horus 2/2016

Titelblatt:

Horus 2/2016 trägt den Titel "Hörbar lebendig". Das Titelbild ist eine Kollage aus drei Bildern. Das erste Bild zeigt eine Szene aus der Zauberflöte, in der links eine Frau mit rosa gefärbten Haaren, einem weißen Kleid mit rosa Blumen und weißen Schuhen sowie rechts ein Darsteller mit buntem Feder-Kopfschmuck, weißem T-Shirt und einer löchrigen blauen Hose zu sehen ist, der eine Kugel in der Hand hält. Das zweite zeigt den Musiker Jens Flach auf der Bühne mit Sonnenbrille und das dritte Joana Zimmer während einer Lesung zu ihrem Buch „Blind Date“.

Inhaltsverzeichnis:

Vorangestellt

Uwe Boysen

Liebe Leserin, lieber Leser, liebe DVBS-Mitglieder,

Sich Gehör verschaffen, angehört oder erhört werden, unüberhörbar sein. Alles Vokabeln, die deutlich machen, wie wichtig das Gehör ist, und einer der Sinne, der für blinde und sehbehinderte Menschen eine ganz besondere Bedeutung hat.

Aber wie verschafft man sich Gehör und damit Aufmerksamkeit?

Die Möglichkeiten sind vielfältig, wie die ganz unterschiedlichen Beiträge in dieser Ausgabe uns zeigen. Da gibt es private Foren oder Bühnen, auf denen wir uns ausprobieren können, sei es das Theater, die Kleinkunstbühne oder ein Konzertsaal, von den modernen - angeblich so sozialen - Netzwerken gar nicht zu reden.

Aber auch in unserer täglichen Berufspraxis stehen wir häufig in der Öffentlichkeit und sind darauf angewiesen, dass wir gehört werden bei einem Vortrag, bei der Verteidigung einer Seminararbeit, vor der Schulklasse, in einer Besprechung mit Kolleginnen und Kollegen oder im Gerichtssaal. Nicht all diese Orte können wir in dieser Ausgabe besuchen. Aber es wird auch schon in unserer Auswahl deutlich, dass es sich lohnt, den Mut aufzubringen, sich Gehör zu verschaffen, sich aktiv in Hobbies oder berufliche Zusammenhänge einzubringen und sich nicht hinter dem sprichwörtlichen Ofen zu verstecken, der doch nicht mehr wärmt. Wenn einigen von Ihnen und Euch dieser horus dazu Mut macht, sich selbst auszuprobieren und die eigene Stimme vernehmlich zu erheben, dann hat er sein Ziel erreicht.

Das wünscht sich jedenfalls

Ihr und Euer

Uwe Boysen

Das Portraitbild zeigt Uwe Boysen mit hellen Haaren, Brille, weißem Hemd und rotem Sakko, der verschmitzt in die Kamera lächelt. Bildunterschrift: Uwe Boysen ist 1. Vorsitzender des DVBS. Foto: DVBS

In eigener Sache

Neu beim DVBS

Die Entscheidung für den DVBS fiel mir leicht: Hier in Marburg kann ich Sinnvolles leisten, hier kann ich mich mit den Anliegen einer Selbsthilfe-Organisation persönlich identifizieren. Gleich beim ersten Kontakt stand sofort für mich fest: Hier habe ich mein künftiges Themenfeld gefunden!

Ich, André Badouin, 42 Jahre alt und gebürtiger Kirchhainer (Hessen), hatte Ende 2015 beschlossen, mich beruflich und privat zu verändern. In den letzten knapp 15 Jahren hatte ich im Rhein-Main-Gebiet gelebt und gearbeitet. Ich war verantwortlicher Redakteur verschiedener Mitgliederzeitschriften der freien Wirtschaft, Pressesprecher der Automobilindustrie und eines Bundesverbandes für Logistik. Pressemitteilungen und Newsletter sind seither mein täglich Brot. Meine Erfahrungen aus einigen Semestern Jura-Studium hatten mir beim Start in das Berufsleben vor 15 Jahren sehr geholfen. Doch nun war die Zeit reif für einen Themenwechsel.

Ab den ersten Gesprächen im DVBS hat mich - als nur leicht Seheingeschränkter, der mit Anisometropie auf dem linken Auge noch gut Auto fährt - die unglaublich offene und herzliche Atmosphäre in der Geschäftsstelle beeindruckt. Die Zusammenarbeit im Verein, insbesondere mit dem DVBS-Vorstand, ist geprägt durch großen Sachverstand und großes Engagement, das ich bereits beim ersten Kennenlernen erfahren durfte.

In den ersten Wochen habe ich neben dem überaus spannenden neuen Themenumfeld bereits auch meine Kollegen näher kennen gelernt, die meine zahlreichen Fragen geduldig beantworten. Danke dafür! Einer Person gebührt an dieser Stelle noch mein besonderer Dank: Savo Ivanic, den horus-Leserinnen und Lesern spätestens seit horus 1/2016 bekannt. Er hat mir als überaus kompetenter Kollege die Einarbeitung und den Start erheblich erleichtert. Deshalb ein großes „Herzlichen Dank, lieber Savo!“ für Deine freundliche "Staffelübergabe" der horus-Redaktion.

horus 3/2016: "Punktschrift"

Das Schwerpunktthema der nächsten Ausgabe lautet "Punktschrift". Horus 3/2016 legt den Fokus auf die Entwicklung der Punktschrift (Braille), die eng mit ihrer Nutzung verbunden ist, etwa als Braillezeile am Computer. Doch wo liegen die Wünsche und Bedürfnisse der Anwenderinnen und Anwender und wie sieht die Zukunft der Punktschrift aus? Denn es wird zunehmend Späterblindete geben, bei denen die Sensorik der Fingerkuppen ein spätes Lernen der Blindenschrift erschwert. Wann nutzen Sehbehinderte die Punktschrift und hat die Punktschrift überhaupt noch eine Zukunft? Horus 3/2016 gibt Antworten auf diese Fragen.

Senden Sie uns Ihre Beiträge per E-Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Texte für den Schwerpunkt können bis zu 10.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) lang sein, allgemeine Berichte bis zu 4.000 Zeichen, kürzere Meldungen bitte nicht länger als 2.000 Zeichen. Redaktionsschluss ist der 8. Juli 2016.

Ihr und Euer

André Badouin

Das Portraitbild zeigt André Badouin, einen Herrn mittleren Alters mit dunklen, teilweise ergrauten Haaren, blauem Hemd, dunkelblauer Krawatte und schwarzem Jackett, der lächelnd in die Kamera blickt. Bildunterschrift: André Badouin ist der neue Öffentlichkeitsreferent und Pressesprecher des DVBS. Foto: DVBS

Schwerpunkt: "Hörbar lebendig"

Karen Thorstensen

Die Sichtbare

Der einzige Ort, an dem man als Blinder nicht als solcher auffällt, ist in der Gemeinschaft der Blinden. Wir sind zwar nicht alle gleich, aber die gemeinsame Erfahrung verbindet und wir müssen nicht ständig erklären. In unserer Gemeinschaft fühle ich mich wohl.

Die meiste Zeit meines Lebens war ich aber eher woanders zugange und ich falle manchmal mehr auf, als mir lieb ist. Wer jedoch eine Bühne betritt, will auffallen. Man stellt sich einem Publikum und weiß, dass man beobachtet und beurteilt wird. Wichtig ist die volle Aufmerksamkeit des Publikums und dass hinterher möglichst ein donnernder Applaus als Belohnung folgt.

In der Schule gehänselt, später gefeiert

Als Kind und Heranwachsende wurde ich - als hochgradig sehbehinderte Schülerin - an den jeweils für meinen Wohnort zuständigen Schulen heftig gemobbt. Ich war ein Außenseiter. Die Sehbehinderung sieht man meinen Augen sofort an und ich schämte mich so sehr dafür, dass ich mich am liebsten versteckt hätte. Stattdessen wanderte ich zum ersten Mal auf eine Bühne, als ich vierzehn Jahre alt war und gerade anfing, Gitarre zu spielen. Es war eine Schulfeier und ich sang „We shall overcome“. Es war vollkommen still im Saal, alle hörten andächtig zu und hinterher kamen große Jungs zu mir, die mich vorher nie eines Blickes gewürdigt hatten und erzählten, wie schön ich doch singen könnte. Die Musik machte mich zu einer anderen Person: Es gab da etwas, das ich wirklich gut konnte und bei dem die Sehbehinderung zweitrangig war. Klar wollte ich danach Profimusikerin werden, aber von etwas muss man schließlich leben und daher schien mir Sozialarbeit die solidere Variante zu sein. Dennoch machte ich während des Studiums mit meiner norwegischen Gruppe Musik und mit Nordostwind zusammen bin ich seit vielen Jahren unterwegs.

Der Kontakt mit Nordostwind überrascht manchmal

Der Ablauf bei Auftritten ist exakt geregelt: bevor es auf die Bühne geht, kommt man am Auftrittsort an, trifft sich mit dem Veranstalter und besichtigt den Ort des Geschehens, also den Raum und die Bühne. Häufig kennen uns die Veranstalter, weil sie über Kontakte von uns erfahren haben, aber mancher ist von unserer Band „Nordostwind“ - Wolfgang Vallentin, Richy Thorstensen und mir – überrascht, denn Wolfgang ist blind wie ich und Richy ist sehbehindert. Ich persönlich empfinde Menschen, die im kulturellen Bereich tätig sind, eher als offen und meistens recht vorurteilsfrei. Klar spüre ich hin und wieder eine gewisse Befangenheit, was zu tun und eher zu meiden ist, aber darüber können wir sprechen und dann klären sich die meisten Dinge. Wirkliche Probleme gab es nie, aber ich erinnere mich an einen Veranstalter, der mir nach dem Konzert beichtete, dass ihm bei unserem Anblick etwas Bange wurde, als er das „geballte Leid“ aus dem Bus aussteigen sah. Seine Befangenheit war spätestens nach dem zweiten Lied komplett verflogen.

Bühnen haben ihre Tücken

Der Auftrittsort muss, egal ob es sich um eine Freilichtbühne im Sommer, um einen Saal oder eine Kneipe handelt, genau erforscht werden. Sehende werfen einen Blick, wir erarbeiten uns ein Bild der Umgebung. Dann wird aufgebaut, die Instrumente werden aufgestellt und verkabelt. Es gibt einen Soundcheck und da wir eher akustisch spielen, ist dieser nicht besonders aufwändig. Bühnen können jedoch sehr unterschiedlich sein. Es gibt Säle, wo es schlichtweg keine Bühne, sondern einen Bereich für die Musiker gibt. Ebenso gibt es Bühnen, die keine Treppe haben und so hoch sind, dass das Erklimmen der schrägen Bretter eher einer sportlichen Höchstleistung gleicht. Bei einer Bühne, die so aussieht, kann ein Rock zum fatalen Verhängnis werden! Ich finde, dass solche Bühnen nicht wirklich würdevoll bestiegen werden können und bin immer froh, wenn es Treppen gibt. Ich glaube, dass wir meistens gut vorbereitet sind, aber in manchen Fällen muss improvisiert werden. So erinnere ich mich an einen Auftritt, bei dem Wolfgangs Keyboard mangels Tisch und Instrumentenständer auf einem Stapel leerer Bierkästen Platz finden musste. Das sah ziemlich lustig aus!

Der Look ist entscheidend

Eine weitere Voraussetzung: benötigte Örtlichkeiten muss man auch finden. Wenn man etwa in einem Theater spielt, gibt es Garderoben genau hinter der Bühne, aber wie oft spielt man in Theatern? Ein Traumzustand, weil als Umkleiden ansonsten mehr oder weniger öffentliche Toiletten herhalten müssen. Dort kann jederzeit die Tür aufgerissen werden, es ist meistens eng und es existieren keine Ablagen. Auch die Bekleidung spielt eine große Rolle: ich weiß genau, dass das Publikum, aber auch die Veranstalter unser Aussehen genauestens unter die Lupe nehmen. Und mir ist es wichtig, dass wir gute Vertreter der Blinden und Sehbehinderten sind. Man soll sich an uns erinnern, weil wir eine Klasseleistung geboten, und nicht weil wir schäbige, unpassende Kleidung getragen haben. Ich trage - trotz meiner nicht schönen Augen - keine dunkle Brille. Ausnahmen mache ich, wenn wir draußen spielen und uns die Sonne entgegensteht. Dann hat die Brille aber keine Versteck-, sondern eine Schutzfunktion. Ich bin eben wie ich bin. Und ich meine, dass das Publikum damit gut umgehen kann, denn schließlich ist die Musik wichtig. In manchen Fällen bin ich bei meinen Vorbereitungen auch auf Hilfe angewiesen. Denn es gilt, vor dem Auftritt die stressige Suche nach den Umkleideräumen und Ähnlichem zu vermeiden. Wenn die Kommunikation nicht richtig funktioniert, verpasst man so auch schon mal das leckere Catering, das für die Musiker von Festivals arrangiert wurde. Und das nur, weil es uns eben keiner gesagt hatte. Schade, aber hungrige Künstler sind gute Künstler!

Eine gute Stimmung ist wichtig

Da wir auf der Bühne ruhig stehen, sind herumliegende Kabel kein Problem. Wolfgang sitzt hinter seinem Keyboard, Richy steht meistens für den Betrachter links und ich bin in der Mitte. Um mich herum und zwischen Richy und mir stehen viele verschiedene Instrumente, die wir abwechselnd spielen. Da muss immer Ordnung herrschen, denn während des Auftritts kann ich nicht nach Instrumenten suchen. Das Publikum würde dann verständlicherweise mit Beklommenheit reagieren. Wenn etwas nicht sofort auffindbar ist, mache ich meistens eine lustige Bemerkung über die unpraktische Blindheit. Das lockert die Stimmung auf und ich habe einen positiven Kontakt mit den Zuhörern. Die wissen nämlich genau, dass wir anders sind und einige fühlen sicher auch anfängliche Befangenheit. Für mich ist es immer wunderbar, wenn ich sie zum Lachen bringen kann, denn dann sind wir auf einer Welle und sie fühlen sich wohl. Manchmal gibt es besonders liebe Konzertbesucher, so wie bei einem Auftritt in einer Kirche in Berlin: Ich fand meine kleine Flöte nicht und ein Mann aus einer der hinteren Bänke brüllte: „Links, noch mehr links, da isse!“ Ich bedankte mich artig mit einem Lächeln bei ihm.

Musik mit einem Hund?

Neulich waren wir mit der S-Bahn auf dem Weg zum Auftritt mit Instrumenten sowie meinem Führhund. Da fragte mich eine Frau, wie ich mit dem Hund Musik machen könne. Diese Frage gab mir wirklich Rätsel auf. Dann begriff ich, dass die eigentliche Frage war, wie ich als Blinde Musik machen kann. Womit wir also beim Blindenbonus angekommen waren. Diesen etwas problematischen Bonus gibt es leider. Dafür können wir nichts, sondern es liegt an den immer noch massiven Vorurteilen in der Bevölkerung. Man kann noch so oft verkünden, dass Blinde alles bis auf Mondfahrten gemeistert haben, aber es wird häufig nicht geglaubt. Da die Erwartungshaltung niedriger ist, sind die Überraschung und das Staunen noch größer, wenn die Leistung dann richtig gut ist und sie die Behinderung vergessen lässt.

„Wir müssen halt auswendig lernen.“

Vor blindem Publikum gestaltet sich die Lage freilich anders. Oft befinden sich mehrere Menschen mit absolutem Gehör im Saal. Die Folge: es gibt keine Gnade. Das Publikum bei „normalen“ Konzerten hört selten Patzer; da muss man schon fette Fehler machen. Vergisst der Kollege also seinen Text, merkt das aufmerksamste Publikum keinen Fehler, wenn ich plötzlich für ihn weitersinge und er später wieder übernimmt. Es sei denn, es sind echte Groupies, die uns zigmal gehört haben. Wie berechtigt ist denn der Blindenbonus? Einige Vorteile haben sehende Musiker dann aber doch. Sie können beispielsweise Texte bereithalten, die sie unauffällig während des Singens lesen. Die meisten von uns müssen auswendig lernen und wenn plötzlich der Text weg ist, wird es problematisch. Auch können sehende Musiker Noten lesen. Unsereins hingegen muss auswendig lernen und wenn uns etwas nicht einfällt, ist improvisieren an der Tagesordnung. Danebenhauen aber kann jeder - auch die Sehenden. Beispielsweise verstimmen die Instrumente der Sehenden genauso wie unsere. Und schlichtweg schief singen kann auch jeder, egal ob sehend oder blind.

„Auf der Bühne bin ich wirklich ich.“

In der Pause oder nach dem Auftritt gibt es den direkten Kontakt mit dem Publikum. Das sind die Momente, in denen ich meine Blindheit am meisten fühle. Sie suchen, so ist mein Eindruck, am liebsten Richy auf, weil er mit ihnen Blickkontakt aufnehmen kann und deshalb die Befangenheit nicht so stark ist. Ich bin außerhalb der Bühne eher schüchtern. Wenn es aber klappt, ist das Gespräch mit den Konzertbesuchern sehr schön. Und dann gibt es die Presse, über deren Anwesenheit sich jeder Musiker und jeder Veranstalter freut. Journalisten jedoch sind häufig Menschen, die kaum Zeit haben. Sie stellen Fragen, deren Antworten auf dem Weg von ihren Notizen in den PC verschollen sind und sie dichten einem einen teilweisen neuen Lebenslauf an. Wenn sie richtig gut sind, wimmelt es von „blinden Musikern“ in dem Text. Nun, zum Glück gibt es auch andere, die sich Zeit für unsere Musik nehmen und die darüber berichten, ohne das Wort „blind“ aus dem PC zu holen. Und von allen Orten und Zusammenhängen, in denen ich auffalle und besonders sichtbar bin, ist mir die Bühne am Liebsten, denn dort bin ich auch wirklich ich.

Zur Autorin:

Karen Thorstensen ist Vorsitzende des Vereins „Liederleute e.V.“, spielt Saiteninstrumente, Quer- sowie Blockflöte und singt.

Der Beitrag enthält zwei Fotos. Auf dem ersten, einem Portraitfoto, lächelt die rothaarige Karen Thorstensen, mit Brille und einem grünen Pullover bekleidet, in die Kamera. Bildunterschrift: Karen Thorstensen hat auf der Bühne ihre Berufung gefunden. Foto: privat

Auf dem zweiten Foto steht die Band Nordostwind auf der Bühne. Links der Gitarrist mit Vollbart, Brille, blauem Hemd und Jeans, in der Mitte die Sängerin am Mikro mit einer schwarz-weiß-roten Bluse und schwarzer Hose und rechts der sitzende Keyboarder mit blauem Hemd und schwarzer Hose. Bildunterschrift: Die Coverband Nordostwind in Aktion. Foto: privat

Katharina Hohnsbehn

Die armen Sehenden

Theater für Blinde und Sehbehinderte – ein Selbstversuch

Als ich vor knapp einem Jahr meine Stelle als Vertriebsreferentin am Theater Bielefeld antrat, wusste ich zwar, dass Inklusionsangebote hier ein wichtiges Thema sind. Wie viele unterschiedliche Mittel und Wege es aber gibt, die Barrieren für Menschen mit Behinderungen bei ihrem Theaterbesuch zu verringern, überraschte mich dann doch. Besonders die Audiodeskription für Blinde und Sehbehinderte, bei der diese während ausgewählter Vorstellungen über einen Kopfhörer eine Live-Beschreibung durch die Produktionsdramaturgen erhalten können, war für mich spannend. Wie kann man das Medium Theater, das neben seiner akustischen Komponente hauptsächlich visuell arbeitet, einer nicht sehenden Person veranschaulichen? Was gibt es zu beachten und wo entstehen eventuelle Hindernisse und Grenzen bei unserem Angebot? All das wollte ich in einem Selbstversuch herausfinden, indem ich als eigentlich sehende Person (abgesehen von meiner Kurzsichtigkeit) an der Audiodeskription zur Oper „Die Zauberflöte“ teilgenommen habe.

Der Versuch beginnt

Die Einführung, die vor den Vorstellungen mit Audiodeskription traditionell in unserer Theaterlounge stattfindet, ist sehr gut besucht. 11 unserer 13 Audiodeskriptionsgeräte, die im Vorfeld kostenlos reserviert werden können, sind ausgeliehen, Nummer 12 geht an mich. Es ist zwar nicht gerade kleidsam, aber zweckmäßig, was in diesem Fall die Hauptsache ist. Inklusive Begleitpersonen ist die Theaterlounge bis auf den letzten Platz besetzt. Bei einer der erfolgreichsten Opern der Welt ist dieser Andrang nicht verwunderlich. Die Einführung hält mein Kollege Dr. Daniel Westen, Dramaturg für Musiktheater und Konzert, der auch die anschließende Audiodeskription von der Tonkabine aus übernehmen wird. Da er die Produktion begleitet hat, kann er als Experte für die Inszenierung im Vorfeld nicht nur Grundsätzliches zur Oper und ihrer Handlung berichten, sondern auch grundlegende Informationen zum Bühnenbild geben: Welche Farben und Formen dominieren, wie wird sich die Bühne im Verlauf der Vorstellung verändern und vor allem: Warum machen wir das alles so?

Tief beeindruckt von der Beschreibung

Leider ist einer der Hauptdarsteller erkrankt und muss die Vorstellung mit einer fiebrigen Erkältung bestreiten. Deshalb mache ich eine Ansage auf der Bühne, um das Publikum über die Einschränkung zu informieren. Damit löst sich auch gleich die Frage, wie ich die Vorstellung so realistisch wie möglich als »Blinde« erleben kann und nicht der Versuchung erliege, doch auf das Bühnengeschehen zu blicken. Ich bleibe nach der Ansage im Foyer und lausche der Vorstellung von dort aus. Von dem, was ich nun in den nächsten Stunden zu hören bekomme, bin ich tief beeindruckt: Die Beschreibungen meines Kollegen decken sich sehr genau mit dem, was ich aus meinen Vorstellungsbesuchen optisch in Erinnerung habe, er formuliert kurz und präzise, was auf der Bühne zu sehen ist und geht, wenn es nötig ist, auf Bühnenbild, Videoprojektionen und die Kostüme der Darsteller ein. Bei dieser Audiodeskription gibt es kein Skript und keine Notizen, Daniel Westen schildert die optischen Eindrücke eins zu eins, wie er mir vorher erklärt hat. „Das ist sehr praktisch, weil man sofort reagieren kann, wenn mal jemand etwas anders macht als sonst“, sagt er. Vor allem macht es die Audiodeskription sehr lebendig und an manchen Stellen kann der Kollege sich einen kleinen Kommentar nicht verkneifen. Trotzdem bleibt das Motto: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“, um den Teilnehmern die Gelegenheit zu geben, die Musik zu genießen. Zudem hat man jederzeit die Möglichkeit, den Audiokommentar abzuschalten und sich später wieder einzuklinken, ohne danach völlig verloren zu sein. Unverzichtbar ist der Audiokommentar natürlich an Stellen, an denen sich Komik nur visuell transportiert, wenn z. B. Tamino eine dankende Geste an die Flötistin im Orchestergraben richtet.

Die Vorstellung erfüllt nahezu komplett die Erwartungen

Nach knapp 3 Stunden ist die Vorstellung beendet, Daniel Westen erklärt noch die Applausordnung, damit die Teilnehmer wissen, wem der frenetische Jubel gilt. Nachdem ich die Vorstellung nun sowohl optisch als auch rein akustisch erlebt habe, bin ich der Meinung, dass dem Publikum, das an der Audiodeskription teilgenommen hat, so gut wie nichts entgangen ist. Meine Erwartungen sind interessanterweise fast vollends erfüllt worden. Trotzdem hat dieser besondere Theaterbesuch mein Gespür dafür geschärft, welche sonst so selbstverständlichen Dinge für eine nicht sehende Person besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Wenn man hierauf Rücksicht nimmt, kann das Theater auch ohne seine optischen Eindrücke eine enorme Kraft entwickeln.

Den Sehenden einen Schritt voraus

Beim anschließenden Nachgespräch sind sich fast alle einig: Der Live-Kommentar während der Aufführung ist nicht nur hilfreich, manchmal fühlt man sich den Sehenden sogar einen Schritt voraus. „Die Musik ist ohnehin das Wichtigste“, schwärmt eine Teilnehmerin. Die Fragen, die dem Dramaturgen nun gestellt werden, sind nicht der Tatsache geschuldet, dass die Teilnehmer der Audiodeskription das Stück visuell nicht erfassen konnten; es sind meist Verständnisfragen zur Inszenierung, die eine sehende Person genauso hätte stellen können. Eine junge Frau in der Runde merkt zufrieden an: „Es ist wirklich toll, dass es am Theater Bielefeld eine Audiodeskription gibt. Manchmal denke ich mir: Die armen Sehenden!“

Auch in der kommenden Spielzeit wird das Theater Bielefeld einige Vorstellungen mit Audiodeskription anbieten. Die Termine werden zeitnah unter folgendem Link veröffentlicht: http://www.theater-bielefeld.de/besucherservice/barrierefreiheit/

Zur Autorin:

Katharina Hohnsbehn ist Vertriebsreferentin am Theater Bielefeld und probierte als Sehende bei der Vorstellung der „Zauberflöte“ die Audiodeskription aus.

Der Beitrag enthält zwei Fotos. Auf dem Eingangsfoto ist - bei einer Aufführung der Zauberflöte - links eine Frau mit rosa gefärbten Haaren, einem weißen Kleid mit rosa Blumen und weißen Schuhen sowie rechts ein Darsteller mit buntem Feder-Kopfschmuck, weißem T-Shirt und einer löchrigen blauen Hose zu sehen, der eine Kugel in der Hand hält. Bildunterschrift: Im Theater in Bielefeld wird bei zahlreichen Vorführungen Audiodeskription mit angeboten. Foto: Bettina Stöß/Theater Bielefeld

Das zweite Foto zeigt einen Audiodeskriptionsempfänger mit dazugehörigem Kopfhörer von Sennheiser auf einer dunklen Holzplatte. Bildunterschrift: Mittels Audiodeskription ist eine verbesserte Wahrnehmung von visuellen Vorgängen möglich. Foto: Theater Bielefeld

Jens Flach

„Mist, wo ist mein Plektrum hingefallen?“ oder
„I still haven’t found what I’m looking for“

Es ist wahrscheinlich sehr lange her, dass Bono, Ray Charles und Andrea Bocelli in kleinen, verräucherten Kneipen oder bei Vereins- und Firmenfeiern auf der Bühne standen; falls das überhaupt jemals geschehen ist. Als musikalische Verbindung zu mir kann ich also nur anführen, dass sich zwei Songs von U2 im Repertoire meiner Cover-Band Warehouse befinden. Und dann eint uns noch eine Sache: das Glaukom. Eine Augenerkrankung, die u.a. durch einen erhöhten Augeninnendruck den Sehnerv zerstört. Doch genau wie der musikalische Erfolg können die Sehbeeinträchtigungen dabei sehr ungerecht verteilt sein. Während Bono mutmaßlich mit einer Tropfentherapie und einer Sonnenbrille über die Bühne rockt, nimmt mein Glaukom eher Bocelli’sche Ausmaße an, was mich aber nicht davon abhält, auf das für einen Rockmusiker äußerst kleidsame Verschattungsaccessoire zu verzichten.

Sonnenbrille hin oder her, als Blinder in der Öffentlichkeit Musik zu machen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom Musizieren mit Sehvermögen. Man fällt einfach auf, was ja nicht per se schlecht ist, wenn man seinem Tun Gehör verschaffen möchte. Doch was bedeutet es genau für einen Blinden, Musiker zu sein? Oder anders gefragt: Was bedeutet es für einen Musiker, blind zu sein?

Was daran besonders ist…

Als Blinder Musik zu machen scheint die natürlichste Sache der Welt – ja, fast eine Notwendigkeit – zu sein. Ich merke, wie diese Außenwahrnehmung schon auf mich abgefärbt hat, obwohl ich selbstverständlich weiß, dass nicht jeder einzelne blinde Mensch einen Zugang zur Welt der Musik hat. Schließlich gehen auch nicht alle Sehenden unter die Maler. Dennoch scheint mir die Konzentration auf die auditive Wahrnehmung Musikalität, oder zumindest die Freude, an Musik zu begünstigen, und so fielen auch meine ersten musikalischen Bemühungen an der blista auf fruchtbaren Boden. Dort traf ich Menschen, die nicht nur musikalisch mit mir auf einer Wellenlänge lagen, sondern mit denen ich auch tatsächlich die Zeit verbringen wollte. Zeit für gemeinsame musikalische Ideen und Projekte.

Musik ist für mich ein Mannschaftssport und diese Einstellung hat sich für mich im Laufe der Jahre in punkto Inklusion bezahlt gemacht. Musik hat mir die Türen geöffnet, in Bands und Projekten zu spielen, deren sehende Mitglieder in vielen Fällen gute Freunde geworden sind. Sie bringt mich aber auch an Orte, die ich ansonsten nie bereist, und zu Menschen, die ich nie kennen gelernt hätte. Weil sie für mich ein Anreiz ist, die durch Gewohnheit barrierearm gewordenen Pfade zu verlassen. Und sie ist überdies eine Möglichkeit, das Eis zu brechen, wenn wiedermal die Hemmungen zu groß sind, ungezwungen Kontakt mit „dem Blinden“ aufzunehmen. Ich hoffe, damit einen Beitrag für die von beiden Seiten gedachte Inklusion leisten zu können. Denn ich profitiere nicht nur selbst davon, mit Sehenden zu musizieren, sondern wir wollen als Band auch dem Publikum zeigen, dass es für uns als Gruppe egal ist, ob der Keyboarder und Gitarrist etwas auf der anderen Seite der Sonnenbrille erkennt oder nicht.

Was das praktisch bedeutet…

Fernab von diesen eher abstrakten Überlegungen, möchte ich aber nicht leugnen, dass meine Blindheit die Musik und das Drumherum natürlich auch ganz praktisch beeinflusst: „Mist, wo ist mein Plektrum hingefallen?“, „Was steht denn jetzt schon wieder auf dem Keyboard-Display?“ und „Wo sind denn in diesem Laden die Toiletten?“ sind Fragen, für deren Beantwortung ich gerne meine Bandkollegen zu Rate ziehe. Sie ertragen dies geduldig und nehmen es auch jedes Mal hin, dass ich für die nächtliche Rückfahrt nicht als Fahrer zur Verfügung stehe. Für andere Aufgaben haben wir jedoch Win-Win-Lösungen gefunden. Beispielsweise beim Auf- und Abbauen bin ich gerne vorne mit dabei, wenn es darum geht, die unverschämt großen Teile des Equipments zu schleppen, die man zu zweit tragen muss. Das schont den Rücken der anderen und ich habe gleichzeitig einen Guide durch unbekanntes Gelände. Nicht zuletzt gibt es da noch die unzähligen Aufgaben in einer Band, die dem Publikum meistens verborgen bleiben: die Vorbereitung neuer Stücke, Verwaltungsaufgaben, Korrespondenz, Werbung, etc. Diese lassen sich mit den einschlägigen Hilfsmitteln vergleichsweise problemlos bewältigen.

Was auf der Bühne geht – und was nicht…

Auf der Bühne laufen selbstverständlich auch einige Dinge anders, die aber vermutlich nur auffallen, wenn man sich näher damit befasst. So ist das Keyboard auf seinem Stativ ein Fixpunkt, an dem ich Mikrofon, Fußpedale und Gitarrenstativ immer gleich ausrichte, um mir Orientierung zu verschaffen. Damit ist auch klar, dass ich nicht der Typ für waghalsige Tanzeinlagen kreuz und quer über die Bühne bin.

Den Blickkontakt zu den Zuschauern ersticke ich mit der Sonnenbrille und überlasse ihn lieber den Anderen, was meine Chancen auf neue Telefonnummern von weiblichen Fans drastisch sinken lässt. Aber auch die bandinterne Kommunikation auf der Bühne läuft ob der Lautstärke für gewöhnlich ebenfalls über Blicke. So ist dies natürlich auch bei meinen Mitmusikern, um z. B. einen Ritardando-Schluss anzukündigen. Und ich? Die individuelle Art meiner Bandkollegen zu spielen ist mir mittlerweile so vertraut, dass ich höre, was sie als Nächstes vorhaben und wir uns sozusagen blind verstehen.

Viel augenscheinlicher und oft nachgefragt ist da die Sache mit den Noten. Ich genieße diesbezüglich den Umstand, dass es in der Rockmusik uncool ist, nach Noten zu spielen und die Komplexität der Stücke meine geistigen Fähigkeiten bislang nicht überfordert hat. Daher kann ich getrost auf die Notenpunktschrift verzichten, für die ich ohnehin eine dritte Hand zum Lesen bräuchte. Im Gegenteil sehe ich hier sogar Vorteile für unsere Musik, da das jahrelange Training des Spielens nach Gehör und Gefühl mir auf der Bühne mehr Flexibilität und Kreativität bewahrt.

Was am Ende bleibt…

Flexibilität und Kreativität fehlen mir wiederum, sobald ich mein keyboardzentrisches Bühnenrefugium verlasse und mich in den Pausen oder nach dem Auftritt durch das große Unbekannte bewegen muss. Ich bin in diesen Momenten immer dankbar, dass ich nicht Alleinunterhalter bin und ich Bandkollegen bei mir habe, auf die ich mich verlassen kann. Jeder Veranstaltungsort ist anders und oft herrscht ein unsägliches Getöse, was die Orientierung nicht erleichtert.

All diese Dinge plagen Bono und Bocelli sicher nicht, da die Bühne bei ihrem Erscheinen stets fertig angerichtet ist, die Roadies jederzeit als Handlanger bereitstehen und der Backstage-Bereich mit Ruhe lockt. Wirklicher Neid kommt dennoch nicht bei mir auf, denn die Musik – die inklusivste aller Mannschaftssportarten – lebt für meine Begriffe vom gemeinsamen bewältigen aller Herausforderungen zwischen Buchung und dem nächtlichen Schleppen des über den Abend auf wundersame Weise schwerer gewordenen Equipments zurück in den Proberaum. Bei allen Unwägbarkeiten und der zusätzlichen Energie, die ich sehbehinderungsbedingt in viele Aktivitäten stecken muss, freue ich mich immer wieder über das, was wir auf die Beine gestellt haben, wenn die Sonnenbrille endlich morgens um vier in der Schublade verschwinden kann.

Zum Autor

Jens Flach war bis 2001 Schüler der blista und ist mittlerweile als Lehrer für Englisch und Ethik zurückgekehrt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Marburg. In seiner Freizeit engagiert er sich neben seinen musikalischen Projekten auch als stellvertretender Vorstandsvorsitzender im Bundesverband Glaukom-Selbsthilfe e.V. Mit der Coverband Warehouse ist er am 02.07. anlässlich des Louis Braille Festivals live zu erleben. Nähere Infos und weitere Termine gibt es auf www.warehouse-band.de

Auf dem zum Beitrag gehörenden Bild ist ein Gitarrist mit schwarzer Sonnenbrille am Mikro vor einem Keyboard stehend während eines Auftritts bei dunkler Beleuchtung zu erkennen. Bildunterschrift: Jens Flach tritt mit der Coverband Warehouse auch auf dem Louis Braille Festival im Juli auf. Foto: Manfred Schmitt

Birthe Klementowski

„Musik war immer mein Anker“

Jelena Nass ist Schülerin der Carl-Strehl-Schule und bereitet sich derzeit auf die Abiturprüfungen vor. Seit ihrer Kindheit singt sie und spielt Gitarre. Vor ein paar Jahren unterschrieb sie bei einem Label einen Künstlervertrag und arbeitet seitdem an ihrem ersten Album. In diesem Interview erzählt sie mehr über ihre Leidenschaft zur Musik und über ihre Zukunftspläne. Birthe Klementowski führte das Interview mit ihr.

Jelena, stell` dich doch bitte kurz vor.

Mein Name ist Jelena Nass, ich bin 19 Jahre alt, komme aus Wittmund in Ostfriesland und bin dort bis zur 11. Klasse auf eine Regelschule gegangen. An die blista bin ich gekommen, weil ich an meiner früheren Schule kein Musikabitur machen konnte und es dort sehr stressig für mich war: Große Klassen, die Lehrinhalte wurden für mich nie passend aufbereitet und es gab Mobbing. Es gab immer denselben Stress mit den Lehrern. Die haben oft vergessen, mir Großkopien zu erstellen oder Dateien auf einem USB-Stick bereitzustellen. Also wurde der Druck auf mich immer größer, weil ich oft schwer hinterherkam.

Welche Einschränkungen hast du beim Sehen?

Ich habe Albinismus und damit einhergehend eine Sehschwäche. Bei mir liegt die Sehkraft bei ungefähr 10 Prozent. Bei Albinismus hat man außerdem kein dreidimensionales Sehen. Das heißt, ich kann nicht einschätzen, wie weit die Dinge von mir entfernt sind und verwechsle das öfter. Die Regelschule war schon immer sehr beschwerlich und ich habe mir gesagt: „Ich will das eigentlich nicht und kann es auch nicht.“ Eine Freundin von mir ist dann an die blista gegangen und dadurch war für mich klar, dass ich auch hierher gehe.

Wie waren deine Erfahrungen an Regelschulen? Du hast Mobbing erwähnt und Leistungsdruck. Wurde es mit der Zeit schlimmer?

Ganz am Anfang in der Grundschule war es noch OK. Dann ab der 5. Klasse wurde es einfach nur noch stressig. Die Schule hatte etwa 800 Schülerinnen und Schüler. Das Erste, an das ich mich erinnere, war, als ich am ersten Schultag in den Klassenraum kam und die Blicke der anderen gespürt habe. Die wussten ja, dass eine Behinderte in die Schule kommt und eines der ersten Worte, das ich gehört habe, war tatsächlich „Missgeburt“. Das war schon ziemlich krass.

Wie hast du dein Interesse für Musik entdeckt? Kam das durch die Schule?

Musik gemacht habe ich schon als kleines Kind. Da habe ich Klavier gespielt. Gitarre habe ich mir ungefähr mit 12 Jahren selbst beigebracht. Musik war immer mein Anker. Ich konnte in mich zurückgehen und machen, wozu ich Lust hatte, ohne dass jemand etwas dagegen sagte. Ich hatte auch mal Gitarrenunterricht, aber den habe ich schnell wieder verworfen, weil er einfach auf Sehende ausgerichtet war. An der Regelschule hatte ich zuletzt einen Musiklehrer, der mich in dem bestätigt hat, was ich konnte und da gefördert hat, wo ich es brauchte.

Du hast dir Gitarre spielen selbst beigebracht. Wie kann man sich das vorstellen? Hast du nach Gehör gearbeitet?

Erst habe ich tatsächlich nach Gehör gelernt, bis ich im Internet gesehen habe, dass man dort viele Akkorde runterladen kann. Dadurch habe ich viele Lieder eingeübt. Heutzutage kann man eigentlich alle Lieder über vier Akkorde spielen.

Wie hat sich dieses Hobby für dich weiterentwickelt?

Ich hatte damals eine Band. Wir hießen „Pirates of Doom“ und machten eine Mischung aus Rock, Symphonic und atmosphärischen Elementen. Das war noch auf der Regelschule. Wir waren nicht sehr beliebt, vielleicht wegen der eigenartigen Musik, vielleicht auch, weil ich in der Band war. Wenn man ständig gesagt bekommt, man sei scheiße, dann glaubt man das irgendwann. Wir haben es trotzdem probiert, eigene Songs geschrieben und durch diverse Auftritte wurden wir lokal bekannter und bekamen immer mehr Zuspruch. Meine Bandkollegen wollten sich aber irgendwann zurückziehen, während ich weiter nach vorne kommen wollte und so habe ich begonnen, alleine Auftritte zu geben unter dem Namen „Yelena“.

Und dann kamst du an die blista. Wie hast du neue Kontakte an der blista knüpfen können?

Das war für mich nie ein Problem. Ich habe schnell neue Freunde gefunden und habe auch außerhalb der blista durchs Musikmachen neue Leute kennen gelernt, mit denen ich mich gut verstehe. Ich bin zum Beispiel auch in der Abiband. Hier an der blista haben wir thematisch verlagerten Musikunterricht. Wir machen Gehörbildung und spielen viel auf Instrumenten. Das ist schon was anderes als auf der Regelschule.

Du trittst im Rahmen von blista-Veranstaltungen öfter mal auf. Neulich hast du erwähnt, dass du bald ein eigenes Album rausbringst.

Ja, ich mache zwar derzeit noch mein Abi und habe deswegen momentan wenig Zeit dafür. Aber ich habe ein Label gefunden, was mich fördert und wir arbeiten seit zwei Jahren an dem Album. Das Label sitzt in Berlin und heißt „4audience“. Ich nehme etwas auf und schicke das an meinen Produzenten. Er macht aus meinen Fragmenten einen Song und schickt ihn mir zurück, damit ich dazu singen kann. Es ist recht kompliziert.

Wie bist du zu deinem Label gekommen?

Ich hatte mit „Pirates of Doom“ einen Auftritt bei einem Band-Contest. Da waren auch zwei Rapper, die uns gut fanden und was mit uns zusammen machen wollten. Mit der Band kam es dazu nicht mehr. Irgendwann dann, als ich alleine aufgetreten bin, habe ich einen der Rapper angeschrieben und gefragt, was er gerade musikalisch macht. Er erzählte mir, dass er bei „4audience“ unter Vertrag genommen worden sei. Da war ich schon hier an der blista in der 11. Klasse. Eine Nacht, bevor wir unsere Klassenfahrt nach Berlin machten, rief er mich an und erzählte, er habe seinem Produzenten etwas von mir vorgespielt. Der war begeistert und dann in Berlin durfte ich etwas vorspielen. Er machte mit mir einen Vertrag für eine Single. Die Single heißt „Alive“ und wurde professionell mit Videodreh produziert. Auf YouTube kann das Video unter „Yelena – Alive“ abgerufen werden. Das Ganze bekam so viel Zuspruch, dass für mich ein Künstlervertrag folgte.

Wie hast du dich mit diesem Erfolg gefühlt?

Einfach großartig! Es kam alles so schnell und es war genau das, was ich immer wollte: Durch meine Musik etwas mitzuteilen und zeigen, was ich kann - gerade, weil ich immer so viel niedergemacht wurde. Ich möchte einfach auch zeigen: Hey Leute! Darauf habt ihr nicht geachtet. Ich bin jemand und kann was werden.

Was ist die Inspiration für Deine Texte?

Inspiration bekomme ich durch meine eigenen Erfahrungen. Am besten kann ich tatsächlich schreiben, wenn es mir schlecht geht. Da fließt die Kreativität einfach mehr und ich versuche, mich gedanklich wieder aufzubauen. Dann entstehen meist positive Songs. Inspiration bekomme ich auch von unabhängigen, kleinen Künstlern. Ich weiß, wie schwer sie es haben und dadurch, dass sie trotzdem weitermachen mit ihrer Musik, gibt mir das Mut. Zum Beispiel Johannes Oerding, der hat auch klein angefangen und ist nun ein bekannter Künstler. Er inspiriert mich auch mit seiner Musik.

Inwiefern findest du, trifft „Hörbar lebendig“ auf dich zu und wie findest du diese Wortkombination?

Sie gefällt mir total gut. Man kann nicht nur etwas lebendig machen durch Bilder. Die Stimme alleine kann sehr viele Emotionen ausdrücken ohne Worte. Man muss es auch nicht sehen. In einem dunklen Raum Musik hören und sie projiziert eine bestimmte Stimmung auf einen. Hörbar lebendig ist für mich: Ich fühle mich durch Musik lebendig! Musik ist Leben.

Meine letzte Frage: Was wünschst du dir für deine Zukunft?

Ich wünsche mir, dass die Menschen offener werden, mehr Miteinander und weniger Vorurteile. Ich hoffe, dass ich nach meinem Abi eine Ausbildung als Veranstaltungskauffrau beginnen kann und dass ich mit meiner Musik noch weiterkomme und damit vielen Menschen etwas Schönes geben, vielleicht sogar etwas bewegen kann.

Zur Künstlerin

Jelena Nass ist angehende Abiturientin der Carl-Strehl-Schule und leidenschaftliche Musikerin.

Zur Autorin

Die Journalistin Birthe Klementowski ist Mitglied der horus-Redaktion und Mitarbeiterin der blista-Öffentlichkeitsarbeit.

Auf dem Foto zum Beitrag ist eine junge Frau mit Hut, blonden Haaren sowie einer dunklen Haarsträhne, rot-schwarz-gestreiftem Hemd, Armreifen, Armbändern und einer schwarzen Hose zu sehen. Sie sitzt in einem grün-grau-gestreiften Strandkorb. Bildunterschrift: Jelena Nass tritt unter dem Künstlernamen „Yelena“ auf. Foto: privat

Dr. Imke Troltenier

Inklusiv, interaktiv und hörbar lebendig: Die Ausstellung blick:punkte im Marburger Landgrafenschloss

Die Ausstellung blick:punkte verspricht ein wohl bislang deutschlandweit einmaliges Ausstellungserlebnis: Sie ist inklusiv, interaktiv und hörbar lebendig. Zugänglich und barrierefrei erzählt sie von der Entwicklung der blista inmitten der Universitätsstadt Marburg. Es geht um die Gründung im Ersten Weltkrieg, das Naziregime, eine Zeit unmenschlicher Verbrechen, es geht um Mythen, Macher, die stürmische Zeit des Aufbruchs… Und um Exponate zum Anfassen und Ausprobieren, die Entdeckung immer neuer Möglichkeiten für ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben: Bücher, die für Blinde lesbar werden, Apps, die Farben erkennen, Computer, die sprechen - zugleich geht es um das Hier und Jetzt, das gesellschaftliche Miteinander von blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen.

Die Ausstellung im Marburger Landgrafenschloss wird als Gemeinschaftsprojekt der blista und der Stadt, dank Unterstützung der Philipps-Universität, der Agentur ConCultura und der Förderung durch Aktion Mensch zum Internationalen Museumstag am 22. Mai 2016 von Staatsminister Boris Rhein eröffnet. Sie lädt die Marburger Bürgerinnen und Bürger und zugleich die vielen großen und kleinen touristischen Besucher, Schulklassen sowie Studenten aus aller Welt dazu ein, sich mit den spannenden Fragen unserer visuellen Welt auseinanderzusetzen, sie mit Ohren und Fingern wahrzunehmen und das Leben in der Gemeinschaft mit anderen Augen zu betrachten. Wie verliebt man sich, wenn man nichts sieht? Wie träumen Kinder, die das Licht der Welt nicht kennen? Was bedeuten eigentlich diese Knubbelpunkte im Oberstadtaufzug? Warum heißt die blista „Blindenstudienanstalt“? Warum gibt es sie überhaupt? Wie sieht die Berufswelt blinder und sehbehinderter Menschen aus? Und warum ist gut gemeinte Hilfe manchmal alles andere als das?

Von der Idee zum Konzept: Partner finden!

„Einen schönen guten Morgen, liebe Frau Troltenier. Ich habe da was für sie... - zum 100-jährigen blista-Jubiläum braucht es unbedingt auch eine historische Ausstellung!“. Ein kleiner, silberner USB-Stick wanderte von der einen in die andere Hand. Es war Tom Wendling, der viel zu früh verstorbene blista-Archivar, der mit der digitalen Dokumentation eines Archivprojektes der Autorin als damals noch neuer blista-Kollegin die Idee überbrachte. Tatsächlich ergab sich im Jahr 2014 aus der Planung der Jubiläums-Ausstellung „Hörwelten“ die Möglichkeit, die Idee aufzugreifen: Ein langes Gespräch mit Dr. Richard Laufner, Kulturamtsleiter der Stadt Marburg, endete in bilateraler Zuversicht: „Eine blista-Ausstellung, das könnte etwas Großartiges werden!“, oder zumindest ein Vorhaben, dem es sich lohnte nachzugehen.

Nach Beratung im Vorstand kam blista-seitig Jürgen Nagel hinzu, Kulturamt-seitig Kariona Kupka. Die Innovationskraft der blista dokumentieren, die blista-Rolle in der Nazizeit wissenschaftlich aufarbeiten, das Landgrafenschloss als Ausstellungsort gewinnen, Stevie Wonder oder Andrea Bocelli fürs kulturelle Begleitprogramm engagieren, einen blista-Pfad durch die Stadt installieren - die kreativen Ideen flogen hoch, die Diskussionen warfen spannende Fragen auf, die Zusammenarbeit funktionierte gut. Fünf Termine später hatte das inhaltliche Konzept Form angenommen. Kein Zeitstrahl sollte vorgefertigte Antworten liefern, wir wollten Akzente und Zeichen setzen. Zu klären waren zunächst die Finanzierung und die Wahl einer professionellen Unterstützung.

Vom Konzept zur Umsetzung: bewahrte Schätze entdecken!

Während das Kulturamt schließlich mit einem beachtlichen Etat aufwartete und langjährige Kooperationserfahrungen für die Agentur ConCultura mit Elke Hartkopf, Reiner Söntgen und Innenarchitekt Peter Kneip als professionellem Partner stimmten, mussten erst umfangreiche Recherchen für die Projektleitung die gute Basis für den erfolgreichen blista-Antrag bei Aktion Mensch schaffen.

Dann galt es die blista-Arbeitsgruppe wachsen zu lassen: Die Wahl fiel auf Thorsten Büchner, Tatjana Baal und den just im Ruhestand angekommenen Horst Lehnert. Gemeinsam bildete man fortan die „Kleine Runde“ der blista-Akteure, die sich emsig tiefer und tiefer wühlte: in die blista-Archive, die Literaturquellen, die Einbindung von Expertinnen und Experten der bundesweiten Selbsthilfe und die Herausforderungen einer Ausstellungsgestaltung - später verstärkt durch Jürgen Mai.

Wie kommt man an eine bezahlbare Lizenz für eine Sequenz des Filmklassikers „Im Westen nichts Neues“ und damit zu einem eindrucksvollen Einstieg in die Zeit der kriegserblindeten Soldaten, der Gründerväter und der vielen ehrenamtlichen Helferinnen aus der Marburger Bevölkerung? Schließlich war es der Einsatz von Giftgas, der die erschreckende, neue Kriegsführung im Ersten Weltkrieg prägte und 3000 überlebende Soldaten ihrem Schicksal blind überließ. Mit ihrem Rechtsanspruch auf Rehabilitation und Arbeitsmarktintegration waren sie den sogenannten „Zivilblinden“ zunächst deutlich voraus. Wie spiegelten sich später die 1968er Jahre, die internationale Krüppelbewegung und die technologische Revolution an der blista? Würde es gelingen, eine der Original-Telefonanlagen als Exponat für die Telefonistenausbildung an der blista zu finden? Oder eines für die Produktion der seltsamen „Stachelschrift“? Wo könnte sich noch eine Gebrauchsanleitung zum Optacon befinden, der dereinst sensationellen ersten Möglichkeit, Schwarzschrift in taktil erfassbare Schrift zu übertragen?

Inklusiv zugänglich und interaktiv: eine Ausstellung ohne Vitrinen?

Der Wissenstransfer zwischen den Ausstellungsmachern wurde zum bestimmenden Thema in der „Großen Runde“. Wie gestalten wir das Leitsystem, das durch die Themeninseln führt? Was bedeutet Barrierefreiheit genau? Wie wird die Schwarzschrift auf den Tafeln zugänglich? Schaffen wir es, ganz und gar ohne gläserne Vitrinen auszukommen? Lässt sich in den Schlossmauern ein W-LAN installieren? Gewinnen wir die Bewerbung beim Hessischen Museumsverband um die hessenweite Auftaktveranstaltung des Internationalen Tages? Wie gestalten wir sie? Werden Menschen mit Blindheit, Seh- oder Mobilitätseinschränkung überhaupt das Landgrafenschloss bis dahin selbstständig und selbstbestimmt erreichen können? Und was bieten wir für Menschen mit Höreinschränkungen?

„Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!“ - in den dunklen Herbst- und Winterwochen des Jahres 2015 wuchs der Zeitdruck, die Diskussionen in der „Großen Runde“ wurden komplexer. Viele der E-Mails enthielten nun gleich mehrere und gar aneinandergereihte Ausrufezeichen. Innovationen entstehen an den Schnittstellen – aus dem Credo der Projektleitung spricht die langjährige Erfahrung, dass in der Zusammenarbeit so unterschiedlich aufgestellter Partner oft auch die „Hitze“ für hervorragende und innovative Lösungen entsteht. Zugleich waren besonders diese Wochen immer wieder – und nicht zuletzt durch einen Wasserschaden im Gebäude der Hörbücherei, durch Glück, Zufall und aufmerksame blista-Kolleginnen und -Kollegen – von der Entdeckung faszinierender „Schätze“ begleitet.

Hörbar lebendig und spannend bis zuletzt

Mindestens neun „Hörstationen“ werden in der Ausstellung bzw. an den sieben Themeninseln installiert, an jeder geben dann sechs unterschiedliche Audiodateien via Kopfhörer Auskunft. Der erste Knopf oben links bietet jeweils eine Orientierung über den Aufbau der Themeninsel, über die Schwarzschrift-Texte, Fotos und Grafiken an den Wänden und die möglichen Exponate, die zum Ausprobieren einladen. Die weiteren fünf Audioknöpfe informieren, hinterfragen oder erwecken Originalstimmen zum Leben.

Und wie war es nun damals? War die blista von 1933 bis 1945 eine „Insel der Glückseligkeit“ oder gar aktiver Teil des Systems? Spannend bis zuletzt blieb die Suche nach dem sogenannten „blista-Kellerarchiv“, den Akten der Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlungen aus den oben genannten Jahren. Dieses Geheimnis wurde gelüftet, andere blieben vorerst ungelöst. Jedenfalls stand mit Beginn des Jahres 2016 der Zusammenarbeit mit der Philipps-Universität zur Themeninsel 2, der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Rolle der blista in der NS-Zeit, nichts mehr im Wege.

Bis zur Ausstellungseröffnung sind es nunmehr wenige Wochen. Inklusiv, interaktiv und hörbar lebendig - ob es uns gelungen ist, alle Vorhaben umzusetzen? Ob die Ausstellung blick:punkte Spaß machen und den Dialog zwischen blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen inspirieren wird? Alle Mitwirkenden sind schon jetzt sehr gespannt auf die Stimmen der Besucherinnen und Besucher.

Informationen zur Ausstellung:

Die Ausstellung ist bis zum 04.12.2016 im Kleinen Rittersaal des Landgrafenschlosses zu sehen. Öffnungszeiten: März bis Oktober, Dienstag bis Sonntag: 10.00 – 18.00 Uhr, November bis März, Dienstag bis Sonntag: 10.00 – 16.00 Uhr. An und nach Feiertagen Sonderregelungen.

Für Sonderführungen und Führungen für Schulklassen kontaktieren Sie bitte die Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista) unter der Rufnummer 06421 606-105 oder senden eine E-Mail an: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Informationen finden Sie auch unter www.blista.de/blickpunkte.

blick:punkte – Blind_Sehen_Ausstellung

Magistrat der Universitätsstadt Marburg
Stadträtin und Kulturdezernentin: Dr. Kerstin Weinbach
Projektleitung: Kariona Kupka, Dr. Richard Laufner; Mitarbeit: Janine Clemens

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista):
Direktor Claus Duncker
Projektleitung: Dr. Imke Troltenier; Entwicklung und Umsetzung: Tatjana Baal, Thorsten Büchner, Horst Lehnert, Jürgen Mai, Jürgen Nagel

In Kooperation mit dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Philipps-Universität Marburg und dem Hessischen Museumsverband. Planung und Realisation: ConCultura GmbH Bonn. Die Ausstellung wird gefördert durch die Aktion Mensch, die Stiftung Deutsche Blindenstudienanstalt und die Dr. Georg Blindenstiftung.

Zur Autorin

Dr. Imke Troltenier ist Leiterin Öffentlichkeitsarbeit der blista.

Der Beitrag enthält drei Fotos und fünf Logos.

Auf dem ersten Bild ist ein Zeigefinger einer rechten Hand erkennbar. Dieser zeigt auf die Spitze eines Turms des Landgrafenschlosses in Marburg aus Metall. Bildunterschrift: Im Marburger Landgrafenschloss wurde die Ausstellung blick:punkte am 22. Mai 2016 eröffnet. Foto: blista

Auf dem zweiten Schwarz-Weiß-Foto betritt eine blinde Frau mit Langstock, Top und geblümtem Rock über die Treppe den Bahnsteig der Gleise 2 und 3 eines Bahnhofs. Bildunterschrift: Selbstständig und selbstbestimmt: O&M-Schulung in den 1970ern. Foto: blista

Das dritte Abschlußbild zeigt Imke Troltenier, eine dunkelblonde Frau mit Brille und dunklem Blazer, die mit verschränkten Armen in die Kamera lächelt. Foto: blista

Dem Beitrag am Ende angefügt wurden die Logos der Ausstellung blick:punkte, der Aktion Mensch, der Philipps-Universität Marburg, der Universitätsstadt Marburg und der blista.

Birthe Klementowski

Drei Tage Festival mit Musik, Tanz & Theater

Das Louis Braille Festival ist das größte Festival von und für blinde, sehbehinderte und sehende Menschen in Europa. 2016 wird das Festival veranstaltet in Zusammenarbeit vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) und der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (blista). Gemeinsam mit Freunden und Bekannten treffen sich blinde und sehbehinderte Menschen für drei Tage zu Bühnendarbietungen aus den Bereichen Musik, Literatur, Tanz und Theater sowie zu sportlichen Ereignissen und Informations- und Mitmachangeboten.

Wann und wo?

Das Festival findet statt vom 1. bis 2. Juli im Georg-Gaßmann-Stadion und 3. Juli rund um die Elisabethkirche, die Kunsthalle und das Schloss.

Das Louis Braille Festival auf einen Blick

1. Juli

14.00 bis 23.00 Uhr im Georg-Gaßmann-Stadion und von 14.00 bis 17.00 Uhr auf dem blista-Campus mit Angeboten für ehemalige Blistaner und Freunde

2. Juli

10.00 bis 23.00 Uhr im Georg-Gaßmann-Stadion und mit Angeboten für Interessierte von 14.00 bis 17.00 Uhr auf dem blista-Campus

3. Juli

10.00 bis 15.00 Uhr rund um die Elisabethkirche mit dem DVBS: ab 10.00 Uhr ökumenischer Gottesdienst mit blinden und sehbehinderten Theologen und Kirchenmusikern, anschließend blindengerechte Kirchenführungen und Treff mit Musik, Poetry, Speis und Trank auf dem E-Kirchplatz

Zur Autorin

Die Journalistin Birthe Klementowski ist Mitglied der horus-Redaktion und Mitarbeiterin der blista-Öffentlichkeitsarbeit.

Der Beitrag wird durch eine Fotomontage ergänzt, die - vor einem schwarzen Hintergrund - den Schriftzug „Louis Braille Festival 2016 Marburg“ zeigt. Darauf sind Karikaturen mit Blinden und Sehbehinderten u.a. beim Kopfstand, Singen, Fußballspielen und Audiodeskription abgebildet. Foto: blista

Uwe Boysen

Auf der Bühne kann ich eine ganz andere sein

Ein Interview von Uwe Boysen mit Martina Reicksmann, Laien-Schauspielerin und Geschäftsführerin des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Bremen.

Martina, wie bist Du zum Theaterspielen gekommen?

Dafür müssen wir bis ins Jahr 2000 zurückblenden. Damals gab es in Bremen eine Anfrage an alle Behindertenorganisationen, ob dort Interesse an einer Theatergruppe behinderter Menschen bestehe. Zu einem ersten Treffen kamen 64 Leute in die Bremer Shakespeare-Company, die sich einem solchen Experiment unterziehen wollten. Rudolf Höhn, der Initiator des Aufrufs, hatte früher bei der Shakespeare-Company gespielt und war dann zur Münchener Lach- und Schießgesellschaft gewechselt. Als er an Parkinson erkrankte, konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben, wollte aber weiter im Theatergeschäft bleiben.

Und wie ging es dann weiter?

Es wurden zunächst drei Gruppen gebildet, in denen verschiedene Übungen für Schauspieler gemacht wurden. Höhn war von Anfang an ziemlich unnahbar. Es gab praktisch keine persönlichen Gespräche. Vielmehr wurde nur an Theatertechniken und an Texten gearbeitet. Letzteres ging bei meiner Sehbehinderung nicht so gut. Höhn sprach mir dann Texte vor, die ich nachsprechen sollte. Wichtig waren auch Übungen wie Laufen im Raum.

Welche Behindertengruppen waren vertreten?

Es gab nach kurzer Zeit eine erhebliche Fluktuation, weil wir Menschen mit ganz verschiedenen Behinderungen waren, von Rollstuhlfahrern über Kleinwüchsige und Rheumakranke bis zu mir als Sehbehinderte.

Ihr habt dann im Laufe der Zeit verschiedene Theaterstücke aufgeführt, von denen ich immerhin zwei besucht habe. Wie kam das zustande?

Zunächst brauchten wir einen Namen: Pschyrembel – Theater mit Menschen mit Behinderungen. Pschyrembel ist ein medizinisches Wörterbuch und hat die Klangähnlichkeit mit dem Wort Ensemble. Unser erstes Stück, das wir 2002 gemacht haben, hieß „So ein Theater“ und war gewissermaßen eine Revue, in der verschiedene Szenen aus bekannten Stücken miteinander kombiniert wurden. So hatte ich eine Fechtszene mit einem Rollstuhlfahrer aus Johanna von Orléans von Schiller aufzuführen. Es gab auch viele Wortspiele, etwa von Ernst Jandl.

2005 folgte dann „Heimatruh“. Den dazugehörigen Text schrieb Rudolf Höhn. Es ging um eine Behinderteneinrichtung. Ich spielte die Hausleiterin. Darin hatte ich eine längere Rede zu halten, bei der ich so tun musste, als ob ich diese Rede ablesen würde. Hier wurde das Credo von Rudolf Höhn deutlich: Der Mensch soll sich nicht der Rolle anpassen, sondern er schrieb uns Rollen auf den Leib. Dabei nahm er unsere behinderungsbedingten Eigenarten als Stilmittel in sein Stück auf.

2008 führten wir dann ein weiteres Stück von Höhn auf: „Meret oder die Farbe der Blässe“. Hier ging es um ein junges Mädchen, das in einem Pfarrhaus misshandelt und sogar vergewaltigt wurde und dann auch starb. Ich hatte hier zwei Rollen, diejenige des Totengräbers und dann auch diejenige des Müllers Hans, der sich als einziger gegenüber dem Pfarrer wehrte und Rechenschaft über das Schicksal des Mädchens verlangte. Um in diese beiden Rollen zu schlüpfen, musste ich mich schnell umziehen. Das war schon eine gewisse Herausforderung.

Dann kam es in Eurer Arbeit zu einer längeren Pause. Woran lag das?

Die Probenarbeit war immer sehr langwierig, auch das Schreiben der Texte. Diese wurden nie mit uns diskutiert, sondern von Höhn vorgegeben. Damit kamen manche Personen nicht richtig klar.

Eure letzten Aufführungen datieren jetzt von 2015 und 2016. Das aktuelle Stück ist auch immer noch im Angebot. Worum geht es dabei?

Im letzten Jahr haben wir zwei Einpersonenstücke von Kafka aufgeführt. Ich habe „Die Verwandlung“ gespielt, und ein kleinwüchsiger Kollege das Stück „Ein Bericht für eine Akademie“.

Was fasziniert Dich beim Theater daran, in eine andere Rolle zu schlüpfen?

Mich beeindruckt, dass man bei dieser Arbeit Wörter ausspricht, die man sonst im Alltag nicht benutzen würde. Auch etwas ganz betont auszusprechen, macht Spaß. Dieses Spiel mit der Sprache gefällt mir. Daneben gibt es die emotionale Ebene. Ich kann in Rollen oder Gefühlsausbrüche eintauchen, ohne dass das für mich im wirklichen Leben Konsequenzen hat.

Was meinst Du damit?

Das gilt vor allem für Gefühle wie Wut oder Traurigkeit. Im wirklichen Leben sind die Menschen von solchen Gefühlen eher peinlich berührt. Sie werden nicht gern gesehen. Im Theater ist das anders. Es gibt beispielsweise eine Übung, bei der ein Schauspieler in der Mitte eines Kreises steht und die Umstehenden ihm Emotionen zurufen, die er dann ausdrücken soll. Das kann schon reinigend für die Seele sein. Natürlich macht es auch ein wenig stolz, vor Publikum zeigen zu können, dass man sich so eine Verwandlung zutraut.

Du bist sehbehindert. Wie hat sich das beim Theaterspielen ausgewirkt?

Ich habe immer zusammen mit Körperbehinderten gespielt. Demgegenüber gehörte ich zu denjenigen, die körperlich unversehrt waren. Deshalb meinte unser Regisseur, ich könne alles ausdrücken. Ich weiß aber als Sehbehinderte nicht, wie eine Siegerpose wirklich aussieht oder wie ich mich in einer ganz bestimmten Szene hinstellen oder bewegen soll.

Wie habt Ihr das Problem gelöst?

Höhn hat mir das vorgemacht und ich habe seinen Körper dann abgefühlt. Teilweise muss man dabei die Aufmerksamkeit auch auf einen einzelnen Körperteil lenken, etwa die Finger einer Hand strecken und nicht krümmen.

Welches war Deine anspruchsvollste Rolle und welche hat Dir am besten gefallen?

Gefordert werde ich am meisten von Dialogen, allein schon vom Lernen her. In einer Szene von „Heimatruh“ musste ich ein eher kryptisches Gespräch mit einer Praktikantin führen, aber gleichzeitig auf einer Leiter stehen und einen Saal mit einer Girlande schmücken. Da gab es durchaus Diskussionen, ob das geht. Dieses Zusammenspiel aus Wort und Handlung war schon schwierig.

Meine Lieblingsrolle war wohl der Müller Hans aus dem Stück von 2008, der beim Pfarrer vorstellig wird und wissen will, was aus dem Mädchen geworden ist. Diese Rolle mit einem solch beherzten Vorgehen hatte ich mir heimlich gewünscht. Sie lag mir. Die einzige technische Schwierigkeit war, meinen schwarzen Hut während des Gesprächs wütend hinzuwerfen, ihn aber nachher wiederzufinden und aufzusetzen, ohne dabei danach zu tasten.

Überhaupt haben wir auf der Bühne hinsichtlich des Randes einige Vorkehrungen treffen müssen. Die ganze Bühne bei der Shakespeare-Company, wo wir meist gespielt haben, ist nämlich schwarz, einschließlich des Bühnenrandes. Wir haben diesen dann für mich mit einem weißen Streifen markiert.

Würdest Du andere blinde oder sehbehinderte Menschen ermutigen, Theater zu spielen?

Ich mag mir nicht anmaßen, hier eine Empfehlung abzugeben. Jeder muss für sich entscheiden, ob ihm die Schauspielerei liegt oder nicht und was er bereit ist, dafür einzusetzen. Wenn man das wirklich will, sollte man es probieren. Auch an einem Ort, wo man vielleicht der einzige Blinde oder Sehbehinderte ist. Doch es bleibt natürlich immer eine Herausforderung zu schauen, ob es eine Rolle gibt, in die ich hineinpasse.

Zum Autor:

Uwe Boysen, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen i.R., engagiert sich als erster Vorsitzender des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS) seit Jahren für bessere Bildungs- und Arbeitsbedingungen Betroffener. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Auf dem zum Beitrag gehörenden Portraitfoto ist eine dunkelhaarige Frau mit blau-weiß-gestreiftem Pullover abgebildet, die der Kamera ein Lächeln schenkt. Foto: privat

Bildung und Wissenschaft

Winfried Thiessen

Die Inklusion - Teilnahme und Teilhabe - braucht Qualität

Förderschulen: Fokus Erwerbsarbeit

Wir Menschen sind so gebaut, dass wir ein Empfinden für unseren eigenen gesellschaftlichen Wert haben müssen. Nichts kann uns mehr Freude machen als das Gefühl, gewollt und gebraucht zu werden. Umgekehrt kann uns nichts so in alle Verzweiflung treiben wie das Gefühl, unnütz und nicht gewollt zu sein. (Dr. M. Scott Peck)

Hören wir das Wort Inklusion, dann denken wir zumeist an Schule. Inklusive Schule – eine Schule für alle. Eine Schule, in der behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden, ist mittlerweile zu einem Synonym für Inklusion geworden. Wir sollten allerdings weiterdenken. Schule bereitet vor. Sie ist der Weg, aber nicht das Ziel. Für sehbehinderte Schüler von Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sehen, wie der Deutschen Blindenstudienanstalt Marburg (blista), heißt das Ziel: erster Arbeitsmarkt. Denn Erwerbsarbeit entscheidet wesentlich über gesellschaftliche Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten. Sie ist ein wichtiger Faktor für die Qualität unserer Einbettung - Inklusion - in die Gesellschaft. Erwerbsarbeit ist ein zentrales Transportvehikel in die Gesellschaft. Hier sind Schüler mit einer Sehschädigung besonders gefordert, denn ihnen begegnet der Arbeitsmarkt, um es einmal nett zu formulieren, mit gewissen Ressentiments. Bildungsprozesse müssen für sie so gestaltet sein, dass ihre besonderen Belange und Bedürfnisse Berücksichtigung finden, damit sie den späteren Übergang von Schule zu Ausbildung, Studium und Beruf erfolgreich bewältigen können.

Schule hat den Auftrag, den Schüler gesellschaftlich handlungsfähig zu machen. Sie ist ein Ort des Lebens und Lernens. Im Idealfall steht am Ende ein qualifizierter, junger Mensch, der mit genügend Selbstbewusstsein und dem Gefühl der Selbstwirksamkeit ausgestattet ist, um sich den Herausforderungen des (Erwerbs-)lebens zu stellen. Aber Schule selektiert auch. Denn am Ende dieses Qualifikationsprozesses stehen abgestufte Zugangsberechtigungen für den hierarchisch gegliederten Arbeitsmarkt, die ein Schüler durch individuelle Leistungen in einer Konkurrenz- und Wettbewerbssituation erwerben muss. Schule verteilt also Lebenschancen durch einen selektiven Qualifizierungsprozess. Selektion muss Chancengleichheit voraussetzen; dies gilt für inklusive Regelschulen ebenso wie für Förderschulen.

Wenn wir also über Inklusion reden wollen, müssen wir darüber diskutieren, was schulische Qualität für einen sehbehinderten Schüler bedeutet, wenn es darum gehen soll, den Auftrag, den Schüler gesellschaftlich handlungsfähig zu machen, zu erfüllen – und wo wir diese Qualität finden können.

Förderschulen und ihre Basisqualitäten

Inklusion braucht Qualität – Chancengleichheit – alle blind oder was?

Die Qualität einer Schule misst sich für einen sehbehinderten Schüler daran, dass Schule in der Lage ist, Chancengleichheit beim Erreichen von Bildungsabschlüssen zu gewährleisten. Förderschulen erreichen dies weitestgehend. An einer Förderschule mit Schwerpunkt Sehen kann eine Sehschädigung nur ganz bedingt zu einem entscheidenden Selektionskriterium werden, da alle Schüler in unterschiedlichster Weise von einer Seheinschränkung betroffen sind. Homogenität als Qualitätsmerkmal.

Inklusion braucht Qualität – Chancengleichheit durch Barrierefreiheit

Qualität misst sich aber auch an der konsequenten und vor allem dauerhaften Barrierefreiheit im Unterricht. Technische Barrierefreiheit zu garantieren, gehört zu den Basiskompetenzen von Förderschulen, das Know-how ist sozusagen serienmäßig eingebaut, richtet sich nach dem individuellen Bedarf und ist immer vor Ort.

Inklusion braucht Qualität – Chancengleichheit bei Psychostress

Chancengleichheit beim Erwerb von qualifizierten Bildungsabschlüssen setzt ebenfalls voraus, dass eine Sehschädigung im Schulalltag niemals der Grund für eine überdurchschnittliche oder sagen wir außergewöhnliche psycho-soziale Stressbelastung sein darf. Deshalb muss Schule Rücksicht auf anspruchsvolle Lebenslagen wie eine Sehschädigung nehmen können. Das bedeutet, dass sie sich auf die unterschiedlichsten Sehbehinderungsarten einzustellen hat. Auch darauf, dass eine Augenkrankheit eine progressive Verlaufsform haben kann, die bis hin zur Erblindung führt. Ebenfalls muss Schule dem Mehraufwand von Schülern mit Sehschädigung für Mobilitätstraining, Computerschulungen und des Erlernens spezieller Arbeitstechniken etc. Rechnung tragen – vor allem und gerade, wenn der Schüler, wie in inklusiven Regelschulen häufig der Fall, der Einzige seiner Art in der Klasse ist. Ebenso wenig sollte eine Sehschädigung im Schulalltag zu einer Sonderrolle und/oder zu Ausgrenzungserfahrungen führen. Denn: Exklusiver psycho-sozialer Stress, dem in einer Lerngruppe nur Schüler mit Sehschädigung ausgesetzt sind, beeinträchtigt die Chancengleichheit und damit den Schulerfolg.

Förderschulen sind darin geübt, mit einem bunten Cocktail an Belastungen, von denen ein Großteil ihrer Klientel betroffen ist, umzugehen und ihnen den entsprechenden Stellenwert einzuräumen.

Inklusion braucht Förderschulen mit Qualität

Förderschulen sind spezialisierte Kompetenzzentren. Sie bieten auf ihre Klientel zugeschnittene Lebens- und Lernbedingungen. Ihre Basisqualitäten garantieren Chancengleichheit durch Barrierefreiheit, eine produktive Homogenität und einen förderlichen sozialen Lern- und Erholungsraum, der den Austausch mit anderen von einer Sehschädigung Betroffenen gewährleistet. Somit sind Förderschulen ein Vehikel hinein in die Gesellschaft. Inklusion in die Gesellschaft ist allerdings kein statischer Zustand, im Gegenteil. Gesellschaft und Arbeitswelt sind permanenten Veränderungen unterworfen, darauf müssen Förderschulen reagieren, um ihre Klientel entsprechend vorbereiten zu können. Vorhandene Fördermaßnahmen sollten deshalb regelmäßig überprüft, ergänzt und erweitert werden - denn Inklusion braucht Qualität! Tag für Tag aufs Neue. Es gibt für mich persönlich drei Bausteine, von denen im Besonderen unsere blinden und hochgradig sehbehinderten Schüler und Schüler mit einer Sehrestverschlechterung bereits heute profitieren und die für die Zukunft immer wichtiger werden.

Handlungsfähigkeit durch Soziale Kompetenz

Wie bewege ich mich adäquat in der Gesellschaft? Wie kann ich mit meiner Sehbehinderung offen und produktiv umgehen, auch wenn sie mich einschränkt und mir Grenzen setzt? Überhaupt, wie baue ich meine Sehbehinderung erfolgreich in meine Persönlichkeit ein? Was brauche ich, um genügend Selbstbewusstsein tanken zu können und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit zu bekommen? Antworten auf diese und viele andere Fragen bilden das Fundament für eine erfolgreiche Teilnahme an der Gesellschaft und am Arbeitsleben. Förderschulen müssen gemeinsam mit ihrer Klientel nach Antworten auf die Fragen des Lebens suchen, die sich sehenden Schülern in dieser Form nicht stellen.

Handlungsfähigkeit durch Arbeitstechniken

Gute Kenntnisse über mögliche Hilfsmittel und ihre professionelle Benutzung, gerade im Bereich der digitalen Medien, sind unabdingbar. Ohne dieses Wissen ist der sehbehinderte Schüler/Student/Auszubildende nicht, nur bedingt oder zu langsam in der Lage, sich nicht barrierefreie Räume selbständig aufzuschließen. Barrierefreie Förderschulen sollten ihre Klientel intensiv auch auf eine nicht barrierefreie Zukunft vorbereiten.

Handlungsfähigkeit durch Berufs- und Studienberatung

Inspirationen und passgenaue Informationen braucht es, um sich eine der individuellen Sehschädigung und den persönlichen Neigungen entsprechende Zukunftsperspektive erarbeiten zu können. Dazu sollten Förderschulen genügend Raum und Zeit zur Verfügung stellen. Zusammenarbeit mit interessierten Unternehmen, Informationsarbeit, Kontaktaufnahme und Vermittlung - Förderschulengagement sollte nicht am Schultor enden.

Haben Förderschulen mit Schwerpunkt Sehen, wie die blista, eine Zukunft? Die Antwort: Inklusion braucht Qualität! Und in einer zielgruppenorientierten Qualität liegt meines Erachtens die Zukunft von Förderschulen.

Zum Autor

Winfried Thiessen ist pädagogischer Mitarbeiter im Internat der Deutschen Blindenstudienanstalt Marburg.

Zum Beitrag gehört ein Portraitfoto, auf dem ein Mann mit ansatzweise grauen, längeren Haaren und Bartstoppeln abgebildet ist. Er schaut – vor einem Baum stehend – offen in die Kamera. Bildunterschrift: Winfried Thiessen fordert soziale Kompetenz, Arbeitstechniken und Berufs- und Studienberatung als Voraussetzungen für Inklusion ein. Foto: privat

Jürgen Mai

Bericht zur Expertentagung „Zukunft der Arbeit“
Fluch und Segen von Digitalisierung, Globalisierung und lebenslangem Lernen

Um die Zukunft unserer Arbeitswelt ging es beim Expertenforum der Projektlinie Inklusion & Innovation, das aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der blista stattfand. Rund 60 Expertinnen und Experten aus Deutschland und den Niederlanden diskutierten die Perspektiven und Erfolgsfaktoren inklusiver Arbeit. Wie werden wir in Zukunft arbeiten und lernen? Welche Folgen haben gesellschaftliche Trends wie Digitalisierung oder „Industrie 4.0“? Wie reagiert der Arbeitsmarkt? Und welche Konsequenzen haben diese Entwicklungen für die Beschäftigungschancen von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung? Mit drei Impulsvorträgen, neun Projektpräsentationen und einer Podiumsdiskussion gelang dem Expertenforum eine Verschränkung vielfältiger Perspektiven. Deutlich wurde, dass Empowerment, eine durch Offenheit geprägte Haltung auf Arbeitgeberseite, selbstbewusste Kompetenzförderung, die gezielte Vernetzung unterschiedlicher Akteure sowie eine barrierefreie Zugänglichkeit der Arbeitsumgebung zu den wichtigen Schnittmengen erfolgreicher Ansätze zählen.

Das Ziel: Den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt stärken

Zum Einstieg der Tagung präsentierte blista-Direktor Claus Duncker u.a. statistische Kennziffern über Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Diese verdeutlichen: „Die Phase der Vollbeschäftigung, die zurzeit gerne ausgerufen wird, geht an den Blinden und Sehbehinderten leider vorbei.“ Duncker wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Digitalisierung Fluch und Segen zugleich“ sei. Auf der einen Seite führe sie zum Verschwinden etablierter Berufsbilder, auf der anderen eröffne sie neue Möglichkeiten. Bildungseinrichtungen wie der blista schrieb er ins Stammbuch: „Unsere Aufgabe kann nicht damit enden, junge Menschen auf dem Weg zum Abitur zu begleiten. Wir müssen uns noch stärker um den Übergang zwischen Schule und erstem Arbeitsmarkt kümmern!“ Dr. Mittermüller vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration ergänzte in seinem Grußwort mit Blick auf die Vielfalt der sich präsentierenden Projekte, diese würde „keine Haltung der Bedürftigkeit, sondern einen selbstbewussten Ansatz der Kompetenzförderung“ vertreten. Für die Zukunft wünschte sich Mittermüller mehr solcher Projekte, denn, so seine These: „Barrieren bestehen vor allem im Kopf. Inklusion beginnt mit Begegnung.“

Digitalisierung: Jobkiller oder Jobknüller?

Big Data, künstliche Intelligenz und Industrie 4.0 – über den gesellschaftlichen Megatrend der Digitalisierung und seine Konsequenzen für die Teilhabe von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung am Arbeitsmarkt sprach Dr. Hans-Peter Klös, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Instituts der deutschen Wirtschaft (Köln). Er vertrat die These, dass in Zukunft die Wertschöpfung weniger von Gütern, sondern eher von der Verarbeitung von Daten abhängen werde und dass die Symbiose des „Internets der Dinge“ mit dem „Internet der Dienste“ nicht nur die Industrie, sondern auch viele andere gesellschaftliche Teilbereiche, wie z.B. die Kultur, verändern wird. Die Frage, ob dieser Trend ein „Jobkiller oder Jobknüller“ sein wird, beantwortete Klös „unter dem Strich positiv“. Während Expertenberufe kaum von negativen Konsequenzen betroffen sein dürften, sieht dies bei einfachen Hilfsberufen anders aus. In seinem Fazit rief der Volkswirt in Erinnerung, dass der „Erhalt des Erfahrungswissens“ nach wie vor eine wichtige Rolle spielt.

„Allgemeiner Arbeitsmarkt geht vor Beschäftigung in Werkstätten“

Peter Gudat (Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit) prognostizierte angesichts der bis 2025 erwarteten Schere zwischen Erwerbspersonenpotenzial (fallend) und Arbeitskräftebedarf (steigend), dass IT- und Lehrende Berufe von dem Trend profitieren, während Berufe des Verarbeitenden Gewerbes von Personalabbau betroffen sein werden. Dabei nimmt die Relevanz des Bildungsstatus zu: Geringqualifizierte sind achtmal häufiger arbeitslos als Hochschulabsolventen und viermal öfter als beruflich Qualifizierte. In der Konsequenz plant die Bundesagentur eine Weiterentwicklung unter dem Slogan „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“. Hierzu zählen eine Intensivierung der Aus- und Weiterbildung, obligatorische Kompetenzanalysen und, insbesondere für Menschen mit Behinderung, eine Stärkung der assistierten und verzahnten Ausbildung. Gudat schloss in seinem Plädoyer: „Die Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt geht vor der Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen.“

Sind Lerndaten der nächste Hype?

Über die Wechselwirkungen zwischen der Arbeits- und der Lernwelt gab Prof. Dr. Wolfgang Seitter von der Marburger Philipps-Universität aktuelle Einblicke. Nach seiner Einschätzung wird die klassische Trennung von Arbeits- und Lernzeit immer mehr aufgehoben, stattdessen sind diese beiden Tätigkeiten permanent verschränkt. Die Verantwortung für die Lernzeiten geht dabei – auch hier wiederum, wie schon bei der Digitalisierung, Fluch und Segen zugleich – auf den Einzelnen über, der somit zum „Lernkraftunternehmer“ wird und permanent seine Work-Learn-Life-Balance austarieren muss, wie der Erziehungswissenschaftler in Erweiterung des prominenten Konzepts der Work-Life-Balance ausführte. Dies hat Konsequenzen für die Organisation der Zeit im Betrieb: Wer entscheidet, was Lernzeit ist und was nicht? Dieser Paradigmenwechsel führt auch zu neuen Daten – laut Seitter werden die Lerndaten in Zukunft mindestens genauso viele „Begehrlichkeiten wecken“ wie Gesundheits- und Konsumdaten.

Selbstbewusst mit dem Thema Blindheit umgehen

Die abschließende, von Michael Herbst moderierte, Podiumsdiskussionsrunde mit Vertretern der Selbsthilfe, wie z.B. Dr. Heinz Willi Bach (2. Vorsitzender des DVBS - Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V.), Verantwortlichen aus der Praxis wie Dieter Doetsch vom Programm „Chancen durch Ausbildung“ (ING DiBa AG) und Experten für die Schnittstelle zwischen Bildungsanbietern und Arbeitsmarkt wie Jürgen Nagel (Leiter der Rehabilitationseinrichtung der blista) versuchte, in dem vielfältigen Spektrum der Referate und Präsentationen Gemeinsamkeiten zu finden und Erfolgsfaktoren zu identifizieren. Hierzu zählen selbstbewusster Umgang mit dem Thema Blindheit und Sehbehinderung, Verständnis für etwaige Denkbarrieren auf Arbeitgeberseite und die Ausdauer, diese durch Überzeugungsarbeit und gemeinsame Projekte weiter abzutragen. Die weitere Vernetzung der Modellprogramme und Initiativen untereinander wurde ebenfalls positiv gewertet. Alle einte das Ziel, die Integration von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern. Einen zentralen Punkt berührte zudem die Wortmeldung einer Schülerin, die betonte, wie wichtig es sei, sich angesichts der vielfältigen Möglichkeiten und etwaigen Hürden möglichst frühzeitig um eine Praktikums- oder Ausbildungsstelle zu kümmern. Das Schlusswort gebührte Jürgen Nagel, der betonte: „Die Zukunft der Arbeit für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung bleibt spannend und herausfordernd. Wir haben heute wieder einmal eindrücklich gelernt, dass Digitalisierung nicht nur eine Bedrohung ist, sondern auch vielfältige Räume am ersten Arbeitsmarkt bietet, deren Türen wir mit Engagement und Kompetenz für unsere Zielgruppe aufschließen können.“

Folgende Projekte stellten sich auf dem Expertenforum „Zukunft der Arbeit“ vor (in alphabetischer Reihenfolge):

„Chancen durch Ausbildung“ bei der ING-DiBa, Referent: Dieter Doetsch

focus Arbeit gGmbH, Referentin: Susanne Patze

Hessisches Perspektivprogramm zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen (HePAS), Referent: Thomas Lange vom LWV Hessen, Integrationsamt

Inklusion & Innovation – Modellsäule blista, Referentin: Ute Mölter

Inklusion & Innovation – Modellsäule KOMPASS, Referentin: Ellen Bommersheim

SAP@blista, Referentin: Ute Ruffert (blista)

ToP: Künftige Teilhabe (Niederlande), Referentin: Judith Wijnen (Visio)

TriTeam, Referent: Jörg Korinek (DVBS)

UnternehmensForum, Referent: Reinhard Wagner (Fraport AG)

Die Projektlinie Inklusion & Innovation wird gefördert aus Mitteln des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration und aus Mitteln der Europäischen Union - Europäischer Sozialfonds. Kooperativ und in paralleler Durchführung mit dem Projekt des Gründerzentrums Kompass, Frankfurt, legt die blista den Fokus auf einen kompetenzorientierten, individuellen Ansatz und zielt auf die Arbeitsmarktintegration, gelingende Übergänge und die Unterstützung von Gründungsvorhaben von blinden und sehbehinderten Menschen.

Unter dem Motto 100 Jahre – 100 Talente nutzt die blista ihr Jubiläumsjahr, um die Aufmerksamkeit auf Menschen mit Seheinschränkungen zu lenken, die ihren Weg inmitten unserer Gesellschaft beschreiten. Das Expertenforum „Zukunft der Arbeit“ war die zweite Veranstaltung im Rahmen der Feierlichkeiten der blista zu ihrem 100-jährigen Jubiläum. Zum Auftakt im November 2015 hatte die Tagung „Inklusion braucht Qualität“ den Fokus auf die schulische Bildung gelegt. Neben den fachlichen Diskursen begeht die blista ihr Jubiläum, das unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident a.D. Horst Köhler steht, im Laufe dieses Jahres u.a. mit den Ausstellungen blick:punkte (ab 22. Mai), Hörwelten (ab 2. Juli) und dem Louis Braille Festival (1.-3. Juli).

Zum Autor

Jürgen Mai ist Mitarbeiter des blista-Ressorts Öffentlichkeitsarbeit.

Der Beitrag wird ergänzt durch ein Foto sowie drei Logos.

Das Foto zeigt eine Diskussionsrunde in einem hell ausgeleuchteten Raum. Dort sitzen zahlreiche Männer und Frauen und hören einem Mann am Mikrofon aufmerksam zu. Bildunterschrift: Zum Abschluss des Expertenforums wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion über die Zukunft der Arbeitswelt diskutiert. Foto: blista

Dem Beitrag angefügt wurden drei Logos der Europäischen Union/des Europäischen Sozialfonds, des Europäischen Sozialfonds für die Menschen in Hessen und des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration.

horus-Zeitreisen

Mit dieser horus-Zeitreise sind wir in den 1950er Jahren angelangt und beschäftigen uns schwerpunktmäßig mit dem Schulleben dieser Zeit. Stellvertretend dazu haben wir zwei Beiträge ausgewählt, die vor allem den Wandel in diesem Jahrzehnt hin zu einer demokratischen Gesellschaft gut charakterisieren.

Der Autor des ersten Beitrags, Blindenoberlehrer Fritz Gerling aus Soest, setzt sich mit dem Unterrichtsfach "Blindenkunde" auseinander, das sich jedoch nicht etablieren wird. Gerling steckte noch der 2. Weltkrieg in den Knochen, denn immer wieder spricht er von "Waffen" im Lebenskampf - was nicht wirklich verwundert, wenn man bedenkt, dass er "kbl.", also Kriegsblinder, war.

Der zweite Beitrag stammt vom damaligen blista-Schüler Ernst Wirichs. Er wurde kurz vor der Einweihung der Carl-Strehl-Schule 1958 verfasst und beschäftigt sich mit einer neuen Institution, die heute unter Schülern als "SV" bekannt ist. Interessant ist dabei die Rolle, die Wirichs dem Klassensprecher zuteilt: Ein Wesen, halb Denunziant, halb Freund seiner Klassenkameraden.

Blindenoberlehrer Fritz Gerling, kbl., Soest-W.

Blindenkunde als ordentliches Lehrfach

In: Marburger Beiträge zum Blindenbildungswesen, 1951, H. 1/2, S. 18 - 23 (nur in Punktschrift)

Die Frage, ob Blindenkunde als ordentliches Lehrfach erteilt werden soll, ist in der von Vincke[']schen Provinzial-Blindenschule Soest-Warstein[1] bereits 1946 entschieden worden. Die schulentlassenen Jugendlichen und auch die Späterblindeten erhalten wöchentlich 1 Stunde Blindenkunde.

Unter Blindenkunde versteht man die Unterweisung in der Geschichte des Blindenwesens und die Stellungnahme zum eigenen Schicksal. Blindenkunde ist also ein umfassender Begriff. Sie will in erster Linie Stellung nehmen zum Schicksal der Blindheit und die negativen und positiven Merkmale aufzeigen. Die Grenzen der Blindheit sind individuell verschieden, und auch die Tatkraft, die in Ansatz gebracht wird, um alle Hemmungen und Hindernisse des Schicksals zu überwinden, ist ganz unterschiedlich. Fest steht, dass jeder Blinde ein erhebliches Maß von Energie aufbringen muss, um im Lebenskampf Erfolg zu haben. Die richtige Einstellung zum Schicksal der Blindheit kann durch eine Überbetonung der negativen Merkmale und durch ein Beklagen und Bejammern des verlorenen Augenlichts nur in falsche Bahnen gelenkt werden. Aus diesem Grunde lehnen wir die unkritische Stellungnahme zu den niederreißenden Faktoren des Blindseins ab und bekennen uns zu der ausschließlichen Förderung und Entwicklung der restlich verbliebenen Kräfte und Fähigkeiten. Schnelles und richtiges Tasten, feines und scharfes Hören, ja Hinhören, rasches Auffassen und treues Behalten sind die wichtigsten Waffen im Leben und Kämpfen der Lichtlosen. Das Glück der Blinden liegt gerade im Tastsinn der Hand, im richtigen Hinhören und in den soeben bezeichneten Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die restlichen Sinne müssen immer und zu jeder Zeit wach sein, sie stehen immer in Bereitschaft und zeigen die drohenden Gefahren, nicht nur rein körperlich, sondern auch auf dem Gebiete der geistigen Arbeit.

Aus der Geschichte des Blindenwesens lassen sich viele Beispiele von tapferen Männern und Frauen anführen, die dem eigenen Leben neuen Mut und neuen Auftrieb geben. Der Einwand, dass Blindenkunde die Schicksalsgefährten der Welt der Sehenden entfremdet und in die Einsamkeit und Isolierung drängt, trifft nicht zu.

Die Erfahrung hat gelehrt, dass gerade einsichtsvolle und nachdenkliche Blinde erheblichen Gewinn von der Unterweisung in der Blindenkunde für ihr persönliches Leben gehabt haben. Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit ist aber eine gewisse Reife und Lebenserfahrung der Schüler und Umschüler. In den ersten 8 Schuljahren können nur gelegentliche Hinweise aus der Blindenkunde gebracht werden, beispielsweise von dem Erfinder der Punktschrift Louis Braille, dem Führhund und dem Namen "Von Vinckesche Prov. Blindenschule".

Ein systematischer Unterricht kann erst bei der schulentlassenen Jugend einsetzen und besonders wirkungsvoll in der Umschulung der Erwachsenen gestaltet werden. Bei der Entlassung und Beendigung der Ausbildung sagte mir ein Kbl., er sei durch den Unterricht in der Blindenkunde 20 Jahre jünger geworden. Damit wollte er nur andeuten, dass er jetzt Selbstvertrauen gefunden habe, seine Leistungen richtig einschätze und hoffe, sich im Leben behaupten zu können. Das ist ihm im vollen Umfange gelungen.

Nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen habe ich immer wieder feststellen müssen, dass die Zahl der Spätererblindeten immer weit größer ist, als die der Früherblindeten. Bei der methodischen Durcharbeitung der Unterrichtslektionen ist dieser Gesichtspunkt sehr wesentlich. Das Ziel all der Bemühungen im Unterricht der Blinden ist die Erziehung zur Selbständigkeit, zur Eingliederung in das Wirtschaftsleben und zur Einfügung in die Gemeinschaft der Sehenden. Allerdings erstreben wir dieses Ziel unter den Bedingungen der Blindheit, in der seelischen Haltung eines Menschen des "Trotzdem" und in der willensmäßigen und charakterlichen Einstellung eines Menschen, der sein gestecktes Lebensziel zäh verfolgt und verwirklicht.

Wie schon gesagt, sind die großen Männer und Frauen aus der Geschichte des Blindenwesens starke Stützen für die eigene Gestaltung und Führung des Lebens in Nacht. Dabei denken wir nicht nur an vergangene Zeiten, sondern vor allen Dingen auch an das Leben der Gegenwart. In unserer Heimat und auch anderswo leben Blinde, die unsere Vorbilder sind, von ihnen können wir lernen und ihnen sollen wir nacheifern. Die Waffen, die sie befähigen, ein erfolgreiches Leben als Blinde zu führen, können wir kennen lernen und selbst zur Anwendung bringen.

Die Überwindung des Schicksals der Blindheit ist gewährleistet durch eine klare Einsicht in Natur und Wesen der Lichtlosigkeit, in der Aktivierung der restlichen Sinne und geistigen Kräfte und Fähigkeiten, in der willensmäßigen Einstellung zur Berufsumschulung und Eingliederung in das praktische Leben. Mit dieser abschließenden nochmaligen Bemerkung beende ich meine grundsätzliche Einstellung zur Blindenkunde und zähle nachstehend die wichtigsten Themen des Lehrplans für dieses ordentliche Lehrfach auf.

  1. Erste Folgen der Blindheit für mein persönliches Leben
  2. Früh- und Spätererblindete
  3. Die Umstellung auf ein Leben in Nacht
  4. Wie orientiere ich mich?
  5. Sport und Leibesübungen fördern die körperliche Gewandtheit
  6. Der Führhund für Blinde
  7. Welche Berufsmöglichkeiten gibt es für Blinde?
  8. Welche charakterlichen Anforderungen stellt der Beruf?
  9. Schwierigkeiten bei der Eingliederung der Blinden in das Berufsleben
  10. Der Blinde in der Gemeinschaft der Sehenden
  11. Der Blinde in seiner Familie
  12. Der Blinde in den Vereinen und Organisationen der Sehenden
  13. Welche Bedeutung hat der örtliche Blindenverein für den Blinden?
  14. Die großen Blindenorganisationen
  15. Einrichtungen der Selbsthilfeorganisationen
  16. Entwicklung des Blindenwesens bis zur Gründung der 1. Pariser Blindenanstalt 1784
  17. Louis Braille und die Entwicklung der Punktschrift
  18. Die Bedeutung der Blindenbibliotheken
  19. Maschinen, Geräte, Karten und andere Hilfsmittel für Blinde
  20. Hervorragende blinde Männer und Frauen aus Vergangenheit und Gegenwart
  21. Gründung und Entwicklung der von Vinckeschen Prov. Blindenschule zu Soest-Warstein, 100-jähriges Jubiläum
  22. 30 Jahre Westfälischer Blindenverein
  23. Abgrenzung der Blindheit, Augenkrankheiten
  24. Soziale Bestrebungen der Blindenorganisationen
  25. Der Blinde im Recht
  26. Der Blinde in der Literatur
  27. Zeitschriften in Punktschrift

Ein Foto zeigt die Geste eines Kindes, das sich im Unterricht meldet: Zu erkennen ist ein erhobener Arm und ein gestreckter Zeigefinger. Bildunterschrift: Kinder haben im Fach "Blindenkunde" nicht viel zu melden - Reife und Lebenserfahrung sind Voraussetzung. Foto: pixelio.de / Dieter Schütz

Ernst Wirichs, Marburg-L.

Unsere Schülermitverwaltung

In: Marburger Beiträge zum Blindenbildungswesen, 1958, H. 3/4, S. 72-75 (nur in Punktschrift)

Es wird heute wohl an jeder Oberschule der Bundesrepublik eine Schülermitverwaltung bestehen, doch sind ihre Aufgaben und Rechte in allen deutschen Ländern verschieden.

Die Organe der Schülermitverwaltung sind: Die Klassensprecher mit ihren Vertretern, der Schülerrat, der Schulsprecher nebst Vertreter, der Vertrauenslehrer und die Schülergemeinde.

Jede Klasse wählt in geheimer Wahl ihren Sprecher und dessen Vertreter. Diese bilden den Schülerrat, aus dessen Mitte der Schulsprecher mit seinem Vertreter ebenfalls durch geheime Wahl hervorgeht. Außerdem wählt der Schülerrat den Vertrauenslehrer. Von Zeit zu Zeit wird die Schulgemeinde einberufen, an der die gesamte Schülerschaft sowie das Lehrerkollegium und der Direktor teilnehmen.

Jedem der einzelnen Organe der Schülermitverwaltung fallen bestimmte Aufgaben zu. Die Hauptaufgabe des Klassensprechers ist es, die Interessen der Klasse beim Klassenlehrer und vor dem Lehrerkollegium zu vertreten. Außerdem soll er für Ruhe und Ordnung innerhalb der Klasse sorgen. Er führt die genehmigten Sammlungen durch. Alle in der Klasse entstandenen Sachschäden dem Klassenlehrer zu melden, gehört ebenfalls zu seinen Aufgaben.

In den Schülerratssitzungen werden zusammen mit dem Vertrauenslehrer allgemeine Schulangelegenheiten besprochen, wie z.B. die Festsetzung von Sammlungen, aufgetretene Missstände usw. Diese Sitzungen werden vom Vertrauenslehrer geleitet, der der Mittler zwischen Schülern und Lehrern ist.

An der Spitze des Schülerrates steht der Schulsprecher, der die Belange der Schülerschaft sowohl vor dem Lehrerkollegium und dem Direktor als auch in der Öffentlichkeit zu vertreten hat. Er besucht die Sitzungen des Stadtschülerrings, in dem die Sprecher aller Schulen der Stadt zusammenkommen, um über alle Schüler angehende Fragen, wie z.B. kürzlich die Ermäßigung der Eintrittspreise für Schüler in Badeanstalten, zu beraten. Der Schulsprecher bemüht sich außerdem um gute Verbindungen zu den anderen Schulen am Ort, indem er z.B. mit ihnen Schachwettkämpfe usw. vereinbart.

Die Schulgemeinde wird nur im Bedarfsfalle einberufen. Hier hat jeder die Möglichkeit, Wünsche und Vorschläge zur Diskussion zu stellen. Sie dient der allgemeinen Aussprache und gegenseitigen Unterrichtung zwischen Schülern und Lehrern. Beschlüsse werden im Allgemeinen jedoch nicht gefasst. Einzelne Schüler berichten über Tagungen und Wettkämpfe, an denen sie als Vertreter der Schule teilgenommen haben, der Schulsprecher unterrichtet die Versammlung über die Verhandlungen im Stadtschülerring. Auch werden Probleme von allgemeinem Interesse, wie z.B. Vorschläge zur Freizeitgestaltung, erörtert.

Während noch vor einigen Jahrzehnten der gesamte Schulbetrieb ausschließlich von der Lehrerschaft bestimmt wurde, geht man heute dazu über, dem Schüler gewisse Aufgaben und Rechte einzuräumen. So soll bereits im jungen Menschen ein Verantwortungsbewusstsein geweckt werden, und er erhält die Möglichkeit, seine eigene Initiative frühzeitig im Rahmen des Möglichen zu entfalten. Die Schülermitverwaltung hat zum anderen den Vorteil, dass zwischen Schülern und Lehrern ein persönlicheres Verhältnis entsteht. Wir stehen noch am Anfang dieser Entwicklung, so dass natürlich noch viele Wünsche offen sind.

Fragen, die uns beschäftigen und die wir gern einmal in der Schulgemeinde zu gegebener Zeit besprechen möchten, sind:

  • Die Frage engerer Kontakte mit anderen Schulen, denn es ist für uns von besonderer Wichtigkeit, den Verkehr mit sehenden jungen Menschen zu pflegen, wobei wir die besondere Schwierigkeit dieser Kontakte (die auch von uns her besteht) nicht übersehen dürfen.
  • Ferner wünschen wir uns eine Vermehrung der Wandertage und, wenn es geht, auch der Studienfahrten.
  • Wir möchten uns gern über die Möglichkeit eines hausaufgabenfreien Wochenendes unterhalten.
  • Die Mädchen wünschen sich die Einrichtung eines Kochkurses und sind daran interessiert, dass in der neuen Schule für die Nadelarbeit mehr Möglichkeiten geschaffen werden möchten.
  • Durch den Schulneubau der Blindenstudienanstalt wird sich das Schulleben in mancher Hinsicht wandeln. Dabei werden wohl der Schülermitverwaltung auch neue Aufgaben zufallen (z.B. Betreuung der sich dann vergrößernden Klassenbüchereien usw.).

Mancher Wunsch wird vorerst, mancher vielleicht gar nicht erfüllt werden können. Doch haben wir eine Grundlage, auf der wir zusammen mit der Lehrerschaft weiterbauen können.

Auf dem zum Artikel gehörigen Bild lesen sechs Jugendliche Schüler mit ernsten Gesichtern an einem Tisch in ihren Punktschriftbüchern (schwarz-weiß-Foto). Bildunterschrift: Deutschunterricht in der blista, 1953. Foto: wikimedia.org / Bundesarchiv, B 145 Bild-F000487-0029 / CC-BY-SA 3.0

Recht

Uwe Boysen

Schlimmer statt besser

Fragen und Antworten zur Reform des Teilhaberechts* (Stand: 15.04.2016)

Vorbemerkung

Der horus und auch andere Medien der Behindertenselbsthilfe haben in den vergangenen Jahren umfangreich über den anstehenden Reformprozess hin zu einem Bundesteilhabegesetz und über die sich damit verknüpfenden Hoffnungen berichtet. Die Reform geht nun in die Gesetzgebungsphase. Statt Verbesserungen zu erreichen, sieht es nach dem vorliegenden Arbeitsentwurf zurzeit jedoch so aus, als ob gerade blinde und sehbehinderte Menschen eher mit Verschlechterungen zu rechnen haben werden. Im Folgenden werden einige Punkte herausgegriffen, die uns von Seiten der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe am Reformprozess besonders problematisch erscheinen, ohne dass die damit verbundenen Rechtsfragen erschöpfend behandelt werden könnten.

1. Welche Ziele hat die Reform?

Mit dem Gesetzesvorhaben verfolgt die Bundesregierung u. a. die Ziele der Verbesserung der Selbstbestimmung und Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, das Erbringen der Leistungen aus einer Hand, die Stärkung der Teilhabeberatung und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht. Leider wird der Entwurf diesen Zielen kaum gerecht.

2. Wie schon erwähnt, ist mit der Reform beabsichtigt, erhebliche Veränderungen bei der sog. Eingliederungshilfe (im Folgenden: EH) vorzunehmen. Was ist die EH eigentlich und wer profitiert von ihren Leistungen?

Die EH ist bisher im SGB XII geregelt. Sie soll, wie schon der Name sagt, eine Eingliederung behinderter Menschen in die Gesellschaft voranbringen. Dabei ist sie mit den Vorschriften des Schwerbehindertenrechts im SGB IX verzahnt (dort vor allem § 55). Zur EH gehören u. a. Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, auch zum Besuch weiterführender Schulen und Hochschulen, sowie zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit (§ 54 Abs. 1 Nrn. 1-3 SGB XII). Darunter fällt damit auch die Versorgung mit Hilfsmitteln. Einzelheiten regelt die EH-Verordnung (für eine ausführliche Darstellung vgl. Heft 7 der Schriftenreihe zum Blindenrecht unter 2.3.; http://www.dvbs-online.de/spezial/2006/9/33/index.htm; abgerufen am 14.4.2016).

Anspruchsberechtigt sind wesentlich behinderte Menschen, also auch Blinde oder wesentlich Sehbehinderte, wobei die Einkommens- und Vermögensgrenzen des SGB XII zu beachten sind. Besonders problematisch ist hier die Vermögensgrenze, die bei 2.600 € pro Monat für eine alleinstehende blinde Person liegt.

EH-Leistungen müssen einzeln beantragt werden. Es gibt - anders als beim Blindengeld oder der Blindenhilfe - keine Pauschalen. Entsprechend muss auch über die erbrachte Leistung vom Anspruchsberechtigten gegenüber dem Sozialhilfeträger abgerechnet werden.

3. Was soll sich nach dem Entwurf eines Teilhabegesetzes in diesem Bereich ändern?

Einerseits sind die Kosten der EH in den letzten Jahren exorbitant gestiegen, auch das ein Auslöser für die Reformbemühungen - insbesondere von Seiten der Länder und Gemeinden, die diese Lasten zu tragen haben. Andererseits ist versprochen worden, insbesondere die Einkommens- und Vermögensgrenzen großzügiger zu gestalten. Die Behindertenverbände haben darüber hinaus vehement deren völlige Abschaffung verlangt. Dem kommt der Gesetzentwurf bisher nicht nach. Allerdings wird die Vermögensfreigrenze nunmehr auf 25.000 Euro erhöht. Dennoch gibt es kaum Verbesserungen, z.B. wird auf die Heranziehung von Einkommen nicht verzichtet, sondern ein kompliziertes, mehrstufiges Verfahren für dessen künftige Anrechnung eingeführt. Ebenso erfolgt durch den Wegfall der Regelung zur häuslichen Ersparnis und mit den neuen Regelungen zu fach- und existenzsichernden Leistungen eine höhere Kostenbeteiligung der Eltern bei minderjährigen schwerstbehinderten Kindern und Jugendlichen.

Problematisch ist weiter, dass der neue § 97 SGB IX nunmehr für die Gewährung von EH-Leistungen nur noch eine „wesentliche Behinderung oder Teilhabeeinschränkung“ genügen lässt. EH-Entscheidungen im Wege des Ermessens, die es bislang gibt, sind damit für Personen mit einer als nicht wesentlich angesehenen Behinderung (u. U. für Sehbehinderte) nicht mehr möglich.

4. Es wird auch eine neue EH-Verordnung geben. Wie sieht sie aus, und was hat das für Folgen?

Im neuen § 97 SGB IX werden für die Gewährung von EH 9 Lebensbereiche definiert. Diese betreffen Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche sowie gemeinschaftliches, soziales und staatsbürgerliches Leben. Nach § 11 Abs. 1 der vorgesehenen EH-Verordnung müssen mindestens in fünf dieser Bereiche erhebliche Einschränkungen vorhanden sein, die nicht durch technische oder personelle Unterstützung ausgeglichen werden können. Alternativ sind EH-Leistungen auch zu gewähren, wenn mindestens in drei der genannten Lebensbereiche Aktivitäten gar nicht möglich sind. Die Frage, wann das der Fall ist und wann nicht, birgt erheblichen Konfliktstoff.

Gerade bei Menschen mit einer Sehbehinderung könnte es sein, dass sie nach der Neuregelung keine EH-Leistungen mehr beanspruchen können, wenn sie nur von einem dieser Lebensbereiche ausgeschlossen sind.

5. Gibt es durch den Entwurf weitere Probleme im Bereich der Bildung?

Hier stechen zwei Verschlechterungen hervor. Zum einen wird die freie Wahl der Schule ausgehebelt: wenn Eltern ihr Kind auf eine Blinden- und Sehbehindertenschule mit Internat schicken wollen, droht ihnen ein Leben auf Sozialhilfeniveau. Bisher waren nämlich die Kosten auf die häusliche Ersparnis in Folge der Internatsunterbringung begrenzt. Jetzt muss das gesamte Einkommen und Vermögen oberhalb der engen Sozialhilfegrenzen eingesetzt werden. So schafft man Blinden- und Sehbehindertenschulen durch die Hintertür ab!

Zum anderen wird der Leistungskatalog für die Teilhabe an Bildung deutlich eingeschränkt. Eine so wichtige Regelung wie diejenige zur Hilfsmittelversorgung fehlt vollständig. Besonders für Auszubildende kann das katastrophale Folgen haben, wenn sie teure Hilfsmittel künftig selbst finanzieren müssen. Die freie Berufswahl wird damit tendenziell zu einer Frage des Geldes!

6. Was ist aus dem Vorschlag eines Teilhabegeldes oder eines bundeseinheitlichen Blindengeldes geworden?

Ein Teilhabegeld für alle schwerbehinderten Menschen, wie es - untermauert durch detaillierte Regelungen - vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen mit Unterstützung vieler Behindertenverbände gefordert worden ist, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) schon frühzeitig abgelehnt. Erst durch einstimmigen Beschluss des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages vom 13. April d. J. ist das Thema kurzfristig jetzt offenbar wieder auf die politische Tagesordnung gelangt. Letztlich hängt diese Frage auch mit dem Länderfinanzausgleich zusammen. Derzeit bin ich hier nach wie vor skeptisch, wäre aber froh, mich zu irren. Dieselbe Skepsis beschleicht mich leider für die Forderung nach einem bundeseinheitlichen Blinden- und Sehbehindertengeld, dessen Finanzierung nach unseren Berechnungen durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hätte. Das Argument, dass es sich für sehbehinderte und blinde Menschen durch die krass unterschiedliche Höhe des Landesblindengeldes um evident ungleiche Lebensbedingungen je nach Wohnort handelt, hat bislang nicht verfangen.

7. Wird von den oben unter 3. genannten großzügigeren Einkommens- und Vermögensgrenzen bei der EH auch die Blindenhilfe nach dem SGB XII erfasst?

Das ist bisher nicht der Fall. Das BMAS steht auf dem Standpunkt, die Blindenhilfe im SGB XII sei keine Teilhabe-, sondern eine Pflegeleistung, die deshalb nicht ins SGB IX überführt werden könne. Dem haben wir vehement widersprochen, weil es sich bei der Blindenhilfe nach der neueren Rechtsprechung – zumindest auch – um eine Leistung zur sozialen Teilhabe handelt. Es ist schlechthin unverständlich, warum blinde Menschen nicht von den geplanten günstigeren Einkommens- und Vermögensgrenzen des neuen SGB IX profitieren sollen.

Zudem hätte die Nichtberücksichtigung der Blindenhilfe bei der Neuordnung des Teilhaberechts behinderter Menschen eine fatale Signalwirkung: alle Länder orientieren sich in ihren Landesblindengeldgesetzen an der Blindenhilfe. Das betrifft unter anderem die Zweckbestimmung der Leistung, die Ausgestaltung als Pauschalleistung und die Definition von Blindheit zur Feststellung des berechtigten Personenkreises. Wenn der Bund den Bedarf blinder Menschen nicht in Form einer eigenen Teilhabeleistung anerkennt, die mit der EH gleichgestellt ist, besteht die Gefahr, dass die Landesblindengelder einem noch stärkeren Druck bis hin zur Abschaffung ausgesetzt werden.

Wer insoweit auf die demnächst besseren Möglichkeiten der EH verweist, verkennt die Vorteile der Pauschalleistung der Blindenhilfe: ein bis ins Detail und in jeden noch so höchstpersönlichen Lebensbereich hinein ausgestaltetes individuelles Bedarfsermittlungssystem, wie es mit dem Recht der EH zwangsläufig verbunden ist, führt konsequenterweise zu einem hohen Maß an Preisgabe der eigenen Privatsphäre - abgesehen von den technischen Schwierigkeiten einer Antragstellung durch eine blinde Person. Diese muss demnächst darlegen, in welchem Umfang sie welche Hilfen im Alltag benötigt. Je nach Unterstützungsbedarf – und leider auch Durchsetzungsfähigkeit – bekommt sie eine bestimmte Leistung zuerkannt, deren Inanspruchnahme sie durch Quittungen etc. nachweisen muss. Das geht vielfach an der Lebenswirklichkeit blinder Menschen vorbei. Abgesehen davon, dass überhaupt nicht vorstellbar ist, wie die durch Blindheit verursachten umfassenden Mehraufwendungen exakt belegbar sind, wird blinden Menschen damit ein unverhältnismäßig hohes Maß an Bürokratie zugemutet. Das hat mit einem Nachteilsausgleich im menschenrechtlichen Sinne nichts zu tun, sondern führt uns zurück zum sozialhilferechtlich geprägten Bittstelleransatz.

Diese Konsequenz wird von den Entwurfsverfassern aber offenbar als selbstverständlich und hinnehmbar angesehen. Die Pauschalleistung der Blindenhilfe vermeidet gerade solche unzumutbaren Härten und trägt damit besser als die völlig individualistische EH zu einem Leben in Würde bei. Insoweit können die Blindengeldleistungen Vorbildcharakter beanspruchen anstatt als Auslaufmodell behandelt zu werden.

8. Was wollen die Organisationen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe gegen diese Schlechterstellung ihrer Mitglieder unternehmen?

Wir werden uns gemeinsam mit Nachdruck gegen diese nicht hinnehmbaren Folgen des Entwurfs stellen. Da hier von Regierungsseite derzeit kaum nennenswerte Verbesserungen zu erwarten sind, gilt es, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, aber auch die Bundesländer und letztlich die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit zu überzeugen, die aufgezeigten Mängel und weitere mit dem Entwurf verbundene Probleme so weit wie möglich zu beseitigen. Dazu brauchen wir auch Ihre und Eure Mithilfe. Wer hier über Ansprechpartner im politischen Raum verfügt, der sollte diese Kontakte nutzen. Für Rückfragen stehen DVBS und DBSV als Moderatoren zur Verfügung. Über weitere konkrete Schritte werden wir Sie in unseren Newslettern auf dem Laufenden halten.

Ich hoffe, diese Darstellung konnte erste Fingerzeige geben. Die Entwicklung ist bedrohlich. Aber gemeinsam ist es uns durch sachkundige Argumente schon oft gelungen, Angriffe auf Sozialleistungen für blinde und sehbehinderte Menschen abzuwehren. Darum sollten und müssen wir uns auch jetzt bemühen.

* Für Hinweise und teilweise Formulierungen danke ich Christiane Möller und Dr. Herbert Demmel.

Der Beitrag wird ergänzt durch ein Foto mit der Darstellung der Justitia, die mit verbundenen Augen vor einem aufgeschlagenen, dicken Gesetzesbuch steht. Bildunterschrift: Die neuen Regelungen zum Teilhaberecht haben z.T. erhebliche Auswirkungen auf Blinde und Sehbehinderte. Foto: Martin Moritz/pixelio.de

Bücher

Thorsten Büchner

Buchtipps aus der blista

Frederik Forsyth: Der Schakal

Piper, München, 2013 Bestellnummer: 4783, 4 Bde, KR, 86 Euro (in Papier und für Braillezeile erhältlich)

Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle soll vor einem eiskalten Attentäter geschützt werden. Doch der Plan des Superkillers aus London, genannt der "Schakal" und angeheuert von der französischen Untergrundorganisation OAS, scheint perfekt zu sein. Die Jagd, die quer durch Europa führt, steigert sich zum atemberaubenden Duell zwischen dem französischen Polizeiapparat und dem eiskalten Profimörder.

Siegfried Lenz: Der Geist der Mirabelle

Hoffmann und Campe, Hamburg, 2002 Bestellnummer: 4794, 1 Bd, K.98, 21,50 Euro (in Papier und für Braillezeile erhältlich)

Der Ort Bollerup ist - ebenso wie Suleyken - auf keiner Landkarte zu finden, aber dieses Dorf steht für das Landleben schlechthin, das sich nach des Autors Meinung auszeichnet "durch eine eigentümliche Erlebnisfähigkeit und eine spezifische Art, auf Erlebtes zu reagieren". Zu Bollerups Eigenheiten gehört unter anderem der selbstgebrannte Mirabellengeist. Er produziert seltsame Gedanken, aber auch erstaunliche Einfälle; er prägt sogar Charaktere. Von ihnen erzählt Lenz in jenem wortkargen und listigen Humor, den es eben nur in Bollerup gibt.

Illustriert wird dieser Buchtipp durch ein Foto mit einem Schnapsglas, gefüllt mit einer hellen Flüssigkeit, in der sich auch Früchte befinden. Bildunterschrift: In Lenz` Roman bewirkt der Mirabellengeist zum Teil erstaunliche Reaktionen. Foto: angieconscious/pixelio.de

Vera Herbst / Dagmar von Cramm: Gut essen bei erhöhtem Cholesterin

Stiftung Warentest, Berlin, 2012 Bestellnummer: 4761, 2 Bde, KR, 43 Euro (in Papier und für Braillezeile erhältlich)

Der Ratgeber der Ernährungsexpertin Dagmar von Cramm und der Apothekerin Vera Herbst erläutert den Zusammenhang von Fetten, Cholesterin und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und zeigt anhand von rund 80 Rezepten, wie man dem durch bewusste Ernährung entgegenwirken kann.

Ihre Bestellung richten Sie bitte an:

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Postfach 1160, 35001 Marburg.
Telefon: 06421/6060, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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blista-Extra-Tipp

Das geheime Leben der Bäume

Sachbuch-Bestseller von Peter Wohlleben - als Hör- und Punktschriftbuch erhältlich

Erstaunliche Dinge geschehen im Wald: Bäume, die miteinander kommunizieren. Bäume, die ihren Nachwuchs, aber auch alte und kranke Nachbarn liebevoll umsorgen und pflegen. Bäume, die Empfindungen haben, Gefühle, ein Gedächtnis. Bäume bekommen sogar Sonnenbrand und Falten. Unglaublich? Aber wahr! - Der Förster Peter Wohlleben erzählt faszinierende Geschichten über die ungeahnten und höchst erstaunlichen Fähigkeiten der Bäume. Dazu zieht er die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse ebenso heran wie seine eigenen unmittelbaren Erfahrungen mit dem Wald.

Wohlleben arbeitet als umweltbewusster Förster in der Eifel an der Wiederherstellung eines 1.200 Hektar großen Urwaldes. Mit seinem Buch schafft er eine aufregend neue Begegnung für die Leser: wir schließen Bekanntschaft mit einem Lebewesen, das uns vertraut schien, uns aber hier erstmals in seiner ganzen Lebendigkeit vor Augen tritt. Und wir betreten eine völlig neue Welt.

Seit Monaten steht „Das geheime Leben der Bäume“ von Peter Wohlleben unangefochten an der Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste für Sachbücher.

Nun können auch blinde und sehbehinderte Waldliebhaber den verblüffenden Geheimnissen nachspüren, die Wohlleben in seinem Bestseller präsentiert. „Das geheime Leben der Bäume“ ist als Punktschriftbuch, aber auch als DAISY-Hörbuch bei der blista erhältlich.

Der Literaturkritiker Dennis Scheck lobte in seiner Sendung „Druckfrisch“ den „unprätentiösen Stil“ des Buches und fasste seine Leseerfahrungen folgendermaßen zusammen: „Jeder, der dieses Buch gelesen hat, betritt den Wald mit anderen Augen!“

Punktschrift

  • Peter Wohlleben
  • Das geheime Leben der Bäume
  • Ludwig, München, 2015 Bestellnummer: 4807, 2 Bde, KR, 43 Euro und zur Ausleihe (in Papier und für Braillezeile erhältlich)

Hörbuch

  • Peter Wohlleben
  • Das geheime Leben der Bäume
  • Bestellnummer: 770001 Laufzeit: 7 Std. 38 Min.

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Der Extra-Tipp wird ergänzt durch ein Foto, das mehrere Zweige von Bäumen beim Erblühen während des Frühlings zeigt. Bildunterschrift: Nach dem Lesen des außergewöhnlichen Buches von Wohlleben nimmt man Bäume anders wahr. Foto: markus walther/pixelio.de

Hörbuch-Download: jetzt in der DZB möglich

Es ist soweit: Die DZB hält ab sofort über 33.000 DAISY-Hörbücher für den Download über das Internet bereit. Unter www.dzb.de/daisykatalog können die Nutzer in Online-Hörbuchkatalogen recherchieren, CDs bestellen und Hörbücher direkt oder über das installierte Programm BliBu Leipzig auf den PC herunterladen. Für beide Varianten des Downloads erhält der Nutzer von der DZB einen Nutzernamen und ein Passwort.

Aber auch der Download auf internetfähige DAISY-Abspielgeräte ist möglich. Wer Bücher über eine App auf seinem Smartphone bzw. Tablet hören möchte, wird ab Mai 2016 auch diesen Weg des Downloads nutzen können.

Weitere Informationen erhalten Sie im Kundenmagazin in puncto DZB 1/2016 sowie telefonisch unter 0341 7113 116 bzw. 118 sowie per E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Technische Fragen richten Sie bitte an:

Tel.: 0341 7113-179, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! oder

Tel.: 0341 7113-145, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Sabine Hahn

Hörtipp

Faszination Computerspiele: Basisinformationen und praktische Tipps zum pädagogischen Umgang mit Computerspielen. Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Wer kennt sie nicht: desinteressierte Kinder und Jugendliche. Werden sie etwa nur für Computerspiele munter? Eltern und Erzieher wittern Spielesucht. Schließlich verbringen die meisten Jugendlichen ohnehin viel Zeit im Internet.

Ja, Gefahren gibt es - auch für Erwachsene. Aber nicht immer muss das Tun und Lassen des Nachwuchses streng kontrolliert werden. Um einen Draht zu Spielenden zu finden, reicht es vielleicht aus, die Perspektive zu wechseln und selbst einmal zum Gamer zu werden. "Computerspiele bieten der Pädagogik die Chance, direkt an der Lebenswelt junger Menschen anzuknüpfen", meinen die Autoren, und sie machen Lust, eigene Spielerfahrungen zu sammeln.

Es wird Zeit. Denn seit den 1970er Jahren sind Computerspiele kommerziell erfolgreich, seit der Jahrtausendwende sind sie aufgrund ihrer Popularität ein Massenphänomen. Welche Genres und Spielweisen gibt es? Worin besteht ihre Faszination, warum werden Spielende vom Bildschirm so gefesselt? Und wie sieht es mit dem Jugendschutz aus?

Um Potenziale und Risiken abzuschätzen und Medienkompetenz zu vermitteln, sollten zumindest pädagogische Fachkräfte Computerspiele einmal selbst erleben. Die kurze Broschüre verweist auf entsprechende Workshops, Projektbeispiele und Internetangebote. Sie richtet sich in erster Linie an "Newbies", also Neulinge oder Anfänger, und bietet durch das kurze Glossar im Anhang die Möglichkeit, in eine neue Welt der Begrifflichkeiten einzutauchen. Dies könnte ein erster Schritt sein, um junge (und ältere) Computer- und Konsolenspielende besser zu verstehen.

Die DAISY-CD ist 46 Minuten lang und wurde von Achim Hötzel gelesen. Bestellungen richten Sie bitte an den DVBS-Textservice, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon: 06421 94888-22, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! (Bestellnummer 17321, € 5,75).

Der Hörtipp wird illustriert durch ein Foto eines Computerbildschirmes, der – vor einem dunklen Weltraum - den Planeten Erde abbildet, der von einem durchsichtigen Wasserschleier bedeckt ist. Bildunterschrift: Computerspiele sind bereits seit den 70er Jahren ein Phänomen, das viele Menschen begeistert. Foto: hero.2007/pixelio.de

Panorama

Irene E. Girschner

BFW Würzburg: Abschlussfeier des bundesweit ersten Kurses zum Schriftdolmetscher barrierefrei - Irmgard Badura würdigt die einzigartige Ausbildung

Acht Leuchttürme, acht glückliche Absolventen der bundesweit ersten barrierefreien Fortbildung zum Schriftdolmetscher und acht Gründe zum Feiern. „Ich wünsche den Absolventinnen und Absolventen viel Erfolg im Berufsleben", gratulierte die Schirmherrin und Initiatorin der Ausbildung, Irmgard Badura, am 12. Februar 2016 im Rahmen der feierlichen Zeugnisübergabe. Die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung ergänzte: "Die Chancen dafür stehen sehr gut."

Schriftdolmetscher verschriftlichen das Gesprochene noch während des Redens, damit es gleichzeitig gelesen werden kann. Christoph Wutz, Geschäftsführer des Berufsförderungswerks (BFW) in Veitshöchheim, erläuterte in seiner Begrüßung die Besonderheiten dieser Fortbildung: „Ausbildungen zum Schriftdolmetscher gibt es einige, aber unser Kurs ist der erste barrierefreie und damit ist der Kurs "doppelt inklusiv“. Denn mit dieser Weiterbildung werden blinde oder sehbehinderte Menschen befähigt, das gesprochene Wort simultan in geschriebene Sprache umzusetzen und damit hörgeschädigten bzw. gehörlosen Menschen zugänglich zu machen“.

„Ich finde es sehr beeindruckend, wenn Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gemeinsam Barrieren überwinden können", so Irmgard Badura. Wie das konkret funktioniert, erlebten die Gäste während der Festrede in einer Live-Demonstration via Internet.

Als Zeichen des Mutes der Absolventen, sich auf eine neue Ausbildung einzulassen, und um die besondere Signalwirkung des Kurses hervorzuheben, erhielt jeder der neuen Schriftdolmetscher neben dem Zeugnis auch einen Leuchtturm - eine Inklusionsarbeit der Zerspanungsmechaniker des BFWs.

Umrahmt wurde die Abschlussfeier von der selbst sehbehinderten deutsch-kamerunischen Sängerin Sang Ganyonga.

Die nächste Ausbildung zum Schriftdolmetscher barrierefrei startet am 1. Juni 2016. Nähere Informationen sind online unter als PDF-Dokument abrufbar.

Der Beitrag wird durch ein Foto ergänzt. Auf diesem halten die Schriftdolmetscher lachend ihre Zeugnisse in einer Hand, mit der anderen Hand heben sie die Leuchttürme hoch. Bildunterschrift: Die acht neuen Schriftdolmetscher barrierefrei freuen sich über die bestandene Prüfung. Von links, erste Reihe (sitzend): Mirien Carvalho, Elisabeth Seemüller, Melanie Fleischmann, Anne Günther. Zweite Reihe (stehend): Stefan Müller, Agnes Kappaun, Roxanne Dibrell, Frank Dettenrieder, Irmgard Badura (Beauftragte der Bay. Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung), Christoph Wutz (BFW-Geschäftsführer). Foto: Dieter Gürz.

Anja Brockhagen

Neues Internetportal „REHADAT-Werkstätten“ online

Sie sind Arbeitgeber und möchten Ihre Ausgleichsabgabe reduzieren? Sie möchten bei der Gartenarbeit unterstützt werden, wollen Flyer drucken lassen oder suchen einen Anbieter von Bio-Lebensmitteln oder einen Party-Service in Ihrer Nähe?

Unter www.rehadat-wfbm.de können Sie umfangreiche Informationen zu allen anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und Blindenwerkstätten in Deutschland abrufen. Dort erhalten Sie zum Beispiel einen Überblick, welche Auftragsarbeiten, Dienstleistungen und Produkte die jeweilige Werkstatt anbietet.

Außerdem können sich Nutzer über die Möglichkeiten für behinderte Menschen informieren. Zum Beispiel, welche behinderten Menschen aufgenommen werden, ob Außenarbeitsplätze vorhanden sind, welche Tätigkeiten im Berufsbildungsbereich möglich sind oder wie der Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt gelingen kann.

Einige Werkstätten bieten Bildungsmaßnahmen an, die über die berufliche Grundqualifizierung hinausgehen, haben besondere Weiterbildungsmaßnahmen im Angebot oder machen den Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt möglich. Auch das ist im Portal REHADAT-Werkstätten erfasst.

Einen guten Überblick über die Inhalte des Portals gibt die thematische Navigation. Mit der Detailsuche kann der Nutzer gezielt nach bestimmten Werkstätten, Produkten, Auftragsarbeiten, Postleitzahl oder Ort recherchieren.

REHADAT-Werkstätten wird im Rahmen des Informationssystems REHADAT angeboten, dem deutschen Informationsportal zu Behinderung und beruflicher Teilhabe (www.rehadat.de). Das Projekt des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.

Kerstin Blochberger

Ratgeber "Elternassistenz": Beratungserfahrung des abgeschlossenen Modellprojekts "Elternassistenz erproben" kommt Interessierten zugute

"Elternassistenz erproben – Artikel 23 UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen" lautete ein Projekt des Bundesverbandes behinderter und chronisch kranker Eltern e. V. (bbe e. V.), das von 2013 bis 2016 mit Unterstützung von Aktion Mensch durchgeführt wurde. Zum erfolgreichen Abschluss des Modellprojektes ist nun der Ratgeber "Elternassistenz" erschienen.

Innerhalb dreier Jahre erhielten bundesweit rund 500 Menschen Beratung zum Thema Elternassistenz, mindestens 100 Eltern wurden bei der Beantragung der Elternassistenz konkret unterstützt. An zwei Beratungsstandorten - in Erfurt und Hannover - konnte die Arbeit der Selbsthilfegruppen behinderter Eltern beispielhaft gut vernetzt und ausgebaut werden. Im Rahmen mehrerer bundesweiter Tagungen wurde das Thema Unterstützung für Eltern mit Behinderungen interdisziplinär und behinderungsübergreifend diskutiert. Auch auf Bundesebene haben die selbst behinderten Mitarbeiterinnen des Projektes viel geleistet: „Aktiv haben wir an mehreren Studien in wissenschaftlichen Beiräten und als Fachexpertinnen mitgearbeitet. So konnten wir bewirken, dass Elternschaft von Menschen mit Behinderungen von Beginn an mitgedacht wird", erläutert Kerstin Weiß vom Vorstand des bbe e. V.

Auch in die Diskussion um Einkommens- und Vermögensgrenzen für die Elternassistenz brachte sich der Bundesverband mehrfach ein. Denn die bbe-Umfrage zum Thema Elternassistenz im Jahr 2015 hatte ergeben, dass nur jede dritte Familie, die Elternassistenz benötigt, einen Antrag auf finanzielle Unterstützung stellen kann. Alle anderen Familien müssen die behinderungsbedingten Hilfen bei der Versorgung der Kinder komplett selbst finanzieren und leben deshalb trotz Erwerbseinkommen auf Sozialhilfeniveau.

Ebenfalls zu den erfolgreichen Ergebnissen des Modellprojekts gehört der Ratgeber „Elternassistenz: Unterstützung für Eltern mit körperlichen Behinderungen, Sinnesbehinderungen und chronischen Erkrankungen“. Er liefert Informationen zur Situation betroffener Eltern und gibt Tipps für die Beantragung und Organisation personeller Hilfen zur Pflege und Versorgung der Kinder. Seine Kurzversion ist auch in Leichter Sprache erhältlich. Beide Versionen stehen auf der zur Verfügung. Homepage des bbe e. V.

Der Beitrag wird durch eine Abbildung des Titelblatts des Ratgebers illustriert. Darauf sind verschiedenen Assistenzszenen (etwa ein Kind beim Baden) als Schwarz-Weiß-Illustrationen auf einem ansonsten grünen Blatt zu erkennen.

Niels Luithardt

Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel auf dem Weg zu einer inklusiven Hochschule

Im letzten Jahr gab es viel zu feiern an der Kieler Universität - nicht nur das 350-jährige Bestehen der Hochschule, sondern auch die öffentliche Vorstellung des Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung an der CAU Kiel.

Alles begann im November 2014 mit einer "Kick-off" Veranstaltung. Das Präsidium der CAU hatte sich an alle Studierenden und Mitarbeitenden gewandt und um aktive Teilnahme bei der Erstellung des Aktionsplans gebeten. Allein schon diese Vorgehensweise macht den Aktionsplan zu etwas Besonderem: Dies ist kein "Top-Down-Prozess", sondern hier wird viel Wert auf die Partizipation Betroffener mit Expertise in eigener Sache gelegt.

Im Rahmen der Auftaktveranstaltung wurde eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Die Teilnehmenden schilderten ihre positiven und negativen Erfahrungen zum Thema Inklusion an der CAU. Schnell wurde klar, dass es in einigen Teilbereichen durchaus gute Ansätze gibt. An einigen Stellen ist jedoch noch viel zu tun. Daher wurden Handlungsfelder und Themen für Arbeitsgruppen benannt.

Im November 2015 war es dann so weit: Der Aktionsplan wurde im Rahmen einer hochschulöffentlichen Veranstaltung einem breiten Publikum präsentiert.

Seit November läuft nun die Umsetzung des Aktionsplans und ist Teil der Initiativen und Vorhaben zugunsten einer barriere- und diskriminierungsarmen Hochschule.

Gerade im Hinblick auf den Um- und Neubau von Einrichtungen auf dem Campus wird es noch dauern, bis alle Barrieren behoben sein werden - sofern das überhaupt möglich sein wird. Die Universität steht jedoch in einem sehr konstruktiven Dialog mit den Denkmalschutzbehörden, um die CAU auch als "barrierefreies Denkmal" zu gestalten.

Der Aktionsplan mit vielen konkreten Maßnahmen - z. B. einer Checkliste für barrierefreie Veranstaltungen - ist in barrierefreier Form zugänglich.

Der Autor ist Inklusionsbeauftragter des AStA. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Auf dem zum Beitrag gehörenden Bild ragt ein Hochhausgebäude der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in den blauen Himmel. Von der linken Seite des Fotos führt eine niedrigere Wand mit dem Schriftzug der Universität diagonal auf das Hochhaus zu. Bildunterschrift: Studieren ohne Barrieren und Diskriminierung: Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel auf dem Weg in die Zukunft Foto: CAU Kiel

Marike Götz

Schneiden, Mischen, Mastern – Etablierte Audioschnittprogramme im Test

Ein wichtiger Aspekt zur Sicherstellung von Arbeitsplätzen von Menschen mit Behinderung ist die Barrierefreiheit von Anwendungssoftware, die in ihrem Arbeitsalltag Verwendung findet.

Das Projekt BIT inklusiv setzt sich mit der Etablierung von Kompetenzstellen und -zentren für den Transfer von Fachwissen im Bereich barrierefreie IT ein. So vermittelte BIT inklusiv im Hessischen und Norddeutschen Rundfunk IT-Expertenwissen. In diesem Zusammenhang testete der Kirchenmusiker, Musiklehrer und Betreiber eines kleinen kommerziellen Tonstudios, Michael Kuhlmann, als freier Mitarbeiter des Projektes verschiedene Audioschnittprogramme auf ihre barrierefreie Bedienbarkeit im Produktionsprozess.

Im Interview mit BIT inklusiv stellt er in der kommenden Ausgabe des horus seine Ergebnisse vor und verdeutlicht, worauf bei der Nutzung dieser Anwendungssoftware geachtet werden muss.

Barrierefreiheit und Mobilität

Marike Götz

Das Ziel: Barrierefreie Software inklusiv entwickeln - Erfolgreiche Kooperation zwischen DVBS und der QuinScape GmbH

Das Projekt BIT inklusiv des DVBS fördert den Aufbau von „Kompetenzzentren für barrierefreie IT“ durch die Qualifizierung von Schlüsselpersonen und IT-Fachkräften in Behörden und Unternehmen.

Der Dortmunder IT-Dienstleister QuinScape entwickelt branchenübergreifend Softwarelösungen zur Optimierung und Vereinfachung von Geschäftsprozessen. Zwei Jahre nach Abschluss der Kooperationsvereinbarung zwischen QuinScape und dem DVBS zum Aufbau eines Kompetenzzentrums für barrierefreie IT trifft sich der horus mit Christoph Gesting, Creative Lead von QuinScape, für ein Resümee. Das Gespräch zeigt, wie das Bewusstsein und die Nachfrage nach barrierefreier IT ansteigt und wie wichtig Projekte wie BIT inklusiv sind, um die Gestaltung barrierefreier IT in den Betrieben zu unterstützen.

Herr Gesting, welche Intention stand hinter der Entscheidung, sich als Kompetenzzentrum von BIT inklusiv zertifizieren zu lassen?

QuinScape bedient nicht nur Kunden aus der Wirtschaft, sondern realisiert auch Projekte im öffentlichen Sektor; beispielsweise deutschlandweite und bürgernahe Internetpräsenzen. Ein weiterer Punkt war, unseren Kunden sowie bei Ausschreibungen ein optimales und vollständiges Angebot aus einer Hand anbieten zu können.

Welche besondere Bedeutung hat die zertifizierte Kompetenz von QuinScape in Bezug auf Ihre Kunden im nicht-öffentlichen Sektor?

Schon seit längerer Zeit zeichnet sich auch in diesem Bereich ein deutlicher Anstieg der Nachfrage – nicht nur für den Internet-Bereich – ab. Die Anforderungen an die Zugänglichkeit von IT-Anwendungen nehmen vor allem durch die Verbreitung von mobilen Geräten in Beruf und Privatleben zu.

Welche Vorteile sehen Sie in der barrierefreien IT-Gestaltung?

Ich sehe in der barrierefreien IT-Gestaltung eher eine Verbesserung des Produktes als „Vorteile“. Ich sage unseren Kunden: „Wenn Sie Ihr Produkt barrierefrei gestalten, steigert dies zugleich erheblich die Usability ihres Produktes.“ In Workshops belege ich diese Behauptung dann empirisch. Die Reaktionen sind sehr positiv.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Durch die Prüfschritte der BITV 2.0 werden wichtige Standards eingehalten. Viele dieser Prüfschritte verbessern den Bedienfluss und die Gebrauchstauglichkeit. Schon in frühen Konzeptionsschritten kann beispielsweise der Designer vor der Entwicklung das Projekt effektiv lenken, wenn er nah an der Thematik ist. Nachträgliche Evaluierungen sind oft zeit- und kostenintensiv.

BIT inklusiv vermittelt Fachwissen zur barrierefreien IT-Gestaltung. Wie wurden die BIT-inklusiv-Workshops von Ihren Kolleginnen und Kollegen aufgenommen?

Die Workshops wurden von allen Teilnehmern positiv wahrgenommen. Die Sensibilisierungsmaßnahmen konnten sofort in den Arbeitsfluss der einzelnen Fachabteilungen einfließen. Nicht nur die Umwelt wird jetzt anders wahrgenommen – ich spiele dabei auf das Sensibilisierungs-Modul an, in dem die Teilnehmer Simulations-Brillen ausprobieren konnten.

Was hat sich bei QuinScape nach den Workshops verändert?

Wir haben die internen Prozesse optimiert und auf die neu erlernten Fähigkeiten angepasst. In der Zeit nach den Workshops wurden Schlüsselpersonen aus ausgewählten Fachabteilungen weiterqualifiziert. Zusammen haben wir zusätzliche Angebots- und Consultingpakete für unsere Kunden geschnürt. Wir sind sogar einen Schritt weitergegangen und bieten Auffrischungskurse oder sogenannte „Techtalks“ für interessierte oder neue Mitarbeiter an. Des Weiteren haben wir eine interne Hotline für QuinScape-Mitarbeiter eingerichtet, die es ermöglicht, schnell Fragen rund um das Thema zur Gestaltung barrierefreier IT beantwortet zu bekommen.

Nehmen Ihre Kunden QuinScape als Kompetenzzentrum wahr?

Die Erfahrung zeigt, dass sich die Wahrnehmung trotz aktiver Kommunikation nicht einfach ändern lässt. Vielen Kunden ist diese Zertifizierung noch nicht bekannt. Hier muss noch aktiver kommuniziert werden.

Mit welchen Problemen und Fragestellungen sehen Sie sich am häufigsten bei der Beratung konfrontiert?

Viele IT-Entscheider sind im Irrglauben, eine Software sei genau dann barrierefrei, wenn ein Blinder sie bedienen kann. Dabei macht diese Zielgruppe nur eine kleine Teilmenge der ca. 1,1 Mio. arbeitsfähigen schwerbehinderten Menschen aus. Oft sind wir mit individuellen Problematiken einiger Hersteller konfrontiert. Diese Problematiken überprüfen und evaluieren wir dann gemeinsam mit unseren Kunden. Viele Fragestellungen beschäftigen sich auch mit dem Thema: „Wann bin ich barrierefrei und wer bestimmt das?“

Herr Gesting, vielen Dank für das Gespräch.

Zum Beitrag gehört ein Portraitbild, auf dem ein junger Mann mit dunkler Kurzhaarfrisur, dunklem Hemd und schwarzer Krawatte lächelnd in die Kamera schaut. Bildunterschrift: Christoph Gesting von QuinScape stand dem horus Rede und Antwort. Bild: privat

Herbert Rüb / Marike Götz

Projekt BIT inklusiv: Ergebnisse von Befragungen über IT-Barrieren an Arbeitsplätzen

Die Ausgangssituation

Eine wichtige Voraussetzung für eine inklusive Arbeitswelt und die dauerhafte Beschäftigung blinder und sehbehinderter Menschen ist die barrierefreie Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Informationstechnik. Bislang werden die Probleme bei der Nutzung der Informationstechnik vorwiegend individuell betrachtet und es wird versucht, Probleme mit IT-Barrieren über Einzelplatzanpassungen auszugleichen.

Die schnellen technischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen im Rahmen der zunehmenden Digitalisierung erhöhen die Zugangsprobleme von blinden und sehbehinderten Beschäftigten zu modernen IT-Anwendungen und zu Arbeitsvorgängen, wie z.B. Dokumentenmanagementsystemen oder der elektronischen Aktenführung. Individuelle Arbeitsplatzanpassungen stoßen zunehmend an technische, organisatorische, motivationale sowie finanzielle Grenzen.

Ziel: Die Ermittlung gängiger IT-Zugangs- und Nutzungsprobleme an Arbeitsplätzen

Um eine übergreifende barrierefreie IT-Gestaltung gewährleisten zu können, braucht es gesicherte Erkenntnisse, worin gängige IT-Zugangsprobleme bestehen. Mit Hilfe empirischer Erhebungen hat BIT inklusiv Barrieren bei der Nutzung von Websites, elektronischen Dokumenten und Anwendungssoftware durch Befragungen von betroffenen Anwendern und Experten ermittelt. Dies schloss die Ermittlung von Anwendungssoftware ein, die häufig an Arbeitsplätzen von Blinden und Sehbehinderten zum Einsatz kommt und Zugangsprobleme bereitet. Darüber hinaus wurde nach gegebenen und zukünftigen Beschäftigungsmöglichkeiten von blinden und sehbehinderten Menschen gefragt.

Wer befragt wurde

Zielgruppe der Interviews waren Personen, die in Berufsfachgruppen des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV) aktiv sind. Die Interviewten sollten möglichst aus verschiedenen Beschäftigungsbereichen stammen, um Einblicke in unterschiedliche Anwendungszusammenhänge geben zu können. 46 blinde und sehbehinderte Beschäftigte konnten in diesem Zusammenhang interviewt werden. Vertreten sind Personen aus den Bereichen Rundfunk, Medien, Justiz sowie aus Verwaltungen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Die Interviews erfolgten im 2. Halbjahr 2014 sowie im Frühjahr 2015. Ergänzend wurden insgesamt fünf Experteninterviews mit dem Ausbildungs- und Lehrpersonal der Berufsförderungswerke für Blinde und Sehbehinderte in Würzburg und Düren sowie der Berufsbildungswerke in Chemnitz und Soest geführt.

Viele IT-Barrieren

Als zentrales Ergebnis der Interviews mit den Betroffenen und dem Fachpersonal der Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke lässt sich festhalten, dass im Umgang mit Anwendungssoftware eine Vielzahl an Schwierigkeiten auftreten, welche die tägliche Arbeit der Betroffenen belasten. Dabei ist auffällig, dass vor allem Spezial- oder Eigenanwendungen der Unternehmen bzw. öffentlichen Verwaltungen häufig nicht oder wenig barrierefrei sind. Diese bereiten große Schwierigkeiten bei der Nutzung von Screenreadern und Vergrößerungssoftware. Die Probleme liegen dabei insbesondere im Bereich der Navigation und Steuerung und äußern sich durch eine nicht funktionierende oder nicht ausreichende Cursorverfolgung, Sprachausgabe oder Tastaturbedienbarkeit. Auch die Gestaltung von Datenbankoberflächen oder betriebsspezifische Anpassungen von Produkten erschweren oder verhindern die Nutzung mit den technischen Hilfsmitteln.

Hoher Assistenzanteil

42 Prozent der Befragten sind bei ihrer täglichen Arbeit auf eine Arbeitsplatzassistenz angewiesen. Der Bedarf an Arbeitsplatzassistenz ist dabei teilweise erheblich und häufig durch Barrieren in der Nutzung von Softwareprodukten bedingt, obwohl die Arbeitsaufgaben und -prozesse bereits an die besonderen Erfordernisse der Beschäftigten angepasst waren. Beinahe alle Befragten berichteten dabei über einen erheblichen Mehraufwand, den sie im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen zu leisten hätten. Festgestellt werden konnte auch, dass viele Befragte ein hohes Maß an Engagement und Erfindungsreichtum bei der individuellen Problemlösung in Bezug auf Barrieren bei der Nutzung von Anwendungssoftware entwickeln. Dennoch konnten sie nach eigener Aussage nicht immer ihren Aufgaben im vollen Umfang gerecht werden bzw. sind auf Unterstützung angewiesen. Die barrierefreie Gestaltung des Arbeitsplatzes für blinde und sehbehinderte Menschen bleibt damit auch zukünftig eine große Herausforderung.

Illustriert wird der Artikel mit dem Bild eines jungen Mannes, der mit Brille und Ohrstöpseln in einem hellen Büroraum einen Scanner bedient. Bildunterschrift: Barrierefreiheit bedingt den Abbau von IT-Barrieren an Arbeitsplätzen und sollte schnellstens für alle Blinden und Sehbehinderten gewährleistet werden. Bild: Fotolia

Berichte und Schilderungen

Bianca Kronhardt

Zeitenwende: vom Leben nach der blista - Wege entstehen, wenn man sie geht

Abitur – und dann?

Schon während der Berufsorientierungswochen in der Oberstufe war mir klar, dass meine beruflichen Wahlmöglichkeiten durch meine Einschränkungen (visuell und körperlich) eng begrenzt sind – was natürlich auch ein Vorteil sein kann, denn wer die Wahl hat, hat die Qual. Gequält hat mich eher - trotz zahlreicher Informationsveranstaltungen, die ich an der Uni besucht hatte - eine gewisse Verunsicherung, denn ich würde als eine der ersten Studentinnen den neu eingerichteten Bachelorstudiengang durchlaufen. Zumindest, wenn ich mich für ein Studium der Erziehungs- und Bildungswissenschaften in Marburg entscheiden würde. Alles Vertraute wollte ich nach der Zeit an der blista dann doch nicht auf einen Schlag hinter mir lassen, und ein wenig hoffte ich auch, dass ich an der Uni Marburg mit meiner Sehbehinderung keine totale Exotin wäre – so, wie ich es an der Regelschule vor der blista-Zeit erlebt hatte.

FSJ – nicht umsetzbar und doch eine wertvolle Erfahrung für mich

Mit dem Gedanken, Versuchskaninchen im neuen Studienmodell zu werden, ging es mir nicht gut. Außerdem fühlte ich mich trotz BOSS-Wochen an der blista noch nicht sicher in meiner Entscheidung über meinen zukünftigen Werdegang. Eine Frage wollte vorher noch beantwortet werden: Würde in der pädagogischen Praxis alles so klappen, wie ich es mir vorstellte und wünschte?

Also machte ich mich ernsthaft auf die Suche nach einer Möglichkeit für ein Freiwilliges Soziales Jahr. Ich informierte und bewarb mich bundesweit. So schwierig konnte das doch alles nicht sein - dachte ich jedenfalls. Von Seiten der Träger (Kirche, Rotes Kreuz etc.) herrschte von Anfang an große Skepsis, ob ein Einsatzfeld für mich gefunden werden kann, das meinen Möglichkeiten entspricht und gleichzeitig Entlastung für die mich beschäftigende Einrichtung bringt. Der finanzielle Aspekt stand für mich dabei nicht im Vordergrund – ich wollte in erster Linie Erfahrungen sammeln. Also erklärte ich mich bereit, auch einen Platz für 16-jährige FSJler statt einen ab 18 Jahre anzunehmen, wobei der Unterschied in der Staffelung des Aufgabenprofils und der Eigenverantwortung lag. Ich führte einige Gespräche mit einer Kita-Leiterin, die mich bereits aus einem Praktikum kannte und sich grundsätzlich vorstellen konnte, mich einzustellen. Allerdings ereignete sich in dieser Zeit in einer Nachbarkita ein tragischer Unfall, der uns alle erschütterte: ein Kind strangulierte sich beim Spielen auf einer Rutsche mit einem Hüpfseil. Obwohl sich später herausstellte, dass in diesem konkreten Fall kein Verschulden einer Aufsichtsperson maßgeblich war, bekam die Frage der Aufsichtspflicht einen ganz neuen Stellenwert in meinen Überlegungen. Kann ich dieser mit meiner Sehbehinderung überhaupt nachkommen? Sollte ich vielleicht immer auf eine Arbeitsassistenz angewiesen bleiben, wo ich doch so eigenständig wie möglich arbeiten möchte? Fällt die Arbeit mit Kindern für mich grundsätzlich als Option weg, sobald die Gruppen zu groß sind? Statt mich mit rechtlichen Bestimmungen auseinanderzusetzen und so Antworten auf meine Fragen zu finden, entschloss ich mich letztlich, das Kapitel FSJ ad acta zu legen – zumal ich auch aus den oben genannten Gründen als FSJlerin abgelehnt wurde. Ich begann also mein Studium: in Marburg, als Versuchskaninchen im neuen Studienmodell Erziehungs- und Bildungswissenschaften mit dem Abschluss Bachelor of Arts. Zur Sicherheit stellte ich einen Härtefallantrag für die Zulassung an der Uni, um auf jeden Fall einen Studienplatz zu bekommen.

Mein Studium – zwischen Theorie und Praxis

Das Studium in Marburg erlebte ich wie Busfahren: voll. Sehr viele Leute, und wenn ich Glück hatte, traf ich jemanden, den ich kannte. Gezielt auf jemanden zuzugehen ist für mich eher schwierig, da ich kaum Gesichter wiedererkennen kann und den Überblick in einer Menge schnell verliere. Und dabei war es verglichen mit anderen Studiengängen noch eine eher kleine Kohorte von rund 100 Studierenden, allerdings vor der Aufteilung in die beiden inhaltlichen Schwerpunkte Erwachsenenbildung und Außerschulische Jugendbildung sowie Sozial- und Rehabilitationspädagogik. Wie etwa 80 meiner Kommilitonen wählte ich den letztgenannten Schwerpunkt.

Einerseits fand ich es sehr einfach, mich im Studium hinter Büchern und Hausarbeiten zu verstecken und in die Theorie des Fachs einzutauchen. Darin lagen meine Stärken. Andererseits wusste ich aber sehr wohl, dass ich nur durch verschiedene Praktika eigene Erfahrungen sammeln, mich ausprobieren und mir ein Profil bilden konnte. Das Studium ist eine sehr allgemeine Qualifikationsphase, sodass einem nach dem Abschluss zahlreiche Wege offen stehen – ich war mir nur nicht sicher, welche. Deshalb ergänzte ich die acht Wochen Pflichtpraktikum im sechssemestrigen Bachelorstudium durch zahlreiche freiwillige Praktika. Auch hier war es für mich nicht immer einfach, etwas Passendes zu bekommen. Ohne dass ich es in dieser Phase bereits für mich klar hatte, zog es mich immer deutlicher zu Fragen der Inklusion, in den Bereich Beratung und zu Möglichkeiten und Strategien des Lernens.

Weil ich nach dem Bachelor kaum Geduld für die Jobsuche aufbrachte - u.a. hätte ich mir zunächst einmal einen Überblick darüber verschaffen müssen, welche beruflichen Wege mir mit einem Bachelorabschluss überhaupt offen stehen - entschloss ich mich kurzerhand, den Master in Erziehungs- und Bildungswissenschaften anzuschließen. Weil ich eigentlich einen praktischen Beruf anstrebte, schreckte mich die Forschungsorientierung des Studiums in Marburg zunächst ein bisschen ab. Gegen Ende des viersemestrigen Masters und nach intensivem privaten Austausch mit forschungsbegeisterten Menschen fand ich aber für mich einen immer besseren Zugang zu diesem Gebiet, und meine Begeisterung wuchs. Auch wenn mir – wie auch schon im Bachelor – niemand wirklich sagen konnte, welche Chancen und konkreten Berufsaussichten ich damit anschließend haben würde. Durch den Studienschwerpunkt „Beratung“ im Master entschied ich mich, eine empirische (forschende) Masterarbeit zu schreiben, in der ich selbst Daten erhob und vor dem Hintergrund entsprechender Theorien auswertete. Der Wunsch, aus Marburg wegzugehen und einen Neuanfang zu starten, war mittlerweile groß. Also entschloss ich mich, meine Abschlussarbeit in einer Rehaklinik mit Schwerpunkt Orthopädie/Geriatrie in Nordrhein-Westfalen zu schreiben. Dort hospitierte ich, parallel zu der Befragung von Patienten, im Sozialdienst. Die doch sehr intensiven Erfahrungen, die ich in diesem Bereich machen durfte, und die begrenzten Unterstützungsmöglichkeiten, die es für Patienten im Umgang mit ihrer schwierigen Lebenssituation nach Krankheit und Krisen gab, waren für mich sehr ernüchternd und ließen mich schnell Abstand von einer Arbeit in diesem Berufsfeld nehmen. Meinem Interesse an pädagogischer Identitäts- und Angehörigenarbeit hätte ich dort nicht nachgehen können.

Einschub: Studium mit Sehbehinderung

Zu Beginn meines Studiums arbeitete ich am PC komplett ohne Hilfsmittel: Wenn ich nah genug am Monitor war, konnte ich alles gut lesen, ohne dass es für mich anstrengend war. Digitale Materialien bekam ich von den Dozenten allerdings nur auf Anfrage und selten vor der Veranstaltung - jetzt als Lehrende an der Uni weiß ich auch, dass u. a. ein anderes Zeitmanagement erforderlich ist, wenn Material vorher fertig sein muss. Wie schon an der Regelschule verließ ich mich daher hauptsächlich auf mein Gehör und schrieb viel mit. Private Gespräche der Kommilitonen erschwerten mir dies, sodass ich recht schnell zum strebsamen unkommunikativen Außenseiter wurde – oder mich selbst dazu machte. Mit einiger Eigeninitiative konnte ich mir die benötige Unterstützung für Prüfungen und Klausuren gut organisieren, auch wenn der Bibliotheksbestand in meinem Fach insgesamt sehr veraltet war. Digitale Medien gab es kaum. E-Learning und Lernplattformen lagen noch in ihren Anfängen. Die älteren Lehrenden arbeiteten i. d. R. noch mit Handapparaten, d.h. sie hinterlegten in der Bibliothek Bücher und Folien zum Kopieren. Daher verbrachte ich viel Zeit damit, Literatur zu scannen. Mit zunehmender Textmenge nahm ich schließlich auch die Unterstützungsmöglichkeiten durch Vergrößerungssoftware und Sprachunterstützung dankend an. Was das Erreichen der einzelnen Veranstaltungen im Studium betraf, hatte ich einen sehr dezentral organisierten Fachbereich erwischt. Mitunter brauchte man zwischen den Veranstaltungen die komplette halbstündige Pause, um die vorhandene Distanz zwischen den Veranstaltungsorten zurückzulegen.

Vom Studium in den Beruf

Nach meiner ernüchternden Erfahrung mit Kliniksozialdiensten stellte sich mir die Frage nach meinem Berufswunsch erneut. Insgesamt hatte ich nach dem Studium das Gefühl, generell viele Möglichkeiten zu haben, aber keine vertieften Kompetenzen, an die ich unmittelbar hätte anknüpfen können. Also bewarb ich mich zunächst auf alles, was passend schien. Ich wollte aus privaten Gründen gerne in NRW bleiben. Nach meinem Masterabschluss im Sommer 2014 konnte ich erfreulicherweise schon im darauffolgenden November als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Uni anfangen zu arbeiten. Mit der vierjährigen Tätigkeit in Forschung und Lehre war auch die Option zu promovieren verbunden. Inhaltlich schloss das an meine Interessen aus dem Bachelorstudium an: Umgang mit Heterogenität und Inklusion in der Lehrerbildung für Grund- und Förderschulen.

Chancen und Grenzen im Arbeitsalltag

Etwa sechs Wochen nach Einstellung eröffneten mir meine Chefs, dass sie mich für ein Projekt im Bereich Unterrichtsforschung in der Grundschule vorgesehen hatten. Die Auswertung von selbst erstellten Videoaufzeichnungen sollte Aufschluss über inklusive und exklusive Kommunikationsstrukturen im Unterricht geben. Aus meinen Bewerbungsunterlagen gingen u. a. meine Einschränkungen hervor. Ich ahnte Schreckliches. Schon während des Studiums hatte ich große Schwierigkeiten, für mich passende Lösungen für den Besuch von Seminaren zu finden, in denen es um Bildinterpretationen bzw. um teilnehmende Beobachtungen von Theaterstücken ging.

Deshalb entschloss ich mich, mit meinen Befürchtungen gleich zu Beginn offen umzugehen. Aber ich hatte während der ganzen Zeit das Gefühl, dass es mir nicht wirklich gelang, meine Sehbehinderung, die damit einhergehenden Einschränkungen und die für mich damit verbundenen Befürchtungen hinsichtlich der Möglichkeit, eigenständig wissenschaftliche Forschungsarbeit zu betreiben, verständlich zu vermitteln. Bis zum Ende der Probezeit klärte sich nicht, wie ich erhofft hatte, wie ich in diesem Projekt mitarbeiten könnte. Für meine Chefin stand allerdings fest, dass meine Dissertation sehr eng an das Projekt gekoppelt sein sollte. Einerseits war ich froh, weiter beschäftigt zu bleiben, andererseits fühlte ich mich den Anforderungen definitiv nicht gewachsen. Ausschließlich mit Videodaten zu arbeiten, die jemand anders transkribiert hatte, wäre wissenschaftlich zulässig gewesen. Für mein Gefühl entsprach dies aber nicht einer eigenständigen wissenschaftlichen Leistung, da Transkriptionen insbesondere von Videos bedeuten, aus der Fülle von Material auszuwählen und zu deuten. Ich fühlte mich von anderen Personen und deren Interpretationen zu sehr abhängig und zu wenig in den Forschungsprozess involviert.

Wieder ergriff ich die Initiative: Auf die Gefahr hin, auf unbestimmte Zeit ohne Job zu sein, kündigte ich. Vorher hatte ich alle Möglichkeiten, innerhalb der Arbeitsgruppe andere Aufgaben übernehmen zu können, mit einer Assistenzkraft zu arbeiten etc., ohne positives Ergebnis für mich geprüft. Meine Chefin zeigte sich in diesem Gespräch sehr überrascht darüber, dass ich gehen wollte. Ich hätte doch eine hohe Fachkompetenz und sei eine gute Mitarbeiterin. Sie bot mir an, mich bei meiner Jobsuche zu unterstützen, und leitete mir Stellenanzeigen weiter.

Neue Arbeitsgemeinschaft, neuer Chef, neues Aufgabenfeld

Nach meinem herausfordernden ersten Arbeitsjahr konnte ich zum Oktober 2015 an der gleichen Uni in einer anderen Arbeitsgemeinschaft eine Stelle als Lehrkraft für besondere Aufgaben übernehmen. Das bedeutete zunächst mehr Lehrveranstaltungen für mich. Dank des Engagements meines neuen Chefs konnte ich es allerdings so organisieren, dass mir trotzdem noch genug Zeit für Forschung und Dissertation bleibt – nun zum Themenfeld: Inklusion in der Oberstufe. Mein Chef leitete das Gespräch dazu mit folgenden Worten ein: „Ich weiß von Dir, dass Du gerne mit Texten und nicht mit Bildern oder Videos arbeiten möchtest ...“. Auch meine neuen Kollegen boten mir von sich aus ihre Hilfe an und erkundigten sich, wo ich welche Unterstützung benötige – und so hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl.

Zur Autorin

Bianca Kronhardt war blista-Schülerin und legte im Jahr 2007 ihr Abitur ab.

Der Beitrag wird durch zwei Fotos ergänzt. Auf dem ersten ist das Hörsaalgebäude der Uni Marburg zu erkennen. Bildunterschrift: Bianca Kronhardt legte den Grundstein ihrer wissenschaftlichen Karriere in der blista und in der Universität in Marburg. Foto: Daniela Junge

Das zweite zeigt die Philosophische Fakultät in Marburg, aufgenommen von unten aus dem Treppenaufgang vor dem Gebäude. An der Treppenwand sind zahlreiche Graffitis zu erkennen. Bildunterschrift: Das Studium in Marburg war für Bianca Kronhardt nicht immer einfach. Foto: Daniela Junge

Dr. Otto Hauck

Erinnerungen an Gustav Doubrava

Am 23. März 2016 ist Gustav Doubrava nach schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren verstorben.

1947 lernten wir uns in der Blindenschule in Nürnberg kennen. Schnell wurden wir Freunde und sind es zeitlebens geblieben. Als Folge der Vertreibung aus dem Sudetenland und weil die im Krieg zerstörte Blindenschule erst notdürftig wieder aufgebaut werden musste, hatte Gustl – wie er allgemein genannt wurde – zunächst den Stoff von vier Volksschuljahren nachzuholen. Dass ihm dies in einem Jahr gelungen ist, offenbarte bereits seine Begabung und seinen Fleiß. Fortan waren wir Klassenkameraden und er war immer einer der besten Schüler.

In unserer Freizeit spielten wir mit Begeisterung Fußball. Die Sehbehinderten hüteten das Tor und waren die Stürmer. Wir Blinden waren Verteidiger. Unsere Aufgabe war es, uns den gegnerischen Stürmern mit vollem körperlichen Einsatz entgegenzuwerfen und sie am Schießen zu hindern. Klingelball, Augenbinde und auch „Blindenfußball“ mit seinen Regeln waren seinerzeit noch nicht bekannt. Sogar eine Fußballzeitung hatten wir, die von Gustl und einem Pseudonym herausgegeben wurde. Schon damals bewies er journalistisches Interesse und Talent. Später wurde er dann Redakteur der „Bayernrundschau“ und von „BBSB-Inform“. Er war ebenfalls die treibende Kraft, als es darum ging, das Magazin „DBSV-Inform“ zu schaffen.

Stundenlang lauschten wir am Radio gespannt den hitzigen Bundestagsdebatten der frühen fünfziger Jahre. Seinerzeit druckte die Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg die „Politische Wochenschrift“ mit lesenswerten Artikeln aus renommierten Zeitungen. Ein Exemplar davon gelangte auch in die Nürnberger Blindenbücherei. Jeden Mittwoch liefen Gustl und ich um die Wette, weil jeder die Zeitschrift zuerst lesen wollte. Aber schon bald wurden wir klüger: wir rannten nicht mehr, sondern lasen uns die Artikel gegenseitig vor. So wuchs in uns die Erkenntnis: „Gemeinsam erreicht man mehr!“

Nach unserer Volksschulzeit begannen wir gemeinsam die Ausbildung zum Telefonisten und Stenotypisten, wie es damals üblich war. Ich brach sie ab, um nach Marburg an die blista zu gehen, Abitur zu machen und dann zu studieren. Dass ich dazu die Chance erhielt, verdanke ich dem traurigen Umstand, dass mein Vater im Krieg gefallen war und der Staat für meine Ausbildung aufkommen musste. Gustl war dieser Weg versperrt, obwohl er zweifellos die notwendige Begabung besaß; denn er hatte niemanden, der ihm den Besuch des Gymnasiums finanzierte. Ebenso ging es in der Nachkriegszeit einer ganzen Reihe begabter Blinder. Das sollte nicht vergessen werden, wenn man die sozialen Verhältnisse von damals und heute vergleicht.

Gustl begann sein Berufsleben als Telefonist. Durch zahlreiche Lehrgänge und Prüfungen qualifizierte er sich weiter, bekleidete schließlich als Ausbilder bei der Post die Position des Amtsrats. Das war gewiss ein steiniger Weg und mit viel Energie und Fleiß verbunden. Gleichzeitig nahm er im Rahmen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe ein hohes Maß an Arbeit und Anstrengung auf sich. Die Motivation hierzu stammte schon aus seiner Schulzeit, wie er selbst erzählte. Wir hatten einen blinden Lehrer, Herrn Dr. Ernst Dorner. Dieser war ein glühender Verfechter des Selbsthilfegedankens. Sein Credo: „Nur wenn wir uns selbst helfen, soweit wir es vermögen, und wenn wir fest zusammenstehen, können wir von Staat und Gesellschaft Hilfe erwarten.“ Diesen Grundsatz hat Gustl vorbildhaft verinnerlicht.

Die Liste der Ehrenämter und Aufgaben, die er im Laufe der Zeit übernommen hat, ist so lang, dass ich hier nur einige erwähnen kann:

  • Von 1975 bis 2003 war er Vorsitzender des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes. Er hat diesen Verein außerordentlich erfolgreich geleitet und maßgeblich geprägt.
  • Von 1976 bis 2005 hat er die Bayerische Blindenhörbücherei geleitet.
  • Von 1998 bis 2010 gehörte er dem Präsidium des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes an.

Allein diese Zahlen sind ein Beweis für seine Beständigkeit und Verlässlichkeit.

Dem DVBS trat Gustl 1978 bei. Hier übernahm er kein Amt; denn er hatte bereits zahlreiche Ämter inne. Aber auch hier war er bereitwillig zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Er war mir eine wertvolle Stütze bei meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzender des DVBS. Wir telefonierten oft. Gemeinsam freuten wir uns über Erfolge und beklagten Misserfolge. Wir sprachen über unsere Ziele und darüber, wie wir sie erreichen könnten. Ich schätzte seinen klugen Rat und insbesondere seine Fähigkeit, Mut zu machen, wenn es nötig war. Als ich 2004 nach 25 Jahren die Leitung des DVBS abgegeben habe, kam Gustl nach Marburg, um bei der Mitgliederversammlung meine Laudatio zu halten. Es war eine sehr persönliche, launige Rede, an die sich mancher der damals Anwesenden sicherlich noch gern erinnern wird.

Umgekehrt durfte ich, da man um unsere alte, enge Freundschaft wusste, ihm beim Verbandstag 2010 in Berlin die Dankesrede halten, als er zum Ehrenmitglied des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes ernannt wurde.

Sein unermüdliches Engagement und sein erfolgreiches Wirken für blinde und sehbehinderte Menschen wurden auch durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse sowie des Bayerischen Verdienstordens gewürdigt. Bereits seit 2003 war er Ehrenvorsitzender des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes.

Was machte Gustav Doubrava zu einem so außergewöhnlichen Menschen?

Geprägt durch seine christliche Grundüberzeugung hat er sich stets für andere eingesetzt, wo immer er konnte. Und er konnte wirklich viel, sehr viel. Er besaß ein hohes Maß an Kompetenz: gleichviel, ob es um die Führung eines großen Selbsthilfeverbandes, um sozialpolitische Angelegenheiten, um die Versorgung von Blinden und Sehbehinderten mit Informationen, um Mobilität und die Schaffung einer möglichst barrierefreien Umwelt, um die Nutzung des technischen Fortschritts oder die Öffentlichkeitsarbeit ging. Ideenreichtum und Verhandlungsgeschick, Stetigkeit, Gewissenhaftigkeit und die Bereitschaft, Verantwortung und Aufgaben zu übernehmen, zeichneten ihn aus. Durch seinen Humor, seine Freundlichkeit, ja Liebenswürdigkeit wirkte er gewinnend. In seiner Gegenwart fühlte man sich einfach wohl. Das ging nicht nur mir so, sondern – wie ich weiß – auch vielen anderen.

Einen sicheren Rückhalt für sein ehrenamtliches Wirken bot ihm seine Familie. Seine Frau Martha hat seinen Einsatz für die Selbsthilfe zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht. Sie unterstützte ihn gern und tatkräftig bei der Erfüllung seiner so vielfältigen Aufgaben.

Mit Gustav Doubrava hat das Blinden- und Sehbehindertenwesen in Deutschland eine seiner herausragenden Persönlichkeiten verloren – und ich trauere um einen teuren Freund.

Zum Autor

Dr. Otto Hauck ist Ehrenvorsitzender des DVBS und war über Jahrzehnte eng mit Gustav Doubrava befreundet.

Der Beitrag enthält ein Portraitfoto, das einen älteren Herrn mit blauem Hemd, bunt-gestreifter Krawatte und hellgrauem Anzug zeigt, der vor einem Pult mit Mikrofon eine Rede hält. Bildunterschrift: Gustav Doubrava. Foto: Elisabeth Hauck

Aus der Arbeit des DVBS

Nina Odenius

Das große O

Vom 11. bis 13. März dieses Jahres trafen sich 11 Mitglieder der Fachgruppe Studium und Ausbildung des DVBS und zwei Assistentinnen in der Jugendherberge Köln-Riehl zu einem Rhetorikseminar. Es stand unter dem Motto „Rhetorik und Präsentation“. Dazu hatte das Leitungsteam der Fachgruppe Frau Thekla Küther, eine junge Sprechwissenschaftlerin und Sprecherzieherin aus Duisburg, als Referentin eingeladen.

Im Vorfeld des Seminars hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, Themenwünsche zu äußern. Dadurch konnte die Referentin die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmer in die Planung mit einbeziehen.

Am Freitagabend begann das Seminar mit einigen Kennenlern-Spielen und rhetorischen Aufwärmübungen, bevor der Abend mit einem geselligen Beisammensein zu Ende ging.

Am Samstag stand der Workshop ganz im Zeichen von Vorträgen. Die Teilnehmer hatten im Vorfeld einen drei- bis fünfminütigen Vortrag vorbereitet, den sie präsentieren mussten. Im Anschluss erhielt jeder Teilnehmer von der Referentin und den anderen Seminarteilnehmern ein Feedback, das sich in erster Linie mit der Art beschäftigte, wie der Vortrag gehalten wurde. Dazu gehören die Stimme des Vortragenden, seine Körpersprache, seine Mimik und die Gestik. Eine Rückmeldung zu Mimik, Gestik und Körpersprache ist für blinde und sehbehinderte Menschen sehr wichtig, da ihnen diese Dinge oft nicht bewusst sind. In diesem Rahmen wurde auch darüber diskutiert, welche Gesten in einem Vortrag verwendet werden sollten und welche besser zu vermeiden sind.

Außerdem befasste sich das Feedback mit inhaltlichen und strukturellen Aspekten des jeweiligen Vortrages. Ein weiterer Gesichtspunkt war die Wirkung des Vortragenden auf sein Publikum.

Am Sonntag stand das Thema Konfliktmanagement im Mittelpunkt. Dabei lernten die Teilnehmer, einem Gesprächspartner gegenüber mit ruhiger und fester Stimme „Nein!“ zu sagen und zu widersprechen. Ziel der Übung war es, seinen eigenen Standpunkt klar zu vermitteln. Es wurde eine Situation zwischen zwei Freunden simuliert, bei der ein Gesprächspartner über ein bestimmtes Thema sprechen will, während der andere im Verlauf der Übung begründen sollte, warum er gerade jetzt nicht über diese Angelegenheit sprechen möchte, sondern zu einem späteren Zeitpunkt. Der jeweils andere Gesprächspartner sollte die Meinung seines Gegenübers nicht akzeptieren und darauf drängen, das gewünschte Gespräch genau in diesem Moment zu führen. Die Referentin führte die Übung mit jedem Seminarteilnehmer einzeln durch, wobei sie die Rolle desjenigen einnahm, der das bestimmte Thema sofort ansprechen will und das „nein“ des anderen nicht akzeptiert. Diese Übung war besonders aufschlussreich, da die Teilnehmer eine Strategie entwickeln mussten, um dem Gegenüber den eigenen Standpunkt deutlich zu machen und dabei ruhig und sachlich zu erklären, dass man das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen würde.

Zum Abschluss des Seminars gab es noch einige Stimmübungen. Jeder Teilnehmer wurde dazu aufgefordert, den Vokal „o“ in einer angenehmen Tonlage auszusprechen und den Ton so lange wie möglich zu halten, wodurch der Resonanzraum der Stimme vergrößert wird. Zuerst sollte jeder Teilnehmer diese Übung allein ausführen. Am Ende wurde die Übung von allen Teilnehmern gemeinsam durchgeführt. In Gemeinschaft fiel diese doch etwas ungewohnte Übung vielen Teilnehmern leichter und sie erzeugte ein Gemeinschaftsgefühl.

Die Teilnehmer haben im Rahmen des Rhetorikseminars viel über den Einsatz von Stimme, Körpersprache, Mimik und Gestik gelernt. Es konnte das Halten von Vorträgen geübt, Rückmeldungen eingeholt und der eigene Vortragsstil verbessert werden. Die Bewältigung von Konfliktsituationen und das Äußern der eigenen Meinung in entsprechenden Situationen wurden von der Fachgruppe ebenfalls als großes Plus des Seminars beschrieben.

Aufgrund der zahlreichen positiven Rückmeldungen der Teilnehmer und der großen Vielfalt des Themas ist geplant, in Zukunft eventuell weitere Rhetorikseminare durch die Fachgruppe Studium und Ausbildung des DVBS zu organisieren.

Die Jugendherberge Köln-Riehl eignete sich gut als Veranstaltungsort für ein solches Seminar. Das Personal war sehr zuvorkommend und hilfsbereit. Die Zimmer waren geräumig und komfortabel. Auch die unmittelbare Nähe zum Rhein machte den Aufenthalt sehr angenehm, da man die Pausenzeiten gut zum Spazierengehen nutzen konnte. Alles in allem eine sehr gelungene Veranstaltung für die Teilnehmer.

Zur Autorin

Nina Odenius studiert Romanistik und ist Mitglied im Leitungsteam der Fachgruppe Studium und Ausbildung des DVBS.

Auf dem zum Artikel gehörenden Bild ist ein Megaphon dargestellt, das früher auf Jahrmärkten Verwendung fand. Bildunterschrift: Eine gute Rede macht oft nicht die Lautstärke des Redners aus, sondern die rhetorischen Fähigkeiten sind entscheidend. Foto: Timo Klostermeier/pixelio.de

Klaus Winger

DVBS Low-Vision-Seminar: Neues Kooperationsformat mit Zukunft

Unter dem Titel „Mal sehen, was wirklich geht! - Low Vision und trotzdem: Tragfähige Perspektiven für Berufstätige und Studierende mit Sehbehinderung“ fand auf Anregung der DVBS-Fachgruppe Sehbehinderung in Zusammenarbeit mit dem Berufsförderungswerk Würzburg Mitte Januar 2016 ein zweitägiges Seminar statt, das von der DVBS-Geschäftsstelle organisiert wurde. Nach breiter Ausschreibung trafen sich zehn sehbehinderte Schüler, Studierende und Beschäftigte ganz unterschiedlichen Alters aus der gesamten Bundesrepublik und vier selbst betroffene DVBS-Beraterinnen und Berater aus unterschiedlichen Berufsfeldern im BFW Würzburg.

Die sehbehinderten Teilnehmer konnten in zwei Gruppen über fünf Stunden unter fachkundiger Anleitung von zwei BFW-Low-Vision-Profis die gesamte Palette moderner Hilfsmittel ausführlich kennen lernen und ausprobieren. Während vier bis fünf Stunden standen ihnen darüber hinaus die DVBS-Berater zu ausführlichen Gruppengesprächen zur Verfügung. Dazu gab es ein Informations- und Beratungsangebot der rbm über Ansprüche auf Hilfsmittel, deren Finanzierung und die Beantragungsverfahren. Zusätzlich berichteten im Abendprogramm erfahrene blinde bzw. sehbehinderte iPhone-Nutzer über hilfreiche Einsatzmöglichkeiten dieses Geräts. Die Vorführung der Hilfsmittel und die Möglichkeit, sie praktisch zu erproben, vermittelten den Teilnehmern einen einzigartigen, kompakten Überblick über individuell nutzbare Geräte sowie deren Grenzen. Die Beratungen orientierten sich ausschließlich an Fragen oder Problemschilderungen, die die Teilnehmer/-innen in das Seminar mitgebracht hatten. Sie waren getragen von einer gemeinsamen, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten Betroffenheit und Erfahrungen sowie sehr hoher Sachkenntnis. Im Rahmen des Seminars konnten auch schmerzliche und angstbesetzte Themen wie weitere Sehverschlechterung, drohende Erblindung und die sich daraus ergebenden Perspektiven für Person und Beruf offen diskutiert werden.

Das Low-Vision-Seminarformat der Fachgruppe Sehbehinderung im DVBS wurde von den Teilnehmern sehr positiv aufgenommen. Es ist vorgesehen, dieses jährlich in Kooperation mit einem Unternehmen der beruflichen Rehabilitation sehgeschädigter Menschen an wechselnden Standorten anzubieten.

Mit Portraitfoto: Klaus Winger, ein Mann mit grau melierten Haaren, Vollbart und Brille, blickt aufmerksam in die Kamera. Bildunterschrift: DVBS-Geschäftsführer Klaus Winger zeigte sich erfreut über die positive Resonanz des neuen Low-Vision-Seminars. Foto: fotoagentur-friese.de

Klaus Winger

DVBS Mentoring TriTeam: Vom Projekt zur Routine

Der Erprobungsdurchgang des DVBS-Mentoringprojektes TriTeam ging Ende März 2016 nach einjähriger Laufzeit zu Ende. Elf Mentoringteams, bestehend aus den Mentees und Mentoren, arbeiteten ein Jahr lang erfolgreich zusammen.

Die Mentees waren Studienbeginner oder in Bachelor-Abschlusssemestern. Die Mentorinnen und Mentoren waren Studierende in höheren Semestern, zumeist aber erfahrene Berufspraktiker mit Qualifikationen, die den Studienfächern der Studierenden in etwa entsprachen. Alle Mentees, Mentorinnen und Mentoren waren blind oder sehbehindert. Die Studienfächer reichten von Psychologie und BWL über Mathematik, Jura, Sozialpädagogik und Informatik bis zum Lehramt. Gemeinsame, wenn auch sehr unterschiedlich ausgeprägte Erfahrungen als Betroffene bildeten die Basis für die Mentoringbeziehungen des Projekts.

Die regelmäßigen (zumeist telefonischen) Gespräche dienten dem Austausch von Informationen, Einschätzungen, Tipps und Hinweisen im Blick auf die von den Mentees anfänglich formulierten Ziele. Diese wurden vorab festgelegt und nur bei triftigen Gründen abgeändert. So traten etwa Verschlechterungen des Sehvermögens ein und wurden damit Gegenstand des Mentorings. Zweifel an Studienfach oder Berufsziel führten zur Vorbereitung von Wechseln.

Im Sommer 2015 und im Januar 2016 nahmen die Mentees und Mentoren an je einem zweitägigen Seminar teil, an dem sie sich persönlich kennen lernten und untereinander vernetzten. Im Einführungsseminar standen Zielformulierungen, die Absprache von Kooperationsformen und Informationen über die Gestaltung positiver Mentoringbeziehungen, aber auch über die Grenzen des Mentorings im Mittelpunkt. Im Abschlussseminar ging es hingegen um Erfahrungsaustausch, Trainings zu Selbstdarstellung und -management für die Mentees und Peer-to-Peer-Coaching für die Mentoren.

Die Resonanz von Mentoren und Mentees auf den Mentoringprozess war durchweg positiv. Alle Mentorinnen und Mentoren berichteten, dass sie im strukturierten Kontakt mit ihren Mentees auch einiges über sich selbst erfahren hätten. Sie sind bereit, bei Gelegenheit diese Rolle wieder zu übernehmen. Die Mentoringteams gestalteten ihre Beziehungen sehr individuell, teilweise sehr strukturiert inkl. ausführlicher Dokumentation, teilweise aber auch eher locker. Die Auswertung der Erfahrungen der Teilnehmer vor dem Hintergrund des Konzeptes eines Peer-to-Peer-Coachings wird in den nächsten TriTeam-Prozess einfließen. Dieser ist bereits im März/April 2016 mit acht neuen Mentoringteams gestartet. Zwei Teams aus dem ersten Durchlauf verlängerten ihre Mentoringprozesse wegen anstehender grundsätzlicher Fragen um ein weiteres Jahr.

Uwe Boysen

DVBS-Fachtagung gibt Antworten auf Zukunftsfragen

Am 23. September veranstaltet der DVBS anlässlich seines 100-jährigen Jubiläums unter dem Titel „Megatrend Digitalisierung in Arbeitswelt, Staat und Gesellschaft – Chancen und Risiken für die Teilhabe sehbehinderter und blinder Menschen in Ausbildung, Studium, Beruf und Bildung“ eine Fachtagung. Sie richtet sich an DVBS-Mitglieder, aber auch an Fachleute und Interessenten aus dem Umfeld von Studium, Ausbildung und Beschäftigung blinder und sehbehinderter Menschen sowie an Partner und Freunde des DVBS.

Den Eingangsvortrag wird Prof. Dr. Frank Schönefeld, Mitglied der Geschäftsleitung (Prokurist) der T-Systems Multimedia Solutions GmbH und TU Dresden halten. Er wird zum Thema „Mit zunehmender Digitalisierung leben - Perspektiven und Auswirkungen in Wirtschaft und Arbeitswelt, staatlichem Handeln und gesellschaftlichem Leben“ referieren.

Die zunehmende Digitalisierung umfasst alle gesellschaftlichen Bereiche von der Industrie 4.0, der Verwaltung 2.0, dem E-Government, E-Health über E-Commerce und E-Traffic bis zur vernetzten Küchenmaschine mit Touchscreen. Nach dem einführenden Referat sollen in parallelen, thematischen Workshops ausgewählte Aspekte dieser Entwicklung auf ihre Chancen und Risiken für die Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen hin untersucht und diskutiert werden. Aufgabe jedes Workshops ist es dabei, Kriterien und Ziele gelingender Teilhabe auf diesem Hintergrund zu formulieren. Zum Abschluss der Fachtagung werden diese im Plenum präsentiert und diskutiert. Alle Workshops starten mit Impulsreferaten erfahrener Praktiker.

Workshop 1: Berufsausbildung und Studium

Entwickeln sich neue/andere Tätigkeitsfelder und entsprechende Berufsbilder?

Ändern sich die Einstiegsvoraussetzungen für Berufsausbildung und Studium?

Was sind digitale Lernmedien in Ausbildung und Studium und welche adäquaten Hilfsmittel gibt es oder sollte es geben?

Workshop 2: Arbeit und Beruf

Welche Veränderungen in Arbeits-, Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen werden durch zunehmende Digitalisierung erzeugt?

Welche Bereiche der Arbeitswelt sind von Digitalisierung besonders betroffen?

Wie entwickeln sich Qualifikations- und Kompetenzanforderungen an die digital workers?

Was bedeutet das für sehbehinderte und blinde Menschen und für ihre Karrieren?

Workshop 3: Gesellschaftliche Teilhabe

Wie und in welchen Bereichen wirken E-Government, E-Justice, E-Commerce und E-Health?

Wie ändern sich durch E-Government die Beziehungen zwischen Bürgern und staatlichen Institutionen?

Wie ist Digitalisierung durch gesetzliche Vorschriften im Interesse sehbehinderter und blinder Menschen zu steuern?

Workshop 4: Bildung und lebenslanges Lernen

Welche digitalen Lern- und Bildungsangebote gibt es und wird es geben?

Mit welchen Formen des Lernens und der Bildung werden wir diese Angebote nutzen?

Wie ist die Zugänglichkeit solcher Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen zu sichern?

Workshop 5: Barrierefreie digitale Arbeitswelt ist machbar!

„Accessibility“ und „Usability“ als zentrale Kriterien barrierefreier Gestaltung der Informations- und Kommunikationstechnik

Barrierefreiheit machen: Ein systematisches Vorgehensmodell für die barrierefreie Gestaltung von IT-gestützten Geschäftsprozessen und Kooperationsstrukturen

Uwe Boysen

Veranstaltungen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des DVBS

Liebe DVBS-Mitglieder,

wenn es einem Verein gelingt, seinen 100. Geburtstag zu begehen, dann lohnt es sich, das zu feiern. Das wollen wir in der Zeit vom 22. bis 24. September 2016 in Marburg tun.

Unser 100-jähriges Jubiläum beginnt –in Zusammenarbeit mit der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) – am Donnerstag, 22. September, um 11.00 Uhr mit einem Festakt in der Marburger Stadthalle, zu dem Sie alle herzlich eingeladen sind. Der Nachmittag des Tages gehört dann – soweit gewünscht – den Treffen unserer Fachgruppen. Der Abend steht zur freien Verfügung, wobei wir Räumlichkeiten im Restaurant Colosseo (Deutschhausstr. 35, 35037 Marburg) reserviert haben.

Am Freitag, 23. September, findet ab 10.00 Uhr unsere Fachtagung unter dem Obertitel „Megatrend Digitalisierung“ im Technologie- und Tagungszentrum Marburg (Softwarecenter 3, 35037 Marburg) statt (siehe dazu auch den vorhergehenden Beitrag „DVBS-Fachtagung“). Am Abend dieses Tages gibt es dann unter der bewährten Leitung von Anette Bach ein heiteres Beisammensein im Hotel Carle (Ronhäuser Str. 8, 35043 Marburg). Das Motto: „Glanz und Elend unseres Berufslebens – ein anstrengender Abend mit Liedern und Texten. Aber auch mit Pause!“

Der Samstag (24. September) steht schließlich in der Zeit von 9.00 Uhr bis ca. 15.00 Uhr im Zeichen der Mitgliederversammlung des DVBS im Bürgerhaus Cappel (Goethestr. 1, 35043 Marburg). Die Einladung hierzu nebst vorläufiger Tagesordnung und Satzungsänderungsanträgen geht Ihnen noch gesondert zu.

Der Vorstand und die Geschäftsleitung hoffen, möglichst viele von Ihnen und Euch zu diesen Veranstaltungen begrüßen zu können. Denn 100 Jahre wird man nur einmal!

- Uwe Boysen, erster Vorsitzender des DVBS -

Der Beitrag wird ergänzt durch ein Banner zum 100-jährigen Jubiläum des DVBS. Der Banner ist in Blautönen gehalten und darauf ist „2016 - 100 Jahre DVBS – Feiern Sie mit!“ zu lesen.

Ursula Weber

Spendenaktion Rewe Teamchallenge 2015

Erschienen am 30.3.2016 im Intranet der T-Systems Multimedia Solutions GmbH

Auf Vorschlag des Organisations-Teams, unterstützten wir 2015 das ehrenamtliche Engagement unserer sehbehinderten Kollegin Ursula Weber. Sie lief 2014 im Tandem mit Ramona Wegener souverän ihre erste Teamchallenge. In Ihrer Freizeit setzt sich Ursula sehr engagiert für die möglichst ungehinderte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von Blinden und Sehbehinderten ein. Aktuell arbeitet Sie an einem Projekt, welches blinde und sehbehinderte Jugendliche aus ganz Europa fit für ihre Ausbildung macht. In einem internationalen Camp, dessen Austragungsort jährlich wechselt, erlernen und vertiefen die Jugendlichen ihre Kenntnisse zu Kommunikation und Visualisierung und trainieren den Umgang mit Computertechnik auch mit wenig oder keinem Sehvermögen. Im Sommer 2016 findet dieses Camp in Dresden statt. An zehn Tagen bevölkern die Jugendlichen die TU Dresden und genießen auch die sportlichen und kulturellen Angebote unserer schönen Stadt.

Im Folgenden der Erfahrungsbericht von Ursula Weber vom ICC 2015:

58 Teilnehmer, sehbehinderte und blinde Jugendliche aus 14 europäischen Nationen, formten ihre Skills beim ICC 2015 – International Camp on Communication and Computers – in workshops und leisure time activities in Zeist/Holland, ein jährliches Jugendcamp in alternierenden europäischen Ländern, das 2016 nach Dresden kommt. Viele workshop leader wie ich und volunteers waren ehrenamtlich dort, boten workshops an oder unterstützten bei Freizeitaktivitäten. Eher technische workshops wie „intro to app development for Android“, „communication tools“ oder „physical computing for beginners“, als auch workshops im sozialen Bereich wie „networking“, „presentation“ oder auch „drama in the dark“ oder „ICC radio“ begeisterten die Jugendlichen. Heiß begehrte Freizeitaktivitäten wie Tandem fahren, water challenge oder Salsa dancing sowie ein excursion day nach Utrecht bildeten das Rahmenprogramm für die Workshops.

Als Vorstandsmitglied des DVBS (Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V.), Ausrichter des nächsten Camps 2016 in Dresden, wollte ich einen Workshop leiten und ansonsten das bunte Treiben beobachten und möglichst viele Anregungen für das Camp in Dresden sammeln. Doch es kam ganz anders. Im Handumdrehen durfte ich fünf weitere Workshops mit betreuen. Daraus ergaben sich ganz schnell gute Kontakte zu den Teilnehmern und damit ein guter Einblick aus Sicht der Teilnehmer. Komplettiert wurden diese Eindrücke in den staff meetings, die teilweise erst um 21:30 Uhr begannen. Hier wurden alle organisatorischen Dinge besprochen, die für einen reibungslosen Ablauf des Camps von Bedeutung waren.

Insgesamt waren es sehr schöne, aber auch sehr anstrengende zehn Tage. Mit unglaublich vielen Eindrücken, Ideen und Anregungen im Gepäck für unser Camp in Dresden fuhr ich nach Hause und war erst einmal urlaubsreif. Nun gilt es, workshops zu planen, der technischen Entwicklung anzupassen und geeignete Leader zu finden, wobei hier auf Erfahrungen früherer Jahre zurückgegriffen werden kann. Eine Kooperation mit der TU Dresden ist sehr hilfreich, da die Workshops im Jahr 2016 dort durchgeführt werden können.

Die Freizeitaktivitäten müssen allerdings an die Dresdner Angebote angepasst werden. Was ist möglich, was brauche ich für die Teilnehmer und die volunteers? Was kostet wie viel? Und die Logistik darf auch nicht vergessen werden. Die Planung läuft auf Hochtouren. Einige Kontakte sind schon geknüpft, erste Verträge sind abgeschlossen. Aber wie wird das Ganze finanziert? Der Teilnehmerbeitrag reicht bei Weitem nicht aus, obwohl die Anreise selbst bezahlt wird.

Wir haben dazu Sponsoring Aktivitäten angestoßen und suchen nach Stiftungen, die uns unterstützen.

Womit wir überhaupt nicht gerechnet haben, war Eure Unterstützung: das Startgeld aus unserer Teamchallenge wird den Freizeitaktivitäten und der Exkursion zu Gute kommen. Herzlichen Dank dafür!

Ursula Weber

Der Artikel wird durch zwei Bilder ergänzt: auf dem ersten Bild schauen mehrere Personen in rosa T-Shirts freudig in die Kamera bei der Überreichung eines großen Spendenschecks in Höhe von 3.912 Euro. Bildunterschrift: Freudige Gesichter: die Überreichung des Schecks für den Rewe Teamchallenge Foto: Romain Schmechta/Susan Mothes

Auf dem zweiten Bild sitzen mehrere junge Menschen an einem langen Tisch vor Computern. Eine Frau in schwarzer Hose und hellblauer Bluse mit einem Zettel in der Hand erklärt die zu bewältigende Aufgabe. Bildunterschrift: Das ICC 2015 fand im holländischen Zeist statt - im Jahr 2016 ist man in Dresden zu Gast. Foto: ICC-Archiv

Andreas Wohnig

Seminarvorschau

22. bis 24. Juli 2016, Marburg

Mit leicht verändertem Programm wird wieder ein Seminar zu Tai Chi Qi Gong mit dem erfahrenen Leiter Ingo Gebler angeboten. Schwerpunkte dieses Mal sind Körperhaltung und -bewegung, Mobilität und Gleichgewicht, Achtsamkeit und Selbstbehauptung. Praktische Übungen stehen dabei im Mittelpunkt.

8. bis 15. Oktober 2016, Timmendorfer Strand

Zum 29. Mal findet das Seminar der Gruppe Ruhestand im DVBS statt. Unter dem Motto „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ werden in Referaten und Workshops gesellschaftspolitische Themen, gesundheitsbezogene sowie selbsthilferelevante Inhalte bearbeitet. Auch neue technische Entwicklungen und deren Bedeutung für ältere blinde und sehbehinderte Menschen werden betrachtet.

13. bis 16. Oktober 2016, Herrenberg

„Reden und Präsentieren für große und kleine Gruppen“: Freie Rede und Präsentation vor Gruppen will gelernt sein. Ungeachtet dessen gehört Reden und Präsentieren zum Aufgabenkatalog anspruchsvoller Berufe. Dies kann aber Freude machen, wenn man einige Grundlagen kennt, Verhaltensregeln einübt und durch Übung in der Gruppe mit Supervision Zutrauen zu sich und seinem Auftreten fasst.

6. bis 10. Februar 2017, Stuttgart

Die Fachgruppe Musik im DVBS führt ein Fortbildungsseminar zum Thema Chorleitung durch. An drei Vormittagen und zwei Abenden steht der Landeskirchenmusikdirektor Matthias Hanke als Chorleitungsdozent für Dirigierunterricht in der Gruppe und Chorproben zur Verfügung. An den Nachmittagen stehen Workshops über Spezialfragen der Braillenotenschrift, Notensatz am PC (Braille-Editor) bzw. Audiobearbeitung am PC zur Wahl (Lothar Littmann, Stefan Albertshauser, Michael Kuhlmann). Im Anschluss an das Seminar findet ab 10.2. nachmittags die Sitzung der Fachgruppe Musik (Wahl des Leitungsteams) und die alljährliche Notennetzwerktagung statt.

Weitere Veranstaltungen sind in Planung und werden so bald wie möglich veröffentlicht. Bitte beachten Sie dazu auch die Informationen in der Rubrik "Seminare" auf der Homepage des DVBS.

Aus der blista

Thorsten Büchner

Voller Spaß und Konzentration

Das blista-Ostercamp 2016

Ferien - Ostermontag auf dem blista-Campus. Eine bunte Gruppe aus Kindern, Betreuern und Theaterleuten erklimmt den Schlagberg und versammelt sich in der Aula. Das zweite Ostercamp beginnt für die neun blinden und sehbehinderten Kinder im Alter zwischen neun und 13 Jahren mit Kennenlern-Spielen und einem Ausblick auf das Programm der nächsten Tage. Reiten und Theaterspielen stehen auch 2016 im Mittelpunkt des blista-Ostercamps. Fünf der insgesamt neun Teilnehmer verbrachten auch schon 2015 Teile ihrer Ferien in Marburg und waren als „Wiederholungstäter“ bereits alte Hasen in Sachen Ostercamp.

Während der sechs Tage in Marburg waren die Campteilnehmer in einer blista-Wohngruppe untergebracht und wurden von fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Internat betreut. An den freien Abenden ging es auf Entdeckungsreise in die Stadt, zum Eisessen, ins blista-Schwimmbad oder die Kids saßen in der Wohngruppe zusammen und quatschten. Für Langeweile war kein Platz. Daher freute sich etwa der 13-jährige Julian aus Nürnberg besonders darüber, „dass wir dieses Jahr sogar bis 22.00 Uhr aufbleiben durften und nicht schon um 21.00 Uhr ins Bett mussten wie im letzten Jahr“.

Ausgeschlafen ging es jeden Morgen zum Reiten. Dort lernten die neun Ostercamper alles rund ums Pferd. Wie sieht der Körper eines Pferdes eigentlich aus? Was muss ich bei der Pflege beachten? Welches Futter ist geeignet? Voltigieren, Reiten an der Longe und ein Ausritt ins Freie standen im Verlauf der Woche auf dem Programm. Judith Weniger mit ihrem Team verstand es wieder, die Pferdebegeisterung zu wecken und jedes Pferd zu einem persönlichen Freund der Kinder zu machen, sei es der freche Quentin, Emilion oder der von allen geliebte Komet. Als Erinnerungsstück wurden individuell gestaltete Türschilder mit Pferdemotiven hergestellt.

Nach der Mittagspause wechselten die Kids vom Rücken der Pferde auf die „Bretter, die die Welt bedeuten“ – die Theaterbühne.

An drei Nachmittagen probierten sich die Campteilnehmer in einigen Theaterbereichen aus: vom Improvisationstheater bis zum Tanz war alles dabei. Selbst entwickelte kleine Szenen, die aus den Lieblingsbüchern der Kinder entlehnt wurden, brachten alle mit viel Enthusiasmus auf die Bühne. Die Schlagfertigkeit wurde beispielsweise mit „Ein-Satz-Geschichten“ geschärft, bei denen gemeinsam eine Geschichte entwickelt wird, indem jeder Schauspieler den Satz seines Vorgängers fortsetzt. So entstanden witzige, kreative Geschichten. In diesem Jahr konnte Magdalena Kaim, Theaterpädagogin und seit vielen Jahren als Schauspielerin bei „Theater Gegenstand“ in Marburg aktiv, für die Anleitung des Theaterworkshops gewonnen werden und war schwer beeindruckt: „Es war klasse, wie sehr die Kids sich auf die ungewohnten Situationen beim Improvisieren eingelassen haben und mit wie viel Spaß und Konzentration alle bei der Sache waren.“ Für Kaim war es die erste Zusammenarbeit mit blinden und sehbehinderten Jugendlichen.

Das erlernte Theaterrepertoire, inklusive der Improvisationsübungen und der Spielszenen aus den Lieblingsbüchern, wurde den gespannten Eltern und Verwandten am letzten Tag des Ostercamps präsentiert. Voller Spannung und Vorfreude saßen die neun Schauspielerinnen und Schauspieler – wie vereinbart – völlig regungslos, so als seien sie eingefroren, am Bühnenrand und erwachten erst zum schauspielerischen Leben, als Ruhe im erwartungsvollen Publikum eingekehrt war. In den folgenden 15 Minuten konnten alle Kids mit Szenen aus „Harry Potter und der Stein der Weisen“, mit dem Sams, Frau Rotkohl und Herrn Taschenbier sowie einem Lichtschwertkampf aus „Star Wars“ ihre Spiellaune unter Beweis stellen. Nach der obligatorischen Verbeugung brandete Applaus auf, über den sich die frischgebackenen Darsteller sichtlich freuten.

Mit welchem Elan die blinden und sehbehinderten Kinder bei der Sache waren, wurde überdeutlich, als sie sich selbst von strömendem Regen nicht davon abhalten ließen, in einem Marburger Kletterwald durch die Bäume zu turnen.

Die Rückmeldungen zum Ostercamp waren eindeutig. „Das Ostercamp war total cool! Ich hoffe, nächstes Jahr wieder dabei zu sein”, sagte etwa die elfjährige Noelle aus Ludwigshafen. Die zwölfjährige Vreni aus Bayern, die bereits zum zweiten Mal mit von der Partie war, empfahl der blista, das Ostercamp im nächsten Jahr „…unbedingt zu wiederholen!“. Während des Ostercamps war deutlich zu spüren, wie sehr es die zumeist inklusiv beschulten Kinder genossen, sich mit anderen blinden und sehbehinderten Schülern ihrer Altersgruppe auszutauschen und miteinander die Freizeit zu verbringen.

Nach sechs intensiven Tagen mit neuen Erfahrungen und neuen Kontakten verabschiedeten sich die neun Ostercamper am 2. April, gemeinsam mit ihren Familien, von Marburg und der blista. „Vielleicht gibt es 2017 ein Wiedersehen rund ums Pferd, mit viel Theater“, wünscht sich auch Monika Saßmannshausen, Lehrerin der blista und Organisatorin des Ostercamps.

Der Beitrag ist mit drei Fotos ergänzt.

Auf dem ersten Bild und zweiten Bild, die nebeneinander montiert wurden, erkennt man links drei Pferde in Rückansicht, auf denen Kinder sitzen und die von Erwachsenen auf einem geteerten Feldweg auf einen Wald zu geführt werden. Auf dem rechten Bild sind drei Kinder im Schulalter zu sehen, die komplett schwarz gekleidet sind. Der Junge mit Brille in der Mitte flüstert dem Mädchen links etwas ins Ohr, was dieses lächeln lässt. Das Mädchen rechts hört zu und schmunzelt. Bildunterschrift für beide Bilder: Während des Ostercamps wurden zahlreiche Freizeitaktivitäten wie Reiten oder Theaterspielen angeboten. Fotos: blista

Das Abschlussbild lässt bei diesigem Wetter auf einer Ebene eines Hochseilgartens drei Personen erkennen. Diese tragen jeweils einen Helm und sind mit Seilen gesichert. Sie gehen über die Bretter des Hochseilgartens und sprechen miteinander. Bildunterschrift: Selbst ein Regenschauer konnte den Enthusiasmus der Teilnehmer des Camps im Marburger Kletterwald nicht bremsen. Foto: blista

Thorsten Büchner

Begegnungen stehen im Mittelpunkt

blista-Ehemaligen-Tag am 1. Juli

Beim blista-Ehemaligen-Tag begegnen frühere Schülerinnen und Schüler auf dem blista-Campus am Schlag ihren Klassenkameraden oder WG-Mitbewohnern, treffen ihre früheren Lehrerinnen und Lehrer, ihre Internatsbetreuer oder Rehalehrer. Von 14.00 bis 17.00 Uhr schwelgt man am Freitag, 1. Juli, in der blista-Mensa bei Kaffee und Kuchen in Erinnerungen oder kann beim „Speed-Dating- Treffen der Generationen“ neue Bekanntschaften knüpfen.

Zu Beginn des Ehemaligentreffens findet um 14.00 Uhr in der Aula die offizielle Eröffnung statt, bei der das Programm des Nachmittags vorgestellt und organisatorische Hinweise gegeben werden. Neben einem kurzen Grußwort von Schulleiter Jochen Lembke wird ein „Veteranenchor“ aus ehemaligen Lehrern für die musikalische Einstimmung sorgen. Um 15.00 und 16.00 Uhr starten parallel mehrere Führungen, die zeigen, wie sich der Campus verändert hat. Neue Gebäude sind in den letzten Jahren entstanden und alte wurden komplett umgebaut. Wer will, kann um 15.00 Uhr nach dem Motto „Unterricht gestern und heute“ nochmal die Schulbank drücken und ausprobieren, wie Unterricht heute funktioniert. Aktuelle und ehemalige blista-Lehrkräfte bieten dann Unterrichtseinheiten in Geschichte, Deutsch, Mathe und den Naturwissenschaften an.

Die alten Internatszeiten werden lebendig, wenn die Wohngruppe in der Gabelsberger Straße ab 14.30 Uhr ihre Türen öffnet. Ein Blick hinter die Kulissen der Hörbücherei sowie in die moderne Medienproduktion runden das Programm des Ehemaligentags ab. Diese Führungen starten ab 14.30 Uhr im halbstündigen Rhythmus. Der blista-Shop ist während des gesamten Nachmittags geöffnet. Bei der Orientierung auf dem Campus oder um alte Bekannte wiederzutreffen, helfen u.a. Rehalehrer weiter. Shuttle-Busse bringen die Besucher zum Georg-Gaßmann-Stadion, wo ab 19.00 Uhr die große Show „100 Jahre - 100 Talente –blista und das Geheimnis der ewigen Jugend“ weitere Erinnerungen weckt. Noch ein wichtiger Hinweis: für den Ehemaligen-Tag bitte unbedingt im Festivalbüro (gerne unter Nennung des blista-Abschlussjahrgangs) vorab anmelden.

Kontakt zum blista-Festivalbüro

Montag bis Donnerstag von 8.00 bis 16.00 Uhr, freitags von 8.00 bis 14.00 Uhr

Telefon: 0 64 21 606-444

Email:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Inklusion braucht Know-how! blista-Bildungsangebote2016

Computerwissen für blinde und sehbehinderte Einsteiger jeden Alters

Wir möchten allen, die noch keinerlei Erfahrung mit dem Computer haben, die Möglichkeit bieten, einen Überblick zu erhalten. Gemeinsam wagen wir die ersten Schritte auf der Benutzeroberfläche von Windows und finden heraus, welche hilfreichen Funktionen der Computer zu bieten hat.

Termin 09.09.2016

Anmeldeschluss 03.08.2016

Teilnahmebeitrag 90 €

Fit für den Job – Einblicke in das Förderinstrumentarium der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Um als Blinder oder Sehbehinderter am Arbeitsleben wettbewerbsfähig teilnehmen zu können, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Förderinstrumente stehen zahlreich zur Verfügung und es lohnt sich, die rechtlichen Möglichkeiten kennen zu lernen.

Termin 07.10.2016

Anmeldeschluss 09.09.2016

Teilnahmebeitrag 160 € / 80 € für Studierende, Auszubildende und Privatpersonen

Weitere Informationen und die barrierefreie Anmeldung finden Sie im Internet auf www.blista.de/bildungsangebote.

Impressum

Herausgeber

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

Redaktion

  • für den DVBS: André Badouin, Uwe Boysen und Andrea Katemann
  • für die blista: Isabella Brawata, Thorsten Büchner, Birthe Klementowski und Dr. Imke Troltenier

Koordination

DVBS-Geschäftsstelle, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Tel.: 06421 94888-0, Fax: 06421 94888-10, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.dvbs-online.de.

Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck ‑ auch auszugsweise ‑ nur mit Genehmigung der Redaktion.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.)

Uwe Boysen (DVBS) und Dr. Imke Troltenier (blista)

Erscheinungsweise

Der „horus“ erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und auf einer CD-ROM, die die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version und die Braille-, RTF- und PDF-Dateien enthält.

Jahresbezugspreis

  • 22 Euro (zuzüglich Versandkosten) für die Schwarzschriftausgabe,
  • 35 Euro für alle übrigen Ausgaben.

Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres. Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

Bankkonten des DVBS

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Postbank Frankfurt
IBAN: DE95 5001 0060 0149 9496 07
BIC: PBNKDEFFXXX

Verlag

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg, ISSN 0724-7389

  • Punktschriftdruck: Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Marburg
  • Digitalisierung und Aufsprache: Geschäftsstelle des DVBS, Marburg
  • Schwarzschrift-Druck: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen

Die Herausgabe der Zeitschrift „horus“ wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der „Glücksspirale“ unterstützt.

horus 2/2016, Jg. 78 der Schwarzschriftausgabe

Bildunterschrift: Das Thema „Hörbar lebendig“ kann die unterschiedlichsten Facetten haben. Foto: Bettina Stöß, Manfred Schmitt, Christian Leitzmann und Paola Bertoli

Bildbeschreibung: Das Titelbild ist eine Collage aus drei Bildern. Das erste Bild zeigt eine Szene aus der Zauberflöte, das zweite den Musiker Jens Flach auf der Bühne und das dritte Joana Zimmer während einer Lesung zu ihrem Buch „Blind Date“.

Nächste Ausgabe (horus 3/2016)

Schwerpunktthema: „Punktschrift“
Erscheinungstermin: 29. August 2016
Anzeigenannahmeschluss: 29. Juli 2016
Redaktionsschluss: 8. Juli 2016

[1] Anmerkung der Redaktion: Die von Vincke’sche Provinzial-Blindenanstalt Soest, gegründet 1847, war 1944 durch Bomben vollständig zerstört worden. 1953 bis 1955 entstanden erste Neubauten. Zu Geschichte und Nachfolge der Einrichtung siehe das folgende PDF-Dokument: