horus NR: 4 / 2012 - Inklusive Bildungswelt
Inhaltsverzeichnis
- Impressum
- Vorangestellt
- Claus Duncker: Vorangestellt
- In eigener Sache
- Christina Muth: In eigener Sache
- Schwerpunkt: Inklusive Bildungswelt
- Sven Degenhardt: Der Weg zur Inklusiven Schule
- Ursula Weber: Tagungsbericht: VBS-Kongress in Chemnitz unter dem Motto „Vielfalt & Qualität“
- Andrea Katemann: Dieter Feser im Interview
- Wolfgang Angermann: Die UN-Behindertenrechtskonvention im europäischen Maßstab
- Thorsten Büchner: Chancen zur Teilhabe
- Demet Seven: Und jetzt?
- Dr. Imke Troltenier: Wer den "Sozialpreis" gewinnt
- Carmen Kirchner: Immer fort und immer weiter: mein Job, die Zukunft und ich
- Mirien Carvalho Rodrigues: "Vision in enterprise" - berufliche Selbstständigkeit als Weg aus der Krise
- Dr. Heinz Willi Bach: "Vision in enterprise" - ist das die Lösung? Anmerkungen zum EU-Projekt
- Baran Igrit: Zeitenwende - vom Leben nach der blista
- Recht
- Bücher
- Sabine Hahn: Hörtipp: Schlank im Schlaf für Berufstätige
- Savo Ivanic: Buchtipps aus der blista
- Panorama
- Barrierefreiheit und Mobilität
- Aus der Arbeit des DVBS
- Start von BIT inklusiv auf der REHACARE
- Dr. Johannes-Jürgen Meister: 25 Jahre Gruppe Ruhestand
- Bezirksgruppe Berlin-Brandenburg unter neuer Leitung
- Neue Leitung Senioren
- Jochen Schäfer: Bezirksgruppe ehrt Leiterin Anette Bach
- Christina Muth: Mitarbeiter der Aktion Mensch besuchen die DVBS-Geschäftsstelle
- Terminvorschau
- Aus der blista
- Dr. Imke Troltenier: blista-Sommercamp 2012: „Sonst erlebt man das nie!“
- Rudi Ullrich: Abend der Naturwissenschaften
- Rudi Ullrich: Marburger Blindenfußballer holen Deutsche Meisterschaft
- Leserbriefe
- Franz-Josef Hanke: Blinde mit Mehrfachbehinderung
Impressum
Impressum
Herausgeber: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)
Redaktion: DVBS (Uwe Boysen, Michael Herbst, Andrea Katemann und Christina Muth) und blista (Isabella Brawata, Thorsten Büchner, Rudi Ullrich und Marika Winkel)
Koordination: Christina Muth, Geschäftsstelle des DVBS, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon: 06421 94888-13, Fax: 06421 94888-10, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.dvbs-online.de
Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung der Redaktion.
Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.): Michael Herbst (DVBS) und Rudi Ullrich (blista)
Erscheinungsweise: Der "horus" erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und auf einer CD-ROM, die die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version und die Braille-, RTF- und PDF-Dateien enthält.
Jahresbezugspreis: 22 Euro (zuzüglich Versandkosten) für die Schwarzschriftausgabe, 35 Euro für alle übrigen Ausgaben. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres. Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.
Bankkonten des DVBS: Sparkasse Marburg-Biedenkopf (BLZ 533 500 00), Konto 280 - Commerzbank AG Marburg (BLZ 533 400 24), Konto 3 922 945 - Postbank Frankfurt (BLZ 500 100 60), Konto 149 949 607
Verlag: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg, ISSN 0724-7389, Jahrgang 74
Punktschriftdruck: Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Marburg
Digitalisierung und Aufsprache: Geschäftsstelle des DVBS, Marburg
Schwarzschrift-Druck: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen
Die Herausgabe der Zeitschrift "horus" wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der "Glücksspirale" unterstützt.
Titelbild: Inklusive Bildungswelt, Foto: Bernd Balzer/pixelio.de
Nächste Ausgabe (horus 1/2013): Schwerpunktthema: Technische Revolution - mittendrin, außen vor oder wo sonst?: Erscheinungstermin: 25. Februar 2013, Anzeigenannahmeschluss: 25. Januar 2013, Redaktionsschluss: 10. Januar 2013
Vorangestellt
Vorangestellt
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder,
Aaron besucht eine Mittelschule in Deutschnofen in Südtirol [1]. Aaron ist zwölf Jahre alt, Lesen und Schreiben wird er niemals lernen, keinen Schulabschluss erreichen. Aaron ist ein Kind mit autistischen Zügen. Dass er gemeinsam mit den anderen Kindern aus dem Südtiroler Bergdorf zur Schule geht, ist hier normal. So normal wie in ganz Italien, wo vor mehr als 30 Jahren alle Förderschulen und Sonderklassen abgeschafft wurden.
Lisa geht in die 11. Klasse eines Gymnasiums in Niedersachsen. Sie strebt das Abitur an, denn sie will später Medienwissenschaften studieren. Lisa ist seit Geburt blind. Sie wird sich ihren Berufswunsch erfüllen. Da sind sich alle sicher. Wie Lisa besuchen in Deutschland fast 30 Prozent der blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schüler eine Regelschule. Diese Quote liegt weit über dem Durchschnitt aller Schüler mit Förderbedarf (15 Prozent). Und dies bereits seit vielen Jahren. Lange vor der nun sehr intensiv geführten Diskussion über inklusive Schule.
Doch, was ist, wenn es nicht klappt? Wenn zum Beispiel ein sehbehinderter Schüler in der 7. Klasse Probleme in Mathematik bekommt: nicht, weil er nicht intelligent genug ist, sondern weil er nicht so gut sieht ...? Gemeinsamer Unterricht kann an seine Grenzen stoßen, wenn es um gleiche Bildungschancen geht.
Schule in Deutschland ist ein mehrstufiges System. Gleich nach der Grundschule wird nach Schultypen sortiert. Wer da nicht "passt", überspringt oder wiederholt z.B. eine Klasse, denn das Ziel heißt "homogene Lerngruppen". So kann z.B. ein Mathematiklehrer in einer Klasse 7 eines Gymnasiums sicher sein, dass alle Schülerinnen und Schüler den Zahlenraum beherrschen.
Die wenigen, bislang vorliegenden Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es uns gerade dieses systemische Konzept, das Streben nach Homogenität, in Deutschland schwer macht, gemeinsamen Unterricht inklusiv, also chancengleich, zu gestalten. Nicht allen tut der Regelschulunterricht so gut wie Aaron. Nicht alle sind so fit wie Lisa. So "... zeigen die Kinder und Jugendlichen mit Körperbehinderung im gemeinsamen Unterricht eine sehr große Variabilität ihrer Leistungen und schneiden im Durchschnitt schlechter ab als ihre Klassenkameraden ohne Behinderung." [2]
Wann immer gemeinsamer Unterricht an seine Grenzen stößt, wenn es um gleiche Bildungschancen geht, müssen wir im Interesse blinder und sehbehinderter Schüler aus den Erfahrungen unserer europäischen Nachbarn mit Inklusion lernen: In Italien gibt es keine Wahlfreiheit, dort muss jedes behinderte Kind in eine Regelschule. Aber andere Länder wie Finnland oder Norwegen waren moderater. Einige Zentren blieben erhalten bzw. werden, wie jetzt in Island, wieder aufgebaut. In Dänemark hat "die Forschung ... ergeben, dass Regelschulen Probleme haben, den blinden und sehbehinderten Schülern ein Bildungsniveau zu bieten, das auf dem gleichen Stand ist wie das der sehenden Schüler. Viele Schüler mit dem Förderschwerpunkt Sehen haben kein zufriedenstellendes Bildungsniveau, wenn sie die Schule verlassen. Ihre Noten sind im Schnitt schlechter und 44 Prozent der sehbehinderten Schüler verlassen die Schule nach neun oder zehn Jahren ohne Abschluss. Dadurch wird die Hälfte der sehbehinderten Schüler automatisch von einer weiterführenden oder berufsbildenden Schule ausgeschlossen." [3]
Wir sind mit unserer Kompetenz im Bereich der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik aufgefordert, Wege zu gemeinsamem Unterricht zu entwickeln und zu begleiten. Damit blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche - wie in der UN-BRK gefordert - die für sie bestmögliche Bildung erreichen, um ihre beruflichen Träume verwirklichen zu können.
Ihr Claus Duncker
[1] www.zeit.de/2012/23/Schule-Inklusion
[2] Christian Walter-Klose: Kinder und Jugendlichen mit Körperbehinderung im gemeinsamen Unterricht. Athena 2012, S. 370
[3] Peter Rodney: Stolpersteine auf dem Weg zur Inklusion - 30 Jahre Inklusion blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler in Dänemark - Ein Erfolgsmodell?, blind sehbehindert 4/2011
In eigener Sache
In eigener Sache
Inklusive Bildungswelt
Mit dem weiten Feld des Begriffs der Inklusion in Bezug auf Schule, Ausbildung und Beruf befasst sich diese horus-Ausgabe. Auf dem Weg zur Inklusiven Schule - unter diesem Motto steht der Leitartikel von Prof. Sven Degenhardt, der sowohl wissenschaftliche Aspekte als auch Erfahrungen aus der Praxis darstellt und näher beleuchtet. Von den Hürden und Herausforderungen, die auf blinde und sehbehinderte junge Erwachsene zu Beginn des Studiums und während der ersten Semester zukommen, berichten die Studenten Demet Seven und Baran Igrit in ihren Beiträgen. "Vielfalt und Qualität" - unter diesem Motto stand der VBS-Kongress im Sommer. Für den DVBS besuchte Vorstandsmitglied Ursula Weber die Veranstaltung. In dieser Ausgabe berichtet sie von den Vorträgen und ihren persönlichen Eindrücken der Kongresstage zur Inklusion in Schule, Ausbildung, Beruf und im Alltag. Lesen Sie weiterhin den Eröffnungsvortrag des Kongresses von EBU-Präsident Wolfgang Angermann und erfahren Sie, was VBS-Vorsitzender Dieter Feser im Interview mit der horus-Redaktion zum Thema Inklusion sagt.
Technische Revolution
In der nächsten horus-Ausgabe dreht sich alles um die Welt der Technik. "Technische Revolution - mittendrin, außen vor oder wo sonst?", lautet der Schwerpunkt der Ausgabe 1/2013. Smartphones, Sprachausgabesoftware für den Computer und sprechende Bankautomaten erleichtern den Alltag von blinden und sehbehinderten Menschen. Doch der technische Fortschritt birgt auch Stolperfallen: So wird ein Touchscreen zur Barriere, und die nahezu geräuschlosen Elektroautos werden nicht nur von Blinden und Sehbehinderten überhört, ihr fehlendes Motorgeräusch irritiert auch Sehende. Lesen Sie in der nächsten horus-Ausgabe Erfahrungsberichte, lernen Sie blinde Menschen kennen, die in ihrem Berufsleben Technik mitentwickeln und erfahren Sie mehr über das neue Projekt BIT inklusiv des DVBS. Haben auch Sie Interessantes zum Thema "Technische Revolution" zu berichten? Ihre Beiträge können Sie wie gewohnt per E-Mail an die horus-Redaktion schicken: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Redaktionsschluss ist der 10. Januar 2013. Beiträge für den Schwerpunkt können bis zu 8.000 Zeichen lang sein, Meldungen für die übrigen Rubriken etwa 2.000 Zeichen.
Die horus-Redaktion wünscht allen Leserinnen und Lesern eine schöne Adventszeit, frohe Weihnachtsfeiertage und alles Gute für das neue Jahr!
Schwerpunkt: Inklusive Bildungswelt
Der Weg zur Inklusiven Schule
Momentaufnahmen von Brückenschlägen und Grabenkämpfen und von Ansprüchen an die inklusive Beschulung blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher1
Inklusion! Seit Jahren wachsen das Interesse und die rege Diskussion dieses Begriffes und vor allem der damit gefassten Prozesse. Dazu bedurfte es hierzulande eines Lernprozesses der offiziellen Dolmetscher 2 und vielleicht auch zuspitzender Thesen, wie die vom Ende der spezifischen Sonderpädagogischen Förderschwerpunkte 3. Weckrufe, die - so nötig sie waren - auch eine Art Wettkampf um die Interpretationshoheit des Begriffes in der Gesellschaft, der Politik, der Schulpolitik, der Erziehungswissenschaft 4 und an den pädagogischen Stammtischen landauf und landab eingeläutet haben. Mittlerweile steht m. E. der Begriff der Inklusion fast schon in Gefahr zerrieben zu werden, weil er bereits zum jetzigen Zeitpunkt mehr Konnotationen beinhaltet, als einem derart zentralen Begriff auf Dauer guttut. In den aktuellen Diskussionen um den Begriff der Inklusion und um mögliche Umsetzungsvarianten taucht von Zeit zu Zeit ein für mich mittlerweile typischer Inklusionsdialog auf:
Der Inklusionsdialog: Mein Gegenüber, leicht verschmitzt lächelnd: "Sie sind doch für die Inklusion (kleine Pause) - dann sind Sie doch für die Schließung aller Sonderschulen?" Ich, etwas irritiert: "Ähm, Inklusion: ja, selbstverständlich ... und was die Schließung der Sonderschulen angeht: eigentlich nein." Mein Gegenüber, zunehmend siegessicher: "Na sehen Sie, dann sind sie also doch gegen die Inklusion!"
Wenngleich mit derartigen Debatten nicht ganz unerfahren, versetzt mich dieser Inklusionsdialog immer wieder in Erstaunen, aber auch in den Zustand der Unsicherheit. Wie kann man eigentlich "gegen Inklusion" sein? Das ist doch ein menschenrechtlich verankertes Konzept. Oder, wieso wird Inklusion allzu häufig allein mit dem Schließen von Sonderschulen gleichgesetzt? Wieso scheint es auch hier nur Schwarz oder Weiß zu geben? Was treibt uns, die Graustufen, von welcher "Seite" auch immer, als untragbar und Abweichung von der "Linie" zu brandmarken? Wie auch immer, letztendlich muss ich mich nach der eigenen Position, dem eigenen Konzept fragen und nebenbei auch konstatieren, dass erziehungswissenschaftliche Publikationen 5 allein scheinbar als Positionierung unzureichend sein können. Mein eigenes Konzept wurde in den letzten Monaten auch intensiv von dem Erleben und Mitgestalten von Debatten in unterschiedlichen Kreisen und bei unterschiedlichen Trägern, Vereinen und Institutionen geprägt. Dort wird der Begriff der Inklusion zum Teil in noch sehr disjunkt zusammengesetzten Runden diskutiert:
Sonderpädagogischer Bereich
Hier wird die Debatte häufig begleitet von dem Verweis, dass die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems eigentlich im Kern die Aufgabe des Regelschulsystems ist, gleichzeitig wird auf die eigene sonderpädagogische Expertise in diesem Prozess verwiesen und auf der "mitschwingenden Ebene" tauchen manchmal (Verlust-) Ängste auf. Die Perspektive des Berufes ohne die eigene Klasse, ohne das eigene Unterrichten und vielleicht auch ohne das Lehrer/innen/zimmer als Kommunikationsschnittstelle macht stellenweise unsicher. Zumindest die Angst vor dem Verlorengehen der fachlichen Expertise scheint angesichts bekannter internationaler Beispiele nicht aus der Luft gegriffen. In dieser Gemengelage müssen Wege gefunden werden, das sonderpädagogische Innovationspotential der letzten Jahre und Jahrzehnte in eine Debatte einzubinden - und das ohne institutionelle Präferenzen. Aus dem anfänglichen De-Professionalisierungsansatz wird zunehmend eine Neuorientierung, eine Neujustierung, also eine Neu-Professionalisierung.
Regelschulbereich
Auch hier nehmen die zumeist von Verbänden, Gewerkschaften, staatlichen und privaten Trägern etc. veranstalteten Diskussionsrunden zu. Die hier m. E. allzu schnell hervorgehobenen Besorgnisse vor der Überforderung verweisen auf ein reales Problem in vielen schulischen Handlungsfeldern. Kulturhoheitlich getrieben stecken so gut wie alle bundesdeutschen Schulsysteme in Dauerreformen. Weder von innen noch von außen ist stellenweise genau festzustellen, welche der Reformen noch laufen und welche, weil die Regierung gewechselt hat, das Geld ausgegangen ist oder vielleicht auch nie da war, sanft eingeschlafen sind.
(Zivil-)gesellschaftlicher und politischer Bereich
Dieser Bereich gewinnt aktuell von der UN-BRK-konformen und ausdrücklich gewollten Zunahme der Stimme der Behinderten- und Selbsthilfeverbände. Hier werden die breit aufgestellten Intentionen, Wünsche, Biographien und Lebenslagen von Menschen mit Behinderung artikuliert und treffen stellenweise in ihren Stoßrichtungen und Schwerpunktsetzungen aufeinander. Die dabei entstehenden Interpretationen, Ideen und Forderungen weichen an manchen Stellen relativ weit voneinander ab (man bedenke, wie schwierig allein eine umfassend anerkannte barrierefreie Gestaltung eines Bordsteines werden kann), finden sich aber letztendlich in einem Prozess konsensuellen Miteinanders wieder zusammen; Inklusion ist auch hier kein Begriff von monolithischer Konsistenz.
Und wenn man optimistisch an die Einschätzung der aktuellen Lage gehen möchte: Ein Gedanke eint alle o. g. "Runden": Die Suche nach einem möglichst offenen und transparenten Weg hin zu einem hoch qualitativen, inklusiven Bildungssystem ohne versteckte Sparintentionen, ohne den Verlust fachlicher Expertise und ohne das Aufbrechen alter Grabenkämpfe, die in den letzten Jahrzehnten eher lähmten, denn Probleme lösten.
Reflektiert man die aktuellen bundesdeutschen erziehungswissenschaftlichen Debatten etwas tiefer, so entstehen für mich aktuell fünf "Inklusionstypen":
(1) Inklusionträumer
Der mittlerweile zum Schlagwort aufgestiegene "Inklusionskitsch" nach Ackermann 6 beschreibt diesen Inklusionstyp ganz treffend: Von der Idee der "totalen Inklusion" geleitet, werden keinerlei Ausnahmen von der Regel anerkannt. Alle Kinder - gleich welcher Behinderung - müssen an genau der Schule unterrichtet werden, an der sie auch ohne ihre Behinderung eingeschult wären. Es gibt nur ein Ganz-oder-gar-Nicht.
(2) Inklusions-Ressourcen-Theoretiker
Dieser von Ahrbeck 7 treffend charakterisierte Typ bedient sich der zentralen Grundannahme, des Von-den-Stärken-der-Kinder-Ausgehens. Wie bereits in den Hochzeiten der Ganzheitlichkeitsdebatte, in denen vor lauter Anerkennung der Ganzheitlichkeit der menschlichen Entwicklung kaum noch ein Detailproblem genannt, geschweige denn angegangen werden konnte, verselbstständigt sich derzeit an vielen Stellen der Ressourcenansatz. Keine Schwäche, kein Schmerz, kein Nicht-Können eines Kindes kann genannt werden, ohne den Aufschrei der Defizitorientierung als Totschlagargument entgegengeschmettert zu bekommen. In Kombination mit der Grundannahme, dass Behinderung ein soziales Konzept ist und daher nur (!) systemische Interventionen nötig und möglich sind, sowie der Zuspitzung, dass die Diagnostik und Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs bereits diskriminierend sind, entsteht eine hoch gefährliche Verdichtung. Löse ich irgendein Problem, wenn ich die Blindheit eines Kindes nicht mehr als eine solche benennen darf?
(3) Inklusionspragmatiker
Inklusion ist das, was ich umsetzen und letztendlich auch bezahlen kann. Eine im Kern sehr ambitionierte Spielart der Pragmatiker entsteht durch die aus dem UN-Handbuch zur BRK heraus abgeleiteten Messlatte 8 für eine Inklusionsquote von 80 oder 85 Prozent. Hiermit begründet sich leider aber auch das bildungspolitische Handlungsmuster, die Zahl der LSE-Schüler/innen 9 hochzuhalten, um damit in den spezifischen Förderschwerpunkten weniger Handlungsdruck zu haben, denn diese Schüler/innen bilden dann das 15-20-Prozent-Fenster und verbleiben weiterhin mehrheitlich an den Sonder-, Förder- oder wie auch immer benannten stationären, exkludierenden Schulen.
(4) Inklusionspiraten
Die Inklusionspiraten "entern" gerne den Text der UN-BRK und argumentieren: Die UN-BRK verbietet ja nicht ausdrücklich die Sonderschulen, daher sind diese BRK-konform. Oder: Um das in der UN-BRK geforderte Wahlrecht umsetzen zu können, bedarf es zweier Systeme: das der inklusiven Schule und das der Sonderschule.
(5) Inklusionsaussitzer
Die Inklusionsaussitzer sind gelassene, zumeist erfahrene Kolleg/inn/en, die in aller Ruhe und Bestimmtheit darauf verweisen, dass in ihrem Berufsleben schon genug "Säue durchs Dorf getrieben wurden" und sie die aktuelle auch überleben werden.
Bleibt an dieser Stelle die Frage nach dem eigenen Inklusionstyp. Und der ist zunehmend der eines Inklusionsvagabunden. Als eben dieser verstehe ich mich nicht als "beliebig", sondern in guter Tradition als Reisender. Ich vagabundiere auf dieser Reise gerne durch teilweise extreme Auffassungen, durch Inklusionsmodelle in anderen Ländern (Hier scheint ja für so manche/n Bildungspolitiker/in bereits das benachbarte Bundesland mit eingeschlossen zu sein - ich verstehe darunter aber eher die europäische und außereuropäische Perspektive, denn in vielen Ländern und Regionen hat sich Schule bereits seit Jahren auf den Weg gemacht, eine inklusive zu werden.) und ich vagabundiere durch Inklusionsmodelle in anderen Handlungsfeldern (denn in Artikel 24 geht es um inklusive Bildungssysteme!). Folgend möchte ich gerne ein paar Stationen benennen, die mir bei meinem Vagabundieren, Herumstöbern, Reisen und Kennenlernen für die weitere Debatte interessant erscheinen:
Station 1: Inklusion und Exklusion
Inklusion ist kein "neuer" Begriff; er ist in politikwissenschaftlichen Debatten ebenso zu Hause wie in soziologischen. Und allen Überlegungen ist die Überzeugung eigen, dass es keine "totale Inklusion" geben kann, denn Inklusion und Exklusion stellen eine untrennbare Einheit dar, sie bedingen einander. Exklusion ist darüber hinaus ein gesellschaftlichen Prozessen und Organisationen zunächst einmal innewohnendes Phänomen 10. Es geht um die Balance von exkludierenden und inkludierenden Parametern, es geht um das Spannungsfeld zwischen Rahmenbedingungen und Bedarfslagen und letztendlich geht es um das Schaffen von Handlungsspielräumen.
Station 2: Der Traum von der Heterogenität als Wert-an-Sich und von der Didaktik der Vielfalt
Ich bekenne, dass eine längere Zeit gemeinsamen Lernens an deutschen Schulen in meinen Augen dringend geboten wäre, und ich nehme mit Verwunderung und auch mit ein wenig Besorgnis wahr, dass das Sortieren nach Klasse 4 oder 6 immer noch mehrheitsfähig zu sein scheint. Es erschließt sich jedoch für mich nicht, auf welcher Basis in Klasse 4 (und auch in Klasse 6) über derart weitreichende Bildungs- und Teilhabechancen entschieden wird: Begabung halte ich für ein ausgesprochen schwaches Kriterium. Aus der eigenen Schulbiographie und den positiven Erfahrungen vieler Länder heraus verweise ich gerne auf die Potentiale, die die Heterogenität eines längeren gemeinsamen Lernens aufweisen kann. Den Umkehrschluss, dass aus einer Heterogenität allein (!) förderliche Lernszenarien entstehen und dass die dadurch entstehende Heterogenität alle Unterschiede menschlichen Seins (soziale, kulturelle, religiöse, personelle, ...) gleichermaßen erfassen kann, halte ich jedoch für nicht tragfähig. Dieser Schluss birgt die Gefahr der "Verwässerung" in sich. Er läutet auch das Ende des Ausbringens personenbezogener Förderfaktoren (explizit nach ICF als solche formuliert) innerhalb schulischen Lernens ein. Ein ebenso falsche Hoffnungen erzeugender Traum ist der von der alles richtenden Didaktik der Vielfalt 11. Es kann nicht DIE oder DIE EINE Didaktik geben (das hab ich jedenfalls in meiner Biographie gelernt). Dementsprechend kann es auch nicht eine für die Teilhabe aller Kinder gleichermaßen geeignete Didaktik geben. Eine Didaktik der Vielfalt muss anschlussfähig sein, muss Schnittstellen anbieten, muss offen sein für die Frage, wie ich an diesem Unterricht, diesem allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Szenario ein blindes oder ein gehörloses oder ein autistisches... Kind teilhaben lassen kann. Wo liegen die potentiellen Barrieren? Wie kann ich diese angehen, auflösen, abschwächen? Wie kann ich gezielt punktuell Alternativen entwickeln? Ein solches System von didaktischen Ansätzen braucht die inklusive Schule. Wie dieses System dann letztendlich dominant geprägt ist, ob handlungsorientiert, offen, problemzentriert oder ob man es dann "Didaktik der Vielfalt" nennt, das sei dann vielleicht zweitrangig.
Station 3: Elternwahlrecht
Das Elternwahlrecht (das Recht der Eltern, die konkrete Schule zu bestimmen, in der das eigene Kind beschult wird) ist eine Form demokratischer Mitbestimmung und Mitgestaltung; es ist KEIN in der UN-BRK verankertes Recht. 12 Ein derart aufgestelltes Elternwahlrecht ist auch aus anderen Menschenrechtskonventionen nicht ableitbar. Lediglich im UN-Sozialpakt 13 wird die Wahlmöglichkeit einer anderen als einer öffentlichen Schule festgeschrieben; die Bundesrepublik Deutschland verstößt im Übrigen, so einige Auffassungen, mit ihrem strikten mehrheitlich verhindernden Regeln für resp. gegen ein religiös begründetes homeschooling gegen diesen Artikel.
Die Konstruktionen, 14 mit denen ein implizites Elternwahlrecht aus der UN-BRK herausinterpretiert wird, stoßen, so jedenfalls meine Wahrnehmung, bereits selbst an die Grenze der Diskriminierung. Ausgehend von der 80-20-Aufteilung (die ja i. e. S. nicht aus der UN-BRK, sondern aus einem begleitenden Handbuch stammt und letztendlich Erfahrungen wiedergibt) wird das Wahlrecht der Eltern formuliert. Die letzte Entscheidung, ob die Kinder nun in den 80 %- oder in den 20 %-Topf gehören, trifft unter Bezug auf die Wächterfunktion 15 und unter Verweis auf das Kindeswohl 16 der Staat. Und da ist sie wieder, die Situation, dass sich der Staat einerseits grundgesetzkonform relativ "spät" in die Erziehungshoheit der Eltern einmischt (auch wenn begründete Zweifel an der optimalen Teilhabe an Bildung, einer gesunden Ernährung, .... bestehen), und andererseits greift bei Familien mit behinderten Kindern relativ "schnell" die Wächterfunktion. Da wissen die Eltern plötzlich nicht, was gut für ihr Kind ist. Und anders herum: Warum sollen die einen Familien über den Beschulungsort entscheiden dürfen, wenn ihre Nachbarn nicht einmal die Grundschule wählen dürfen? Nochmals: Wahlrecht des Beschulungsortes für alle (!) Eltern als Bestandteil eines partizipativen Miteinanders in einer demokratischen Gesellschaft: ja, dann aber bitte ohne Einbezug des Kriteriums Behinderung und der damit mitschwingenden Unterstellung an die Familien, mit der Situation nicht kindeswohlgerecht umgehen zu können.
Station 4: Suche nach einem Modell und Kampf um die Ressourcen
Die (hektische) Suche nach einem (neuen) Modell und die Bemühungen, aus der UN-BRK ausreichend Praxis- und Übergangstaugliches herauszulesen; all das hätte sich die Bundesrepublik Deutschland ersparen können. Die UN-BRK konnte und kann auch mit hinterlegten "Declarations and Reservations" (Erklärungen und Vorbehalten) unterschrieben und ratifiziert werden. Großbritannien hat sich mit derartigen Erklärungen und Vorbehalten sowohl die Elternwahlrechtsdebatte als auch die Müssen-wir-sofort-die-Sonderschulen-schließen-Debatte zumindest ein wenig vom Hals gehalten, indem es die aktuelle Praxis im Bildungsbereich als mit den Intentionen des Artikel 24 der UN-BRK vereinbar erklärt.17
Lesen Sie den zweiten Teil des Aufsatzes in der Ausgabe horus 1/2013. Der Text ist erstmals in der Zeitschrift "blind - sehbehindert" (Ausgabe 3/2012) erschienen.
Zum Autor:Prof. Dr. Sven Degenhardt lehrt an der Universität Hamburg, Fakultät EPB, Institut für Behindertenpädagogik, Blinden- und Sehbehindertenpädagogik.
Literatur
Ackermann, Karl-Ernst, Martin Kronauer, Reinhard Burtscher, et al. (2012) Ein interdisziplinäres Gespräch über Erwachsenenbildung für Menschen mit Behinderungen: Inklusion braucht (nicht?) alle. In: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, 2, 22 - 25. (http://www.diezeitschrift.de/22012/inklusion-02.pdf, entnommen am 29.05.2012)
Ahrbeck, Bernd (2011): Der Umgang mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer.
Beck, Iris und Sven Degenhardt (2010): Inklusion - Hinweise zur Verortung des Begriffs im Rahmen der internationalen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte um Menschenrechte, Bildungschancen und soziale Ungleichheit. In: Schwohl, Joachim und Tanja Sturm (Hrsg.), Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung; Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Bielefeld: transkript Verlag, 55 - 82.
Degenhardt, Sven (2009a): Förderschwerpunkt Sehen: 200 Jahre Blindenbildung - 200 Jahre Diskussion von Standards für die Beschulung blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher. In: Wember, Franz B. und Stephan Prändl (Hrsg.), Standards der sonderpädagogischen Förderung. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag, 219 - 232.
Degenhardt, Sven (2009b): Teilhabe gestalten - eine Vision und das Problem der Perspektiven. In: (VBS), Verband der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und -pädagoginnen e. V. (Hrsg.), Teilhabe gestalten: XXXIV. Kongress - 14.-18. Juli 2008. Hannover: edition bentheim, 167 - 178.
Degenhardt, Sven (2009c): Was meint "Inklusion"? Definitionsmacht und Perspektiven. In: blind-sehbehindert: Zeitschrift für das Sehgeschädigten-Bildungswesen, 129, 1, 4 - 13.
Degenhardt, Sven (2011): Expertise aus dem Mixer - Oder: Warum wir mit einer Blinddarmentzündung nicht in eine Klinik für Augenheilkunde gehen! In: Schule heute, 51, 3, 7-9.
(http://www.vbe-nrw.de/downloads/PDF%20Dokumente/sh0311.pdf, entnommen am 29.05.2012)
Degenhardt, Sven und Erwin Denninghaus (2009): Zur Sicherung der Qualifizierung von Blinden- und Sehbehindertenlehrerinnen und -lehrern. In: blind-sehbehindert: Zeitschrift für das Sehgeschädigten-Bildungswesen, 129, 1, 19 - 22.
GG - Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1949/2010) (http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf, entnommen am 29.05.2012)
Hinz, Andreas (2008): Inklusion - Ende der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik? In: blind-sehbehindert: Zeitschrift für das Sehgeschädigten-Bildungswesen, 128, 1, 7 - 16.
Klemm, Klaus (2009): Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven - Eine Studie zu den Ausgaben und zur Wirksamkeit von Förderschulen in Deutschland im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.
(http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_29959_29960_2.pdf, entnommen am 29.05.2012)
Klemm, Klaus und Ulf Preuss-Lausitz (2011): Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen: Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der allgemeinen Schulen. Essen Berlin: Manuskriptdruck. (http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Inklusion_Gemeinsames_Lernen/Gutachten__Auf_dem_Weg_zur_Inklusion_/NRW_Inklusionskonzept_2011__-_neue_Version_08_07_11.pdf, entnommen am 25.05.2012)
Kunz, André, Reto Luder und Marta Moretti (2010): Die Messung von Einstellungen zur Integration (EZI). In: Empirische Sonderpädagogik, 2, 3, 83-94.
Poscher, Ralf, Thomas Langer und Johannes Rux (2008): Gutachten zu den völkerrechtlichen und innerstaatlichen Verpflichtungen aus dem Recht auf Bildung nach Art. 24 des UN-Abkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und zur Vereinbarkeit des deutschen Schulrechts mit den Vorgaben des Übereinkommens - erstellt im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung. (http://www.gew.de/Binaries/Binary48790/080919_BRK_Gutachten_finalKorr.pdf, entnommen am 29.05.2012)
Speck, Otto (2010): Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht: Rhetorik und Realität. München Basel: Ernst Reinhardt Verlag.
Stanley, Anthony, Peter Grimbeek, Fiona Bryer, et al. (2003): Comparing Parents" Versus Teachers" Attitudes to Inclusion: When PATI meets TATI. In: Bartlett, Brendan, Fiona Bryer und Dick Roebuck (Hrsg.), Reimagining Practice: Researching Change. Brisbane: School of Cognition, Language, and Special Education, Griffith University. (http://www.researchgate.net/publication/29453020_Comparing_Parents"_Versus_Teachers"_Attitudes_to_Inclusion_When_PATI_meets_TATI, entnommen am 29.05.2012)
Tenorth, Heinz-Elmar (2011): Inklusion im Spannungsfeld von Universalisierung und Individualisierung - Bemerkungen zu einem pädagogischen Dilemma. In. (http://www.schulentwicklung.bayern.de/unterfranken/userfiles/SETag2011/Tenorth-Inklusion-Wuerzburg-2011.pdf, entnommen am 29.05.2012)
UN - United Nations (1966): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt; deutsche Fassung der International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights). (Manuskriptdruck). (http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/360806/publicationFile/3618/IntSozialpakt.pdf, entnommen am 29.05.2012)
UN - United Nations (2006/2008): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (dreisprachige Fassung im Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008). (Manuskriptdruck). (http://www2.bgbl.de/Xaver/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&bk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5B@attr_id=%27bgbl208s1419.pdf%27%5D, entnommen am 29.05.2012)
UN - United Nations (2007): From Exclusion to Equality: Realizing the rights of persons with disabilities - Handbook for Parliamentarians on the Convention on the Rights of Persons with Disabilities and its Optional Protocol. (http://www.ipu.org/PDF/publications/disabilities-e.pdf, entnommen am 29.05.2012)
1 Der folgende Beitrag ist der Versuch, eine Reihe von Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zum Themenbereich zusammenzufassen. (Nikolauspflege Stuttgart 10/2011, PH Tirol/VBSÖ Innsbruck 11/2011, kommunalpolitisches forum Berlin 01/2012, vbe Bonn & VBS/BSVB Cottbus 02/2012, PCK-Schule Berlin 05/2012; exemplarisch ist der Cottbusser Vortrag als mp3 auf meiner homepage als podcast abrufbar.).
2 In der offiziellen deutschsprachigen Gesetzesfassung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird in Fortsetzung der Übersetzung der Salamanca-Erklärung "inclusive education system" mit "integratives Bildungssystem" (UN 2006/2009, S. 1436) übersetzt.
3 vgl. z. B. Hinz 2008
4 Ein Buch, dem es gelungen ist, auf breiter Front richtig Schwung in die Debatte um den Begriff der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu bringen, ist das von Bernd Ahrbeck (2011). Gut und griffig geschrieben, Kontrapunkte setzend und auch die negativen Konnotationen der Debatte thematisierend, hat es das Buch m. E. zu Recht geschafft, von einem Leser/innen/kreis auch außerhalb der engen universitären Erziehungswissenschaft gewürdigt zu werden. Viele der nachfolgenden Gedanken sind auch von der Lektüre dieses Buches (mit-)geprägt.
5 vgl. u. a. Degenhardt 2009a/b/c, Beck/Degenhardt 2010, Degenhardt 2011
6 vgl. dazu u. a. Ackermann 2012, Tenorth 2011, Ahrbeck 2011
7 vgl. S. 7 ff., S. 72 f. usw.
8 "Experience has shown that as many as 80 to 90 per cent of children with specific education needs, including children with intellectual disabilities, can easily be integrated into regular schools and classrooms, as long as there is basic support for their inclusion" (UN 2007, S. 85). Im deutschsprachigen Raum zentral aufgegriffen durch Poscher/Langer/Rux (2008) und in erziehungswissenschaftlichen Diskursen u. a. von Wocken, Klemm und Preuss-Lausitz argumentiert.
9 LSE: zunehmend verwendete Abkürzung für die durch die KMK formulierten Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Emotional-soziale Entwicklung
10 dazu ausführlich: Beck/Degenhardt 2010, S. 70 ff.
11 dazu auch: Degenhardt 2009c, S. 8 ff.
12 "Die Entwurfsfassung [der UN-BRK; d. Verf.] statuierte noch in Art. 17 Abs. 3 lit. c ("education") ausdrücklich ein Wahlrecht: "States Parties shall ... allow a free and informed choice between general and special systems". Die überwiegende Mehrheit der Behindertenverbände und andere Nichtregierungsorganisationen befürchteten in der 6. Sitzung des Ad-hoc-Ausschusses, dass durch das Wahlrecht das Recht auf inklusive Erziehung als "first right" - so der Behindertenverband "Inclusion International" - geschwächt würde. Das Wahlrecht wurde auch wegen dogmatischer Schwierigkeiten wieder aus dem Konventionstext entfernt" (Poscher/Langer/Rux 2008, 34).
13 Artikel 13 "(3) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds oder Pflegers zu achten, für ihre Kinder andere als öffentliche Schulen zu wählen, die den vom Staat gegebenenfalls festgesetzten oder gebilligten bildungspolitischen Mindestnormen entsprechen, sowie die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen" (UN 1966, o. S.).
14 Eine dieser Argumentationsketten: Speck 2010, S. 89-92
15 GG Art. 6: "(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft" (GG 1949/2012, S. 2).
16 auch mit Artikel 7 der UN-BRK untermauert
17 Declaration: "Education - Convention Article 24 Clause 2 (a) and (b) The United Kingdom Government is committed to continuing to develop an inclusive system where parents of disabled children have increasing access to mainstream schools and staff, which have the capacity to meet the needs of disabled children. The General Education System in the United Kingdom includes mainstream, and special schools, which the UK Government understands is allowed under the Convention." (http://www.un.org/disabilities/default.asp?id=475, entnommen am 29.05.2012)
Tagungsbericht: VBS-Kongress in Chemnitz unter dem Motto „Vielfalt & Qualität“
Bei wunderschönem Sommerwetter besuchten ca. 500 Teilnehmer in der Woche vom 30. Juli bis 3. August den VBS-Kongress 2012 auf dem Gelände des SFZ Chemnitz. Die Themenschwerpunkte waren in die Symposien
- Inklusion - Entwicklung von Bildungseinrichtungen und Professionalisierung
- (Multi-) Kulturelle Vielfalt von Bildungsangeboten
- Inklusive Lebenswelten erwachsener Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen
- Spezifische Angebote in Bildung, Erziehung und Rehabilitation
unterteilt, sodass sich jeder Teilnehmer sein individuelles Programm nach seinen Interessen zusammenstellen konnte und musste; die einzelnen Vorträge, Workshops und Diskussionen liefen parallel und waren auf die Häuser des weitläufigen Geländes verteilt. Das Motto "Vielfalt & Qualität" fand viel Beachtung und zog sich durch den gesamten Kongress. Viel Wert wurde seitens des Veranstalters auch auf den internationalen Bereich gelegt, was sich in der simultanen Übersetzung der Vorträge widerspiegelte.
Der Eröffnungsvortrag von Wolfgang Angermann, dem Präsidenten der Europäischen Blindenunion, zur "Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im europäischen Maßstab und den Erwartungen der Europäischen Blindenunion" stimmte die Teilnehmer auf den Kongress ein. Ein Vergleich von Wunsch und Wirklichkeit konnte mit dem Vortrag von Prof. Dr. Wocken aus Hamburg "Die inklusive Schule. Begründung - Konzept - Programmatik" und den Berichten zur derzeitigen inklusiven Beschulung vor Ort aus den unterschiedlichsten Ländern angestellt werden. Allen Ländern gemein ist, dass die Zuweisung der Betreuungsstunden an die jeweiligen Schüler zu gering und/oder zu starr bemessen ist. So werden in Sachsen beispielsweise nur 0,5 Stunden sonderpädagogische Unterstützung pro Kind zugeteilt, womit eine umfassende Betreuung kaum gewährleistet werden kann. Zusätzlich verbringen Integrationslehrer je nach geografischen Gegebenheiten und Konzentration der anzufahrenden Schulen sehr viel Zeit, um zu den einzelnen Kindern zu gelangen. Hier sind Unterschiede zwischen Flächenländern wie den USA mit bis zu 50 Meilen zwischen den einzelnen Schulen und kleineren Ländern mit zentraleren Infrastrukturen deutlich geworden. Auch bei der Zusammenarbeit mit der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe zeigten sich Differenzen. Während in Spanien bei Fragen und Schwierigkeiten teils zu schnell auf die ONCE zugegangen wird, existiert in anderen Ländern hingegen eine zu geringe Zusammenarbeit. Je nach Rahmenbedingungen kann also Inklusion im schulischen Bereich mehr oder weniger gelingen. Leider stellten die Vorträge und meisten Workshops die Perspektive der Integrationslehrer dar, nur ein Workshop befasste sich mit dem Thema "Inklusive Bildung" aus der Sicht von Schülern oder Eltern.
Einen Einblick in die Arbeit der Integrationslehrer - vor allem im naturwissenschaftlich/technischen Bereich - erhielten die Teilnehmer im Symposium IV. Ein Workshop stellte die im Physik-, Chemie- und Biologie-Unterricht einer Sonderschule verwendeten Versuchsaufbauten und adaptierten Hilfsmittel vor. Diese teilweise umfangreichen und kostenintensiven Aufbauten sind im inklusiven Unterricht nicht vorhanden. Hier sind noch mehr Ideen und Umsetzungsstrategien gefragt, um den Schülern die Wissensvermittlung praktisch erfahrbar zu machen. So ist zurzeit nur in einigen Regionen der Zugriff auf in Medienzentren erstellte Lösungsansätze möglich, in anderen Regionen nicht. Beim Erfahrungsaustausch der Pädagogen von integrierten und segregierten Schulformen konnten wertvolle praktische Hinweise weitergegeben werden. Eine rege Diskussion entwickelte sich auch in Bezug auf den Europäischen Computerführerschein (ECDL), der für den Start ins Berufsleben häufig von Vorteil sein kann. Insbesondere für Ausbildungswege im IT-Sektor stellt die Zugänglichkeit zu UML-Darstellungen eine aktuelle Herausforderung dar.
Ohne Frage sind also für die schulische und berufliche Ausbildung blinder und sehbehinderter Menschen mehr Integrationslehrer erforderlich. Dieser Notwendigkeit entgegengesetzt gehen jedoch die Ausbildungszahlen der Integrationslehrer zurück. Diese Debatte sowie zahlreiche andere Themen wurden sowohl in den Pausengesprächen zwischen den Vorträgen als auch bei den gemeinsamen Busfahrten durch Chemnitz vertieft. Man darf gespannt sein, was sich bis zur nächsten VBS-Tagung in Graz 2016 entwickeln wird.
Dieter Feser im Interview
"Die Gesellschaft muss sich verändern, damit eine gleichberechtigte Teilhabe gelingen kann"
Anlässlich des VBS-Kongresses sprach Andrea Katemann von der horus-Redaktion mit Dieter Feser, Vorsitzender des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (VBS) und Vorstandsvorsitzender der Nikolauspflege.
Andrea Katemann (AK): Seit die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen in Deutschland in Kraft getreten ist, wird im Zusammenhang mit der gemeinsamen Beschulung von blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen mit sehenden Schülern der Begriff "Inklusion" gebraucht. Gibt es einen Unterschied zu dem bis dahin in diesem Kontext gängigen Begriff der "Integration"?
Dieter Feser (Fe): Ja. Bei der Integration geht es um den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Doch man dachte immer nur in eine Richtung: Bisher hieß die Überlegung, wie bringt man blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche in die Gesellschaft hinein. Welche Voraussetzungen müssen bei ihnen vorhanden sein, damit ein gemeinsamer Unterricht gelingt. Inzwischen lautet die Fragestellung: Wie kann sich das schulische Umfeld auf eine Vielfalt von Menschen einstellen, die gemeinsam unterrichtet werden? Das schulische Umfeld soll sich nun eben an die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler anpassen. Der gemeinsame Unterricht sollte also nicht nur an den Möglichkeiten von sehenden Menschen orientiert sein. Die Teilhabe blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher steht im Vordergrund, doch die Gesellschaft muss sich verändern, damit eine gleichberechtigte Teilhabe gelingen kann.
AK: Hat sich der Schulalltag in diesem Sinne bereits verändert?
Fe: Die Diskussionen darüber sind anders geworden. Doch der Unterricht ist nach wie vor häufig stark an den Bedürfnissen von sehenden Schülerinnen und Schülern ausgerichtet. Hier hat sich noch nicht sehr viel verändert.
AK: Nun gab es im August einen großen, international ausgerichteten Kongress des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (VBS). Dort haben sich die Kongressteilnehmer ganz zentral mit dem Thema Inklusion beschäftigt. Welche Erkenntnisse hat man gewonnen?
Fe: Es wurde sehr deutlich, dass Inklusion nur dann gelingen kann, wenn sie politisch nicht als "Einsparprogramm" verstanden wird. Es kostet Geld, jedem blinden und sehbehinderten Schüler geeignete Betreuungslehrer und Assistenzkräfte, für ihn zugängliche Bücher sowie sonstige Informationen und alle für einen Schulbesuch benötigten Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Eine ausreichende Versorgung mit Hilfsmitteln ist von zentraler Bedeutung für die Teilnahme am gemeinsamen Unterricht. Diese Versorgung ist oft ein harter Kampf. In diesem Zusammenhang ist es nach wie vor unbefriedigend, dass für Praktika (beispielsweise im Rahmen der Berufserkundung) kein Kostenträger irgendein Hilfsmittel bezahlt. An dieser Situation muss sich etwas ändern.
AK: Ist die Versorgung bei der Beratung und Betreuung mit sonderpädagogisch ausgebildeten Fachlehrern ausreichend?
Fe: Bei der ausreichenden Versorgung mit Fachlehrern geht es einerseits darum, dass genügend Betreuungsstunden bezahlt werden, andererseits wird es in den nächsten Jahren dringend nötig sein, die Ausbildung von Fachkräften zu fördern. Nach einer durchgeführten statistischen Erhebung des VBS werden bis zum Jahr 2020 zirka 700 Blindenpädagogen aus dem Dienst ausscheiden. Jährlich verlassen momentan aber nur etwa 50 bis 60 ausgebildete Fachkräfte die Hochschule.
AK: Welche Bedeutung werden Spezialeinrichtungen für blinde und sehbehinderte Menschen in der Zukunft haben?
Fe: Eine weitere wichtige Erkenntnis nach unserem Kongress ist für den VBS, dass es immer Spezialeinrichtungen geben muss, die von blinden und sehbehinderten Menschen möglicherweise nur während bestimmter Abschnitte ihres Bildungsweges besucht werden. Denn auch die Spezialeinrichtungen tragen dazu bei, die Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben zu fördern.
Das Interview führte Andrea Katemann (horus-Redaktion).
Zur Person
Dieter Feser ist Bundesvorsitzender des VBS und Vorstandsvorsitzender der Nikolauspflege, Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen. Er gilt als profunder Kenner des Blinden- und Sehbehindertenwesens im In- und Ausland sowie als Kritiker von Sparmaßnahmen im Bildungsbereich, die mit Qualität und Inhalten des Bildungs-, Erziehungs- und Sozialwesens in Deutschland nicht zu vereinbaren sind.
Die UN-Behindertenrechtskonvention im europäischen Maßstab
Einschätzungen und Erwartungen aus der Sicht der Europäischen Blindenunion
Eröffnungsvortrag des VBS-Kongresses 2012
Für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung und ihre Angehörigen, heißt es auf der Internetseite für diese Veranstaltung, soll der Kongress als Plattform für den Austausch und der Vertretung ihrer Interessen dienen. Damit wird ein Zusammenschluss hergestellt, der über lange Zeit des vorigen Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich war. Die Idee der Selbsthilfe reicht zurück bis in das 19. Jahrhundert. Blinde und sehbehinderte Menschen fanden sich damals zusammen, um eine Organisationsform vorzubereiten, die ihnen helfen sollte, ihre Wünsche und Bedürfnisse gemeinsam zu verfolgen und nach Möglichkeiten zu suchen, sie zu verwirklichen. Was immer auch im Einzelfall der letzte Auslöser für diesen Entschluss gewesen sein mag - in ihm manifestierte sich die Überzeugung, dass diese Wünsche und Bedürfnisse jedenfalls bis dahin nicht ausreichend zur Geltung gekommen waren. Denn das, was für blinde Menschen und mit ihnen geschah, wurde damals nahezu ausschließlich von jenen gestaltet, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, für die Betroffenen die Folgen von Blindheit zu mildern. Beruflich als Lehrer, Ärzte oder Fürsorger, privat häufig aus einer religiös oder schlicht humanitär motivierten Hilfsbereitschaft heraus, widmeten sie sich mit großer Aufopferungsbereitschaft und bewundernswertem Engagement der Erziehung, Ausbildung und weiteren Lebensgestaltung blinder Menschen. Dieses Wirken war ohne Frage in sehr vielen Fällen segensreich und hat Meilensteine für die berufliche, soziale und kulturelle Entwicklung blinder Menschen gesetzt. Aber wer solche Meilensteine setzt, fordert nicht selten auch das Recht für sich ein, über diejenigen bestimmen zu dürfen, denen sein Schaffen zugute kommt. Seine berufliche und persönliche Erfahrung - so der Anspruch - hat ihn schließlich gelehrt zu wissen, was für den Schützling gut ist. In der Fachliteratur jener Zeit finden sich Beiträge, die beredtes Zeugnis von dieser Überzeugung geben. Verständlich ist das allemal, denn der Wunsch "so viel Hilfe wie nötig, so viel Freiheit wie möglich" ist schnell geäußert; ihn aber zu erfüllen und das, was damit an Erkenntnisbereitschaft, Wertschätzung und Vertrauen verbunden ist, umzusetzen, braucht bisweilen viel Zeit und Geduld aller beteiligten.
Und das betrifft auch die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. Die Europäische Blindenunion (EBU) wirkt darauf hin, dass die Interessen Blinder und Sehbehinderter bei allen EU-Beschlüssen, die sie berühren, berücksichtigt werden. Um dies zu erreichen, versucht sie über ihre EU-Verbindungskommission, aktiv Einfluss auf die Gestaltung der EU-Politik zu nehmen. So bestehen regelmäßige Kontakte zu den Mitgliedern des Europäischen Parlaments, zu den Beamten der Europäischen Kommission und den zu bestimmten Themenbereichen bestehenden Expertengruppen. Sie wirkt maßgeblich mit im Europäischen Behindertenforum und unterhält über ihre nationalen Mitgliedsorganisationen regelmäßige Kontakte zu den Amtsträgern auf Regierungsebene, die am EU-Entscheidungsverfahren mitwirken. (...)
In den vergangenen Jahren wurde die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Behindertenforum ausgebaut und intensiviert. Das gleiche gilt für den Europarat und das Europäische Sozialnetzwerk. Die EBU ist hier in allen Spitzengremien vertreten und bringt dort die Interessen blinder und sehbehinderter Bürgerinnen und Bürger zur Geltung. Für die uneingeschränkte Fortsetzung dieser Arbeit ist gesorgt. Eine enge Zusammenarbeit verbindet die EBU auch mit ICEVI Europe, der europäischen Regionalgliederung des "Internationalen Rates für die Bildung sehbehinderter und blinder Menschen". Diese Zusammenarbeit wird vor allem durch unsere Kommission für Bildung und Kultur gestaltet.
Als regionaler Bestandteil der Welt-Blindenunion war die EBU von Beginn an an der Erarbeitung einer Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beteiligt. Diese Konvention und das Zusatzprotokoll (Fakultativprotokoll) wurden am 13. Dezember 2006 verabschiedet. Beide sind am 3. Mai 2008 in Kraft getreten. Bis Juni 2011 wurde die Konvention von 100 Staaten und der EU ratifiziert bzw. durch Beitritt oder förmliche Zustimmung in Kraft gesetzt.
Diese Konvention zielt darauf ab, die bei Behinderung grundsätzlich drohende rechtliche und gesellschaftliche Benachteiligung durch den Anspruch behinderter Menschen auf positive Rechte zu vermeiden. In vielen Staaten wurden bisher Menschen mit Behinderungen zwar grundsätzlich formell die gleichen Rechte eingeräumt wie Menschen ohne Behinderungen, aber die erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen dafür wurden überwiegend nicht oder nur sehr lückenhaft geschaffen.
Die Europäische Union (EU) hat die Konvention als erste internationale zwischenstaatliche Organisation ratifiziert. Das hat zur Folge, dass die Inhalte der Konvention bei der Schaffung und Interpretation von EU-Rechtsnormen wie zum Beispiel den sog. Richtlinien/Direktiven, aber auch in der Verwaltungspraxis der EU wie zum Beispiel den Internet-Auftritten, und nicht zuletzt auch bei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes zu beachten sind. Das gilt auch bei der Auflage, Gestaltung und Umsetzung von EU-Förderprogrammen, aus denen eine Vielzahl von transnationalen Projekten gespeist wird.
Die Konvention enthält zwar keine genaue, abschließende Definition des Begriffs Behinderung. Sie beschreibt aber das ihr zu Grunde liegende Verständnis von "Behinderung" und konkretisiert damit den persönlichen Anwendungsbereich. Unter "Menschen mit Behinderungen" werden nach Artikel 1 Satz 2 der Behindertenrechtskonvention (BRK) Menschen verstanden, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. (...)
Grundlage ist der Grundsatz der Inklusion in allen Bereichen, somit auch in den Bereichen Bildung und Ausbildung, Arbeitswelt und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. In der deutschen Übersetzung ist von "Integration" die Rede. Die Kritik an dieser Übersetzung hat zu einer "Schattenübersetzung" geführt. Nach Demmel (2010) sind die Begriffe Inklusion und Integration keine Gegensätze, sondern sie bedingen sich geradezu. Es handelt sich um einen dynamischen und dialektischen Prozess: Inklusion bedeutet, dass die Welt, in der wir leben, so gestaltet werden muss, dass alle Menschen, also auch Menschen mit Behinderungen, in ihr zurechtkommen, an ihr teilhaben können. Deshalb müssen nach dem Inklusionsprinzip Barrieren abgebaut und Einstellungen in der Gesellschaft verändert werden. Integration ist die Forderung, Menschen mit Behinderungen zu befähigen, in dieser Welt zurechtzukommen. Dem dient die Habilitation bzw. Rehabilitation des einzelnen Menschen. Diese individuelle Förderung ist auch in einer inklusiv gestalteten Welt notwendig. Inklusion und Integration müssen also zur Deckung gebracht werden, damit eine Teilhabe, für die das Diskriminierungsverbot gilt und Chancengleichheit besteht, gelingen kann.
Die Beobachtung und Überwachung der Umsetzung der in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen enthaltenen Grundsätze, Forderungen und weiterer Zielvorgaben gehört seit ihrer Entstehung zu den Arbeitsschwerpunkten der EBU. Bereits anlässlich der Generalversammlung im Jahre 2007 entstand ein Arbeitspapier, in dem die Bedeutung der in den einzelnen Artikeln der Konvention normierten Vorgaben für sehbehinderte und blinde Menschen detailliert untersucht wurde. Die dort gewonnenen Erkenntnisse wurden fortgeschrieben und vertieft, zum Beispiel in der "Dubliner Erklärung" über ein "Europa für alle Sehbehinderten und blinden Bürgerinnen und Bürger" vom 17. Mai 2009 und in der "Erklärung von Lanarca", Zypern, vom 28. März 2010, in der es um die besondere Bedeutung der UN-BRK für sehbehinderte und blinde Frauen geht. Die EBU fordert für sehbehinderte und blinde Kinder Respekt vor den sich entwickelnden Fähigkeiten und Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität. In Zusammenarbeit mit ICEVI Europe tritt sie ein für eine an den Bedürfnissen des einzelnen Kindes ausgerichtete, fachlich fundierte Unterstützung der Eltern bei der Erziehung.
Zugänglichkeit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Teilhabe. Deshalb ist dieses Thema einer der Grundpfeiler für die Arbeit der EBU. Gemeinsam mit anderen Interessenverbänden kämpfen wir für EU-Richtlinien, die den einzelnen Staaten in dieser Hinsicht verbindliche Vorgaben machen. Dazu gehört beispielsweise die Fortsetzung der politischen Arbeit für sehbehinderten- und blindenfreundliche Produktgestaltungen bei Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens. Nachdem die Beschriftung von Medikamenten mit Brailleschrift erkämpft wurde, geht es nun im nächsten Schritt um eine gleiche Beschriftung von Reinigungsprodukten, Lebensmitteln und anderen Waren, die üblicherweise in Packungen angeboten werden und von sehbehinderten und blinden Verbraucherinnen und Verbrauchern nur schwer oder gar nicht identifiziert werden können.
Nichtzugängliche Dienstleistungen und Produkte schaffen Barrieren für die Chancengleichheit blinder und sehbehinderter Menschen. Diese Barrieren können physisch, z.B. Verkaufsautomaten, oder aber technologisch bestimmt sein, wie z.B. eine Computersoftware, die nicht angepasst werden kann. Es kann sich aber auch um Hürden handeln, wie zum Beispiel Fahrpläne, die nicht lesbar sind. (...)
Die EBU weist darauf hin, dass sehbehinderte und blinde Menschen in Risikosituationen wie zum Beispiel bewaffneten Konflikten oder Naturkatastrophen häufig besonders großen oder sogar existenzbedrohenden Gefahren ausgesetzt sind. Das beginnt mit dem Problem, die Situation überhaupt einschätzen zu können, oft verbunden mit dem plötzlichen völligen Verlust der Orientierungsfähigkeit; daraus folgt dann die Unmöglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen; und schließlich kann Mangel an Nahrung und Wasser zu einer lebensbedrohenden Lage führen. Zwei bereits aus dem Jahre 2003 stammende Fallstudien haben gezeigt, dass besonders blinde Frauen und Mädchen in der Gefahr sind, Opfer von Gewalt und Missbrauch zu werden. Allgemein sind sehbehinderte und blinde Menschen in solchen Situationen besonders verletzlich, weil sie Angriffen meist völlig schutzlos ausgeliefert sind und kaum eine Chance haben, zur Identifikation der Gewalttäter beizutragen. In diesem Zusammenhang spielt die Abhängigkeit von Angehörigen, aber auch von professioneller Unterstützung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es ist ohne Zweifel eine wichtige Aufgabe, hierüber verlässliche Zahlen zu erheben.
Sehbehinderte und blinde, vor allem taubblinde Menschen haben aus Mangel an persönlicher Assistenz oder sonstiger ortsnaher Unterstützung nur sehr eingeschränkte, nicht selten auch gar keine Möglichkeiten, ihren Lebensmittelpunkt frei zu wählen. Die in einer Reihe von europäischen Ländern vom Staat vorgesehenen Heimunterbringungen sind oft immer noch Kasernierungen mit Entmündigungscharakter für die Betroffenen. (...) Der weiße Langstock als Mobilitätshilfe ist teilweise nicht anerkannt, den Betroffenen fehlen die finanziellen Mittel, um sich überhaupt mit Hilfsmitteln zu versorgen, und soziale Leistungssysteme stehen nicht zur Verfügung. Die EBU unterstützt die entsprechenden Mitgliedsorganisationen bei ihrem politischen Kampf um die Verbesserung dieser Situation. (...)
Die EBU unterstützt die Ziele der inklusiven Beschulung, bei der blinde und sehbehinderte Kinder sonderpädagogisch gefördert gemeinsam mit ihren sehenden Mitschülern und Mitschülerinnen in der Regelschule lernen. Um gleiche Chancen wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler zu haben, ist aber eine fachlich fundierte, auf den individuellen Grad der Sehbeeinträchtigung abgestimmte Unterstützung unerlässlich. Die Lehr- und Unterstützungskräfte müssen durch geeignete Ausbildungsgänge in die Lage versetzt und in der Folge verpflichtet werden, alle Hilfsmittel einzusetzen und Arbeitstechniken zu vermitteln, die die Teilnahme am allgemeinen Unterricht und Schulalltag ermöglichen. Gleichzeitig erkennt die EBU unter Hinweis auf Artikel 24 Absatz 3 Buchstabe c) BRK an, dass in besonderen Fällen, vor allem dann, wenn schwere zusätzliche Beeinträchtigungen eine Förderung in der allgemeinen Lerngruppe nicht zulassen, die Ausbildung an einer geeigneten Förderschule möglich sein muss.
Noch viel zu häufig werden sehbehinderte und blinde Menschen in sogenannte geschützte Beschäftigungen abgeschoben. Dementsprechend ist die berufliche Ausbildung in einer Reihe von europäischen Ländern auch unzureichend. Aber auch in vermeintlich hoch entwickelten europäischen Ländern sind viele sehbehinderte und blinde Menschen im berufsfähigen Alter nicht in einem ihrer Ausbildung adäquaten Beruf beschäftigt. Die EBU setzt sich nachdrücklich dafür ein, dass in die Vorschriften für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen Zugänglichkeitskriterien sowie die Schaffung von Anreizen für die Beschäftigung Behinderter aufgenommen werden. Hiernach würden Unternehmen, die sich nachweislich zu ihrer sozialen Verantwortung bekennen, d.h. die bevorzugt Behinderte einstellen oder deren Produkte barrierefrei gestaltet sind, zusätzliche Punkte bei der Zuschlagserteilung von öffentlichen Aufträgen bekommen. Ein weiteres Aufgabenfeld ist die Erschließung neuer Berufsmöglichkeiten unter Einschluss der Beschäftigungsmöglichkeit als selbstständig Tätiger. (...)
Seit vielen Jahren besteht eine Arbeitsgruppe, die sich speziell mit dem Urheberrecht befasst. Nachdem es gelungen ist, den Mitgliedern der EU mit Hilfe einer verbindlichen Richtlinie Ausnahmeregelungen mit Lizenzerleichterungen für Menschen mit Behinderungen abzutrotzen, geht es aktuell darum, einen freien Austausch von Literatur, die in zugängliche Formate für Menschen mit Leseschwächen umgesetzt wurde, zu ermöglichen. Angestrebt wird ein international verbindlicher Vertrag zwischen der Welt-Blindenunion und dem Welt-Verlegerverband. Die EBU steht in diesem politischen Kampf mit ihren Kampagnen in der ersten Reihe. (...)
Einer der wichtigsten und gleichzeitig schwierigsten Aufträge, die die UN-BRK mitbringt, ist in Artikel 8 enthalten. Inklusion kann nur dann entstehen und wachsen, wenn Menschen mit Behinderungen als natürlicher Bestandteil der Lebensvielfalt in der Gesellschaft verstanden und angenommen werden, und wenn die Staaten und ihre Bevölkerungen in Politik, Wirtschaft und zwischenmenschlichem Miteinander im Alltag bereit sind, diese Lebensvielfalt sich in allen Bereichen wirkungsvoll entfalten zu lassen.
Chancen zur Teilhabe
Inklusive Angebote an der Deutschen Blindenstudienanstalt
Mitunter beschleicht einen das Gefühl, dass erst mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) durch den Deutschen Bundestag im März 2009 das Thema "Inklusion", "gesellschaftliche, kulturelle, politische Teilhabe" von Menschen mit Behinderung als Thema entdeckt wurde, mit dem sich Politik und Interessenverbände zu befassen haben. Verkannt wird bei dieser zu kurz gegriffenen Sichtweise, dass Verbände wie der DVBS und die durch die Selbsthilfe getragene Deutsche Blindenstudienanstalt (blista) es seit jeher als ihre wichtigste Aufgabe begreifen, Blinden und Sehbehinderten die uneingeschränkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. So trägt der DVBS etwa mit seiner Veranstaltungsreihe "Fit für den Job" zur Weiterqualifizierung von arbeitssuchenden Blinden und Sehbehinderten bei und bietet diesen die Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch. Im Mittelpunkt der Kommunikationsseminare der DVBS-internen Fachgruppe Wirtschaft werden Kompetenzen im Bereich nonverbaler Kommunikation, Präsentationstechniken oder Zeitmanagement thematisiert. Zusammen mit dem Stuttgarter Kohlhammer-Verlag wurde mit der Reihe "Kompass Recht" ein mehrbändiges, juristisches Werk publiziert, das im "inklusiven Paket" aus Schwarzschrift und DAISY-Hörbuch-Ausgabe besteht. Innerhalb der blista wird das Ziel auf uneingeschränkte Teilhabe und Inklusion von allen Abteilungen mit den unterschiedlichsten Maßnahmen bereits seit Jahren in die Tat umgesetzt.
Ein Überblick:
Seit einigen Jahren nehmen Schülerinnen und Schüler der Carl-Strehl-Schule (CSS) bereits am Unterricht in anderen Marburger Regelschulen teil. Zumeist in Fächern, die aufgrund mangelnder Teilnehmerzahl innerhalb der CSS nicht angeboten werden können. Mitunter finden sich dann blista-Schüler in Physik- oder Lateinleistungskursen an diversen Marburger Schulen wieder. Es geht aber auch der umgekehrte Weg: Schülerinnen und Schüler der Martin-Luther-Schule nehmen an der blista am Leistungskurs Musik teil, da dieser an ihrer Schule nicht zustande kommen würde. So arbeiten, lernen, leiden und freuen sich blista-Schülerinnen und -Schüler mit ihren Marburger Altersgenossinnen und Altersgenossen gemeinsam am und im Unterricht. Dass dieses "inklusive" Kursangebot von beiden Seiten angenommen und als selbstverständlich betrachtet wird, zeigt der Wunsch des letzten LK Musik, die gemeinsamen zwei Jahre Unterricht nach den absolvierten schriftlichen Prüfungen zum Zentralabitur mit einer Kursfahrt in den Rheingau abzuschließen. Nirgends lernt man sich besser kennen als auf Reisen und in außerschulischen Aktivitäten.
Deswegen spielt der Sport im "inklusiven Angebot" der blista auch eine so zentrale Rolle. Neben gemeinsamen Oberstufenkursen in Klettern gibt es seit Jahren eine gut funktionierende Zusammenarbeit mit Blau-Gelb Marburg, einem örtlichen Sportverein. Die Judo-Abteilung besteht dabei schon seit vielen Jahren aus Kindern und Jugendlichen mit und ohne Seheinschränkung. Judo eignet sich als Sportart, bei der Körperkontakt eine maßgebliche Rolle spielt, nahezu ideal, um ihn gemeinsam mit Blinden und Sehbehinderten auszuüben. Aber auch die im blista-internen Skiprojekt der Jahrgangsstufe 9 erworbenen Fähigkeiten im Umgang mit dem Langlauf- oder Alpin-Ski können Schülerinnen und Schüler der blista bei Blau-Gelb Marburg vertiefen. Viele der Lehrerinnen und Lehrer des Sportbereichs an der blista sind in der Skiabteilung von Blau-Gelb aktiv und ermöglichen blista-Schülerinnen und Schülern so die Teilnahme an regulären Fahrten des Marburger Skiclubs, um ihre Begeisterung für die weiße Pracht weiter auszubauen. Ähnliche Kooperationen gibt es mit einem Wassersportclub zwecks Windsurfen und Kajakfahren.
Um ihren Schülerinnen und Schülern, aber auch allgemein Blinden und Sehbehinderten, mehr Türen in Richtung Vereinssport zu öffnen, verfolgt die blista gemeinsam mit der "Sehbehindertensportgemeinschaft" (SSG) das Projekt "Inklusion erfahrbar machen", in welchem Sportvereine darin unterstützt werden, sich für Menschen mit Behinderung zu öffnen. Dafür erhielten blista und SSG den 2.Platz des mit insgesamt 20.000 Euro dotierten "Jürgen-Markus-Preis: Marburg Barrierefrei", der 2012 erstmals verliehen wurde.
Neben sportlicher Aktivität ist künstlerische Kreativität ein ebenso starker Motor zum gemeinsamen Miteinander, zum gegenseitigen Kennenlernen mit allen Stärken und Schwächen. Bereits seit einigen Jahren hat sich die Theaterarbeit an der blista für Jugendliche aus Marburg und darüber hinaus geöffnet. In einigen Stücken bespielten sehbehinderte, blinde und normal sehende Darstellerinnen und Darsteller gemeinsam Bühnen, nicht nur in Marburg. Mit ihren vielen Auftritten bei Festivals im In- und Ausland zeigen die theaterbegeisterten Schauspieler Einsatz und Wir-Gefühl. Während der Proben, vor dem Auftritt und bei der Feier danach spielt es keine Rolle, ob man die applaudierenden Zuschauer sehen kann oder nicht. In diesem Schuljahr erarbeiten die beiden blista-Theatergruppen zusammen mit einem Oberstufen-Kurs "Darstellendes Spiel" der Elisabethschule Marburg das Stück "Unter dem Milchwald" von Dylan Thomas. Bei gemeinsamen Probewochenenden, regelmäßigen Treffen und intensiver Feinarbeit soll bis Mitte April ein dichter Theaterabend für das Marburger Publikum entstehen.
Die "inklusiven" Angebote richten sich nicht nur an den zwar stetig steigenden, aber dennoch überschaubaren Schülerkreis der Carl-Strehl-Schule. Insgesamt werden mehr als 70 Kinder und Jugendliche aus den angrenzenden Landkreisen in Schulen vor Ort betreut und unterstützt. Mitarbeiter des "Beratungs- und Förderzentrums" besuchen die Schülerinnen und Schüler in ihren Schulen und helfen dabei, den Regelschulbesuch zu ermöglichen, beraten Lehrkräfte, Schulleitungen sowie Eltern. Für blinde und sehbehinderte Kinder, die noch nicht im schulfähigen Alter sind, spielt die Frühförderung eine maßgebende Rolle in Bezug auf "Teilhabe". Eltern werden dabei unterstützt, die Entwicklung ihrer Kinder so zu fördern, dass das fehlende oder schlechte Sehen möglichst kompensiert werden kann, um den Kindern eine altersgemäße Umgebung mit Spielen, Entdecken gewährleisten zu können. Ein besonderes Angebot stellt die Unterstützung blinder Eltern dar. Je nach Bedarf und Kapazität besucht eine Mitarbeiterin der blista-eigenen Frühförderstelle das blinde Elternpaar und unternimmt mit dem unter Umständen sehenden Kind Aktivitäten, die für die blinden Eltern kaum oder nur mit Assistenz möglich wären, wie etwa Fahrrad fahren, malen, ins Schwimmbad gehen...
Inklusion vertritt im Gegensatz zur Integration den Grundsatz, dass die Gesellschaft so aufgebaut sein soll, dass sie jedem, auch Blinden und Sehbehinderten, uneingeschränkt offen und die Teilhabe daran ermöglicht werden soll. Nicht mehr der Behinderte passt sich an die Gegebenheiten an, sondern die Gegebenheiten sind so angepasst, dass sie jeder Mensch selbständig nutzen kann. Diesem Grundsatz folgend produziert die blista auch im medialen Bereich Hilfsmittel, die ein Stück weit für mehr "Inklusion" sorgen können. So haben die Fluggesellschaften Air Berlin und British Airways etwa ihre an Bord ausliegenden "Verhaltensregeln im Sicherheitsfall" von der blista in Punktschrift übertragen lassen, um so blinden Fluggästen die Möglichkeit zu geben, sich während des Startvorgangs über die Position der Sauerstoffmasken zu informieren. Des Weiteren produziert die Braille-Druckerei der blista immer mehr Braille-Beschriftungen im öffentlichen Raum, so stattete sie zuletzt den Busbahnhof der westfälischen Stadt Unna damit aus. Dort können dann der Punktschrift mächtige Passantinnen und Passanten an Handläufen ablesen, wohin eine Treppe führt oder welcher Knopf im Aufzug gedrückt werden muss, um ins Erdgeschoss zu gelangen. Weitere wichtige Bestandteile, um blinden Bürgerinnen und Bürgern die eigenständige Teilhabe, mit anderen Worten ein "inklusives Angebot" zu machen, ist die Produktion von taktilen Lageplänen, die etwa über den Aufbau eines Marburger Hallenbades, den Eingangsbereich eines Kaufhauses oder die Raumaufteilung und den Aufbau einer politischen Institution wie der Hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden informieren.
Darüber hinaus existieren taktile Teilstadtpläne etwa von Düsseldorf und der gesamte, aufwendig mit Kontrasten erarbeitete Stadtplan Marburgs.
Die Staatskanzlei in Wiesbaden wurde, wie das Landesmuseum im rheinland-pfälzischen Mainz, von Seiten der blista so ausgestattet, dass diese Orte durch Blinde und Sehbehinderte eigenständig erkundet werden können. So erschließt sich kulturelles und politisches Wissen, das ansonsten nicht eigenständig erkundet hätte werden können. Der Landschaftsverband Westfalen/Lippe stellte in Kooperation mit der Deutschen Blindenbibliothek einen akustischen Museumsführer durch seine insgesamt 17 Museen und Dauerausstellungen her, der Informationen über Inhalt, Preise und Öffnungszeiten der Kultureinrichtungen enthält. Die Aktion Mensch lässt in den Studios der Blindenhörbücherei (DBH) ihr Magazin "Menschen" als DAISY-Buch produzieren, um so auch blinde und sehbehinderte Interessenten an ihrer Arbeit und ihrem inklusiven Engagement teilhaben zu lassen.
Ob das politische Schlagwort früher "Integration" oder heute "Inklusion" heißt, an der Arbeit der Blindenselbsthilfe und der blista hat sich nichts geändert. Ziel ist es nach wie vor, jedem, egal ob blind oder sehbehindert, jung oder alt, die Chance auf Teilhabe zu ermöglichen, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Wenn die UN-Behindertenrechtskonvention und der Begriff "Inklusion" es schaffen, dass diese Ziele gesellschaftlich, politisch und kulturell stärker ins Bewusstsein gerückt werden, wäre die BRK mehr als eine verbindliche Festschreibung juristischer Normen. Dann wäre sie ein wahrer Meilenstein.
Und jetzt?
China ist vielfältig. China hat viele Facetten. Und China ist unübersichtlich und überfüllt... Ich sitze im Chinesischen Garten der Ruhr-Universität Bochum. Die Uhr zeigt 12:09 - noch etwa zwei Stunden bis zur nächsten Veranstaltung, und ich habe das Bedürfnis, einen der letzten warmen Tage dieses Jahres hier im Botanischen Garten zu verbringen. Der Chinesische Garten ist ein davon abgetrennter Bereich, der - leider Gottes - viel zu viele Besuchermassen anlockt. Die asiatisch gestalteten Dächer von Tempelhäusern, die verzierten Brückengeländer und die künstlichen Mini-Wasserfälle machen diesen kleinen Platz zu einer wahren Abwechslung neben dem alltäglichen studentischen Fast-Food-Szenario. Ich habe von meinem Platz aus die beste Aussicht. Es ist ein etwas höher gelegener Stein, der meist von den heranwachsenden Künstlern und Poeten belagert wird, da er - so sagt man jedenfalls - die Quelle der Inspiration beherbergen soll... Ich habe mir heute die Dreistigkeit erlaubt, diese Magie mit meinem Macbook und meinem ordinären Mittagessen herauszufordern. Um einen Text zu lesen, ist es viel zu hell. Obwohl ich im Schatten der Bäume sitze, muss ich die Augen zusammenkneifen. In diesem Moment bewundere ich das Mädchen, das auf der Bank rechts vom Wasserfall sitzt und gewissenhaft die wichtigen Stellen in ihrem Reader markiert. Bei dem Gedanken an meinen ungelesenen Reader-Stapel verdrehe ich die Augen und wende mich meiner Brotbox zu. Etwas zu kaufen ist viel zu teuer. Wer seine Finanzen im Blick haben will, sollte sich auf Kochen und Broteschmieren beschränken und sich nicht an jeder Ecke einen Snack "genehmigen", diesen Fehler lernte ich glücklicherweise nach vier Semestern zu vermeiden.
Herrgott, sind es wirklich schon vier Semester? Es ist wie mit der Schule: Wenn man in der 11. Klasse ist, denkt man, man hätte alle Zeit der Welt, um eine Entscheidung für"s Leben danach zu treffen... und prompt hat man das Abitur und denkt sich: "Und jetzt?"
Und jetzt habe ich nach dem vierten Semester 2-Fach Bachelor Medien- und Theaterwissenschaft nicht wirklich das Gefühl, weiser, erfahrener, gebildeter, intelligenter oder in irgendeiner Weise bereit für die Arbeitswelt zu sein. Muss das so sein? Hat sich Angela Merkel nach ihrem Physikstudium wohl genauso gefühlt? Trotz der allgemein herrschenden Unsicherheit, was die Karriereplanung und den Einstieg ins Berufsleben betrifft, sind es zu unserem Verdruss nicht nur optimistische Stimmen, die wir angehenden Bachelor-Kandidaten vernehmen müssen. Der leitende Institutsguru der Medienwissenschaft teilte uns im zweiten Semester mit, dass eine schlechtere Note als 1,0 auf dem BA-Zeugnis - metaphorisch gesprochen - zu einer Karriereleiter in Form eines sinkenden Graphen führen würde, dessen Fallen bis zum Erreichen der Pensionierung (wenn überhaupt) kein Ende nehmen würde. Etwas offenherzigere Menschen, die in unserem Institut etwas zu sagen haben, planen wiederum den so genannten "Medienjob-Infotag", zu dem ehemalige Studenten der Medienwissenschaft, die "etwas aus sich gemacht haben", an die Universität zu einem kleinen Vortrag über ihren Werdegang und ihre Tätigkeit eingeladen werden. Diese sollen natürlich die Funktion haben, uns klare Berufsperspektiven zu schaffen oder offene Fragen zu beantworten. Schade nur, dass nach etwa zehn Vorträgen von Kameramännern, Theaterleitern, Moderatoren, Drehbuchlektoren, Homepage-Betreibern, Redakteuren, Journalisten und Werbemanagern die glücklichen Mienen der Studenten - mich eingeschlossen - nach Ägypten katapultiert zu sein schienen. Nachdem in beinahe jedem Vortrag die Tatsache erwähnt wurde, dass es mehr auf Kontakte und "Vitamin B" ankäme als auf gute Leistungen und das richtige Studienfach, herrschte verbreitete Erschütterung. Haben die Geisteswissenschaften aus diesen Gründen ihren Ruf, keine "richtigen" Wissenschaften zu sein? Ist es wirklich egal, was man studiert? Wird der gesamte Inhalt des Studiums später belanglos? Entscheidet der spontane Kaffee mit einem Chefredakteur wirklich mehr über eine Zukunft als ein gut abgeschlossenes Studium mit Auszeichnung und Talent? Wie schwer muss es generell sein, in einem so unsicheren Feld Fuß zu fassen? Wie sind die Chancen mit einer Behinderung? Zwei meiner Kommilitonen wechselten nach dem "Medienjob-Infotag" das Fach.
Die Apfelstücke in meiner Tupper-Dose haben eine bräunliche Färbung - na toll... ich habe vergessen, ein paar Tropfen Zitronensaft darüberzuschütten. Als ich daran denke, dass ich gar keine Zitrone zu Hause gehabt hätte, weil ich wegen der Bafög-Kürzung bei der letzten Einkaufsliste einen Gang zurückschalten musste, werde ich aggressiv. Das scheint den Leuten Spaß zu machen, ohne Vorwarnung die Auszahlung um die Hälfte zu reduzieren. Alles kostet Geld! Jede Großkopie, die ich zusätzlich benötige, jede neue Lupe, jedes Brillenzubehör drückt auf den Geldbeutel. Wir sind erwachsen. Die Zeiten, in denen uns unsere Eltern unter die Arme gegriffen haben, sollten doch vorbei sein. In solchen Situationen bewundere ich alle, die Blinden- oder Sehbehindertengeld bekommen und rege mich einmal mehr darüber auf, dass zwei Prozent Sehkraft darüber entscheiden, dass meine Sehbehinderung nicht in die Richtlinien des LWL passt, welche das Sehbehindertengeld von monatlich 77 Euro rechtfertigen sollten. Einmal mehr balle ich die Fäuste und verkneife mir jede Äußerung gegenüber anderen Studenten, die offenbar trotz besserer Sehkraft, weniger Anstrengung und geringerer finanzieller Einschränkung das Privileg verdient haben, Unterstützung zu bekommen. Die Welt ist ungerecht und es sind Kleinigkeiten, die uns daran erinnern. Es ist unfair, dass das Lesen von Texten oder das Anfertigen von Hausarbeiten in meinem Fall viel mehr Zeit erfordert, dass ein Nebenjob nicht immer möglich ist. Dennoch habe ich es geschafft, eine Stelle als Promotor bei MMmedia zu ergattern, die es mir erlaubt, durch spontane Arbeitszeiten mit nettem Nebeneffekt (ich führe Kinokontrollen durch) etwas dazuzuverdienen. Wenn ich das Selbstbewusstsein aller angehenden Bewerber zerstören wollte, würde ich erwähnen, dass dies durch "Vitamin B" geschah... Gut, dass das nicht meine Absicht ist.
Meine Kommilitonen versüßen mir die Veranstaltungen. Die Figuren in Zeichentrickfilmen hatten also Recht: "Freunde sind wichtig", sagten sie stets und es hing uns irgendwann zu den Ohren heraus - an dieser Stelle sei angemerkt, dass ich es durchaus nachvollziehen kann, wenn die Kinder heute eine Anti-Haltung gegenüber solchen Anmerkungen annehmen, schließlich werden sie nicht gerade davon verschont. Aber es ist etwas Wahres dran. Blockveranstaltungen, die sich über sechs Stunden erstrecken, sind weniger amüsant, wenn man alleine sitzt. Referate machen weniger Freude und bringen somit weniger gefestigtes Wissen hervor, wenn zwei sich unsympathische Referenten beteiligt sind. Dennoch: Jeder will der oder die Beste sein, der Konkurrenzkampf ist groß. Eine Tatsache, die ich naiverweise zu Beginn des Studiums ausgeblendet hatte und die mir heute jeden Tag aufs Neue begegnet, selbst unter meinen engsten Freunden. In der Schule magst du der oder die Beste in der Klasse gewesen sein, aber in der Uni bist du ein einzelner Punkt in einer großen anonymen Masse, die von den Dozenten teilweise wahllos bewertet wird. Viele Dozenten können die Namen der Studenten nicht mit ihren Gesichtern verknüpfen - und es sollte ihnen auch nicht übel genommen werden: Die Zahl der Studenten steigt schließlich von Jahr zu Jahr. Und dass gerade an dieser Stelle eine Behinderung gar kein Nachteil sein kann, scheint vielleicht paradox, aber macht bei näherer Betrachtung Sinn: Indem ich mich meinen Dozenten vorstellte, um ihnen meine Sehschwäche mitzuteilen, blieb ich ihnen in Erinnerung. Auf einmal war ich nicht mehr nur ein Name ohne Gesicht, oder ein Gesicht ohne Namen. Ich war die Verknüpfung von beidem. Ein Dozent, der meine Klausur mit einer 1,0 bewertet hatte, auf der mein Name stand, lächelte mir vor einigen Wochen im Flur zu und begrüßte mich.
Die Uni ist wie China: überfüllt, unübersichtlich, aber vielfältig und mit vielen Facetten. Dir wird ein System vorgegeben und du hast die Wahl, ob du es akzeptierst, es abstößt oder das Beste daraus machst. Es geht weder darum, die ganze Zeit Texte zu lesen, noch darum, der oder die Beste im Kurs zu sein. Das Motto "positiv auffallen um jeden Preis" sollte sicherlich nicht im Fokus stehen, sondern eher der persönliche Erfolg.
Ich packe meine Brotbox mit den braunen Äpfeln zurück in meine Tasche. Dann eben doch ein Blaubeer-Muffin von Backwerk - man lebt schließlich nur einmal!
Während ich zurück zum Campus laufe, stelle ich fest, dass ich gar nicht mehr über den Weg nachdenken muss. Das ständige Suchen hatte mich anscheinend erfolgreich gemacht. Ich denke daran, dass ich bisher nicht nur meinem Studium treu geblieben bin, sondern nebenbei mehrere praktische Theatermodule abgedeckt, einen Italienisch-Kurs und Karate-Unterricht begonnen, einen Astrophysik-Kurs, einen Präsentations-Kurs und Praxisveranstaltungen in Zeichnen und Drehbuchschreiben erfolgreich absolviert und einen Workshop für 8-Klässler zum Thema Medienkompetenz geleitet habe. Und mir stehen noch zwei Semester und ein Praktikum beim Radio bevor...
Wer den "Sozialpreis" gewinnt
Gelingende Inklusion braucht vielfältige Kompetenz: Für eine faire Teilhabe von blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schülern an schulischer Bildung
Um es gleich vorweg zu sagen: Wir sind für Inklusion, ohne Wenn und Aber. Für eine faire Teilhabe von blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schülern an schulischer Bildung. Für gleiche Chancen von blinden und sehbehinderten Menschen in Aus-, Fort- und Weiterbildung, am Arbeitsmarkt und mitten in unserer Gesellschaft. Die Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista) ist eine Einrichtung der Selbsthilfe. Bestätigt durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK), setzt sich die blista als Kompetenzzentrum im Rahmen eines BRK-Aktionsplanes gezielt für mehr und bessere Inklusion ein: durch den Abbau von Barrieren, die kontinuierliche Fortentwicklung von Methoden und Instrumenten, durch vielfältige Beratungsangebote und ihr Engagement im nationalen und internationalen gesellschaftspolitischen Diskurs.
Ein gemeinsames Inklusionsverständnis entwickeln
Wenn wir uns darauf verständigen, dass Inklusion:
- auf eine selbstverständliche und gleichberechtigte Teilhabe zielt,
- Menschen mit und ohne Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen einbezieht
- und eine Teilhabe meint, die von Selbstbestimmtheit, Gleichberechtigung und Normalisierung geprägt ist,
dann geht es in puncto schulischer Inklusion darum, ganzheitlich zu handeln: Alle einzubeziehen und zugleich Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe und einen chancengleichen Start in eine Berufsausbildung oder ein Studium zu sichern.
Es kann also keine Lösung sein, neue Abhängigkeiten zu schaffen, wie etwa im folgenden Beispiel beschrieben: "Vor einiger Zeit besuchte eine Schülerin mit Sehbehinderung unsere Realschule. Sie konnte zwar inkludiert werden, jedoch nur mit Hilfe einer sehr engagierten Mitschülerin, die ihr die Aufgaben auf der Tafel zugeflüstert hat und ihr unterstützend zur Seite stand. Das vorbildliche Verhalten dieser Mitschülerin wurde mit dem "Sozialpreis" ausgezeichnet."
Ein faires, chancengleiches schulisches Bildungsangebot verlangt eine Teilhabe, die gestaltet wird durch die Selbstbestimmtheit und die Gleichberechtigung aller. Bislang ist der Weg das Ziel. Denn selbst aus Dänemark, dem Vorreiter einer schulischen Inklusion, die am individuellen Bedarf ansetzt und für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen auf qualifizierte Unterstützungs- und Assistenzkräfte baut, werden alarmierende Zahlen berichtet: Die Evaluation von 30 Jahren Inklusion zeigt auf, dass inklusiv orientierte allgemeine Schulen in Dänemark "Probleme haben, den blinden und sehbehinderten Schülern ein Bildungsniveau zu bieten, das auf dem gleichen Stand ist wie das der sehenden Schüler". Nicht nur die Noten wurden schlechter, seit Einführung der Inklusion stieg die Schulabbrecherquote blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler auf 44 Prozent und der Anteil der Personen mit Sehbehinderung, die eine Ausbildung abschließen, verringerte sich um ein Drittel. Mit 85 Prozent hat Dänemark derzeit die höchste Arbeitslosenquote blinder und sehbehinderter Menschen in Europa.
Gemeinsamer Unterricht braucht fachliche Kompetenz
Drei Beispiele sollen veranschaulichen, welche inhaltlichen und methodischen Überlegungen es für den Zugang blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen gilt, um die angestrebten Lernprozesse chancengleich einzuleiten.
Mathematik begreifen
1 Stuhl, 2 Stühle, 3 Stühle ... - jeder, der den Mut aufbringt, unter der Augenbinde einfache Experimente zum taktilen Erfassen mitzumachen, begreift es schnell: Beim Ertasten folgen die Wahrnehmungsereignisse aufeinander. Die moderne Grundschuldidaktik baut jedoch zum Beispiel beim Erlernen der Grundrechenarten mit dem Schwerpunkt "Simultane Mengenerfassung" auf Gleichzeitigkeit. Die Kinder sollten lernen, kleinere und strukturiert vorgegebene Mengen auf einen Blick, ohne Abzählen, zu erfassen. Dieses visuelle Erkennen von Anzahlen gilt für Sehende als wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung eines stabilen Zahlbegriffs.
Das Fern-Lernziel, nämlich die Beherrschung des Umgangs mit Zahlen, ist für alle Kinder dasselbe, aber der Weg dorthin unterscheidet sich. Eine simultane Mengenerfassung lässt die Tastwahrnehmung nicht zu. Für blinde Kinder ist daher ein anderer Zugang notwendig. Ihr seriell angelegter Wahrnehmungsvorgang erfordert ein handlungsorientiertes Vorgehen.
Musik erfassen
Teil eines jeden Musikunterrichts ist die Notenschrift. Die Braille-Notenschrift für blinde Schülerinnen und Schüler folgt in ihrer Systematik jedoch grundsätzlich anderen Regeln als die Notenschrift für Sehende. So werden zum Beispiel gleichzeitige Klangereignisse (ein Akkord, ein Dreiklang) in aufeinanderfolgender Weise notiert. Dies hat Konsequenzen für die kognitive Verarbeitung und muss folglich in der Unterrichtsmethodik und der Auswahl der Unterrichtsgegenstände berücksichtigt werden. Die Braille-Notenschrift ist kein Bestandteil in der Ausbildung von Lehrkräften. Weil aber Fachschrift von Fachinhalten nicht zu trennen ist, entfällt in der derzeitigen Unterrichtspraxis inklusiv orientierter allgemeiner Schulen für blinde Schülerinnen und Schüler beides.
Kunst selbst entdecken
Auch die Schwierigkeiten eines inklusiven Kunstunterrichts lassen sich an der Tatsache erkennen, dass dieser an inklusiv orientierten allgemeinen Schulen häufig nicht stattfindet. Wieder liegt es nicht daran, dass die übergeordneten Lernziele wie Persönlichkeitsentwicklung, Erweiterung des Vorstellungsvermögens, kulturelles Wissen etc. unterschiedlich wären, sondern an der Notwendigkeit, neue didaktische Lösungen für einen chancengleichen inklusiven Kunstunterricht anzubieten.
An allgemeinen Schulen geht es mit dem vor allem visuell-ästhetischen Zugang des Faches um Phänomene von Farbe, Raumillusion, Komposition, Foto, Film ... - was blinde Schüler von einer selbstständig entdeckenden Erarbeitung der Unterrichtsgegenstände ausschließt. Schieres Zuhören, Auswendiglernen von Effekten, Abläufen und Begriffen führt zu vorstellungsleeren Konzepten. Obwohl die Erfahrung zeigt, dass der für das Fach Kunst im besonderen Maße geforderte Bezug auf die Lebenswirklichkeit durchaus auch ohne einen visuellen Zugang verwirklicht werden kann, werden die lediglich zuhörend Mittuenden abgedrängt.
Damit Inklusion im gemeinsamen Unterricht gelingt ...
Zu den Errungenschaften der UN-BRK zählt die Verständigung auf den Wert von Vielfalt. Sie baut auf die Zuversicht, dass die Wahrnehmung und die Einbeziehung unserer Vielfalt die Gesellschaft bereichert. Wenn wir uns darauf verständigen, dass Inklusion mit einer selbstverständlichen und gleichberechtigten Teilhabe auf Normalisierung zielt, dann sind der Austausch von Erfahrungen und die Fortentwicklung der vorliegenden Konzepte und Ansätze unabdingbar.
Eine chancengleiche Teilhabe an schulischer Bildung baut auf die Wahrnehmung und Einbeziehung individueller Potentiale, auf die zielgerichtete individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Wenn das gelingt, wird es auch die konzeptionellen Beiträge einer blinden Schülerin im Kunstunterricht geben, sie wird von ihren Mitschülern womöglich zur Klassensprecherin gewählt oder mit dem "Sozialpreis" auszuzeichnen sein, weil sie einer Klassenkameradin ohne Behinderungen in besonders vorbildlicher Weise zur Seite stand.
Immer fort und immer weiter: mein Job, die Zukunft und ich
Bildungschancen und -möglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen
Wer sich fachlich weiterentwickeln, seine Berufschancen erhalten oder erhöhen möchte, bildet sich weiter. Doch das Lesen von Fachliteratur und der Austausch mit Kollegen reichen oft nicht aus. Für eine fachliche und auch formale Weiterqualifizierung besuchen deshalb viele Absolventen, Arbeitnehmer und Selbstständige mehr oder weniger regelmäßig Fort- und Weiterbildungen. Doch wie ist die Situation für blinde und sehbehinderte Menschen? Welche Angebote bestehen? Und welche Chancen birgt der freie Bildungsmarkt?
Um die Situation der Fort- und Weiterbildung speziell für blinde und sehbehinderte Erwachsene in den Blick zu nehmen, veranlassten der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und die Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista) im Jahr 2009 eine Studie zum Thema "berufliche Fort- und Weiterbildung", um vorhandene Angebote zu erfassen und abzubilden. Die nachfolgenden Darstellungen geben einen Überblick über die bestehenden Möglichkeiten der beruflichen Fort- und Weiterbildung für Blinde und Sehbehinderte.
Anmerkung: Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Erstausbildungen und Umschulungen mit mehr als einem Jahr Dauer wurden nicht berücksichtigt.
Berufliche Fort- und Weiterbildung speziell für Sehgeschädigte bieten Selbsthilfeverbände, Rehabilitationseinrichtungen, die blista und mehrere kleine Träger an.
Das Angebotsspektrum des DVBS reicht von Schlüsselqualifikationen und Softskills (z.B. "Zeit- und Selbstmanagement") über berufsbezogene Angebote (z.B. "Änderungen im Sozialrecht"), Angebote für Berufs(wieder)einsteiger (z.B. Veranstaltungsreihe "Fit für den Job") bis hin zu Tagungen (z.B. Bundestagungen der Fachgruppe Ausbildung). Die Angebote der weiteren Selbsthilfeorganisationen werden über die Programme der Aura-Hotels und über Mailinglisten veröffentlicht. Angeboten werden im Bereich der beruflichen Qualifizierung vor allem Grundcomputerkurse.
Die Berufsbildungswerke/Berufsförderungswerke sind Rehabilitationseinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte zur Erstausbildung oder zur beruflichen Wiedereingliederung. Die Angebote beziehen sich vorwiegend auf das Spektrum der Berufe, die von blinden und sehbehinderten Menschen besonders oft ausgeübt werden, z.B. Physiotherapie, Büroberufe (Telefonist, Dialogmarketing) oder Informatik. Standorte für derartige Maßnahmen sind das BFW Würzburg, das BFW Halle, das BFW Düren, das BFW Mainz, das BBW Soest, das BBW der Nikolauspflege in Stuttgart, das BBW Chemnitz und das BBS Nürnberg.
Das angebotene Fort- und Weiterbildungsprogramm der blista richtet sich überwiegend an Lehrer und Fachkräfte aus dem Rehabilitationsbereich, die mit blinden und sehbehinderten Menschen arbeiten. In dem jährlich wechselnden Programm finden sich auch vereinzelt Seminare, die für blinde und sehbehinderte Teilnehmer interessant sein könnten.
Auf dem Bildungsmarkt in Deutschland finden sich darüber hinaus mehrere kleinere Anbieter, die sich entweder auf Menschen mit Behinderung oder auf Menschen mit Sehschädigung spezialisiert haben und überwiegend kompakte Computer-Kurse anbieten: das Projekt "barrierefrei kommunizieren! - Bundesweites Kompetenz- und Referenzzentrum" in Berlin/Bonn, das "Büro für barrierefreie Bildung" in Herne und das "Gustav-Heinemann-Haus" in Bonn und Bildung ohne Barrieren e.V. mit ihrem abwechslungsreichen Programm auch im Bereich der beruflichen Fort- und Weiterbildung.
Nur im Bereich der physiotherapeutischen Berufe besteht ein stabiles und breit ausgebautes Fort- und Weiterbildungssystem. Die Berufsgruppe ist außerdem bundesweit gut in Fachgruppen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe organisiert, die Fort- und Weiterbildungen veranstalten. Des Weiteren gibt es im Verband physikalische Therapie eine Abteilung für blinde und sehbehinderte Physiotherapeuten, die Fort- und Weiterbildungen organisiert.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die überwiegende Anzahl der Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen Anpassungsqualifikationen oder Rehabilitationsmaßnahmen in eher blindenspezifischen Berufen sind. Die Seminare der kleineren Anbieter sind vor allem Computerkurse. Fraglich ist, ob Kurzseminare tatsächlich für eine fundierte berufliche Weiterentwicklung geeignet sind. Nur die Angebote im Bereich Physiotherapie führen zu einer anerkannten Weiterqualifikation im Berufsfeld.
Wie man an dem bestehenden Angebot ablesen kann, sind Sehgeschädigte, solange sie auf das speziell auf sie ausgerichtete Angebot zugreifen, stark im Erwerb von zertifizierten (Fach-)Qualifikationen benachteiligt.
Da die meisten berufstätigen Blinden und Sehbehinderten jedoch mit sehenden Kollegen zusammenarbeiten, sollte auch eine gleichberechtigte Teilnahme an den Angeboten des allgemeinen Fort- und Weiterbildungsmarktes möglich sein; gerade dann, wenn man der aktuellen Forderung nach Inklusion nachkommen möchte. Außerdem können Fort- und Weiterbildungen nicht nur zu einer Weiterentwicklung im Beruf führen, sondern für Arbeitssuchende oder Arbeitslose oftmals neue Perspektiven eröffnen. Sicherlich können Anpassungsqualifikationen für Wiedereinsteiger in den Beruf hilfreich sein. Aber ob man damit interessanter für den Arbeitsmarkt wird und eine Nischenqualifikation erwerben kann - wohl eher nicht.
Ein Blick in die Realität zeigt, dass den sehgeschädigtenspezifischen Angeboten gegenüber mehr als eine halbe Million Angebote beruflicher Fort- und Weiterbildungen stehen, die über das Angebot KURSnet der Arbeitsagentur auffindbar sind. Allein diese Relation macht klar, dass der Aufbau eines umfassenden sehgeschädigtenspezifischen Fort- und Weiterbildungswesens niemals realisierbar ist. Der größere Aufwand für die inklusive Teilnahme an Angeboten lohnt sich deshalb in den meisten Fällen schon allein wegen der größeren Wahlfreiheit.
Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, warum oder inwieweit sehgeschädigtenspezifische Angebote überhaupt notwendig sind. In der 2009 durchgeführten Befragung der DVBS-Fachgruppenleiter stellte sich heraus, dass man diese Frage nicht eindeutig beantworten kann: In manchen Themenfeldern wie z.B. Bewerbungstraining, Selbstpräsentation oder Microsoft-Powerpoint ist es offensichtlich, dass die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen und die Methodik und Didaktik so stark von denen Sehender abweichen, dass eine gemeinsame Teilnahme nicht sinnvoll wäre: Weil sie nicht sehen, was andere sehen oder grafische Darstellungen in der Regel auf den ersten Blick böhmische Dörfer sind und einer adäquaten Übersetzung bedürfen. Deshalb haben blindenspezifische Fort- und Weiterbildungsangebote durchaus ihre Berechtigung. In anderen Themen- und Berufsfeldern dagegen können gemeinsame Veranstaltungen ohne größere methodische und didaktische Anpassungen durchgeführt werden. In den Bereichen Theologie, Sozialwesen und Wirtschaft wird dieses Modell bereits umgesetzt.
Deutlich wurde bei der Befragung aber auch, dass innerhalb der Gruppe der Sehgeschädigten kaum eine Fortbildungskultur zu bestehen scheint, mit Ausnahme der Physiotherapeuten und Juristen, die aus fachlichen Gründen auf dem aktuellsten Stand sein müssen.
Doch warum ist das Interesse sich fortzubilden so gering? Sicherlich nicht, weil Betroffene sich ausruhen. Möglicherweise liegt es an dem bestehenden Angebot und an einem Nichtwissen um die Angebote auf dem freien Bildungsmarkt. Ein Stöbern im Netz und ein Austausch untereinander lohnen sich in jedem Fall. Vielleicht sind auch Bedenken wegen möglicherweise bestehender Barrieren ein Grund.
Um strukturell etwas an der Fort- und Weiterbildungssituation blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland zu ändern, gibt es aktuell keine Projekte oder Vorstöße. Schade eigentlich: So liegt es in der Hand des Einzelnen, sich zu fragen, welchen Fort- und Weiterbildungsbedarf er hat und ob für seine individuelle Fort- oder Weiterbildungsfragestellung ein blinden- bzw. sehbehindertenspezifisches Angebot geeignet ist und ob man damit die (Fach-)Qualifikation erzielt, die man sich wünscht. Und wenn nicht? Dann muss man die Sache selbst in die Hand nehmen, bei einem Bildungsträger anfragen, mit dem Arbeitsvermittler in Kontakt treten und die Rahmenbedingungen für die Teilnahme klären. Es ist dann eine Frage der technischen Ausstattung und Fitness, der persönlichen Kompetenzen und der individuellen Möglichkeiten, sich auf den Weg zu machen und an Bildungsangeboten auf dem allgemeinen Markt teilzunehmen.
Also wie wäre es mit einer Weiterbildung zum geprüften Berufspädagogen/in (IHK) für alle, die im Personalwesen arbeiten und mehr möchten als nur Akten verwalten. Oder mit einer Weiterbildung zur Lehrkraft im Gesundheitswesen für alle, die in therapeutischen und anderen Berufen in der Branche tätig sind. Oder vielleicht ärgern Sie sich manchmal auch über schlechte Bedienungsanleitungen, sind technisch interessiert, und können geschickt und logisch Prozesse verschriftlichen, dann gäbe es da den Beruf des Technikredakteurs. Probieren Sie es doch einfach mal aus. Bringen Sie ihre Erfahrungen mit ein, überlegen Sie, was sie brauchen, denn das wissen Sie selbst am besten.
Zu Guter Letzt: Inklusion ist keine Infusion, die auf Knopfdruck funktioniert, die verabreicht wird und dann plötzlich wirkt. Sie ist für alle Beteiligten neu, sowohl für Sehgeschädigte als auch für die jeweiligen Bildungsträger und Akademien. In diesem Sinne: gemeinsam ab auf die Schulbank!
"Vision in enterprise" - berufliche Selbstständigkeit als Weg aus der Krise
Am 15. und 16. September 2012 ging in Paris das EU-Projekt "Vision in enterprise (VIE) mit einer Konferenz der Europäischen Blindenunion (EBU) zu Ende. Als Leiterin der Fachgruppe Selbstständige hatte ich das Vergnügen, gemeinsam mit Dr. Heinz Willi Bach, unserem Arbeitsmarktexperten, für den DVBS in die französische Hauptstadt zu reisen, in der die EBU ihren Sitz hat. Außerdem war mit Erwin Denninghaus ein Vereinsmitglied unmittelbar am Projekt beteiligt und bei der Konferenz als Workshopleiter im Einsatz. Ich war gespannt, was ich auf der Rückfahrt für die deutschen Existenzgründer im Gepäck haben würde.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass eine Geschäftsidee ein guter Anfang sein kann, man aber darüber hinaus in etlichen Bereichen gutes Know-how, bzw. kompetente Beratung und Unterstützung benötigt. Vor einem Existenzgründer türmen sich Berge von Fragestellungen auf. Es gilt, eine passende Beratungsstelle zu finden, ein schlüssiges Gründungskonzept zu erstellen, eine Finanzplanung zu machen, rechtliche, steuerliche und Versicherungsfragen zu klären. Mit all dem weiß immer noch niemand, dass eine innovative Geschäftsidee auf dem Markt ist. Also muss der Existenzgründer auch noch sein Marketing selbst in die Hand nehmen, sein öffentliches Auftreten optimieren und - besonders beliebt - seine eigene Buchhaltung machen. Und bei all diesen Faktoren war noch gar nicht die Rede von Blindheit oder Sehbehinderung.
Gemeinsam mit vier nationalen Organisationen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe aus Großbritannien (Action for blind people), Irland (NCBI), Polen (FIRR) und Zypern (POT), rief die EBU das VIE-Projekt ins Leben, um blinden und sehbehinderten Existenzgründern eine speziell auf ihre Anforderungen zugeschnittene Unterstützung in Kombination mit der für alle notwendigen Gründungsberatung anzubieten. EBU-Arbeitsmarktexperte Fred Reid machte deutlich, dass in Zeiten der Wirtschaftskrise, die seiner Einschätzung nach noch einige Jahre andauern wird, die berufliche Selbstständigkeit als eine der besten Möglichkeiten anzusehen ist, sich auf dem ersten Arbeitsmarkt zu etablieren.
In diesem Sinne entwickelten die Projektpartner gemeinsam Orientierungshilfen für Unternehmensberater, die ihnen die Beratung blinder und sehbehinderter Existenzgründer erleichtern bzw. überhaupt erst ermöglichen sollen. Das Ergebnis ist ein ansehnliches Maßnahmenpaket aus Musteranträgen, Fragebögen und Checklisten, die neben den üblichen Fragen auch die Bereiche Hilfsmittel, Mobilität oder spezielle finanzielle Fördermöglichkeiten abdecken.
Ein entscheidender Faktor ist die individuelle Ausrichtung der Beratung. Während es bei einer Person vielleicht gleich an die konkrete Umsetzung einer Geschäftsidee geht, gilt es bei anderen, zunächst Wege zu finden, um Selbstsicherheit und soziale Kompetenz zu fördern. Dementsprechend waren die Erfolge bei den Projektteilnehmern auch durchaus unterschiedlich. Viele haben letztendlich ihr Unternehmen nicht über die Dauer des Projekts hinaus weitergeführt. Aber da ist auch der polnische Masseur, dessen Geschäft durch die umfassende Unterstützung von VIE heute immer besser läuft - und das, obwohl er zusätzlich eine Hörbehinderung hat und lange gegen seine Alkoholabhängigkeit hatte kämpfen müssen; oder etwa die blinde Reikilehrerin in Irland, die im Rahmen von VIE zunächst blinde und sehbehinderte Personen gegen Bezahlung behandelt und auf diesem Weg Erfahrung gesammelt hat; oder die sehbehinderte Bäckerin und Konditorin, die auf Zypern im Haus ihrer Eltern eine Backstube nach ihren Bedürfnissen eingerichtet hat und heute zypriotische Leckereien auf Bestellung für eine wachsende Zahl von Kunden backt.
Derzeit wird das umfassende, in mehrere Beratungsphasen unterteilte Maßnahmenpaket ins Deutsche übersetzt. Es ist so angelegt, dass es den einzelnen Ländern Spielraum für die notwendigen Anpassungen an die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten bietet.
In meinem Reisegepäck befindet sich also zunächst das englische Original zusammen mit der Begeisterung über eine hervorragend organisierte Konferenz, an der Menschen aus 25 Ländern inspiriert mitwirkten.
In seinem Schlusswort wünschte sich Mokrane Boussaid, Leiter des zentralen EBU-Büros in Paris, VIE möge nicht das Schicksal anderer EU-Projekte teilen und irgendwo in den Regalen der Verbände verstauben, sondern von diesen aufgegriffen und in den einzelnen Ländern umgesetzt werden, damit blinde und sehbehinderte Existenzgründer auf die Arbeitsmarktsituation, die gesellschaftlichen Vorurteile und die scheinbar endlose Liste an spezifischen Herausforderungen besser vorbereitet würden.
Wenn ich von den Schwierigkeiten höre, die etwa blinde Existenzgründer haben, die einen Kredit aufnehmen wollen, oder wenn ich bedenke, dass diese Personengruppe in manchen Ländern von der Bereitstellung technischer Hilfsmittel nur träumen kann, weiß ich, dass der Weg noch weit und die Auseinandersetzung mit der Realität entscheidend ist. Wer weiß, was ihn erwartet, kann sich besser darauf einstellen und Lösungsstrategien entwickeln.
Deshalb stimmt es mich zuversichtlich, dass in den Workshops die vorhandenen Schwierigkeiten gesammelt wurden, damit die EBU in Zukunft systematisch nach Lösungen suchen kann. Ein Beispiel hierfür ist die Beseitigung von Barrieren für blinde und sehbehinderte Selbstständige, deren Beruf mit Aufenthalten im europäischen Ausland verbunden ist.
Ich habe aber auch erfahren, dass berufliche Selbstständigkeit blinder und sehbehinderter Menschen beispielsweise in Finnland eine lange Tradition hat und diese dort in mehr als 60 verschiedenen Berufsfeldern tätig sind. Wir können getrost davon ausgehen, dass unter diesen Berufen etliche sind, von denen den heute erfolgreichen Unternehmerinnen und Unternehmern ursprünglich abgeraten worden war.
Deshalb wünsche ich mir von einer Beratungsstelle vor allem, dass sie jeden in seinem Vorhaben unterstützt. Jeder Existenzgründer soll selbst die Chance erhalten, seine Idee auf Umsetzbarkeit hin zu überprüfen und Herausforderungen dann in Angriff zu nehmen, wenn sie auf ihn zukommen. Mutmachen scheint mir ebenfalls eine entscheidende Aufgabe, um ein Gegengewicht zu den Vorbehalten in der Gesellschaft zu schaffen. Und schließlich sind da die Solidarität und die Vernetzung, die ich während der Konferenz so deutlich vor meinem inneren Auge sah: Die zypriotische Bäckerin träumt davon, ein Buch mit den köstlichsten Rezepten aus ihrer Heimat für blinde und sehbehinderte Menschen zu schreiben. Ich träumte ihren Traum weiter und sah, wie dieses Buch von blinden Übersetzerinnen in alle Sprachen Europas übersetzt wurde. Und vielleicht gibt es auch noch einen sehbehinderten Verleger, der es erfolgreich vermarktet. Wer mittels eines Online-Kurses sein Englisch auffrischen will, wer eine Physiotherapie braucht oder einen barrierefreien Internetauftritt haben möchte, könnte sich bei entsprechender Vernetzung und Solidarität innerhalb der Selbsthilfeverbände zunächst nach einem blinden oder sehbehinderten Anbieter umsehen. Und last but not least, diejenigen, die eine Geschäftsidee haben, könnten leichter erfahren, ob auf ihrem Gebiet schon jemand Pionierarbeit geleistet hat.
Zur Autorin
Mirien Carvalho Rodrigues ist Konferenzdolmetscherin und Übersetzerin für Deutsch, Portugiesisch und Englisch. Seit März 2012 ist sie mit ihrer Firma HORIZONTE zusätzlich als internationale Beraterin für Touristiker, die ihren Service für Menschen mit unterschiedlichsten Einschränkungen verbessern oder aufbauen möchten, selbstständig. Im DVBS leitet sie seit Mai 2012 die Fachgruppe Selbstständige. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.horizonte-mcr.com
"Vision in enterprise" - ist das die Lösung? Anmerkungen zum EU-Projekt
Mirien Carvalho Rodrigues hat in dieser Ausgabe einen ausgesprochen interessanten Artikel zum EU-EBU-Projekt anlässlich der Abschlusskonferenz in Paris veröffentlicht. Ein Spannungsbogen entsteht hier, da in der Vergangenheit hierzulande zumeist berufliche Einsatzmöglichkeiten für blinde und sehbehinderte Arbeitsuchende im öffentlichen Sektor im weitesten Sinne einschließlich sogenannter Non-Profit-Organisationen gesucht und gefunden wurden. Dies geschah auch mit der Überlegung, dass diese Einrichtungen besonderen Anforderungen unterliegen, ihre Beschäftigungsquote nach dem SGB IX zu erfüllen. Außerdem seien sie nicht so stark dem wirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt wie z.B. die Industrie. Schließlich sei die Beschaffung von Hilfsmitteln, notwendiger Assistenz usw. hier oft leichter.
Angesichts dieser Verhältnisse macht ein solches EU-EBU-Projekt staunen, insbesondere wenn es den Slogan vertritt "Beat the recession", überwinde die Krise durch die Gründung selbstständiger Existenzen. Also: "Heraus aus dem eher geschützten öffentlichen Sektor (da seine Aufnahmefähigkeit für behinderte Arbeitsuchende immer geringer zu werden scheint) und hinein in den Sektor mit der größtmöglichen Wettbewerbsintensität?"
Fred Reid, der "elder statesman", Arbeitsmarkt- und Berufsexperte der EBU und des RNIB, brachte es auf den Punkt. Zum Einen haben wir es aus seiner Sicht nicht mehr mit einer Rezession, sondern längst mit einer wirtschaftlichen Depression in weiten Teilen Europas zu tun, die ungute Erinnerungen an die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts wachruft. Zum anderen ist die wirtschaftliche Selbstständigkeit nichts für jeden! Es ist der Sektor mit der stärksten Konkurrenz und daher mit der größten Gefahr des Scheiterns. Wer dort dauerhaft erfolgreich sein will, benötigt neben einer guten Geschäftsidee unter anderem Mut, Flexibilität, Ausdauer und gute Beratung. Während der Pariser Konferenz wurde von beeindruckenden Projekten berichtet, die wir mit großer Bewunderung zur Kenntnis nahmen.
Es hängt oft mit jeweils nationalen strukturellen Gegebenheiten zusammen, in welchen Berufen blinde und sehbehinderte Personen jeweils erfolgreich sind: Physiotherapeuten in den meisten Ländern, aber nicht in der Türkei; dort arbeiten stattdessen z.B. viele selbstständige Rechtsanwälte.
Das EBU-Projekt "Vision in Enterprise" soll Mut machen, es zu versuchen, wenn man die Chancen und Risiken einschätzen kann. Es soll ermuntern, Netzwerke zu begründen und zu pflegen. Es stellt ein generelles toolkit zur Verfügung, das jedoch auf die jeweils nationalen Bedingungen nicht eingehen kann. Das toolkit darauf zu fokussieren wird Aufgabe unter anderem der nationalen Selbsthilfeorganisationen sein.
Wirtschaftliche Selbständigkeit ist eine Chance, aber nichts für jeden. So bleibt die EBU bei den Grundsätzen beruflicher Integration, die sie vor einigen Jahren aufgestellt und verabschiedet hat.
Zeitenwende - vom Leben nach der blista
Duales Studium: Nach dem Büffeln ist vor dem Pauken!
Einen Tag nach unserer wunderschönen Verabschiedung und dem anschließenden Abiball verließ ich nach neun Jahren im Juni 2011 voller Vorfreude, aber auch mit einer gehörigen Portion Wehmut, die blista. Nach einer kurzen Sommerpause, in der ich mich unter anderem um die Wohnungssuche kümmern musste - zum Glück gibt es ja heute das Internet -, begann ich am 10. August 2011 mit dem dualen Studium bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Eschborn bei Frankfurt. Die GIZ ist ein Dienstleister im Bereich der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung. Sie gestaltet und finanziert Projekte vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern weltweit. Hauptauftraggeber ist die Bundesregierung, aber auch ausländische Regierungen und die EU.
Das duale Studium ist aufgeteilt in Theorie- und Praxisphasen. In der Theoriephase studiere ich in Frankfurt an der Hessischen Berufsakademie "Business Administration", was in etwa dem Studiengang "Betriebswirtschaftslehre" entspricht. In der darauf folgenden Praxisphase wechsele ich vom Hörsaal in die Büros der GIZ. Das Studium zum Bachelor of Arts Business Administration dauert drei Jahre - nach zwei Jahren hat man den Abschluss Bürokauffrau/mann. Nach dem dualen Studium ist man dazu in der Lage, kaufmännische Positionen zu besetzen, man kann sich auf Buchhaltung, aber auch Rechnungsprüfung, Unternehmenscontrolling etc. spezialisieren. Wem Finanzen nicht so liegen, der kann auch in den Personalbereich gehen oder steigt in der Unternehmenskommunikation oder -entwicklung ein. Hier geht es um strategische Dinge: Entwicklung von Jahreszielen, Unternehmensleitlinien, Pressearbeit. Das duale Studium bei der GIZ dient aber vor allem auch dazu, Nachwuchs für die Verwaltungsleiterstellen im Ausland auszubilden.
Zurück zum Studium: Insgesamt gibt es sechs Praxisphasen, davon eine über mehrere Monate im Ausland, und ebenso viele Theoriephasen. Im Durchschnitt habe ich immer zehn Wochen Theorie an der Berufsakademie in Frankfurt, acht Wochen davon sind Studienphase, der sich noch eine zweiwöchige Klausurphase anschließt. Die Anzahl der Klausuren hängt vom Semester ab. Im ersten und zweiten Semester habe ich jeweils fünf Klausuren geschrieben. Nach jeder Theoriephase arbeite ich dann für etwa vier Monate im Unternehmen. Ich habe ein Appartement in Eschborn gefunden, und bis zur GIZ ist es von dort nicht weit. In der Studienphase pendele ich mit der S-Bahn jeden Tag nach Frankfurt zur Uni, dafür brauche ich ungefähr eine halbe Stunde.
Meine Ausbildung begann mit einer dreitägigen Einführung in der GIZ, die zum Kennenlernen unseres Unternehmens und unseres Jahrgangs diente. Wir sind insgesamt 33 Auszubildende (Bürokauffrau/mann bzw. Kauffrau/mann), davon 18 duale Studenten des Jahrgangs. Von uns studieren neun an der Dualen Hochschule in Mannheim "International Business", und ebenfalls neun studieren in Frankfurt an der Hessischen Berufsakademie, so wie ich. In den Vorlesungen sitze ich mit ungefähr 60 weiteren Studierenden.
Das erste Semester begann offiziell am 16. August 2011, und ich war sehr aufgeregt. Ich machte mir natürlich viel zu viele Gedanken darüber, wie die anderen mit meiner Sehbehinderung umgehen würden. Auch war ich besorgt, ob ich aufgrund meiner Sehbehinderung in den Vorlesungen überhaupt mithalten kann. Bei der Eröffnungsveranstaltung setzte ich mich gleich nach vorne zu einem ehemaligen blista-Mitschüler, der das duale Studium bei der "Kreditanstalt für Wiederaufbau" begonnen hatte. So fühlte ich mich doch schon ein wenig sicherer. Ich merkte gleich den Unterschied zur Schule. Visuelles Arbeiten (Tafel, Overhead-Projektor) stand nun im Vordergrund. Ich sehe zwar noch ca. 30 Prozent auf beiden Augen und fühlte mich an der blista keinesfalls großartig eingeschränkt, doch nun spürte ich das Ausmaß meiner Sehbehinderung. Schnell merkte ich, dass ich mich sehr anstrengen musste, um das an die Tafel Geschriebene lesen zu können. Trotz erster Reihe musste ich doch manchmal meine Sitznachbarn fragen, was der Dozent gerade schreibt. Daraufhin schilderte ich meinen Dozenten meine Situation und bat sie, etwas größer zu schreiben und auch zu verbalisieren, was sie schreiben. Zur Not hatte ich ja noch mein Monokular, dachte ich, aber das erwies sich bei hoher Arbeitsgeschwindigkeit als wenig hilfreich, auch das Erfassen ganzer Grafiken war unmöglich, zudem war es anstrengend, mitzuschreiben und gleichzeitig mit dem Monokular die Tafel abzusuchen. Hilfreich war allerdings, dass wir die PowerPoint-Präsentationen und Skripte immer schon im Voraus online erhielten. Diese Skripte habe ich ausgedruckt in den Vorlesungen immer als Leitfaden dabei. Da wir regelmäßig unsere Räumlichkeiten wechseln, bin ich jedes Mal aufs Neue auf der Suche nach dem optimalen Sitzplatz.
Das erste Semester war eine große Umstellung. Ich machte gute Erfahrungen. Aber es galt auch, viele Hürden zu überwinden. Im zweiten Semester merkte ich, dass ich mich langsam eingewöhnte und fühlte mich immer sicherer, auch weil ich die Räumlichkeiten, das System und teilweise einige Dozenten nun bereits kannte.
Nach den ersten acht Wochen Studienphase hatte ich fünf Klausuren vor mir und fragte mich, wie ich diese bewältigen sollte. Die Klausuren schrieben wir meistens abends von 18 bis 20 Uhr. Dafür bekam ich eine Zeitverlängerung von 75 Prozent (1,5 Stunden). Diese Zeit reichte mir zur Bearbeitung der Klausuren aus. Diese zwei Wochen hatten in etwa das Niveau der zwei Wochen des schriftlichen Abiturs, nur dass man in dieser Zeit ganze fünf schriftliche Prüfungen ablegen musste.
Nach den Klausuren fing dann die erste Praxisphase an. Ich war im Personalressourcenmanagement eingesetzt, da geht es um Personalauswahl und -betreuung. Dort arbeitete ich mich sehr gut ein. Am Arbeitsplatz benutzte ich anfangs noch keine Hilfsmittel. Ich vergrößerte mir die Schrift und hatte den Bildschirm etwas näher stehen. In der zweiten Praxisphase arbeitete ich in der Regionalabteilung für Westafrika. In diesem Bereich geht es um Projektkonzeptionen, Finanzierung und Buchhaltung. In dieser Praxisphase erhielt ich dann einen größeren Bildschirm und eine Vergrößerungssoftware. Außerdem werde ich im kommenden Semester eine Kamera mit zu den Vorlesungen nehmen, um das Geschriebene von der Tafel zu fotografieren und diese Aufzeichnung dann zu Hause am Laptop zu vergrößern und sie in Ruhe abschreiben zu können.
Die GIZ hat einen Behindertenbeauftragten; mit ihm trat ich in Kontakt, als ich merkte, dass ich weitere Hilfsmittel brauchte. Um auch die für mich am besten geeigneten Arbeitsgeräte zu erhalten, habe ich mir einen Termin bei der RES (Rehabilitationseinrichtung für Blinde und Sehbehinderte) in Marburg besorgt und mich beraten lassen. Aber man sollte sich immer rechtzeitig um die Beschaffung notwendiger Hilfsmittel kümmern, denn alles braucht so seine Zeit.
Seit mehr als einem Jahr nun mache ich das duale Studium und bin derzeit im dritten Semester. Rückblickend kann ich sagen, dass es sehr wichtig ist, mit seiner Sehbehinderung offen umzugehen. Denn sonst wissen die anderen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Es ist nicht damit getan, seine Kollegen und seine Mitstudenten einmal darüber zu informieren. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es sinnvoll ist, immer wieder zu erklären, was man sieht und was nicht. Eine Sehbehinderung ist für Sehende schwer zu erfassen, weil man nicht nichts sieht. In der Zeit nach der blista konnte ich noch viel über meine Sehbehinderung lernen, weil ich immer dazu gezwungen war, das, was ich noch sehe, in Worte zu fassen.
Ich habe mich in meinem neuen Leben gut eingelebt, habe viele offene und tolle Menschen getroffen. Die Studienphasen gefallen mir sehr gut und die Praxisphase im Unternehmen ebenfalls. Der Umgang mit meiner Sehbehinderung durch meine Kollegen von der GIZ ist sehr viel besser, als ich es mir erhofft hatte.
Wenn dieser Text erscheint, werde ich gerade meinen Auslandseinsatz machen. Auf diese Zeit in Indonesien und die damit verbundenen Erfahrungen bin ich sehr gespannt.
Wer Interesse an diesem Ausbildungsgang hat, muss sich ein Jahr vorher, meist im September, bewerben. Infos unter www.giz.de
Recht
EDV-Gerichtstag und Barrierefreiheit
Vom 12. bis 14. September 2012 fand in Saarbrücken der 21. EDV-Gerichtstag statt, an dem mehr als 570 Interessierte aus Justiz und Verwaltung teilgenommen haben. Beherrschendes Thema waren in diesem Jahr die aktuellen Gesetzesvorhaben zu E-Justice und E-Government. Da traf es sich gut, dass der DVBS auf dem EDV-Gerichtstag mit einem Informationsstand zur Barrierefreiheit vertreten war.
Gesetze zu E-Justice und E-Government
Schon die Eröffnungsrede des hessischen Justizministers Jörg-Uwe Hahn stand ganz im Zeichen der aktuellen Gesetzesvorhaben. Anschaulich stellte er die digitale Zukunft von Justiz und Verwaltung dar. In verschiedenen Arbeitskreisen wurde anschließend über die aktuellen Gesetzesvorhaben berichtet. Die Gesetzentwürfe sollen bereits im Frühjahr 2013 im Bundestag beraten und noch vor der Bundestagswahl im Herbst 2013 als Gesetz beschlossen werden.
Gleich zwei Gesetzentwürfe, die inhaltlich miteinander konkurrieren, dienen dem Ziel, den elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten deutlich auszuweiten und die bisher in Papierform geführten Akten durch elektronische Akten zu ersetzen. Hierzu sollen Rechtsanwälte verpflichtet werden, vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen zukünftig nur noch in elektronischer Form bei Gericht einzureichen. Außerdem müssen sie für die Gerichte über ein elektronisches Anwaltspostfach erreichbar sein. Auch für Verfahrensbeteiligte soll die elektronische Kommunikation mit den Gerichten einfacher werden. Im Gegenzug sollen Gerichte ihre Akten zukünftig nur noch elektronisch führen. Ein weiterer Gesetzentwurf dient der Einführung der elektronischen Akte auch in Strafsachen.
Des Weiteren gibt es einen Gesetzentwurf zum E-Government. Er soll die Möglichkeit eröffnen, mit jeder Behörde und grundsätzlich in jeder Angelegenheit elektronisch in Kontakt zu treten. Zukünftig soll es möglich werden, alle geeigneten Verwaltungsangelegenheiten über das Internet abschließend elektronisch zu erledigen. Die schon heute vorhandene Präsenz von Behörden und Verwaltungen im Internet soll auf alle öffentlich zugänglichen Netze, einschließlich der mobilen Anwendungen, ausgedehnt werden. Elektronische Dokumente und online ausfüllbare Formulare sollen deutlich zunehmen. Neben der qualifizierten elektronischen Signatur sollen weitere Verfahren, wie beispielsweise die absenderbestätigte De-Mail und die elektronische Identifizierungsfunktion des neuen Personalausweises, die Kommunikation mit Behörden und Verwaltungen erleichtern. Zugleich sollen auch in der Verwaltung elektronische Akten eingeführt werden, um medienbruchfreie Verwaltungsabläufe vom Antrag bis zur Archivierung zu ermöglichen.
Regelungen zur Barrierefreiheit enthalten die Gesetzentwürfe bisher nicht. Der DVBS hat daher zusammen mit dem DBSV schon früh gefordert, die aktuellen Gesetzesvorhaben um eine gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit zu ergänzen. So wie die Behindertengleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder sowie die einschlägigen Bauordnungen dazu verpflichten, öffentliche Gebäude barrierefrei zu errichten, ist auch eine gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akten erforderlich. Die Erfahrung zeigt, dass ohne eine solche Verpflichtung Barrierefreiheit vielfach nicht oder allenfalls unzureichend berücksichtigt wird. Auch der EDV-Gerichtstag bot Gelegenheit, dieses Anliegen unter anderem in den Arbeitskreisen zur Sprache zu bringen.
Informationsstand zur Barrierefreiheit
Auf Barrierefreiheit der elektronischen Kommunikation mit und innerhalb von Gerichten und Behörden angewiesen sind blinde und sehbehinderte Menschen auf ganz unterschiedliche Weise: als Beteiligte eines Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens, als Prozessbevollmächtigte oder als Beschäftigte innerhalb von Justiz und Verwaltung. Der DVBS war daher auf dem EDV-Gerichtstag auch in diesem Jahr, wie schon im Jahr 2010, wieder mit einem Informationsstand zur Barrierefreiheit vertreten. An zwei vollständig ausgestatteten PC-Arbeitsplätzen mit Screenreader, Braillezeile, Sprachausgabe und Vergrößerungssystem zeigten Mitglieder der Fachgruppe Jura im DVBS, wie blinde und sehbehinderte Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte am PC arbeiten, welche Barrieren sich dabei ergeben und wie sich diese bei einer barrierefreien Gestaltung von Programmoberflächen und -inhalten vermeiden lassen. Möglich gemacht haben den Informationsstand Markus Brinker, Uwe Bruchmüller und Andreas Carstens als Mitglieder der Fachgruppe Jura und Regina Oschmann als BIK-Beraterin (BIK = Barrierefrei Informieren und Kommunizieren). Auch in diesem Jahr konnten wieder interessante Gespräche geführt, neue Kontakte geknüpft und nützliche Informationen weitergegeben werden. Informiert haben sich IT-Verantwortliche verschiedener Gerichte, Projektleiter von IT-Vorhaben aus der Justiz und Vertreter von Unternehmen, die IT-Produkte im Bereich der Justiz anbieten. Ein Vertreter der Juris GmbH ließ sich an beiden PC-Arbeitsplätzen (einmal mit ZoomText, einmal mit JAWS) anhand von Beispielen zeigen, wie die Nutzung der Juris-Datenbanken für blinde und sehbehinderte Nutzer weiter verbessert werden kann. Auch Vertreter aus Justizministerien nutzten die Gelegenheit, sich am Stand des DVBS zu informieren. Außerdem konnte der DVBS seine Forderung nach einer gesetzlichen Verpflichtung zur Barrierefreiheit darstellen und erläutern.
Weiteres Engagement
Zur Verwirklichung von Barrierefreiheit in Justiz und Verwaltung ist noch viel zu tun. Das Bewusstsein für Barrierefreiheit wächst, die Notwendigkeit einer Umsetzung ebenfalls. Ein beachtlicher Schritt voran würde sich durch eine gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akten ergeben. Hier wird es in den nächsten Wochen und Monaten bis zur endgültigen Entscheidung im Bundestag darauf ankommen, die erforderliche Unterstützung zu erlangen. Gefordert ist jeder einzelne, das Anliegen in seinem Umfeld voranzubringen, Schwerbehindertenvertretungen einzubeziehen, berufliche Interessenverbände anzusprechen oder Kontakte zu Abgeordneten des Bundestages zu nutzen. Eines steht schon jetzt fest: Auch auf dem nächsten EDV-Gerichtstag wird der DVBS wieder mit dem Thema "Barrierefreiheit" präsent sein.
Weiterführende Hinweise
Informationen zum EDV-Gerichtstag sind zu finden unter: www.edvgt.de
Berichte über die Arbeitskreise des EDV-Gerichtstages sind zu finden unter: www.edvgt.de/pages/21.-deutscher-edv-gerichtstag/arbeitskreise-mit-praesentationen-und-protokollen.php
Der Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz wurde inzwischen in den Bundesrat eingebracht (Bundesratsdrucksache 503/12). Er sollte Mitte Oktober 2012 der Bundesregierung zur Stellungnahme vorgelegt und noch in diesem Jahr an den Bundestag weitergeleitet werden.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung des Bundesinnenministeriums wurde inzwischen vom Bundeskabinett als Regierungsentwurf beschlossen (Bundesratsdrucksache 557/12). Auch die Entwürfe eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs bei den Gerichten und eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen des Bundesjustizministeriums sollen voraussichtlich noch in diesem Jahr in den Bundestag eingebracht werden.
Der Wortlaut der verschiedenen Gesetzentwürfe ist im Internet unter anderem zu finden unter: www.edvgt.de/pages/gesetzesinitiativen-zum-erv.php
Ein Gesetz zur sozialen Teilhabe - bloße Vision oder realistische Perspektive?
DVBS und DBSV veranstalteten in Kassel eine Fachtagung zu einem Gesetzentwurf
Die von den Interessenvertretungen behinderter Menschen besonders in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erhobene Forderung, in der Behindertenpolitik einen Paradigmenwechsel weg von der Fürsorge hin zu einer gleichberechtigten Teilhabe einzuleiten, wurde spätestens zu Beginn des vorigen Jahrzehnts auch von den politischen Entscheidungsträgern im Bund und in den Ländern aufgegriffen. So traten am 01. Juli 2001 das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) und am 01. Mai 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes in Kraft. Behindertengleichstellungsgesetze gelten inzwischen auch in allen Bundesländern.
Wollen behinderte Menschen ihren Alltag eigenverantwortlich gestalten, in einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Wohnform leben, schulische und berufliche Bildung erlangen oder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, sehen sie sich trotz der in den letzten Jahren in Kraft getretenen gesetzlichen Regelungen häufig mit erheblichen Problemen konfrontiert, weil sie notwendige Assistenzleistungen und/oder finanzielle Mittel, die ihnen einen Ausgleich behinderungsbedingter Aufwendungen ermöglichen, nicht in dem erforderlichen Umfang erhalten. In zahlreichen Fällen streiten Kostenträger untereinander darüber, wer von ihnen für die Gewährung einer Leistung zuständig ist. Ist dieser Streit entschieden, haben Antragsteller noch keine Gewissheit darüber, ob und in welcher Höhe sie Leistungen erhalten werden. Entscheidungen hierüber stehen meist im pflichtgemäßen Ermessen der jeweiligen Behörde und nicht immer wird dieses Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
An dieser von den Betroffenen als nicht zufriedenstellend empfundenen Situation hat sich auch nach dem Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen im Jahre 2009 nichts geändert, denn die BRK gewährt dem Einzelnen keine unmittelbaren Leistungsansprüche. Vielmehr verpflichtet sie die einzelnen Staaten, die Bedingungen zu schaffen, damit behinderte Menschen gleichberechtigt am Leben der Gemeinschaft teilnehmen können.
Um den mit der BRK verfolgten Gedanken der Inklusion für die Betroffenen schrittweise erlebbare Realität werden zu lassen und die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben durch eine nachhaltigere Verankerung im Sozialrecht voranzutreiben, hat das Forum behinderter Juristinnen und Juristen den Entwurf eines Gesetzes zur sozialen Teilhabe erarbeitet und im Mai 2011 der Öffentlichkeit vorgestellt. Leider würde eine Darstellung des wesentlichen Inhaltes des Gesetzentwurfes den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Ich verweise daher auf dessen Lektüre im Internet, wo er über den Link http://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Gesetzesentwürfe/Gesetz_zur_Sozialen_Teilhabe_-_Entwurf_FbJJ-2.pdf heruntergeladen werden kann.
Ausgehend von der Präsentation des Gesetzentwurfes durch Christiane Möller, Koautorin des Gesetzentwurfes und Mitarbeiterin der von DVBS und DBSV getragenen Rechte behinderter Menschen gGmbH (rbm), während der Sitzung des Verwaltungsrates des DBSV Ende Oktober 2011 entstand die Idee, im Rahmen einer Fachtagung der Verbände der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe gemeinsame Positionen zu dem Gesetzentwurf zu formulieren. Diese Idee setzten DBSV und DVBS am 21. und 22. September 2012 in Kassel in die Tat um.
Den rund 40 Teilnehmern der Veranstaltung, bei denen es sich überwiegend um haupt- und ehrenamtliche Funktionsträger beider Verbände handelte, wurden durch die Geschäftsstelle des DVBS im Vorfeld der Tagung der Gesetzentwurf sowie die Positionspapiere, welche die Leiterinnen und Leiter der während der Tagung gebildeten Arbeitsgruppen vorbereitet hatten, auf CD sowie zum Download bereitgestellt.
Am Beginn der von der Präsidentin des DBSV, Renate Reymann, sowie vom Ersten Vorsitzenden des DVBS, Uwe Boysen, moderierten Tagung stand ein Referat von Christiane Möller, in welchem sie die durch das Forum behinderter Juristinnen und Juristen mit dem Gesetzentwurf verfolgten Zielstellungen erläuterte.
Sie charakterisierte den erarbeiteten Gesetzentwurf als einen Gegenentwurf zu der durch die Politik geplanten Reform der Eingliederungshilfe. Während die Eingliederungshilfe am Erfordernis der Kostenersparnis ausgerichtet werden solle, werde der Gesetzentwurf von der Zielstellung getragen, die Selbstbestimmung und die gleichberechtigte Teilhabe der behinderten Menschen zu verwirklichen. Der Entwurf diene damit auch der Durchsetzung der BRK in Deutschland. Die Verwirklichung der Selbstbestimmung dürfe nicht von der Höhe des Vermögens des einzelnen Betroffenen abhängen. Jeder Betroffene müsse wählen können, welche Leistungen er für eine gleichberechtigte Teilhabe benötige. In welchem Maße eine Beeinträchtigung zu einer Behinderung werde, bestimme sich aufgrund der in der Umwelt vorhandenen Barrieren.
Mit dem Gesetzentwurf werde darüber hinaus das Ziel verfolgt, das persönliche Budget neu zu regeln. Notwendig sei die Einführung eines Budgets für persönliche Leistungen sowie eines Budgets für Arbeit.
Voraussetzung einer gleichberechtigten Teilhabe sei eine unabhängige Beratung der Betroffenen, die nicht von den Leistungsträgern, sondern von behinderten Menschen erbracht werden müsse.
Die Leistungen der sozialen Teilhabe sollten durch den Bund finanziert werden. Die einzelnen Leistungen der sozialen Teilhabe sollten nicht auf das Teilhabegeld angerechnet werden. Das Teilhabegeld solle die auf Landesebene gewährten Leistungen (Landesblindengeld) ersetzen.
Neu geregelt werden solle die Zuständigkeit der Behörden. Künftig sollten die Jugendämter für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 21 Jahre zuständig sein. In die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit solle die berufliche Fortbildung fallen, während den Integrationsämtern die Entscheidungen über die Gewährung der Leistungen der sozialen Teilhabe obliegen sollten.
Dem Referat von Christiane Möller schlossen sich Impulsreferate von Dr. Herbert Demmel, Dr. Michael Richter, der vorgenannten Referentin und Andreas Bethke an, in denen sie ihre bereits in den in Vorbereitung der Tagung erarbeiteten Positionspapieren dargestellten Überlegungen zur Einführung eines Teilhabegeldes, zur beruflichen Bildung, zu Anforderungen an eine unabhängige Beratung der Betroffenen sowie zu möglichen Strategien im Zusammenhang mit der Umsetzung des Gesetzesvorhabens skizzierten.
Schließlich teilte sich das Plenum in vier Arbeitsgruppen, um zu den Themenstellungen der Impulsreferate weitergehende Überlegungen anzustellen und Handlungsstrategien für die Interessenverbände der Blinden und Sehbehinderten zu erarbeiten.
Die Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse der Tätigkeit der einzelnen Arbeitsgruppen im Plenum, mit der die Tagung ihren Abschluss fand, ergab, dass der Gesetzentwurf eine geeignete Grundlage für die Durchsetzung der auch von der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe erhobenen Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe bildet. Bestehende Vorbehalte gegen die in dem Entwurf vorgenommene Unterscheidung zwischen den Begriffen der Behinderung und der Beeinträchtigung sollten im Interesse der Durchsetzung der mit dem Gesetzentwurf verfolgten Ziele zurückgestellt und nicht in den Mittelpunkt der Diskussion zwischen den verschiedenen Behindertenverbänden gestellt werden. Die Teilnehmer der Tagung befürworteten die Einführung eines Teilhabegeldes. Sie erachteten die Vervollkommnung der im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen als erforderlich. Den Bedürfnissen sehbehinderter Menschen müsse in jedem Fall Rechnung getragen werden. So müssten nach Einführung eines bundesweiten Teilhabegeldes Sehbehinderte, die in den zehn Bundesländern leben, in denen kein Sehbehindertengeld gewährt werde, einen angemessenen Nachteilsausgleich erhalten. Im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung sollte eine gesetzliche Regelung dem Erfordernis der Qualitätssicherung besondere Bedeutung beimessen. Zur Sicherung einer hohen Qualität der inklusiven schulischen Bildung sollten die Schul- sowie die Jugendämter zur Zusammenarbeit verpflichtet werden. Hinsichtlich der Regelung der Zuständigkeit der Behörden sprachen sich die Diskussionsteilnehmer für eine Erweiterung der Kompetenzen der Integrationsämter aus. Diesen könnte die Zuständigkeit sowohl für Studierende als auch für die berufliche Bildung übertragen werden.
Die Tagungsteilnehmer sprachen sich dafür aus, den Entwurf des Gesetzes mit weiteren Interessenverbänden behinderter Menschen zu diskutieren und gemeinsam mit diesen die Idee der Einführung eines Gesetzes zur sozialen Teilhabe in den Prozess der politischen Willensbildung einzubringen. Der Verwirklichung dieser Zielstellung könnte eine 2013 stattfindende weitere Fachtagung dienen, an der Vertreter verschiedener Interessenverbände behinderter Menschen sowie Politiker und Wissenschaftler teilnehmen sollten.
Nach der Kasseler Tagung stehen DBSV und DVBS meines Erachtens in den kommenden Monaten vor der Aufgabe, sich zu dem Gesetzentwurf weitergehend zu positionieren und zu überlegen, in welchem Umfang und in welcher Weise sich die Blindenselbsthilfe in Deutschland mit dem Ziel engagieren kann, zumindest Teile des Gesetzentwurfes in geltendes Recht umzusetzen. Wenn es den Behindertenverbänden gelänge, einzelne Teile des Entwurfes durchzusetzen, beispielsweise eine Neugestaltung der Zuständigkeit der einzelnen Behörden oder Verbesserungen beim persönlichen Budget, wäre dies nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen ein Fortschritt gegenüber der derzeitigen Situation.
Bei ihrem Einsatz für die Umsetzung des Gesetzentwurfes in geltendes Recht können sich DBSV und DVBS auf die fachliche Kompetenz der in der RBM tätigen Juristen sowie der Mitglieder des gemeinsamen Arbeitskreises "Nachteilsausgleich" stützen. Zur Propagierung des Gesetzesvorhabens bedarf es jedoch eines breiten Engagements der Mitglieder beider Verbände.
Bundesregierung legt Gesetzentwurf zur Erweiterung des Assistenzpflegebedarfs vor
Die Möglichkeit für pflegebedürftige Behinderte, im Krankenhaus eine Assistenzpflege in Anspruch nehmen zu können, soll auf stationäre Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen ausgeweitet werden.
Die Bundesregierung hat dazu einen Gesetzentwurf (17/10747) vorgelegt, der vorsieht, dass Pflegekräfte von stark hilfsbedürftigen Menschen mit "einem besonderen pflegerischen Bedarf" auch in stationäre Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen aufgenommen werden können. Zudem soll für die gesamte Dauer des stationären Aufenthaltes das Pflegegeld der Pflegeversicherung weitergezahlt werden. Auch die Hilfe zur Pflege durch die Sozialhilfe soll in dieser Zeit weitergeleistet werden.
Seit 2009 haben Menschen mit einem besonderen Pflegebedarf bereits Anspruch darauf, dass sie auch im Krankenhaus von Pflegekräften betreut werden können, die sie nach den Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) im sogenannten Arbeitgebermodell beschäftigen. Die Praxis hat gezeigt, schreibt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf, dass die besondere pflegerische Versorgung "während eines Aufenthalts in einer stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung nicht ausreichend sichergestellt ist". Nach Angaben der Sozialhilfestatistik haben im Jahr 2009 685 Personen Leistungen der Hilfe zur Pflege erhalten.
In seiner Stellungnahme spricht sich der Bundesrat diesbezüglich für eine Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) aus, wonach Pflegebedürftige für Investitionen und Maßnahmen zur Instandhaltung in Zukunft die Möglichkeit erhalten sollen, angemessene Pauschalen anrechnen zu können.
GEZ-Gebühren ab 2013: Die wichtigsten Änderungen
Am 1. Januar 2013 beginnt für alle Rundfunk- und Fernsehteilnehmer eine neue Zeit. Veränderungen bringen stets auch Verunsicherungen mit sich. Während bisher Rundfunk- und Fernsehgebühren erhoben werden, wenn Empfangsgeräte angemeldet sind, wird künftig der Rundfunkbeitrag für jede Wohnung fällig, auch dann, wenn dort kein Empfangsgerät vorhanden ist. Für Menschen, die zusammenleben, auch in Wohngemeinschaften, wird künftig nur ein Rundfunkbeitrag für die gemeinsame Wohnung erhoben.
Beitragspflichtig werden ab 1. Januar 2013 auch Wohnungsinhaber mit dem Merkzeichen RF im Schwerbehindertenausweis, die bisher von der Gebührenpflicht befreit sind. Sie zahlen ein Drittel des vollen Beitrages, also 5,99 Euro im Monat. Nach Auskunft der Gebühreneinzugszentrale (GEZ) werden alle Gebührenbefreiten mit RF im Ausweis noch in diesem Jahr angeschrieben. Im Februar kommt dann die erste Rechnung für das erste Quartal 2013. Bis dahin ist also nichts zu tun.
Es ist jedoch nach wie vor möglich, beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ganz von der Beitragspflicht befreit zu werden. Von der Beitragspflicht befreit werden auf Antrag Menschen, die mindestens hochgradig sehbehindert sind (Grad der Behinderung von 100 nur aufgrund der Sehbehinderung) und zugleich mindestens an Taubheit grenzend schwerhörig sind (Grad der Behinderung von 70 nur aufgrund der Hörbehinderung), also Taubblinde. Ferner werden auf Antrag Bezieher von Blindenhilfe nach § 72 SGB XII befreit, nicht jedoch Empfänger von Blindengeld nach Landesrecht. Befreit werden auf Antrag Empfänger staatlicher Sozialleistungen, wie Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe zur Pflege nach dem Sozialhilferecht, Grundsicherung, Sozialgeld, Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, und BAföG. Befreit werden auch Sonderfürsorgeberechtigte nach dem Bundesversorgungsgesetz und Empfänger von Leistungen nach dem Lastenausgleichs- und dem Asylbewerberleistungsgesetz. Weitere Informationen erhalten Sie unter www.rundfunkbeitrag.de und telefonisch bei der GEZ unter 0221-50610. Antragsformulare gibt es ab sofort bei den Gemeinden und bei den Erbringern der Sozialleistungen.
Taubblinde Menschen sind weiter von den Rundfunkbeiträgen ganz befreit. Wie kann man als taubblinder Mensch Rundfunkbeitragsbefreiung bekommen?
Ein Arzt bescheinigt, dass der Patient taubblind ist. Diese Bescheinigung schickt man an die GEZ. Da Augenärzte, HNO-Ärzte oder andere Ärzte mitunter mit Taubblindheit nicht vertraut sind, empfiehlt der GFTB (gemeinsamer Fachausschuss hörsehbehindert / taubblind) noch eine zweite Möglichkeit.
Es ist auch möglich, einen Brief an das Versorgungsamt zu schreiben oder persönlich dorthin zu gehen. Man bittet das Versorgungsamt um eine "Aktenauskunft": Das Amt wird aufgefordert, den Grad der Hörbehinderung oder Sehbehinderung schriftlich mitzuteilen. Diese Informationen sind in den Akten des Amtes enthalten. Sollten die Akten nicht aktuell sein, muss eventuell beantragt werden, die Behinderung neu festzustellen. Die Empfehlungen des GFTB zur Rundfunkbeitragsbefreiung und ein Musterbrief an das Versorgungsamt sind beim DBSV erhältlich. DBSV, Reiner Delgado, Rungestraße 19, 10179 Berlin, Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Fax: 030-285387-20, Tel: 030-285387-24
Bücher
Hörtipp: Schlank im Schlaf für Berufstätige
Berufstätige haben es mit der gesunden Ernährung schwer: Morgens klingelt der Wecker viel zu früh für ein vernünftiges Frühstück, ein üppiges Mittagessen verstärkt das Energietief am Mittag, und der Heißhunger am Abend eines stressigen Tages vernichtet alle guten Vorsätze.
Detlef Pape geht direkt auf die Bedürfnisse Berufstätiger ein. Nach dem Schlank-im-Schlaf-Prinzip darf das Frühstück üppig und kohlenhydratreich sein. Wer zu Hause dafür keine Zeit hat, kann auch unterwegs frühstücken - z.B. mit Coffee-to-go, Smoothie und Croissant, oder Banane plus Butterkeksen. Zum Mittagessen werden Eiweiß und Kohlenhydrate kombiniert. Hier gibt es Rezepte, um Leckeres mit zur Arbeit zu nehmen und Tipps, wie man sich ohne selbst zu kochen versorgt. Für ein eiweißreiches Abendessen darf dann frisch gekocht werden, überwiegend mit Fleisch, Fisch und Ei. Aber auch hier gibt es Hilfestellungen für diejenigen, die "on-the-way" essen oder die es zum Fast-Food-Restaurant zieht: Der Bratling auf dem Burger ist OK, nur die Brötchenhälften sollten übrig bleiben. Ein kurzer Plan, wie man eine ganze Woche ohne Selber-Kochen vernünftig isst, bietet ebenfalls Notfallhilfe.
Nach dem Prinzip der Insulin-Trennkost unterscheiden sich die drei täglichen Mahlzeiten im Hinblick auf den Anteil von Eiweiß und Kohlenhydraten. Beim Schlank-im-Schlaf-Konzept stehen der menschliche Biorhythmus und das Hormon Insulin im Mittelpunkt: Wenn abends die Insulinausschüttung durch den Verzicht auf Kohlenhydrate niedrig bleibt, kann während des Schlafs optimal Fett verbrannt werden. Zudem reduziert ausreichend Schlaf Stress und stressbedingte Ess-Attacken. Für Pape ist es wichtig, sich satt zu essen. Deshalb sind seine Bücher für alle, die nach einer langfristigen Methode für eine gesunde Ernährung suchen oder abnehmen möchten, einen Selbstversuch wert.
Detlef Pape et al: Schlank im Schlaf für Berufstätige. München: Gräfe und Unzer, 21. Auflage 2012. DAISY-CD 4 Stunden 57 Minuten lang. Bestellnummer 16876 (37,12 €).
Ebenfalls im Textservice vorhanden: Detlef Pape et al: Schlank im Schlaf: 20-Minuten-Küche. München: Gräfe und Unzer, 6. Auflage 2012. DAISY-CD 6 Stunden 30 Minuten lang. Bestellnummer 16862 (48,75 €)
Bestelladresse
Die DAISY-Bücher sind zu den üblichen Bedingungen erhältlich beim DVBS-Textservice, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon 06421 94888-22, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Buchtipps aus der blista
Auch in den blista-Buchtipps geht es diesmal schwerpunktmäßig um die Themen Bildung und Inklusion. Dazu ein paar DAISY-Schmankerl aus unserem Hörbuch-Katalog. Außerdem hat unsere Druckerei wieder ein paar spannende Neuerscheinungen auf Lager. Viel Spaß beim Stöbern und Lesen.
Speck, Otto: Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht. Rhetorik und RealitätMünchen: E. Reinhardt, 2011
DAISY-CD, Sprecher: Jonas Rüegg, Laufzeit: 8,5 Stunden
Gemeinsames Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung wird schon seit Jahrzehnten diskutiert und erprobt. Die vor allem von Sonderpädagogen initiierten Ansätze hatten aber nicht immer den gewünschten Erfolg. Nun richten sich neue Hoffnungen auf den aktuellen Begriff der Inklusion. Fortschritte sind - so konstatiert Speck - bisher allerdings eher in der Rhetorik als in der Praxis zu verzeichnen. Jenseits ideologischer Überzeichnungen versucht er, dem Prinzip des gemeinsamen Lernens durch praktikable Lösungen näher zu kommen, ohne dass die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung zu kurz kommen.
Roth, Gerhard: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingtStuttgart: Klett-Cotta, 2011
DAISY-CD, Sprecherin: Philippa Chegwin, Laufzeit: 12 Stunden
In diesem Buch geht der renommierte Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie Fragen zum Thema Bildung, Persönlichkeit und Lernen nach: Wie lernt der Mensch? Warum sind Emotionen beim Lernen so wichtig? Kann man Intelligenz trainieren? Wie kann ich Begeisterung für einen Stoff wecken und warum sind manche Lehrer erfolgreicher als andere?
Gerster, Petra: Charakter. Worauf es bei Bildung wirklich ankommtBerlin: Rowohlt, 2010
DAISY-CD, Sprecherin: Gesa Zumegen, Laufzeit: 8,5 Stunden
Bildung ist mehr als technisches Wissen und glattes Funktionieren. Vielmehr bedarf es der Bildung von Werten, Kultur und Verantwortung. Ein Plädoyer und eine Anleitung zu Empathie, Unverwechselbarkeit und Eigensinn.
Elschenbroich, Donata: Weltwunder. Kinder als NaturforscherMünchen: Kunstmann, 2005
DAISY-CD, Sprecherin: Antje Tietz, Laufzeit: 9 Stunden
Die Autorin wirbt dafür, der "Naturkunde als Bildungserlebnis" und dem Natur-Erforschen in der frühen Kindheit größere Aufmerksamkeit zu widmen. Mit vielen anschaulichen und eindrucksvollen Beispielen aus der praktischen Arbeit innovativer Kindergärten, privater Initiativen und engagierter Eltern zeigt sie, wie man der angeborenen Neugier und dem Forscherdrang von Kindern in den ersten Lebensjahren nachkommen kann.
Schwanitz, Dietrich: Bildung. Alles, was man wissen mussFrankfurt/M.: Eichborn, 1999
DAISY-CD, Sprecher: Klaus Zippel, Laufzeit: 29 Stunden
Ein Bildungskanon, ein Buch, das sagt, was wesentlich ist und was nicht. Schwanitz hat unser Allgemeinwissen gesichtet und laut Verlag nicht weniger als "unser kulturelles Gedächtnis neu justiert". Er versucht, jene Hindernisse zu beseitigen, die vielen Menschen den Zugang zu unserer Kultur versperren. Dabei erstickt er jeden Bildungsdünkel im Keim. Unser Wissen ist im Umbruch, unser Bildungssystem ist in der Krise, der Ruf nach einem Kanon wird immer lauter. Dieses Handbuch bietet eine Neuorientierung hinsichtlich der Kernbestände unserer Kultur.
Hentig, Hartmut von: Bildung. Ein EssayMünchen: Hanser, 1996
DAISY-CD, Sprecherin: Marie L. Steller, Laufzeit: 6,5 Stunden
Von Hentig entwirft ein Gegenbild zum gängigen Verständnis von Bildung. Kernpunkt ist das "Sich-Bilden" des jungen Menschen von Anfang an. Er prüft theoretische Voraussetzungen für Bildung und nennt Maßstäbe für ihre Überprüfbarkeit sowie Anlässe, an denen sie sich ereignen kann und zeigt, welche Funktionen die herkömmlichen Schulfächer in diesem Konzept haben, wenn sie mehr als bloße Wissensvermittlung beabsichtigen.
Für Braille-Leserinnen und -Leser:
Der Abreißkalender 2013 ist da!
Wer sich von unserer reizüberfluteten Zeit erholen und täglich eine kleine Auszeit vom Alltagstrubel nehmen möchte - und dabei auch noch seine Finger in Übung halten will -, dem empfehlen wir unseren neuen Abreißkalender 2013 mit allerlei Sprüchen, Rezepten, Hinweisen zu Namenstagen und vielem mehr. Lesen Sie Tag für Tag einen kurzen Braille-Text und lassen Sie dabei Bilder in Ihrem Kopf entstehen und Ihre Gedanken fließen.
Marburger Tagesabreißkalender mit Aufhängung (Rückwand aus Hartpappe), Bestell-Nr.: 5901-1, 34 €, ohne Aufhängung, Bestell-Nr.: 5901-2, 21,60 €
Ihre Bestellung richten Sie bitte an: Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Postfach 1160, 35001 Marburg, Tel.: 06421 606-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Es gelten unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB).
Panorama
Skatspieler treffen sich zum Integrationsturnier
Der DBSV lädt vom 16. bis 22. März 2013 zum bedeutendsten Integrationsturnier im Skat ein. Die Skatfreunde treffen sich im Aura-Hotel Saulgrub, Alte Römerstr. 41-43, 82442 Saulgrub. Die Unterbringung erfolgt in Einzel- und Doppelzimmern mit Dusche/WC, mit Halbpension. Es gibt zwei barrierefreie Zimmer für Rollstuhlfahrer im Haus.
Das Turnier beginnt am Anreisetag um 19.15 Uhr mit der Begrüßung, um 19.30 Uhr startet die 1. Serie. Spielmodus: Gespielt wird nach den internationalen Regeln des DSKV und der ISPA. Startgeld: 50 Euro, verlorene Spiele: bis 3 je Serie 0,50 Euro, alle weiteren 1 Euro. Preise: 1. Preis: 500 Euro! Die Höhe weiterer Geldpreise richtet sich nach der Teilnehmerzahl; außerdem werden Serienpreise, Ehrenpreise sowie Medaillen vergeben.
Meldeschluss ist am 31. Januar. Anmeldung ausschließlich bei: Jutta und Hugo Ueberberg, Telefon: 0228 / 371292, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Biathlon in Oberhof live verfolgen
Wie auch schon in den vergangenen beiden Jahren haben blinde und sehbehinderte Biathlonfans im Januar 2013 die Möglichkeit, live vor Ort den Biathlon-Weltcup in Oberhof mit Audiodeskription mitzuerleben. Der Weltcup findet vom 3. bis 6. Januar 2013 in Oberhof statt. Karten gibt es ausschließlich über die Geschäftsstelle der Zeitungsredaktion "Freies Wort" in Suhl, Telefonnummer 03681/792450. Die Sehbehinderten sind Vollzahler, die Begleitperson ist kostenfrei. Ein Shuttle-Bus bringt die Sehbehinderten vom Treffpunkt in Oberhof zur Arena.
Leidmedien: Neue Internetplattform für Journalisten
Mit "Leidmedien" ist im August eine neue Internetplattform an den Start gegangen. Von einer Gruppe, die sich die "Sozialhelden" nennt, gemacht und von der Bosch-Stiftung gefördert, finden sich dort Hinweise für Journalisten zum richtigen Umgang mit dem Thema "Behinderung". Als Autor mit dabei ist Heiko Kunert, DVBS-Mitglied und designierter Geschäftsführer des "Blinden- und Sehbehindertenverbandes Hamburg". Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.leidmedien.de
Erstes Ministergespräch zu E-Justice
DVBS und DBSV haben in den vergangenen Monaten mehrfach zu einem Gesetzentwurf der Bundesländer Stellung genommen, in dem es um die Fortentwicklung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz geht. Leider enthält dieser Entwurf keine Vorkehrungen zur Gewährleistung der Barrierefreiheit. Das war Anlass, den Versuch zu unternehmen, auf Landesebene Gespräche mit den zuständigen Justizministern in die Wege zu leiten. Ein erstes solches Gespräch fand am 14. September dieses Jahres mit dem Brandenburgischen Justizminister Dr. Volkmar Schöneburg und seiner Staatssekretärin Sabine Stachwitz in Potsdam statt. Neben dem Vorsitzenden des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Brandenburg, Bodo Rinas, dessen Geschäftsführer Joachim Haar und Rechtsanwalt Thomas Groß aus Königs Wusterhausen nahm als einer der Verfasser der Stellungnahmen Uwe Boysen an diesem Gespräch teil.
Die Vertreter des Blinden- und Sehbehindertenwesens hoben die Notwendigkeit entsprechender gesetzlicher Regelungen hervor. Minister Dr. Schöneburg betonte am Ende des offenen Meinungsaustausches, er sei für die Belange blinder und sehbehinderter Menschen zur Schaffung von Barrierefreiheit sensibilisiert worden und versprach, Brandenburg werde sich für Nachbesserungen des Gesetzentwurfs einsetzen.
Uwe Boysen erklärte im Anschluss an dieses Gespräch: "Wir werden versuchen, auch mit anderen Ministern und Ministerinnen in den Ländern zu sprechen; denn wir haben den Eindruck, dass nach wie vor viel Unwissenheit über unsere Möglichkeiten, aber auch über die Informationsbarrieren besteht, die eine Gefahr für unsere berufliche Inklusion darstellen."
Neues Internetportal: "REHADAT-Bildung" zeigt Wege zur beruflichen Teilhabe
Welche Berufe gibt es überhaupt? Welche besonderen Regelungen gelten für Menschen mit Handicap in der Ausbildung? Wie funktionieren Einstiegsqualifizierung, Kooperative Ausbildung oder Unterstützte Beschäftigung? Wer kann beraten? Wer unterstützt finanziell? Diese und viele weitere Fragen beantwortet das neue Internetportal REHADAT-Bildung unter www.rehadat-bildung.de.
Das Portal bietet umfangreiche Informationen zum Thema Berufsorientierung, Qualifizierung und Ausbildung für junge Menschen mit Förderbedarf. Die Webseite will Jugendlichen und deren Eltern helfen, sich ein Bild über die vielfältigen Bildungs- und Ausbildungswege sowie Unterstützungsmöglichkeiten zu machen.
Besonders praktisch ist zudem das umfangreiche Lexikon: Zahlreiche Fachbegriffe von Aktivierungshilfe bis Zweiter Arbeitsmarkt werden verständlich erklärt und sind mit weiterführenden Informationen (Adressen, Gesetzen, Literatur) verlinkt.
Darüber hinaus stehen für Pädagogen und Berater bundesweite und nach Bundesländern sortierte Informationen zur Verfügung, z.B. Infos zur sonderpädagogischen Förderung, zum Thema Inklusion, zum Übergangsmanagement oder zu Projekten und Initiativen.
REHADAT-Bildung richtet sich an junge Menschen mit Förderbedarf sowie alle, die sie bei der beruflichen Orientierung unterstützen. Das Portal gehört zum Informationssystem REHADAT - dem weltweit größten Informationsangebot zum Thema Behinderung und berufliche Teilhabe. Das Projekt ist im Institut der deutschen Wirtschaft Köln angesiedelt und wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.
Barrierefreiheit und Mobilität
Mobile Bücherei für Sehbehinderte und Blinde Westdeutsche Blindenhörbücherei mit erster iPhone-App
Die Westdeutsche Blindenhörbücherei (WBH) bietet allen angemeldeten Nutzern von nun an eine kostenlose iPhone-App. Mit dem "WBH-Katalog" können die Hörerinnen und Hörer auch unterwegs mit ihrem Smartphone bequem im Bibliotheksbestand stöbern, Bücher vormerken oder gleich bestellen. Damit ist die Münstersche Blindenhörbücherei bundesweit die erste, die solch einen Service zur Verfügung stellt.
Nach Büchern suchen, diese ausleihen und sich über Neuausgaben informieren war den blinden und sehbehinderten Mitgliedern der Hörbücherei bislang nur am heimischen Rechner oder mit Hilfe eines gedruckten Katalogs, der ihnen von anderen vorgelesen werden musste, möglich. Jetzt aber können sie mit der App WBH-Katalog dazu unterwegs auch ihr iPhone, iPod oder iPad nutzen. Gerade die Apple-Geräte sind für blinde und sehbehinderte Menschen durch die integrierte Sprachausgabesoftware Voice Over, die Beschreibungen der Objekte auf dem Bildschirm in gesprochener Sprache wiedergibt, sehr gut nutzbar.
"Wir haben gemerkt, dass immer mehr blinde und sehbehinderte Menschen Apple-Geräte wie das iPhone nicht nur als Kommunikations- und Unterhaltungsmedium, sondern auch als Hilfsmittel gebrauchen. Auf diesen Trend wollten wir reagieren und unseren Hörerinnen und Hörern unseren Katalog auch als App für ihr Handy zur Verfügung stellen", erklärt WBH-Geschäftsführer Werner Kahle und hat schon konkrete Anwendungsbeispiele vor Augen: "Ich stelle mir vor, dass unsere Mitglieder auf langen Zugfahrten oder wenn sie mal irgendwo warten müssen, die mobile App der WBH nutzen und zum Stöbern und Suchen in unserem Katalog nicht mehr nur auf den PC zu Hause angewiesen sind. Das ist ein Vorteil der neuen Technologie, den wir unseren Hörerinnen und Hörern gerne anbieten."
Zur Realisierung des WBH-Katalogs arbeitete die Blindenhörbücherei mit der elumo GmbH zusammen, die bereits mehrere Blindenhilfsmittel für iPhone, iPod, iPad und Symbian Handys entwickelte. Aber erst eine großzügige Spende der Volksbank Münster hat die Entwicklung der innovativen App möglich gemacht.
www.wbh-online.de www.pocketshopper.eu
Die WBH-App kann im App-Store unter dem Suchbegriff "WBH" gefunden werden.
Hinweise zum umsichtigen Verhalten gegenüber Sehbehinderten
Sehbehinderten Menschen sieht man ihre Sehbehinderung oft nicht an. Dadurch treten im Umgang mit ihnen leicht vermeidbare Missverständnisse oder Überforderungen auf. Um das Miteinander in Situationen wie bei einem Arztbesuch zu erleichtern, hat der Gemeinsame Fachausschuss für die Belange Sehbehinderter (FBS) beim DBSV e.V. für das Praxispersonal und für sehbehinderte Patientinnen und Patienten einige Hinweise erstellt.
Wir möchten Sie mit diesem Schreiben auf diese Materialien hinweisen. Sie können die Hinweise und Tipps unter www.umsichtiges-verhalten.dbsv.org herunterladen und ausdrucken. Außerdem finden Sie unter dem genannten Link Informationen zur Entstehung sowie zur Vorgehensweise bei Erstellung dieser Hinweise. Auch die herangezogenen Quellen sind dort vermerkt.
Selbstverständlich können Sie die Hinweise in den Web-Auftritt Ihrer Organisation als Link bzw. Text integrieren oder in der Mitgliederzeitschrift abdrucken. Einen entsprechenden kurzen Musterartikel finden Sie in der Anlage. Wenn Sie die Materialien weiterverwenden, möchten wir Sie bitten, die jeweils angegebene Zitierweise (vgl. o.g. Internetseite) zu beachten. Da die Materialien ggf. aktualisiert werden, bitten wir Sie sicherzustellen, dass nur die jeweils aktuellste Version verwendet wird. Rückmeldungen zum Einsatz der Hinweise nehmen wir gerne entgegen.
Aus der Arbeit des DVBS
Start von BIT inklusiv auf der REHACARE
NRW-Integrationsämter unterstützen den Abbau von Barrieren
Menschen mit Schwerbehinderung stoßen bei der beruflichen Teilhabe immer wieder auf große Hürden. "Eine Ursache hierfür können auch unzugängliche IT-Anwendungen sein, die schwerbehinderte Menschen von einer konkurrenzfähigen Teilhabe am Berufsleben ausschließen", so Ulrich Adlhoch, Leiter des LWL-Integrationsamtes Westfalen. Damit dies anders wird, fördern die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR) sowie das Bundessozialministerium das Projekt "BIT Inklusiv - barrierefreie Informationstechnik für inklusives Arbeiten". Auf der "Rehacare" in Düsseldorf präsentierten die Integrationsexperten von LWL und LVR das Projekt am 10. Oktober.
"Die Einführung elektronischer Akten oder die Umstellung auf webbasierte Software, ohne dass die Standards für Barrierefreiheit in der IT und im "www" beachtet werden, stellen Menschen mit Sehbehinderung vor große Probleme. Es ist dann oft sehr schwer, Arbeitsplätze für blinde oder sehbehinderte Beschäftigte zu sichern oder ihnen neue Arbeitsmöglichkeiten zu erschließen", erklärt Michael Große-Drenkpohl vom LWL-Fachdienst für Menschen mit Sehbehinderungen.
"BIT inklusiv" verfolgt unter anderem das Ziel, Kompetenzzentren in Landesverwaltungen bei der barrierefreien IT-Gestaltung und den inklusiven Ansatz bei der Arbeitsplatzgestaltung zu unterstützen.
Ein regionaler Schwerpunkt des Projektes ist Nordrhein-Westfalen. Hier gibt es bereits das "Kompetenzzentrum Barrierefreie IT im Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen", das die NRW-Landesverwaltung bei der barrierefreien IT-Gestaltung berät.
"In NRW haben wir Kooperationspartner gefunden, die an einer dauerhaften Sicherstellung einer barrierefreien Informationstechnik interessiert sind", freut sich Projektleiter Karsten Warnke. Leider sei es immer noch an der Tagesordnung, IT-Barrieren als ein individuelles Problem schwerbehinderter Beschäftigter zu sehen. Die Folgen seien bei komplexer werdenden IT-Anwendungen steigende Kosten und zunehmende Beschäftigungsvorbehalte von Arbeitgebern. "Barrierefreiheit im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ist jedoch eine Grundvoraussetzung für inklusive Arbeitsbedingungen. In diesem Sinne müssen IT-Anwendungen bereits bei der Planung und Entwicklung an die Bedürfnisse aller Menschen angepasst werden", fordert Warnke, der selbst von einer Sehbehinderung betroffen ist.
Das Projekt "BIT inklusiv" wird vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) durchgeführt. Der DVBS vertritt als Selbsthilfeorganisation das Interesse, schwerbehinderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Nutzung der Informationstechnik im Berufsleben zu sichern.
Die Integrationsämter des LWL und des LVR unterstützen schwerbehinderte Menschen und Arbeitgeber bei der Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt. Mit Beratungs- und Finanzierungsangeboten setzen sie sich unter anderem für die Umgestaltung und Einrichtung barrierefreier Arbeitsplätze ein.
Weitere Informationen zu dem Projekt gibt es im Internet: www.lwl-integrationsamt.de www.soziales.lvr.de www.dvbs-online.de www.it.nrw.de
25 Jahre Gruppe Ruhestand
Nahezu 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer trafen sich vom 6. bis 13. Oktober 2012 im Aura-Zentrum Horn-Bad Meinberg zur Feier des 25-jährigen Jubiläums der Gruppe Ruhestand. 1987 hatte Dr. Annelise Liebe die Gruppe ins Leben gerufen, um auch den älteren Mitgliedern im DVBS eine Plattform der Begegnung und des Austausches zu schaffen. Gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Aktion Mensch und anderen Sponsoren trifft sich seither alljährlich die Gruppe Ruhestand zu einem einwöchigen Seminar. Zur Feier des Jubiläums waren für 2012 einige Highlights geplant.
Eröffnet wurde das Seminar mit einer Vernissage, in der Jutta Hilfer aus Münster im Gespräch mit dem Leiter des Zentrums erzählte, wie sie als Blinde den Weg zur Malerei gefunden hat. Um ihre Bilder zu komponieren, benötigt sie drei Grundfarben und dazu die Komplementärfarben Weiß und Schwarz. Auf einer eigenen Palette werden daraus die Farbtöne und -tönungen gemischt. Als Werkzeug benutzt sie Flachpinsel, die auf dem Papier oder der Leinwand einen gewissen Widerstand erzeugen.
Ihre Bilder entstehen aus dem Gefühl heraus, da sie die Farben nicht sehen kann. Das führt dazu, dass sie ganze Serien von einem Bild malt, bis sie das Gefühl hat, dass jetzt die Farbkomposition und die Tönungen stimmig sind. So entstehen wunderschöne und bewundernswerte Bilder, mal in bunten Grün-Rot- und Rosé-Tönen, mal auch in Grautönen, je nach der Stimmungslage der Künstlerin. Sprechend sind auch die Unterschriften der Bilder, wie z.B. "Inneres und Äußeres", "Orchideen am Nachmittag", "Kapuzinerkresse", "Auffangen und Loslassen", oder ein Vers aus einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe "Im See weiden ihr Antlitz alle Gestirne". Im Hintergrund flammen Blätter, Gräser und Farne in die Höhe, auf denen rote und rosé-farbene Tupfer verstreut und doch geordnet Blüten zeigen. Bemerkenswert, wie exakt die blinde Künstlerin in einer Hausfront Fenster und Türen auf gleicher Höhe malt. Eine sehende Betrachterin meinte, die Bilder von Frau Hilfer erinnern an Bilder des großen Malers im 20. Jahrhundert, Paul Klee. Es ist sicher eine außergewöhnliche Begabung, dass ein blinder Mensch auf diese Weise seinen Sehverlust bewältigt.
Am Dienstag, den 9. Oktober 2012, waren erstmals zwei Arbeitsgruppen geplant. In der ersten tauschten sich die überwiegend weiblichen Teilnehmer unter der Moderation von Annelie Vogel, Mitglied des Leitungsteams, über Fragen und Probleme der Gesundheit im Alter aus. Vermittelt durch unseren Vorsitzenden Uwe Boysen war in der zweiten Arbeitsgruppe zum Thema "Leben und Wohnen im Alter" der ehemalige Bürgermeister und Senatspräsident von Bremen, Henning Scherf, zu Gast. Bekanntlich wohnt er seit mehr als 20 Jahren in einer Senioren-WG, die er mitten in Bremen mitbegründet hat. Insgesamt umfasst diese WG zehn Personen, über die in einem ausführlicheren Beitrag später noch berichtet werden soll. Eindrucksvoll war, wie dieser immerhin 2,04 Meter große Mann zu Beginn der Veranstaltung zu jedem einzelnen ging, um ihn persönlich mit Handschlag zu begrüßen. Diese Offenheit, Spontaneität und Kontaktfreudigkeit zog sich dann durch die gesamten 1 ½ Stunden hin, die er bei uns war. Seine unkomplizierte Art zeigte, was ein zivilgesellschaftliches Engagement bewirken kann.
Außer diesen besonderen Ereignissen gab es Referate zum Reisen im Alter, Bilder des Alters und Alterns, der Akzeptanz und Bewältigung des Lebens im Alter insbesondere nach einem Sehverlust, Schlafstörungen sowie Erben, Schenken oder Stiften. Eindrucksvoll war die Präsentation und Interpretation zweier Texte aus dem antiken Rom: M.T. Cicero: Cato Major - De senectute" und A. Seneca: De brevitate vitae". Die 2000 Jahre alten Texte aus einem gänzlich anderen gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Kontext erweisen sich als erstaunlich modern, wenn sie Bilder des Alters und über das Alter beschreiben und analysieren. Als besonderer Glücksfall erwies sich der kurzfristig als Ersatz für einen erkrankten Referenten eingesprungene Inhaber der Firma "Technik für alle", Nils Prause, zum Thema "Internet erfahren - berühren, sprechen, bedienen ohne Tastatur". Er verstand es hervorragend, den Seminarteilnehmern zunächst verbal die Chancen und Möglichkeiten der Nutzung der modernen neuen Medien nahe zu bringen ohne sich in die technologischen Details und Feinheiten zu verlieren. Aufgrund dieser Vorstellung wurde bei vielen das Eis in Hinblick auf diese Medien gebrochen und es fanden sich am Nachmittag mehr als 20 Interessenten, die diese neueste Generation von Smartphones auch einmal selber in die Hand nehmen und erste tastende Versuche unternehmen wollten.
Wo viel Licht ist, gibt es natürlich auch Schatten. So war unser Ausflug nach Paderborn zur Besichtigung des Doms mit Hindernissen und Stolperfallen gespickt. Alles in allem war es ein gelungenes Seminar.
Die Vorträge der Referenten werden auf einer der nächsten CDs des Fachinformationsdienstes (FI) der Gruppe Ruhestand veröffentlicht. Die FI Ruhestand erscheint fünfmal jährlich und kann abonniert werden. Der Preis pro 90-Minuten-Einheit beträgt 3 Euro. Informationen und Bestellungen nimmt Luzia Preis im DVBS-Textservice entgegen. Telefon: 06421 94 888 24, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Bezirksgruppe Berlin-Brandenburg unter neuer Leitung
Beim Treffen der Bezirksgruppe Berlin/Brandenburg am 6. September 2012 wurde die Leitung neu gewählt. Vorsitzende ist Gabriele Bender. Als Stellvertreterin wurde Lydia Sasnovskis gewählt. Weitere Mitglieder im Leitungsteam sind Regina Vollbrecht und Jörn Stußnat.
Neue Leitung Senioren
Im Rahmen des Jubiläumsseminars der Gruppe Ruhestand im DVBS wurde das Leitungsteam gewählt. Dabei wurden alle Mitglieder in ihren Ämtern bestätigt. Das alte und neue Leitungsteam der Gruppe Ruhestand bilden Dr. Johannes-Jürgen Meister, Dr. Eberhard Hahn, Dr. Hans Heinz Herpers und Annelie Vogel.
Bezirksgruppe ehrt Leiterin Anette Bach
20 Jahre Bezirksvorsitzende - Anette Bach erhielt Anerkennung durch ihre Mitglieder
Seit dem 27. Juni 1992 ist Anette Bach die Vorsitzende der Bezirksgruppe Hessen. Angeregt durch den langjährigen "horus-Histoiker" haben ihr einige Mitglieder anlässlich der diesjährigen Bezirksversammlung am 20. Oktober eine kleine Anerkennung spendiert.
Zweifellos hat Anette Bach Bezirksgeschichte geschrieben. Als erste "Frau in Führungsposition" ist sie eine der dienstältesten Vorsitzenden der Hessen überhaupt (wobei allerdings Schleswig-Holstein schon seit 40 Jahren denselben Leiter hat). Von 1994-2011 hatten wir Verstärkung durch die Thüringer, so dass die "Bezirksgruppe Hessen-Thüringen" der größte Bezirk des DVBS war, bis sich vor einem Jahr der Bezirk Thüringen neu gegründet hat.
In einer kleinen Rede hob Wilhelm Gerike, EDV-Assistent in der DVBS-Geschäftsstelle und langjähriger "Bezirkskenner", die vielseitigen und interessanten Veranstaltungen hervor, die durch die Jubilarin mit ihren Leitungsteams organisiert wurden. "Ich möchte Dir jetzt, so denke ich, im Namen aller Anwesenden herzlich danken. Möge es Dir noch lange gelingen, kreative Ideen zu verwirklichen und uns diese ganz besondere Nestwärme zu geben, die wir alle so schätzen. Schließen möchte ich mit einem Gruß aus Deiner Heimat. Liebe Anette, ein herzliches Glückauf", schloss Gerike seine Glückwünsche ab. Den guten Wünschen für weitere Jahre im Amt schlossen sich Barbara Knobloch und Jürgen Bopp an, die derzeit mit Anette Bach den Bezirk leiten. Andrea Katemann überreichte seitens des DVBS-Vorstands einen kleinen Präsentkorb.
Anette Bach zeigte sich über diese Ehrung erfreut, aber auch sichtlich überrascht - wo sie doch schon 2001 bei ihrer Wiederwahl sagte: "Ich kann doch schon gar nicht mehr ohne...".
Viele von uns wissen, wie sehr ihr die Bezirksarbeit am Herzen liegt, und daher wünschen wir ihr und ihren Leitungsteams auch weiterhin viele interessante Ideen für Aktivitäten in und um Hessen - "ad multos annos!". (In der nächsten Ausgabe von "intern" gibt es Auszüge der Bezirksversammlung im O-Ton.)
Mitarbeiter der Aktion Mensch besuchen die DVBS-Geschäftsstelle
Abteilung Mikroförderung war zu Gast in Marburg
Wie sind blindengerechte Computerarbeitsplätze eingerichtet, welche Leistungen bietet der DVBS seinen Mitgliedern, und wie werden Hörbücher im DAISY-Format produziert? Antworten auf diese und andere Fragen erhielten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Mikroförderung der Aktion Mensch bei einem Besuch in der DVBS-Geschäftsstelle. Zwei Stunden Zeit hatten die Gäste aus Bonn im Gepäck. Vorstandsmitglied Andrea Katemann erläuterte den Besuchern die Leistungen des DVBS und bot einen "schnellen Durchlauf durch ein komplexes System, das historisch gewachsen ist". Anschließend begann der Rundgang durch die Räume der Geschäftsstelle, der zunächst in die Büros von Geschäftsführer Michael Herbst und EDV-Assistent Wilhelm Gerike führte. Beide erklärten die Ausstattung ihrer blindengerechten Computerarbeitsplätze und demonstrierten den Einsatz von Screenreader und Braillezeile in verschiedenen Programmen. In den Sprecherkabinen des Textservice, deren Einrichtung durch Fördergelder der Aktion Mensch möglich gemacht wurde, versuchten sich die Besucher selbst als Vorleser. Textservice-Mitarbeiterin Sabine Hahn zeigte anschließend die Kopierer und Drucker, die bei der DAISY-Produktion eingesetzt werden. Auch die Literaturplattform e-dig.de wurde aus Mitteln der Aktion Mensch gefördert - Sabine Hahn erklärte die Funktionen der Plattform.
Auch das Beratungsangebot des DVBS wurde erläutert: Michael Herbst erklärte, dass sowohl fachliche Beratung in Bezug auf Hilfsmittelbeschaffung als auch rechtliche und vor allem Erstberatungen für Menschen angeboten werden, die akut von Blindheit betroffen sind und vor der großen Herausforderung stehen, ihr Leben und ihren beruflichen Alltag neu zu organisieren. "Ein wichtiges Element sind auch die Seminare, die zur Förderung ehrenamtlichen und sozialen Miteinanders führen", so Herbst. Ein Bereich der Arbeit des DVBS, den auch die Besucher aus Bonn kannten: Die Abteilung Mikroförderung der Aktion Mensch gewährt finanzielle Zuschüsse zu Seminaren. Von einem solchen Seminar berichtete Conny Rippe, die im Sommer am Seminar "Singen für die Seele" mit Petty West teilgenommen hat. Auch diese Veranstaltung wurde durch die Aktion Mensch gefördert. Nicht nur blinde und sehbehinderte, auch sehende Menschen gehörten zu den Teilnehmern. "Das Miteinander funktioniert mit dem Medium Musik besonders gut", sagte Conny Rippe. Nicht nur das gemeinsame Singen habe viel Spaß gemacht, auch bei den Mahlzeiten und in der Freizeit habe man sich gegenseitig unterstützt und geholfen. Sabine Hahn spielte eine Aufnahme ab, die während des Seminars entstanden ist, sodass alle Zuhörer einen Eindruck von der Stimmung und den musikalischen Ergebnissen bekommen konnten.
Terminvorschau
Für 2013 sind folgende Seminare geplant:
18. bis 19. Januar 2013:
Notennetzwerktagung der Fachgruppe Musik in Leipzig
20. bis 23. Januar 2013: Sprecherziehungsseminar der Fachgruppe Theologie in Bad Honnef
26. Januar 2013: Tagesseminar zum "Internetrecht" der Fachgruppe Selbstständige in Marburg
28. Februar bis 3. März 2013: Seminar "Nicht sehend - nicht blind" der Fachgruppe Sehbehinderte in Herrenberg
19. bis 21. April 2013: Seminar der Fachgruppe Verwaltung in Erfurt
7. bis 9. Juni 2013: fachgruppenübergreifendes Seminar "Energy Dance" in Hannover
18. bis 20. Oktober 2013: Seminar der Fachgruppe Soziale Berufe und Psychologie in Hünfeld/Hessen
24. bis 27. Oktober 2013: Seminar der Fachgruppe Wirtschaft in Herrenberg
Weitere Informationen zu den Terminen finden Sie unter www.dvbs-online.de/php/aktuell.php
Aus der blista
blista-Sommercamp 2012: „Sonst erlebt man das nie!“
"Jetzt kann ich ein Kanu steuern, wenn ich vorne sitze oder wenn ich der Hintermann bin, und ganz allein geht"s auch!", vergnügt und stolz zieht der zwölfjährige León eine persönliche Bilanz zum blista-Sommercamp. Sein Ferienkumpel aus Wolfenbüttel ist ein Jahr älter und bestätigt munter: "Ja, auch fachlich haben wir viel gelernt, über die Schlagtechniken beim Paddeln und die Strömung des Wassers. Sogar die Bootsrutsche am Wehr sind wir runtergefahren!". Den zehn blinden und sehbehinderten Jugendlichen im blista-Sommercamp 2012 macht es sichtlich Spaß, von ihren Erlebnissen zu berichten. Wie sie sich als Kanuten erprobt haben, das Boot auch mal absichtlich kentern ließen und danach ausgiebig in der Lahn gebadet haben. "Sonst macht man so was ja gar nicht!", sagt die 13-jährige Marie aus Osnabrück. "Sonst nie!", ergänzt Alicia aus Hannover mit Nachdruck.
Die Kombination aus Bewegung & Köpfchen kommt gut an
Aus dem ganzen Bundesgebiet sind die 11- bis 14-Jährigen für die einwöchige Ferienfreizeit nach Marburg gekommen. Kanu und Computer - die Kombination aus Bewegung und Köpfchen kommt gut an. Neben Sport und Abenteuer haben auch die Neuen Medien für die blinden und sehbehinderten Jugendlichen einen besonderen Reiz. "Klar, iPads kannte ich schon, aber man kann sie ja viel besser nutzen als ich dachte! Also mit VoiceOver zum Beispiel. Wenn ich nach Hause komme, möchte ich mir diese Screenreader-Software auch einrichten. Ich werde meinen Eltern Morgen gleich zeigen, wie es funktioniert und dass es wichtig für mich ist", erklärt León. Marie und Alicia nehmen schon zum zweiten Mal am Computer-Kanu-Camp teil. Die beiden waren im letzten Jahr Freundinnen geworden und hatten sich für die Übernachtung in der großen blista-Sommercamp-Wohnung ein Doppelzimmer reserviert. In diesem Jahr haben sie ein eigenes Hörbuch erstellt.
Zusammenarbeit mit den IT-Auszubildenden
Das sportliche Kanu-Angebot weckt Freude an Bewegung und fördert die Entwicklung des Selbstkonzepts. Das Ziel des Computer-Angebotes ist es, auf spielerische Weise Medienkompetenz zu vermitteln: Kenntnisse über den Einsatz der notwendigen Hilfsmittel, das Bearbeiten von Audiodateien, das versierte Recherchieren im Internet und den Umgang mit Passwörtern. Die Jugendlichen lernen, wie man sich in Online-Chats und Communities sicher bewegt und Risiken vermeidet. "Gerade hier bringen sich auch die blinden und sehbehinderten Lehrlinge unserer IT-Ausbildungen mit ein. Sie bereiten im Rahmen ihrer Ausbildung kleine Lerneinheiten vor, denn natürlich kennen sie sich mit den Tipps und Tricks für junge Leute gut aus und wissen, wo man im Netz die spannenden Informationen findet. Dieser Kompetenzerwerb macht einfach viel mehr Spaß, wenn man quasi Peer-to-peer lernt und sich zum Beispiel die HSV-Fans zusammentun, um sich die Spiele-Tabellen zugänglich zu machen", erzählt Brigitte Luzius. Die IT-Ausbilderin organisiert das blista-Sommercamp und verknüpft es jedes Jahr mit viel Engagement und neuen Ideen. Rund ein Dutzend Fachkräfte gilt es für das Sommercamp ins Boot zu holen, die einen sind sonderpädagogisch erfahren und für den Kanusport oder IT qualifiziert, andere für die Hospitation oder das leibliche Wohl.
Schlüsselkompetenzen für Schule und Ausbildung
Das blista-Angebot richtet sich bundesweit an alle blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schüler, die offen sind für neue Erfahrungen und gemeinsame Erlebnisse. Auf so anregende wie vergnügliche Weise trägt das bewährte Konzept dazu bei, die Chancen blinder und sehbehinderter junger Menschen in Schule und Ausbildung gezielt auszubauen. Im kommenden Jahr wird es das blista-Sommercamp wieder geben. Zu Computer und Kanu kommt dann noch ein Trommel-Workshop. Stattfinden wird es vom 9. bis 15. August 2013, Anmeldeschluss ist der 15. Mai 2013.
Weitere Infos und Anmeldung: Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista), Am Schlag 8, 35037 Marburg, Telefon: 06421 606-0, Fax: 06421 606-229, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Das blista-Sommercamp 2012 fand in Zusammenarbeit mit dem Jugendclub des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) statt.
Abend der Naturwissenschaften
Am 13. September lud die blista, aus Anlass ihrer Gründung im September 1916, jetzt bereits zum dritten Mal Freunde und Förderer zu einem besonderen Abend ein, um sich für die Unterstützung ihrer Arbeit zu bedanken. Diesmal stand der Abend ganz im Zeichen der Naturwissenschaften. Die Gäste erlebten spannende Experimente aus Chemie, Physik und Biologie und wurden bei einem 3-Gang-Menü und einem Glas Wein von Schülern und Kolleginnen und Kollegen der Carl-Strehl-Schule in die Geheimnisse des naturwissenschaftlichen Experimentierens eingeführt. Dazu gehörte zum Beispiel, die unterschiedlichen Temperaturzonen einer Kerzenflamme zu erkennen, oder zu erfahren, welche Wärme die Kresse für ein optimales Wachstum braucht. Am Modell des Innenohres wurde man aufgeklärt, warum wir überhaupt hören können, und ein anderer Stand ermöglichte das "Begreifen" eines Stromkreises. Natürlich wurden alle Messergebnisse mit einer Großschriftanzeige oder Sprachausgabe erfahrbar gemacht. Die etwa 90 Gäste waren sich einig: Unterricht in dieser Form, bei dem man aktiv mitarbeiten kann und alles anschaulich und erlebbar wird, erleichtert das Lernen, und der Unterricht macht vor allem Spaß. Am Ende des Abends hatten viele der Gäste eine kleine Vorstellung davon, wie der Unterricht an der blista tagtäglich abläuft und wie es möglich wird, dass die blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schüler so erfolgreich am Landesabitur teilnehmen.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von Mitgliedern des Chors der Groth-Schule St. Petersburg, die seit kurzem eine neue Partnerschule der blista ist.
Marburger Blindenfußballer holen Deutsche Meisterschaft
Ungeschlagen und hochverdient holten sich die Blindenfußballer der Sportfreunde Blau-Gelb blista Marburg in diesem Jahr zum zweiten Mal nach 2008 die Deutsche Meisterschaft in der Blindenfußball-Bundesliga. Damit haben sich die Investitionen der Stadt Marburg und der blista für einen neuen Trainingsplatz gleich im ersten Jahr bezahlt gemacht. Das Team von Coach Peter Gößmann besteht aus aktuellen und ehemaligen Schülern der blista und ist das jüngste der Liga. Mit seinen Erfolgen und dem sympathischen Auftreten ist es ein großartiger Repräsentant der Stadt Marburg und der blista. Die Stadt Marburg ehrt die erfolgreichen Sportler mit einem offiziellen Empfang, der vom Oberbürgermeister und dem Magistrat der Stadt ausgerichtet wird. Aber auch auf internationaler Ebene wollen die jungen Sportler für Furore sorgen. So haben inzwischen vier Marburger Spieler den Sprung in den Kader der Deutschen Nationalmannschaft geschafft, und das Gerippe der neu gegründeten U21-Nationalmannschaft besteht im Wesentlichen aus Spielern der Sportfreunde Blau-Gelb blista.
Leserbriefe
Blinde mit Mehrfachbehinderung
Der Röhrenblick ist nicht nur eine bestimmte Form der Sehbeeinträchtigung, sondern in übertragenem Sinn auch eine Geisteshaltung. Bildlich verstanden, ist er ein Ausdruck der Arroganz oder gar Ignoranz gegenüber anderen Mitmenschen.
Was der kann, das müssen alle anderen auch können. Immer wieder begegnet man als Blinder solchen Vorstellungen, wenngleich sie durchaus sehr unterschiedlich ausgeprägt sein mögen. Von dem einen Behinderten, den man zufällig kennt, schließt man auf alle anderen.
Doch derartige Haltungen sind nicht allein auf Nichtbehinderte begrenzt. Bei genauerem Hinsehen findet man sie auch bei Betroffenen selbst: Wenn ich das kann, warum können andere das dann nicht auch?
Dabei sind Menschen ausgesprochen vielfältig und verschieden. Fähigkeiten und Talente sind sehr unterschiedlich verteilt. Das gilt auch für Behinderte.
Dennoch verhalten sich mitunter auch Mobilitätstrainer und selbst Vertreter von Blindenorganisationen so, als wüssten sie ganz genau, was alle Blinden und Sehbehinderten gefälligst zu können haben: Sie stimmen der Abflachung von Bordsteinkanten bis aufs Nullniveau oder dem Abstellen von Ampeltönen zu oder akzeptieren Bauplanungen, bei denen keine Leitlinie zur Orientierung mehr übrig bleibt.
Bei Mobilitätstrainern ist das leicht zu erklären: Sie kennen die Lebenswirklichkeit Blinder zwar aus eigenen Erfahrungen unter der Augenbinde sowie aus den Trainingsstunden mit ihren Probanden, aber nicht aus dem alltäglichen Leben oder gar von Stress-Situationen her. Für die Bewältigung schwieriger Aufgaben haben ihre Schützlinge meist sehr viel Zeit.
Im Alltag jedoch haben es Blinde mitunter auch eilig, wenn sie beispielsweise zum Bahnhof laufen und dort einen bestimmten Zug noch erreichen wollen. Blinde haben nicht immer so viel Ruhe und Zeit wie bei Trainingsstunden. Und sie haben auch mal einen schlechten Tag, an dem ihnen gute oder grässliche Gedanken durch den Kopf gehen und sie von allem anderen ablenken.
Bei den Selbsthilfe-Organisationen sind es häufig junge und mobile Blinde, die von sich auf andere schließen. Sie können bestimmte Mobilitätssituationen gut bewältigen und erwarten das Gleiche dann auch von ihrer Mitgliedschaft.
Doch je älter der Mensch wird, desto weniger flexibel ist er. Die Bewegungen des Körpers und des Geistes werden langsamer und behutsamer.
Mit zunehmendem Alter gesellen sich zur Sehbeeinträchtigung oft auch noch weitere Behinderungen hinzu. So sind viele Sehbehinderte und Blinde zugleich auch noch von anderen Einschränkungen betroffen.
Mehr als zwei Drittel der sehbehinderten und blinden Bundesbürger sind älter als 60 Jahre. Wenigstens die Hälfte von ihnen dürfte außer ihrer Sehbeeinträchtigung noch weitere körperliche Einschränkungen haben.
Aber selbst unter jüngeren Erwachsenen mit stark eingeschränkter Sehfähigkeit wird der Anteil mehrfach behinderter Betroffener nicht gerade gering sein. Schließlich schlägt die - bei Männern im jungen Erwachsenenalter am weitesten verbreitete - Erblindungsursache auch auf das Gehör. Dann kann sich die Retinopathia Pigmentosa (RP) so stark auswirken, dass sie als "Usher-Syndrom" zur Taubblindheit führt.
Bei den meisten RP-Erblindeten merkt man indes nur wenig von dieser Höreinschränkung. Sie liegt vielleicht bei fünf Prozent, die nur der Ohrenarzt bei einem Test feststellen wird. Im Alltag hört man das eine oder andere nicht deutlich, doch sind Geist und Gehör so gut trainiert, dass man sich dennoch darauf verlassen kann.
Das sprichwörtliche "absolute Gehör der Blinden" ist indes sehr selten. Ein trainiertes Gehör, das verschiedene Geräusche voneinander unterscheidet und bestimmten Quellen zuordnet, kann trotzdem weit unterhalb des normalen Hörvermögens rangieren.
In Grundschulen für Blinde und Sehbehinderte treffen die Pädagogen auf einen hohen Anteil mehrfach behinderter Kinder. Hirnschädigungen führen bei ihnen sowohl zu Beeinträchtigungen des Sehvermögens als auch zu motorischen oder geistigen Behinderungen.
Weitere Einschränkungen sind unter Blinden wahrscheinlich mindestens genauso verteilt wie unter Nichtbehinderten. Auch in dieser Personengruppe gibt es vermutlich fast alles, was auch in der "Normalbevölkerung" vorkommt.
Statistisch mag man deswegen vermuten, dass mehr als ein Drittel der Blinden und Sehbehinderten auch noch von anderen körperlichen oder geistigen Einschränkungen betroffen ist. In der Wahrnehmung der Selbsthilfe-Organisationen und auch bei vielen Betroffenen scheint diese Tatsache indes keine Rolle zu spielen.
Als mehrfach behinderter Blinder hat man es deshalb sehr schwer. Rücksicht auf die weiteren Behinderungen nehmen nur die wenigsten Zeitgenossen. Die Sehbeeinträchtigung überdeckt alles andere. Hier wären mehr Einfühlungsvermögen und weniger Ignoranz auch bei anderen Sehbehinderten und Blinden wünschenswert. Jedenfalls sollten sie ihren mehrfach behinderten Kollegen nicht die Ampeltöne, die Bordsteinkanten oder andere alltägliche Hilfen unter den Füßen und Ohren wegkürzen!
Notwendig ist zunächst eine Diskussion innerhalb der Selbsthilfe. Zweiter Schritt sollte dann die Aufklärung der Öffentlichkeit über die statistische Häufigkeit zusätzlicher Beeinträchtigungen bei Blinden und hochgradig Sehbehinderten sein.
Sollten die bestehenden Selbsthilfe-Organisationen nicht in der Lage sein, die Interessen ihrer mehrfach behinderten Mitgliedschaft angemessen zu vertreten, dann wäre diese Personengruppe wahrscheinlich zum Aufbau eigener Selbsthilfe-Strukturen gezwungen. Besser wäre allerdings eine wirkungsvolle Inklusion mehrfach behinderter Blinder und Sehbehinderter in die tägliche Vereinsarbeit. Behindertenfeindlichkeit von Behinderten oder auch nur Ignoranz gegenüber den Belangen anderer Behindertengruppen darf es nicht geben!