"Dieser Krieg ist schwer zu begreifen."

Eine blinde Lehrerin berichtet aus der Ukraine

„Ich höre die Schüsse immer lauter. Das heißt, die Russen kommen näher“, erzählt Tetiana Kostina. Die Lehrerin ist gebürtige Ukrainerin und lebt in Charkiw. Bis vor wenigen Tagen unterrichtete sie noch in einer Blindenschule. Durch einen Luftangriff wurde das gegenüberliegende Gebäude getroffen und das Internat der Blindenschule schwer beschädigt. „Unsere Schüler haben das miterlebt. Es war schrecklich!“ berichtet Tetiana während eines ZOOM-Meetings, zu dem der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) eingeladen hatte. 100 überwiegend selbst betroffene Teilnehmer*innen kamen virtuell zusammen, um mehr über die Situation blinder und sehbehinderter Menschen in der Ukraine zu erfahren.

Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler der blinden Lehrerin konnte nach Polen fliehen. Dort haben sie polnische Freunde empfangen. „Es geht ihnen gut. Sie sind in Sicherheit und besuchen in einem Rehabilitationszentrum sogar die Schule“, erzählt die Ukrainerin. Doch zu einigen Kindern sei der Kontakt abgebrochen, da Charkiw unter starkem Beschuss sei und sie in Kellern säßen.

Tetiana Kostina ist seit ihrer Geburt blind. Sie besuchte einen Kindergarten für seheingeschränkte Kinder, danach eine Blindenschule und studierte Deutsch, Englisch, Sonder- und Blindenpädagogik. Mit 21 Jahren verlor sie bei einem Unfall mit einer U-Bahn einen Arm und ist seitdem auf eine Prothese angewiesen. „Doch es war leichter für mich den Arm zu verlieren, als diese Situation jetzt mitzuerleben“, sagt sie.

Ob sie über Flucht nachdenke, wird sie von einer ZOOM-Teilnehmerin gefragt. „Das kommt für mich momentan nicht infrage, obwohl viele meiner Freundinnen und Freunde bereits evakuiert sind. Ich habe mir mein Zuhause so eingerichtet, dass ich mit meiner Behinderung gut zurechtkomme“. Auf der Flucht, fürchtet sie, könne sie einen Großteil ihrer Selbstständigkeit einbüßen. Ihr gehe es so weit nicht schlecht, sie müsse eben vorsichtig sein und werde insbesondere nachts „regelmäßig ungebeten von diesem russischen Weckdienst der besonderen Art wach“, sagt sie wörtlich.

Aleksander Pavkovic, der Vorsitzende des Deutschen Katholischen Blindenwerks, schildert die Situation in den Ländern Süd-Ost-Europas seit 1991. „Durch die Zeit der Umbrüche nach 1991 verflüchtigten sich viele soziale Standards und einige Personengruppen, zum Beispiel Menschen mit Behinderung, wurden abgehängt.“ Das bestätigt auch Tetiana Kostina: „Wir arbeiten kaum mit Braille-Zeilen, weil wir sie uns nicht leisten können. Sprachausgaben werden gerne genutzt, doch auch deren Finanzierung ist ein Problem.“ Lothar Wüstner, der die Blindenschule in Charkiw schon seit einigen Jahren unterstützt, ergänzt, dass einige blinde Ukrainer*innen sogar Gardinenstäbe als Blindenstock nutzen.

Werner Wörder vom DVBS und die Referenten schworen am Ende der Veranstaltung die Teilnehmenden auf einen „Marathonlauf“ ein. „Wenn hoffentlich in einigen Wochen oder Monaten die Waffen schweigen, werden viele Spenden und ein langer Atem für den Wiederaufbau nötig sein.“ Inzwischen sollen in Deutschland Strukturen aufgebaut werden, um blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland und Polen zielgerichtet zu unterstützen.