kurzschrift (KR), 1 Bd., 168 S., 21,50 €; auch als Braille-DAISY-Ausgabe erhältlich

Fünf Jahre lang hat das Mädchen Fanta ihre Mutter Delphine nicht gesehen. Seit Delphine nach Paris gegangen ist, um ihrer unglücklichen Ehe zu entfliehen, leben Fanta und ihre Schwester bei ihrer Großmutter Mâ in einem Dorf in Burkina Faso. Doch weit weg von Afrika vermisst Delphine ihre Töchter sehr. Sie arbeitet hart und unterstützt mit ihrem Geld bisweilen das ganze Dorf. Aber eines Tages ist es so weit: Sie kann ihre Familie endlich besuchen! Alle sind aufgeregt, am meisten Fanta. Was soll sie tun, wenn Delphine sie mitnehmen will nach Paris?

Djavann, Chahdortt: Die Stumme

München: Goldmann, 2010

Bestell-Nr.: 4695, reformierte Kurzschrift (KR), 1 Hbd., 88 S., 14,50 €, auch als Braille-DAISY-Ausgabe mit synthetischer Stimme erhältlich

Fatemeh ist 15 Jahre alt. Sie sitzt in einem iranischen Gefängnis. Und sie wartet auf ihre Hinrichtung. Nur noch wenige Tage trennen Fatemeh vom Tod. Die verbleibende Zeit nutzt sie, um in ihrem Tagebuch Zeugnis abzulegen von ihrem Schicksal - und dem ihrer geliebten Tante, die von allen nur "Die Stumme" genannt wurde. Voller Bewunderung erinnert sich Fatemeh an diese freiheitsliebende Frau, die zeitlebens gegen die strikten Regeln ihrer Umgebung rebelliert und in ihrer ganz eigenen Welt gelebt hatte - bis sie eines Tages eine Verkettung von tragischen Ereignissen auslöst, die schließlich auch Fatemehs Los besiegeln.

Fußball-Bundesliga, Saison 2013/14

Bestell-Nr.: 4722, Schutzgebühr: 24,10 € plus Verpackungskosten

In Zusammenarbeit mit dem Sportmagazin "kicker" erscheint unser Punktschrift-Sonderheft zur neuen Bundesliga-Saison. Es enthält unter anderem den Terminkalender für das Spieljahr, Angaben über Vereine und Spieler der 1. und 2. Bundesliga sowie deren Spielpläne und den der 3. Liga.

Formel 1, Saison 2013

Bestell-Nr.: 4721, Schutzgebühr: 17,90 € plus Verpackungskosten

Am 17. März 2013 startete die Königsklasse des Motorsports in die neue Saison. Unser Sonderheft informiert Sie über Pisten, Piloten und PS.

Und für alle Sportfans und die, die es werden möchten:

Der Einwurf - Aktuelles aus der Welt des Sports

Jahres-Abonnement: 36 € für 12 Ausgaben

Unser Hörmagazin "Einwurf" erscheint monatlich und bietet Ihnen ausführliche Informationen zum Sportgeschehen. Ob Fußball, Formel 1 oder Tennis - wir liefern Ihnen eine aktuelle und ansprechende Übersicht.

Ihre Bestellung richten Sie bitte an:

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Postfach 1160, 35001 Marburg. Telefon: 06421 - 606-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Es gelten unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB).

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Panorama

Jochen Schäfer

Frequenzfieber - weltweit zu hören

Jeden Sonntag gibt es beim Internetsender www.slangradio.de "zwischen 10 und 12 Uhr Frequenzfieber - die Informations- und Unterhaltungssendung für blinde und sehbehinderte Menschen in und um Marburg und im ganzen Web". Ein Moderatorenteam um Metin Gemril bringt von Marburg aus interessante Informationen, viel Musik und jede Menge mehr.

Einige Rubriken der Sendung sind:

  • "Hingehört - der Frequenzfieber-Nachrichtenticker" mit Informationen aus der Behinderten- und Sozialpolitik, zusammengestellt und gelesen von Stefan Müller, dem Vorsitzenden der DVBS-Fachgruppe "Medien",
  • Hörfilmtipps (welche Filme mit Audiodeskription laufen im Fernsehen in der jeweils kommenden Woche?) mit Sebastian Decker,
  • der übersetzte Pop-Song: Text eines englischsprachigen Musikstücks, ins Deutsche übersetzt von Jürgen Bopp.

Ein Besuch lohnt sich also immer auf der Seite des "Radios für ein barrierefreies Leben".

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Uwe Boysen

Der DVBS im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages

Seit 2012 bemühen sich DVBS und DBSV darum, neue Gesetze, die den elektronischen Zugang zur Justiz und zur Verwaltung regeln wollen, im Sinne Betroffener mit Vorschriften zur Barrierefreiheit zu versehen. Mehr dazu in der nächsten Ausgabe. Heute sei nur berichtet, dass DVBS-Vorsitzender Uwe Boysen am 15. April als von den Grünen eingeladener Sachverständiger die Möglichkeit hatte, im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages die Notwendigkeit der Barrierefreiheit des elektronischen Rechtsverkehrs mit der Justiz zu begründen. Zwar enthält der jetzige Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucksache 17/12634) entgegen seiner ursprünglichen Fassung - einige Vorkehrungen, die auch blinden und sehbehinderten Menschen die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten erleichtern können. Insbesondere die vorgesehenen elektronischen Übermittlungswege, elektronische Dokumente und die geplante elektronische Akte sind davon aber nicht ausreichend erfasst. Deshalb wurden von der Selbsthilfe teilweise Alternativvorschriften entworfen, die Boysen in den ihm zur Verfügung stehenden fünf Minuten und in einem Schlussstatement erläuterte.

"Wir sind zuversichtlich, dass einiges von dem, was wir vorgeschlagen haben", so erklärte er im Anschluss an die Anhörung, "in den weiteren Beratungen noch in den endgültigen Gesetzestext aufgenommen wird, damit sonst drohende Nachteile für blinde und sehbehinderte Menschen vermieden werden."

Die schriftliche Stellungnahme findet sich unter http://www.dvbs-online.de/php/dvbs-news515.htm.

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Musikwoche für Chorsänger

Zur Musikwoche vom 30. Juli bis 5. August 2013 laden die Aura-Pension Brockenblick und Rosa Maria Dotzler ein. Es werden Chorstücke aus verschiedenen Stilrichtungen erarbeitet. Außerdem können auch kleine Instrumental- und Vokal-Ensembles gebildet werden. Notenschriftkenntnisse sind nicht erforderlich. Vielmehr sollen die Freude am Musizieren und das gesellige Beisammensein im Vordergrund stehen. Mitgebrachte Instrumente sind sehr erwünscht, damit unsere Ensembles entsprechend vielfältig gestaltet werden können.

Für weitere Fragen ist Frau Dotzler unter folgender Telefonnummer zu erreichen: 0 36 41- 21 94 62. Anmeldeschluss ist der 25. Juni.

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UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)

Teilhabe - Beeinträchtigung - Behinderung: Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen

In der letzten Ausgabe des horus habe ich über das Werden des Teilhabeberichtes, seinen Aufbau und einige Charakteristika berichten können, Der Bericht stellt z. B. die bisher üblich gewesene Betrachtung von Behinderung auf den Prüfstand. So wird die vielfach überkommene Vorstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen als vorwiegend hilfebedürftige Personen korrigiert. Menschen mit Beeinträchtigungen sind und leben so unterschiedlich wie alle anderen auch. Es ist allerdings bemerkenswert, dass in fast allen Lebenslagen ein Unterschied der Teilhabechancen zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zu Ungunsten der ersteren festzustellen ist.

Die Lebenslagen von Menschen werden deutlich, die sich aus den unterschiedlichsten Ursachen heraus mit großen Schwierigkeiten konfrontiert sehen, ihr Recht auf Teilhabe zu realisieren. Aufgabe der Politik muss daher sein, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Teilhabe für alle Menschen ermöglicht wird.

Im Folgenden werden einige bemerkentwerte empirische Ergebnisse aus den verschiedenen betrachteten Lebenslagen dargestellt, die als Teilhabefelder bezeichnet werden. Dabei ist auf die Begrenztheit der Aussagemöglichkeiten hinzuweisen, da gegenwärtig das empirische Material noch nicht zufriedenstellend ist. Z.B. bleiben Personen in stationären Einrichtungen stark unterrepräsentiert, wenn überhaupt berücksichtigt, ebenso Menschen mit Kommunikationsbeeinträchtigungen. Derzeit sind die Möglichkeiten einer Lebenslaufanalyse nicht gegeben, da, z.B. empirische Angaben über den Zeitpunkt des Eintritts einer Beeinträchtigung und deren Entwicklung im weiteren Lebensverlauf noch nicht zu erhalten sind. Auch dies zu ermöglichen wird Aufgabe des geplanten umfassenden Surveys zu den Lebenslagen beeinträchtigter Menschen sein.

I Einige Ergebnisse aus den Teilhabebereichen

Eigene Familie und soziales Netz

In diesem Teilhabefeld ergeben sich folgende wesentliche Erkenntnisse:

  • Mangelnde soziale Bindungen erschweren die Teilhabe.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen leben häufiger allein (31 Prozent) und seltener in festen Partnerschaften als Menschen ohne Beeinträchtigungen (21 Prozent).
  • 2O vom Hundert der Kindermit Beeinträchtigungen leben mit nur einem alleinerziehenden Elternteil - meist der Mutter - zusammen. Kinder mit Beeinträchtigungen sind seltener als Kinder ohne Beeinträchtigungen der Meinung, dass in ihrer Familie ein gutes Klima herrscht, "dass … alle gut miteinander auskommen".
  • Erwachsene und Kinder mit Beeinträchtigungen erfahren seltener Hilfe und Unterstützung durch Familie, Freunde oder Nachbarn als Menschen ohne Beeinträchtigungen.
Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung

In diesem Teilhabefeld wird u.a. deutlich:

  • Je geringer der Schulabschluss und/oder je schwerwiegender die Beeinträchtigung, desto geringer ist die Chance auf berufliche und soziale Teilhabe im Erwachsenenalter.
  • Gemeinsame Bildung und Betreuung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen ist im vorschulischen Bereich weitgehend verwirklicht (87 Prozent der Kinder mit Beeinträchtigungen werden in regulären Tageseinrichtungen betreut.)
  • In der schulischen Bildung dominieren die getrennten Bildungswege. Lediglich etwa 22 Prozent der Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Förderung besuchen allgemeine Schulen.
  • Deutlich mehr Jungen (13 Prozent) als Mädchen (4 Prozent) besuchen Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.
  • Die größte Gruppe unter den Schülern in Förderschulen sind junge Menschen mit Lernschwierigkeiten (41 Prozent).
  • Drei von vier Schülern an Förderschulen erreichen den Hauptschulabschluss nicht - ein Ergebnis, das besorgt macht und Fragen aufwirft.
  • Der Anteil derjenigen, die eine behindertenspezifische Ausbildung nach den Vorschriften des Berufsbildungsgesetz oder der Handwerksordnung durchlaufen, ist leicht rückläufig - von 2,5 Prozent aller neu begonnenen Ausbildungen 2007 auf 2 Prozent 2011.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen verfügen häufiger über ein geringeres schulisches Bildungsniveau als Menschen ohne Beeinträchtigungen.
  • 19 Prozent der 30 bis 64-Jährigen mit Beeinträchtigungen haben keinen Berufsabschluss; lediglich 11 Prozent sind es bei Menschen ohne Beeinträchtigungen.
Arbeit, Beruf und Einkommen

Hier werden u.a. folgende Befunde ausgewiesen:

  • Faire Chancen am Arbeitsmarkt sind nur durch eine Verbesserung der Wettbewerbssituation von Menschen mit Beeinträchtigungen sicherzustellen.
  • Von 2005 bis 2010 stieg die Zahl der schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen in Beschäftigung von rund 916.000 auf über eine Million.
  • Ungeachtet dessen sind Menschen mit Beeinträchtigungen seltener auf dem ersten Arbeitsmarkt erwerbstätig als andere. Die Erwerbsquote von Männern mit Beeinträchtigungen liegt bei 58 Prozent (ohne Beeinträchtigungen 83 Prozent). Die Erwerbsquote von Frauen mit Beeinträchtigungen liegt ebenfalls bei 58 Prozent (ohne Beeinträchtigungen 75 Prozent).
  • Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten im Schnitt häufiger in Teilzeit. Sie erzielen geringere Stundenlöhne. Sie arbeiten häufiger als Menschen ohne Beeinträchtigungen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen sind tendenziell häufiger und auch länger arbeitslos (25,9 Monate) als Nicht-Beeinträchtigte (15,3 Monate). Ihre spezifische Arbeitslosenquote ist etwa doppelt so hoch wie die allgemeine.
  • Haushalte mit Menschen mit Beeinträchtigungen verfügen im Durchschnitt über ein geringeres Haushaltseinkommen, niedrigere Renten oder über geringere Vermögensrücklagen. Sie sind häufiger auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen.
Allgemeine Lebensführung

In diesem Teilhabefeld wird Folgendes deutlich:

  • Die Lebensqualität hängt wesentlich davon ab, ob die eigene Wohnung zugänglich und die Infrastruktur und der öffentliche Raum nutzbar sind.
  • Vielfach sind Wohnungen nicht stufenlos erreichbar und weisen auch im Inneren Barrieren auf.
  • Straßen, Plätze, öffentliche Toiletten, Schulen und Bildungseinrichtungen etc. sind nur teilweise oder mit hohem Aufwand für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen nutzbar.
  • Öffentliche Einrichtungen bemühen sich jedoch zunehmend um barrierefreien Zugang.
  • Circa 71 Prozent der rund 5.400 Bahnhöfe der Deutschen Bahn haben im Jahr 2011 stufenfrei zu erreichende Bahnsteige.
  • Die Fahrzeuge des Schienenpersonennahverkehrs sind zu etwa 60 Prozent barrierefrei.
Die gesundheitliche Situation

Die empirischen Daten zeichnen folgendes Bild:

  • Menschen mit Beeinträchtigungen bewerten ihren körperlichen Gesundheitszustand und ihr psychisches Wohlbefinden deutlich schlechter als andere.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen müssen - gemessen an der Häufigkeit der Arztbesuche - öfter medizinische Leistungen in Anspruch nehmen als andere.
  • Vielfach sind Arztpraxen und andere Gesundheitseinrichtungen nicht barrierefrei und nicht auf Patienten mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen eingerichtet.
  • Junge Erwachsene mit Beeinträchtigungen legen weniger Wert auf gesundheitsbewusste Ernährung und trinken häufiger regelmäßig Alkohol.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen im Alter von unter 30 Jahren sind häufiger Raucher als Menschen ohne Beeinträchtigungen.
Freizeitgestaltung, Beteiligung an Kultur und Sport

Indikatoren zur Freizeitgestaltung machen u.a. Folgendes deutlich:

  • Für viele Menschen mit Beeinträchtigungen können Teilhabebeschränkungen in die Isolation führen.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen verbringen ihre freie Zeit häufiger allein als Menschen ohne Beeinträchtigungen.
  • Je höher bei schwerbehinderten Menschen der Grad der Behinderung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen - gewollt oder ungewollt - ihre Freizeit allein verbringen: 19 Prozent der Menschen mit einem anerkannten Grad der Behinderung von über 90 verbringen ihre Freizeit allein.
  • Schwerbehinderte Menschen gehen ähnlich häufig künstlerischen oder musischen Tätigkeiten nach wie Menschen ohne anerkannte Behinderung.
  • Mobilitäts- und aktivitätseingeschränkte Menschen machen seltener Urlaubsreisen und besuchen seltener kulturelle Veranstaltungen.
  • Mit der Erweiterung des sportlichen Angebots hat sich die Mitgliederzahl des Deutschen Behindertensportbundes in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht: von 207.013 im Jahr 1991 auf 618.621 im Jahr 2011.
Öffentliche Sicherheit und Schutz vor Gewalt

Für diesen Bereich werden zum Teil Besorgnis erregende Verhältnisse deutlich.

  • Frauen und Männer mit Beeinträchtigungen sind häufiger Opfer von angedrohter oder erlebter körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt als Menschen ohne Beeinträchtigungen.
  • Das gilt auch für Kinder und Jugendliche. 17 Prozent der Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen wurden in den vergangenen 12 Monaten Opfer von Gewalttaten (ohne Beeinträchtigungen 9 Prozent).
  • Täterinnen und Täter sind häufig Partnerinnen und Partner, Familienmitglieder, Arbeitskolleginnen und -kollegen oder Mitbewohnerinnen und Mitbewohner in Einrichtungen.
  • Ort und Art der erfahrenen Gewalt ist für Frauen und Männer unterschiedlich.

Die Bedrohung von psychischer Gewalt und psychisch verletzenden Handlungen beeinflusst die Teilhabe in allen Lebensbereichen. Der Entwicklung von persönlichkeitsstärkenden Maßnahmen ("Empowerment") kommt deshalb besondere Bedeutung zu.

Teilnahme am politischen Leben

Für den Bereich Politik und Öffentlichkeit ergeben sich folgende Befunde:

  • Menschen mit Beeinträchtigungen nehmen seltener am politischen Leben teil.
  • Menschen mit Beeinträchtigungen aller Altersklassen sind mit der Demokratie durchschnittlich weniger zufrieden als Menschen ohne Beeinträchtigungen.
  • Sie interessieren sich deutlich weniger für Politik als Menschen ohne Beeinträchtigungen.
  • Die Wahlbeteiligung von jungen Erwachsenen (18 bis 29 Jahre) mit Beeinträchtigungen liegt mit 49 Prozent deutlich unter der ihrer Altersgenossen ohne Beeinträchtigungen (71 Prozent).

II Typische Teilhabekonstellationen

Eine Clusteranalyse der Daten aus den verschiedenen Lebenslagebereichen wurde erstellt, um jenseits der einzelnen Teilhabebereiche den Blick auf die Lebenslagen der Menschen mit Beeinträchtigungen insgesamt zu tätigen. Diese Clusteranalyse halte ich für eine der bedeutendsten Innovationen dieses Berichts. Im Rahmen dieses Beitrags kann lediglich eine kursorische Darstellung geboten werden.

Eine Gesamtschau der Indikatoren lässt drei wesentliche Konstellationen erkennen.

  1. Etwa ein Viertel der Menschen mit Beeinträchtigungen erlebt große Einschränkungen in allen betrachteten Lebensbereichen. Typischerweise steht Menschen in dieser Gruppe wenig Geld zur Verfügung. Sie sind oft nicht bzw. nicht mehr erwerbstätig und leben vergleichsweise selten in fester Partnerschaft. Sie bewerten ihren Gesundheitszustand häufig als schlecht und nehmen nur eine geringe Kontrolle über ihr Leben wahr.
  2. Über die Hälfte der erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigungen kompensieren begrenzte Spielräume aufgrund eines schlechten Gesundheitszustands unter anderem durch andere Ressourcen wie gutes Einkommen, feste Partnerschaft oder Unterstützung aus dem sozialen Umfeld.
  3. Die Situation eines weiteren Viertels lässt sich durch vergleichsweise große Handlungsspielräume in nahezu allen betrachteten Teilhabefeldern beschreiben. Typischerweise handelt es sich hier um vollzeitig erwerbstätige Menschen mit einer guten beruflichen Qualifikation und einem sicheren Einkommen. Der Gesundheitszustand wird besser bewertet als bei den anderen Gruppen. Auch die gefühlte Selbstbestimmung ist hoch.

III Das Ziel

Unser aller Ziel ist es, die Vision einer inklusiven Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Der Teilhabebericht bietet eine Bestandsaufnahme von Teilhaberisiken, aber auch von Teilhabechancen. Es ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft, diese Risiken zu minimieren und für faire Chancen zu sorgen. Wir alle sind aufgefordert, aktiv Barrieren abzubauen, denn behindern ist heilbar.

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Amelie Scheider

Gemeinsam für Vielfalt und Teilhabe - Das Leistungsbezogene Entgelt bringt die Umsetzung der BRK in der blista voran!

Im August 2012 fanden alle Beschäftigten der blista ein besonderes Veranstaltungsprogramm in ihren Postfächern. Ein kleines, farbenfrohes Heft für sehende und eine Braille-Broschüre für blinde Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kündigte den Beginn der Umsetzung der Betriebsvereinbarung zum Leistungsbezogenen Entgelt an. Das Programm bietet zwei- bis dreistündige Veranstaltungen innerhalb der Arbeitszeit, die sich in einem breiten Spektrum mit Themen rund um Selbstbestimmung, Interessenvertretung, Teilhabe, Behinderung und Inklusion auseinandersetzen. Alle Angebote sind barrierefrei und stehen allen Beschäftigten offen, damit sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abteilungsübergreifend treffen und austauschen.

Beim "Blind Breakfast" oder den "PunktSpielen" kann man alltägliche Situationen unter Ausschluss des Sehsinns erleben und die eigene Sensibilität für die Bedürfnisse blinder Menschen erhöhen. Bei "Hänsel und Gretel verlaufen sich nie mehr" wird ein Märchen-Text am PC barrierefrei und unter dem Motto "Geht nicht, gibt`s nicht" zeigen unsere Bau-Techniker, wie eine Absicherung von Baustellen aussehen muss, damit sich kein Schüler plötzlich in der Grube wiederfindet. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben die Möglichkeit, mit Schülerinnen und Schülern über Pro und Contra von Facebook und Internet-Shopping zu diskutieren, und die Finanzbuchhaltung führt mit "MoneyMoneyMoney" in die blista-Welt der Finanzen ein. Die Personalabteilung schreibt mit den Teilnehmern (fiktive) Stellen aus, sichtet Bewerbungen und informiert über Leistungen und Pflichten für schwerbehinderte Mitarbeiter aus der Arbeitgeberperspektive. Beim "Crashtest" wird unter fachlicher Begleitung des Liegenschaftsmanagements nach Tops und Flops in Sachen Barrierefreiheit auf dem blista-Campus gesucht und Referenten von DBSV und DVBS informieren darüber, wie die blista in das Netzwerk der politischen Interessenvertretung eingebunden ist.

Hier lässt sich nur ein kleiner Einblick in das bunt gemischte Angebot geben, in dem jede/jeder der ca. 400 Beschäftigten etwas Interessantes finden kann. Dass das Programm sehr gut aufgenommen wird, zeigt auch der Zwischenstand.

Zwischenstand zur Halbzeit

Von insgesamt 16 Veranstaltungen zu 21 Terminen haben inzwischen 9 Angebote stattgefunden. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern steht es frei, an einem oder zwei Angeboten teilzunehmen oder sich nicht zu beteiligen. Im März können bereits 115 Teilnahmen für die Erreichung des Entgeltes gewertet werden. In jeder Veranstaltung werden Evaluationsbögen ausgegeben, um eine Rückmeldung zu erhalten, wie die Beschäftigten die Umsetzung der Betriebsvereinbarung bewerten. Mit einer Rücklaufquote von 92,17 Prozent zeigt die Auswertung bisher folgendes Ergebnis:

Die Veranstaltung schafft Bewusstsein für Teilhabe und Behinderung: Ja, sehr gut 79,05 %; Naja, etwas 16,19 %; Nein, das ist kein Thema 4,76 %

Insgesamt finde ich die Umsetzung des LEG sehr gut gelungen 55,1 %; gut gelungen 42,86 %; nicht gelungen 2,04 %

Die blista freut sich sehr darüber, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den nicht pädagogischen Arbeitsfeldern (u.a. Verwaltung, Hauswirtschaft, Bautechnik) Interesse zeigen und teilnehmen. Hier gelingt es, die Personen in die inklusions-orientierten Prozesse einzubeziehen, die nicht selbstverständlich durch ihr Arbeitsumfeld oder Berufsverständnis Zugang zu Themen wie Selbstbestimmung oder Inklusion haben.

Perspektive 2013/2014

Aufgrund der positiven Rückmeldung hat die Betriebliche Kommission beschlossen, das Konzept der "kleinen, vielfältigen" Angebote weiterzuführen. Stark nachgefragte Angebote werden wiederholt und einige neue Themen werden hinzukommen (u.a. Blindenfußball und Sozialrecht). Im Programm 2013/2014 werden bewusst Veranstaltungen aufgenommen, die für Bedürfnisse und Problemlagen von Menschen mit anderen Behinderungen sensibilisieren. In Planung sind z.B. Angebote zu Leichter Sprache, Gebärdensprache und Lormen und auch über ein Rolli-Training wird nachgedacht.

Zur Autorin

Amélie Schneider ist Mitglied der Betrieblichen Kommission Leistungsentgelt an der blista.

Hintergrund

Die blista verabschiedete 2012 die Betriebsvereinbarung zum Leistungsbezogenen Entgelt nach § 18 TVöD. In der dortigen Präambel heißt es: "Sinn und Zweck der vorliegenden Betriebsvereinbarung ist es, auf diesem Weg im Sinne der UN-Konvention stets neue Anstrengungen zu unternehmen, um das Ziel der vollen gesellschaftlichen Teilhabe von behinderten Menschen zu erreichen […]." Alle Leistungen, die für das besondere Entgelt erbracht werden, müssen schwerpunktmäßig zur "Bewusstseinsbildung" (Artikel 8, BRK) beitragen. Für die konkrete Umsetzung wurde eine betriebliche Kommission einberufen. Die sechs Mitglieder erarbeiteten, in ständiger Kooperation mit der Schwerbehindertenvertretung, das Veranstaltungsprogramm "Gemeinsam für Vielfalt und Teilhabe". Wenn im Zeitraum August 2012 bis Juli 2013 eine Teilnehmerzahl zusammengekommen ist, die mindestens 25 Prozent der Beschäftigten der blista entspricht, wird das Leistungsbezogene Entgelt ausgeschüttet. Die Betriebsvereinbarung, die in ihrer Kopplung an die BRK innovativ und einzigartig in Deutschland ist, wird in Fachkreisen und der Politik begrüßt. Sie ist als "Gutes Beispiel" in den Hessischen Aktionsplan zur Umsetzung der BRK aufgenommen worden. Sie dient als Beispiel, wie sich Engagement für Inklusion und moderne Mitarbeiterführung miteinander vereinen können. Weitere Informationen zum Leistungsentgelt gibt es auf www.brk.blista.de.

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Barrierefreiheit und Mobilität

Rudi Ullrich

Führungen für blinde und sehbehinderte Besucher im Hessischen Landtag

Politik live und vor Ort zu erleben, gehört zum festen Bestandteil des Lehrplans an der Carl-Strehl-Schule. Besuche in Brüssel beim Europäischen Parlament oder dem Bundestag in Berlin gehören ebenso zum festen Bestandteil des Klassen- und Kursfahrtenprogramms wie ein Besuch des Hessischen Landtags in Wiesbaden. Neben den Gesprächen mit Abgeordneten und dem Besuch einer Plenarsitzung gehört auch ein Rundgang zum Programm. Bei dieser Gelegenheit kamen der blista-Lehrer Dr. Christian Roos und Hubert Müller vom Besucherdienst des Landtags ins Gespräch und man war sich schnell einig, dass man Überlegungen anstellen sollte, wie gerade dieser Rundgang für die blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schüler noch informativer und abwechslungsreicher gestaltet werden könnte. Gesagt, getan. Gemeinsam wurde in den nächsten Monaten ein Konzept auf der Basis der bisherigen Erfahrungen erarbeitet und vom Bereich "Kommunikation und Teilhabe" der blista umgesetzt. So entstanden zum Beispiel ein taktiler Übersichtsplan vom Schloss und Plenargebäude, Informationen über den Landtag in Blindenschrift sowie eine Hörfassung im DAISY-Format auf CD. Insgesamt sieht das Konzept der Führung für Sehbehinderte und Blinde auch Angebote für deren Begleitpersonen vor. Es wird ausreichend Infomaterial für die Vorbereitung bzw. Nacharbeitung des Besuches zur Verfügung gestellt und natürlich ist das Angebot nicht auf Schüler beschränkt, sondern steht ab jetzt jedem Besucher zur Verfügung.

Der Präsident des Hessischen Landtags, Norbert Kartmann, hat Ende Februar gemeinsam mit dem Vorsitzenden der blista, Claus Duncker, und im Beisein des Vorsitzenden des Blinden- und Sehbehindertenbundes in Hessen e.V., Frank Schäfer, die neue Blinden- und Sehbehindertenführung des Hessischen Landtags vorgestellt. Der Hessische Landtag werde zukünftig für die repräsentativen Räume des Schlosses und des Plenargebäudes spezielle Führungen für Blinde und Sehbehinderte anbieten, so Kartmann. "Der Hessische Landtag soll für alle Menschen gleichermaßen zugänglich und informativ sein. Die Führung für blinde und sehbehinderte Menschen ist ein wichtiger Schritt, um den Landtag barriereärmer zu machen", betonte der Landtagspräsident.

Duncker bekräftigte die Notwendigkeit solcher Führungen. "Es ist uns ein großes Anliegen, dass Blinde und Sehbehinderte Angebote erhalten, um sich selbst adäquat einen Eindruck von der Arbeit des Hessischen Landtags und seiner Räumlichkeiten verschaffen zu können".

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Aus der Arbeit des DVBS

Einblick gewinnen! - Zwölfte Woche des Sehens vom 8. bis 15. Oktober 2013

"Einblick gewinnen!" heißt es während der diesjährigen Woche des Sehens vom 8. bis 15. Oktober. Mit diesem Thema werden Augenärzte, Selbsthilfeorganisationen und internationale Hilfswerke bundesweit auf die Bedeutung guten Sehvermögens, die Ursachen vermeidbarer Blindheit und die Lage blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland und den ärmsten Ländern der Welt aufmerksam machen. Die Fernsehjournalistin Gundula Gause ist, wie auch in den Vorjahren, Schirmherrin der Kampagne.

Die Woche des Sehens bietet als Aktionswoche den perfekten Anlass, Leser, Zuschauer und Zuhörer über die Themen Augengesundheit, Bedürfnisse von betroffenen Menschen sowie die Auswirkung von Sehbehinderungen und Blindheit in Deutschland und weltweit zu informieren.

Die Partner der Woche des Sehens

Getragen wird die Woche des Sehens von der Christoffel-Blindenmission, dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, dem Berufsverband der Augenärzte, dem Deutschen Komitee zur Verhütung von Blindheit, der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft, dem Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf sowie der PRO RETINA Deutschland.

Unter www.woche-des-sehens.de stehen ab Juli umfangreiche Pressematerialien zu Augenkrankheiten, Vorsorge, Therapien, Hilfsmitteln und vielem mehr zur Verfügung.

Regionale Veranstaltungen, die im Rahmen der Woche des Sehens stattfinden, können finanziell gefördert werden. Informationen erteilt die Koordinatorin der Woche des Sehens, Carolina Barrera. Telefon: 030 28 53 87 280, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Die Voraussetzungen für eine Förderung finden Sie auch im Internetauftritt der Woche des Sehens.

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Personalien

Prüfungen, Anstellungen, Beförderungen

DVBS-Vorstandsmitglied Uwe Bruchmüller aus Möser wurde mit Wirkung vom 1. März 2013 von der Justizministerin in Sachsen-Anhalt zum Richter am Oberlandesgericht ernannt.

Dr. Karl-Heinz Schach aus Kirchheim ist seit 1. Januar 2013 im Ruhestand.

Elisabeth Stiebeling aus Düsseldorf wurde vom Präsidium des Sozialgerichts Düsseldorf für die Zeit vom 1. Januar 2013 bis 31. Dezember 2017 zur ehrenamtlichen Richterin berufen.

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Vielen Dank für Ihren Besuch auf der SightCity!

Das neue Projekt Bit Inklusiv, Sehbehinderung sowie Ausbildung und Studium waren die Themen, die der DVBS während der diesjährigen SightCity in Frankfurt präsentierte. Am Gemeinschaftsstand von blista und DVBS wurden anregende Gespräche geführt, Informationen ausgetauscht und Kontakte geknüpft. Vielen Dank für Ihren Besuch!

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Terminvorschau

Seminartermine 2013:

25. bis 28. Juli: Fortbildungsseminar der FG Wirtschaft, Reden und Präsentieren vor großen und kleinen Gruppen in Herrenberg

6. bis 8. September: Energydance, fachgruppenübergreifendes Seminar in Hannover

20. bis 22. September: Fortbildungsseminar der FG Jura mit Besuch des Bundessozialgerichts in Kassel

27. bis 29. September: Bundesweites Treffen Studierender der Fachgruppe Ausbildung in Bad Homburg

7. bis 14. Oktober: Seminar der Gruppe Ruhestand in Timmendorfer Strand

11. bis 13. Oktober: Psychodrama-Selbsterfahrungsseminar (fachgruppenübergreifend)in Saulgrub

18. bis 20. Oktober: Fortbildungsseminar der FG Soziale Berufe und Psychologie in Hünfeld/Hessen

24. bis 27. Oktober: Fortbildungsseminar der FG Wirtschaft, Zeit- und Selbstmanagement in Herrenberg

22. bis 24. November: Fortbildungsseminar für Ehrenamtliche im DVBS in Kirchheim

Weitere Informationen zu den Terminen finden Sie unter www.dvbs-online.de/php/aktuell.php

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Aus der blista

Christoph Cornehl

Die Skifreizeit - ein Vergnügen mit Tradition

Ein großes Ereignis, sowohl in sportlicher als auch in persönlicher Hinsicht, ist in der 9. Klasse immer wieder die Skifreizeit. Diese fand in diesem Jahr übrigens bereits zum 20. Mal im Schullandheim Habischried (Bayerischer Wald) statt.

Sich an den anstrengenden Tagesablauf zu gewöhnen - immerhin fuhr man beim Langlaufen den ganzen Tag und beim Alpin immerhin halbtags - war für manche von uns eine sehr anspruchsvolle Herausforderung, in die jedoch am Ende jeder hineingewachsen ist. Für einige von uns war das von Anfang an unproblematisch, weil sie schon Skifahren konnten und es daher sehr genossen haben.

Highlights außerhalb des Skifahrens waren die abendlichen Freizeitangebote, bei denen manche noch einmal die letzten Kraftreserven mobilisieren mussten, um regelmäßig bei den Aktivitäten dabei sein zu können. Das Skifahren selbst gestaltete sich als eine sehr kräftezehrende Angelegenheit. Beim Langlauf waren die Skier lang, verschieden breit und vorne nach oben gebogen, all dies dient der richtigen Balance. Beim alpinen Skifahren gibt es zwei Arten, die langen normalen Carving-Ski und die kleineren Bigfoots, die zum Lernen der Technik besonders geeignet sind. Neben dem Skifahren gab es noch andere spannende Unternehmungen. So haben wir eine Fahrt nach Regensburg zu einem Eishockeyspiel unternommen und besuchten eine Glashütte, wo wir das im Bayerischen Wald traditionelle Handwerk des Glasblasens erklärt bekamen. Jeder durfte selbst eine Glaskugel blasen. Außerdem wurde sowohl das Ende des Langlaufens in der Mitte der Freizeit mit einem Bergfest, als auch das Ende der gesamten Skifreizeit mit einem großen Abschlussfest gefeiert. Dort wurden am letzten Abend auch die Ergebnisse der Projektgruppen, die während der freien Zeiten der Alpinwoche stattgefunden hatten, vorgestellt.

Übrigens wurde bei einer Befragung festgestellt, dass diese Freizeit neben der Ruderfreizeit ganz oben auf der Liste von vielen steht. Es ist für die meisten sogar die coolste Freizeit überhaupt. Und auch diesmal hatten wir richtig viel Spaß und so wird sie auch den meisten von uns in bester Erinnerung bleiben. Und das spricht ja mehr als deutlich dafür, diese Tradition zu erhalten, oder?

Aus dem Tagebuch von Patrick Debinsky

Mein erster Tag auf Langlauf-Skiern

Heute war es endlich so weit. Ich habe noch nie auf einem Ski gestanden und freute mich umso mehr, als es losging. Mein Skilehrer Fabian zeigte mir den Ski und erklärte Tim und mir, wie man ihn einsetzt. Dies gelang uns nach einigen Schwierigkeiten, denn immer wieder war Schnee unter dem Schuh. Als die Skier endlich fest saßen, machten wir ein paar Übungen. Ich war ziemlich angeschlagen, weshalb mir nach einer Zeit schwindelig und schlecht wurde. Also wurde ich aus der Gruppe geholt. Nachmittags war ich aber wieder dabei. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, in der Loipe mit den beiden Stöcken zu laufen. Dann kam eine kleinere Abfahrt und ich brauchte nur Anschwung zu geben mit den beiden Stöcken. Leider hatte ich nicht genügend Vorlage, weshalb ich, als es ein wenig bergauf ging, nach hinten gerissen wurde. Ich hatte zwei Lektionen gelernt: Zuerst natürlich, auf die Vorlage achten und nie versuchen, sich abzurollen, um besser zu fallen. Nach einiger Zeit konnte ich sogar schon eine Abfahrt wagen. Fabian hielt mich am Stock fest, um jederzeit eingreifen zu können. Manchmal hat er auch losgelassen, trotzdem konnte ich mich gut auf den Skiern halten. Insgesamt bin ich an diesem Tag nur viermal hingeflogen. Das vierte Mal war für mich das Highlight. Ich hatte gerade über Leute gelacht, wie es sie "geschmissen" hatte, und merkte nicht, wie ich von einem kleinen Hang abrutschte - und schon lag ich im Schnee.

Mein letzter Tag auf Langlaufskiern (Die Tagesfahrt)

Ich war einer von denen, die von Bischofsmais losliefen. Andere haben sich direkt von Habischried auf den Weg gemacht. Nach einer langen Skifahrt erreichten wir endlich die "Zimt-Oma". Wir kehrten ein, aßen Suppe, machten Musik und dann gab es den Nachtisch: Zimtnudeln! Deswegen heißt das Lokal auch "Zimt-Oma".

Danach hatten wir die Wahl, entweder mit den Skiern bis Bischofsmais zurückzulaufen oder mit dem Bus zurück ins Schullandheim zu fahren. Im Großen und Ganzen fand ich das Langlaufen gar nicht mal so schlecht, aber ich bekomme "Schiss", wenn ich abfahren muss. Auch wenn man weich fällt, ist das für die meisten Blinden ein Stressfaktor und selbst die Skilehrer haben gestanden, dass sie sich mit verbundenen Augen überhaupt nicht wohl gefühlt haben.

Aus dem Tagebuch von Christoph Cornehl

Mein erster Alpin-Skitag

Dieser war geprägt von Frust über mich selbst. Viele neue Bewegungen, noch dazu mit unglaublich steifen Alpinschuhen, forderten mich gänzlich. Wenn es an diesem Tag kleine Fortschritte bei mir gab, so hat diese nur Fabi, mein Alpin-Skilehrer, bemerkt. Mir blieb nur die Erkenntnis, dass Langlaufen ja sooooo viel schöner gewesen ist und das deprimierte mich sehr. Ich nahm mir vor, noch stärker für eine gute Alpinwoche zu arbeiten und mir den Spaß durch den ersten Tag nicht rauben zu lassen.

Mein letzter Alpin-Skitag

Meine zahlreichen, im Laufe der Skifreizeit erlittenen Blessuren hielten mich nicht davon ab, alles zu geben. Ich war erneut in Greising - ein Skihang, der meinem Niveau angemessen war. Zuerst fuhren mein Skilehrer Fabi, Herr Arnold und ich mehrmals mit der Stange zu dritt den Berg von oben hinunter, um den Spaßfaktor bei allem Lerneffekt nicht zu kurz kommen zu lassen. Dann ging es erst richtig los, ich präsentierte mich erstaunlich gut beim Abfahren und setzte die Techniken fast immer zur Zufriedenheit meiner Peiniger bzw. Lehrer ein. Diese erlaubten mir schließlich, auch ohne Kurvenansagen zu fahren, was wieder einen großen Schritt nach vorne darstellte. Dass Linkskurven meine Schokoladenkurven sind, stellte sich besonders jetzt eindeutig heraus.

Viel Prominenz zu Ehren der blista

Aus Anlass des 20-jährigen Besuchs der blista im Schullandheim in Habischried bedankten sich die Vertreter der Gemeinde und überreichten kleine Geschenke. Die Aufenthalte sind in der Gemeinde Bischofsmais ein fester Bestandteil des Winters. Für die Schüler werden im Bereich Habischried extra Loipen gezogen, und auf der Wiese der Moorwirtschaft können die ersten Schritte mit Alpin-Skiern unternommen werden.

Der 1. Bürgermeister Walter Nirschl und der Leiter der T-Info Max Englram freuten sich, dass die blista jetzt bereits zum 20. Mal den Weg in ihre Gemeinde gefunden hat. Der 2. Bürgermeister Helmut Plenk, der gleichzeitig Behindertenbeauftragter der Gemeinde ist, berichtete, dass die Zeitschrift blista-news für ihn eine wichtige Informationsquelle ist. Für das Schullandheimwerk Niederbayern-Oberpfalz war eigens der Vorsitzende Karl-Heinz Thöne zur Ehrung angereist und überreichte eine Urkunde.

Barbara Zink bedankte sich im Namen der blista bei der Gemeinde für die große Unterstützung und lobte besonders das große Engagement des Loipenfahrers Josef Besold, der immer wieder auf die Wünsche der blista eingehe und entsprechend die Loipen ziehe. Ein besonderer Dank galt natürlich auch den Damen des Schullandheimes in Habischried, allen voran der Leiterin Elfriede Michalczyk, für die stetige Umsorge bei den Skifreizeiten.

Zum Autor

Christoph Cornehl ist Schüler der Jahrgangsstufe 9 an der Carl-Strehl-Schule.

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Pädagogik und ISO 9000?

Jürgen Nagel

Zertifizieren, Akkreditieren, Qualität managen

Seit mehreren Jahren müssen wir uns in der Rehabilitationseinrichtung zunehmend spezifischen Anforderungen verschiedenster Kostenträger stellen. Das heißt, wir müssen nachweisen, dass wir das, was wir schon seit vielen Jahren tun, auch wirklich sach- und fachgerecht erledigen, sonst können wir die Leistungen nicht mehr abrechnen. Hintergrund für die zum Teil sehr aufwändigen Verfahren sind immer neue Bestimmungen, die von Kostenträgern, oft auf der Basis neuer gesetzlicher Regelungen, festgelegt wurden. In der RES betraf das in jüngerer Vergangenheit vor allem die IT-Ausbildung, die Fachschule für Fachkräfte der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation und den Bereich "Orientierung und Mobilität". Aber der Reihe nach.

IT-Ausbildung

In der IT-Ausbildung dachten wir im Frühjahr 2011, nach Erstellung eines umfangreichen Qualitäts- und Leistungshandbuches für die Agentur für Arbeit: Jetzt haben wir diese Hürde genommen und es kehrt Ruhe ein. Doch eine Verordnung im Bundesgesetzblatt im April 2012 belehrte uns eines anderen. AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung) war das neue Zauberwort. Dahinter verbarg sich ein unumgängliches Verfahren, dem sich jeder Träger, der Maßnahmen der Arbeitsförderung erbringt oder erbringen möchte, zu stellen hat. Im Oktober haben wir uns dann an die Arbeit gemacht. Erstellung eines neuen Qualitätshandbuches, Ausfüllen umfangreicher Vordrucke und Formulare, und zum guten Schluss bekamen wir dann am 10. Dezember Besuch vom Auditor der fachkundigen Stelle, die uns nach erfolgreich bestandenem Audit das wichtige und notwendige Zertifikat ausgestellt hat. Wir haben nun gemäß § 178 SGB III als Träger nach dem Recht der Arbeitsförderung nachgewiesen, dass wir den Anforderungen der AZAV nachkommen, und der Termin für das jährlich zu wiederholende Audit im Dezember 2013 steht auch schon fest. Dieses Zertifikat gilt, wie in der Verordnung festgelegt, für fünf Jahre. Wir sind jetzt gespannt, was bis dahin gesetzlich neu bzw. anders geregelt wird oder welche neuen Qualitätsmanagementinstrumente entwickelt werden.

Hilfsmittel und Unterricht in "Orientierung und Mobilität"

In diesem Bereich ging es um die sogenannte "Präqualifizierung", d.h. als Leistungserbringer und Vertragspartner für die gesetzliche Krankenkasse gemäß § 126 SGB V zugelassen zu werden. Denn nur wer präqualifiziert ist, darf z.B. Hilfsmittel anpassen und abgeben. Dazu gehören auch der Blindenlangstock und die damit obligatorisch verbundene Schulung in "Orientierung und Mobilität".

Um es vorweg zu sagen, natürlich haben wir diese Hürde genommen, aber das Verfahren, um nachzuweisen, dass wir die Voraussetzungen für eine ausreichende, zweckmäßige und funktionsgerechte Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel erfüllen, erforderte einen enormen bürokratischen Aufwand. In einem mehrseitigen Werk wurden Verantwortlichkeiten erklärt, Prozesse und Organisationsschemata beschrieben, Dokumentationen und Materiallisten, auch mit Bildmaterial, erstellt und viele Fragen zur zeitnahen und sach- und fachgerechten Versorgung beantwortet.

Unbefristete staatliche Anerkennung der Fachschule für Rehabilitation

Nach einem äußerst aufwändigen und mehrjährigen Verfahren hatten wir 2009, vorerst befristet, die staatliche Anerkennung der 1½-jährigen Fachschule für Fachkräfte der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation erhalten. Nach weiteren Prüfungen hat jetzt das Hessische Kultusministerium die unbefristete Anerkennung ausgesprochen. Das heißt, auch künftig werden die Absolventen diese Fachschule mit einem staatlich anerkannten Abschluss verlassen, um danach als " Rehabilitationsfachkraft in den Bereichen "Orientierung & Mobilität" und "Lebenspraktische Fähigkeiten" zu unterrichten.

Fazit

Egal welche Hürde wir nun in den einzelnen Bereichen genommen haben oder welche formalen Kriterien wir nun im Detail erfüllen: In der Summe aller Maßnahmen geht es darum, Arbeitsprozesse und Arbeitsinhalte im Sinne einer qualitativen Betrachtung und Durchführung zu analysieren und zu dokumentieren, wobei die Überprüfbarkeit jederzeit gewährleistet sein muss.

Für andere Bereiche der Arbeitswelt gibt es diese Vereinbarungen und Regeln schon lange. So fand im Oktober 1946 in London die erste internationale Konferenz nationaler Normungsorganisationen statt, an der Delegierte aus 25 Ländern teilnahmen. Und seitdem gibt es immer mehr Verordnungen, wie z.B. die ISO 4762 für eine Zylinderschraube mit Innensechskant oder die ISO 16000 für Innenraumluftverunreinigungen oder die ISO 30006 für Schiffe und Meerestechnik und eben auch die ISO 9000 für Qualitätsmanagementsysteme.

Aber eins ist sicher. Da wird noch manche Verordnung auf uns zukommen. Wer weiß schon heute, wie Pädagogik nach ISO in der Zukunft gemanagt wird bzw. werden soll?

Zum Autor

Jürgen Nagel ist Leiter der RES.

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Frank Lenz

Aus alt mach neu: Umbau, Erweiterung und Sanierung des Hauses "Am Schlag 4"

Die Wette läuft. Bis zum kommenden Schuljahr, das im August beginnt, soll das Gebäude "Am Schlag 4" fertig sein, sonst wird gegebenenfalls der eine oder die andere auf dem blista-Campus "Am Schlag" Dinge tun müssen, die andere verblüffen mögen ...

Der blista-Campus befindet sich im Wandel. Genau 60 Jahre hat das Haus "Am Schlag 4" mittlerweile auf dem Buckel. Einst Hort für junge Internatsbewohner, ist das Gebäude heute mit dem hohen baulichen Standard der übrigen Schulgebäude nicht mehr zu vergleichen.

Notwendigkeit der Sanierung

Die aktuelle Maßnahme "Umbau, Erweiterung und Sanierung" des Gebäudes erwies sich nach gründlichen Überlegungen als beste Möglichkeit, räumliche Kapazitäten zu schaffen, die einen modernen und zukunftsorientierten Unterricht erlauben. Die Einbindung in die neue IT-Systemlandschaft wird den Schülerinnen und Schülern weitere Möglichkeiten eröffnen, Kompetenzen für den Einsatz neuer Technologien zu erwerben.

Ein neuer Konferenzraum im Dachgeschoss soll den bisherigen im Haus "Am Schlag 8" ersetzen. Denn auch hier stünde eine Renovierung an, deren Ergebnis jedoch die grundlegenden Probleme der Raumgeometrie, der Vielzahl von Stützen, der unbefriedigenden Foyer-Situation und der fragwürdigen Anbindung an den Aufzug nicht hätte lösen können.

Zukunftssicherung durch bauliche Investitionen

Ein durchgängiger Aufzug wird Menschen mit Gehbehinderungen die Erschließung jeder Etage ermöglichen. Mit direkter Anbindung an die Küchen soll er die Versorgung des Konferenzraumes und der Cafeteria im Erdgeschoss sicherstellen, was im Bereich Hauswirtschaft die Arbeit künftig erleichtern wird.

Last not least gilt es, Raum im Verwaltungsgebäude Schlag 8/10 zu schaffen, denn der nächste große Coup ist der Umzug der Braille-Druckerei von Wehrda zurück auf das Hauptgelände. Längst braucht es einige der großen, schweren Druckmaschinen nicht mehr. Der technische Fortschritt hat manche inzwischen kleiner, feiner und leistungsfähiger gemacht. Der Umzug der Braille-Druckerei auf den Campus wird den logistischen Aufwand innerhalb der blista deutlich verkleinern.

Finanziert wird der Umbau durch Stiftung und Spenden. Die Einrichtung erfüllt mit den Investitionen in das Gebäude ihren satzungsgemäßen Auftrag, die langfristige Zukunftssicherung der blista.

Zum Autor

Frank Lenz ist Leiter des Liegenschaftsmanagements an der blista.

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Impressum

Herausgeber:

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

Redaktion:

DVBS (Uwe Boysen, Michael Herbst, Andrea Katemann und Christina Muth) und blista (Isabella Brawata, Thorsten Büchner, Rudi Ullrich und Marika Winkel)

Koordination:

Christina Muth, Geschäftsstelle des DVBS, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon: 06421 94888-13, Fax: 06421 94888-10, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.dvbs-online.de

Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung der Redaktion.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.):

Michael Herbst (DVBS) und Rudi Ullrich (blista)

Erscheinungsweise:

Der "horus" erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und auf einer CD-ROM, die die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version und die Braille-, RTF- und PDF-Dateien enthält.

Jahresbezugspreis:

22 Euro (zuzüglich Versandkosten) für die Schwarzschriftausgabe, 35 Euro für alle übrigen Ausgaben. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres. Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

Bankkonten des DVBS:

Sparkasse Marburg-Biedenkopf (BLZ 533 500 00), Konto 280

Commerzbank AG Marburg (BLZ 533 400 24), Konto 3 922 945

Postbank Frankfurt (BLZ 500 100 60), Konto 149 949 607

Verlag:

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg

ISSN 0724-7389, Jahrgang 75

Punktschriftdruck: Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Marburg

Digitalisierung und Aufsprache: Geschäftsstelle des DVBS, Marburg

Schwarzschrift-Druck: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen

Die Herausgabe der Zeitschrift "horus" wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der "Glücksspirale" unterstützt.

Titelbild:

Tour de Kultur.

Das Titelfoto zeigt ein Bild des blista-Schülers Tony Garis Khalil, der mit seinen Werken den Jugendkulturpreis 2012 des Landkreises Marburg-Biedenkopf gewonnen hat. Foto: blista

Nächste Ausgabe (horus 3/2013):

Schwerpunktthema: Die Politik und wir

Erscheinungstermin: 26. August 2013

Anzeigenannahmeschluss: 26. Juli 2013

Redaktionsschluss: 2. Juli 2013

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Private Kleinanzeigen

Zu verschenken: "Neufassung und Vervollständigung des Systems der internationalen Mathematikschrift für Blinde", 2. Auflage 1986 und "Sammlung mathematischer Formeln" von Helmut Sieber, 1989 (enthält auch taktile Zeichnungen). Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Verkaufe umständehalber: Digitalradio NOXON dRadio 110 für DAB+- und UKW-Empfang, Sprachunterstützung bei Sendeliste, Menüführung und Weckfunktion; Preis: 80 €. Tel. 0261 8235333 oder 0160 8235333.


Hallo, ich heiße Ken Wolters und habe 4 Jahre lang als Arbeitsplatzassistent gearbeitet. Ich suche nach einer neuen Anstellung im Raum Berlin-Brandenburg ohne pflegerische Tätigkeiten, Teil- oder Vollzeit. Erfahrung im Umgang mit Bildschirmlese-/Vergrößerungsprogrammen, Büroorganisation sowie leichten Hilfstätigkeiten wie Behördenbegleitung vorhanden. Zeitlich flexibel, Haustiere kein Problem! Bitte melden Sie sich bei Interesse unter Tel.: 030 54499225 bzw. E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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