Blinde Wahrnehmung - Wahrnehmung der Blindheit
Selbsthilfe kann vieles bedeuten. Sie kann Beratung, Austausch und Rechtshilfe sein. Sie kann aber auch ein Ort sein, an dem wir eigene Erfahrungen zu reflektieren beginnen, Fragen stellen und kritisch hinterfragen, wie nun diese Erfahrungen zustande kommen. Diesen Auftrag hatte sich die Gesprächsreihe „Blinde Wahrnehmung/Wahrnehmung der Blindheit“, eine Kooperation zwischen DVBS und Fabian Korner im Januar/Februar 2023, gesetzt. Grundlage war das Behinderungsverständnis der sozialwissenschaftlich orientierten Disability Studies. Blindheit oder eine Sehbehinderung sei, so war in der Ankündigung der ersten Veranstaltung zu lesen, nicht zwangsläufig ein Defizit. Mit über 50 Teilnehmer*Innen diskutierte Miklas Schulz (Universität Hannover), was denn diese Aussage bedeuten könnte. Behinderung, so der Soziologe, solle nicht nur als eine fremdbestimmte medizinische Diagnose interpretiert werden. Vielmehr werden wir durch fehlende Barrierefreiheit und durch unsere Umwelt direkt beeinträchtigt: „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert.“. Daher stammt auch der Slogan der historischen Behindertenbewegung, die sich u.a. für eine UN-Behindertenrechtskonvention eingesetzt hatte. Schulz beschrieb das aus Debatten der englischen Behindertenbewegung entstandene soziale Modell von Behinderung, nach dem die Umgebungsfaktoren eine maßgebliche Rolle in der eigenen Erfahrung spielen. Dies spiegelte sich auch in der anschließenden lebhaften Debatte wider. Neben der Frage, welche Barrieren behindern, wurden viele persönliche Geschichten erzählt, in denen die Blindheit oder Sehschwäche zu Rechtfertigungen des eigenen Handelns zwang. Dass die eigene Unfähigkeit kein individuelles Versagen darstellt, sondern vielfach auf Umgebungsfaktoren beruht, war das wesentliche Resultat der Auftaktveranstaltung.
Diese allgemeinen Überlegungen wurden in der zweiten Veranstaltung mit Natalie Geese vertieft. Die Siegener Soziologin berichtete aus ihrer Promotion, in der sie sich mit den Voraussetzungen der Mobilität blinder und seheingeschränkter Verkehrsteilnehmer*Innen auseinandergesetzt hatte. Die im Anschluss geführte Diskussion konnte an vielen geteilten Erfahrungen die Diskriminierungen aufzeigen, die in der Mobilität mit Stock oder Führhund passieren. Insbesondere die anwesenden Frauen berichteten von unangenehmen Situationen, in denen vermeintlich hilfsbereite Menschen sie über eine Straße gezogen oder direkt berührt hätten, ohne dass dies gewollt gewesen sei. Erneut mehr als 50 Teilnehmer*Innen führten eine intensive Auseinandersetzung darüber, wie sehr die Pflicht bestehe, die eigene Wahrnehmungswelt Sehenden zu erläutern, und, ob diese überhaupt am Orientierungs- und Mobilitätstraining beteiligt werden sollten. Es sei doch schließlich so, äußerte sich eine Teilnehmerin, dass wir Blinden doch am besten wüssten, welche Informationen wir zur Navigation bräuchten. Echoakustische Orientierung, vermittelt von blinden Expert*Innen, wurde als Gegenmodell zum „Training mit dem weißen Stock“ erwogen. Dass man den Stock nicht nur auf dem Boden halten müsse, sondern es viele Verwendungsweisen vom Betasten öffentlicher Statuen, bis hin zum „Besenreiten“ für Kinder, gebe, sorgte dann für allgemeine Heiterkeit.
In der blinden Wahrnehmung steckt viel Potenzial, welches positiv genutzt werden kann. Dies zeigte Sigfried Saerberg in seinem Vortrag im dritten Teil der Veranstaltungsreihe (B)Low Vision auf. Der langjährige Aktivist und Professor für Disability Studies begann seinen Vortrag, indem er einen Luftballon mit einem darauf gezeichneten Auge zerplatzen ließ. Dass dieses „Zerplatzen“ visueller Kultur notwendig ist, wurde den wieder zahlreich Anwesenden durch eine lange Liste an Romanen illustriert, die Blindheit als Unwissenheit, verblendet sein, Naivität oder als Hilflosigkeit darstellten. Ähnlich wie bereits Miklas Schulz und Natalie Geese vorgeschlagen hatten, stellte der gebürtige Rheinländer einen positiven Bezug zum blinden Wahrnehmungsstil her. Dieser könnte und sollte sich, inspiriert vom Disability Artmovement, in eigenen Kulturprodukten wie Büchern, Musik oder ganz anderen Aktivitäten äußern. Die Teilnehmer*Innen schlossen sich dieser Auffassung weitgehend an und betonten, dass es beispielsweise innerhalb der musealen Kunst nicht nur um Beschreibungen, also Wahrnehmung aus zweiter Hand, gehen solle. Die Erfahrungen sind dort beeindruckend, so erzählte ein Teilnehmer, wo die blinde Wahrnehmung nicht zum Ausschluss am Kunstgenuss werde, sondern gleichberechtigte Teilhabe an der Kunsterfahrung möglich sei. Es geht also nicht darum, Blinde als Menschen mit besonderen Fähigkeiten oder als besonders hilflos zu beschreiben. Eine Teilnehmerin, die selbst Autorin ist, beschrieb, dass sie in ihren Büchern versuche, den Alltag blinder Menschen möglichst realitätsnah zu beschreiben. Dies decke sich nicht immer mit der Vorstellung ihrer sehenden Leser*Innen. Ein bestimmtes, von meist Sehenden an uns herangetragenes Verständnis von Blindheit prägt dann doch die Vorstellungen davon, wie wir leben und wahrnehmen.
In einer vierten und letzten Veranstaltung, die als offene Werkstatt konzipiert war, waren sich die Teilnehmer*Innen schnell einig, dass weitere Veranstaltungen folgen müssten. Die Disability Studies können einen Beitrag dazu liefern, Behinderung und exemplarisch Blindheit und Sehbeeinträchtigung besser zu verstehen. Fabian Korner, Initiator der Reihe, beklagte zu Beginn, dass der Beitrag der Disability Studies bisher nicht in der Selbsthilfe angekommen sei. Mit dieser Reihe kann nicht behauptet werden, dass dies nun vollständig gelungen sei. Das große Interesse an der Veranstaltungsreihe zeigt aber, dass der Bedarf vorhanden ist.
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