Von Michael Herbst
Warum bauen wir Radwege in Peru, wenn in Deutschland die Brücken einstürzen? Warum beauftragen wir mit Maßnahmen in Entwicklungsländern nicht viel mehr deutsche Unternehmen? Warum ist das Problem existenzieller Armut auch nach 75 Jahren Entwicklungshilfe nicht gelöst?
Die deutsche Entwicklungspolitik ist unter Beschuss. Nicht nur von sachkenntnisbefreiten Rechtspopulisten unter Verwendung gefälschter Beweise. Auch von kritischen Bürgern, aus dem Parlament und selbst von Regierenden. Der frühere Geschäftsführer des DVBS Michael Herbst ist inzwischen politischer Leiter bei der Christoffel Blindenmission (CBM) und seit Ende 2023 Vorstandsvorsitzender des „Verbandes Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen“ (VENRO). Er meint: Um das „Wie“ und „Was“ von Entwicklungspolitik beurteilen zu können, muss man einerseits zumindest ansatzweise verstehen, wie sie funktioniert, und andererseits eine globale Perspektive einnehmen.
1. Rechtsarmer Raum?
Um Gesetze und Verordnungen geht es im „Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (AwZ)“ des deutschen Bundestages nur sehr selten. Sachverständige werden gehört und ihre Thesen diskutiert. Das Entwicklungsministerium (BMZ) berichtet über Schwerpunktsetzungen, neue Grundsätze oder internationale Prozesse. Die Abgeordneten blicken näher auf Handlungssektoren wie Bildung oder Gesundheit oder auf bestimmte Regionen. Eine gesetzgeberische Ausnahme bildete z.B. das Lieferkettengesetz, das von BMZ und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) auf den Weg gebracht wurde.
Ansonsten begleiten die Parlamentarier Regierungshandeln. Das heißt nicht, dass sie keinen Einfluss nehmen können. Zuallererst ist da das Budgetrecht des Bundestages. Aber Abgeordnete können durchaus auch Berichte von der Regierung verlangen oder das Parlament Beschlussanträge verabschieden lassen, an denen die Regierung dann ohne weiteres nicht mehr vorbeikommt.
2. Zersplitterte Zuständigkeiten?
Humanitäre Hilfe, also Nothilfe in Krisengebieten, akute Hungerbekämpfung und dergleichen, wird in Deutschland vom Auswärtigen Amt verantwortet. Die „Wiederaufbauhilfe“ nach humanitären Katastrophen und die Entwicklungszusammenarbeit hingegen steuert das BMZ. 1970 vereinbarten die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vereinten Industriestaaten, 0,7 % des Bruttoinlandsproduktes für globale Entwicklung auszugeben. Macht man sich in Deutschland auf die Suche nach Geldern, die sich dieser ODA-Quote (official development assistance) zurechnen lassen, wird man in etlichen Bundes- und Landesministerien fündig.
Dass internationale Gesundheitsversorgung, Umweltschutzprogramme und sogar die Bildungskosten ausländischer Studierender zumindest potenziell entwicklungsfördernd sein können, leuchtet ein. Warum aber Unterbringungskosten von Flüchtlingen zumindest zeitlich befristet ebenfalls mit in den Zähler dürfen und warum Deutschland mit 19 % größter Empfänger seiner eigenen ODA-Leistungen ist, eher nicht. Immer wieder wird über eine Bündelung der deutschen Entwicklungsgelder diskutiert. Aber einerseits schätzen die einzelnen Ministerien die relativ flexibel einsetzbaren Budgettitel. Andererseits muss man sich gut überlegen, wann man solcherlei tut. In Zeiten vieler Krisen z.B. sollte man sich womöglich mit diesen Krisen und nicht mit bürokratischer Umstrukturierung beschäftigen.
3. Unzählige Umsetzer?
In der Entwicklungszusammenarbeit unterscheidet man zunächst die finanzielle und die technische Entwicklungszusammenarbeit. Erstere arbeitet mit Krediten, die z.B. durch Bürgschaften des Bundes abgesichert werden. Die „Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)“ übernimmt in Deutschland diese Aufgabe. Aber es gibt auch sogenannte Entwicklungsbanken, die außer mit Staaten auch mit Wirtschaftsunternehmen arbeiten. National ist das z.B. die „Deutsche Entwicklungsgesellschaft (DEG)“. Regional gibt es Entwicklungsbanken (Afrika, Lateinamerika, Asien…), an denen Deutschland beteiligt ist und in denen sie mitbestimmt. Und dann sind da auf globaler Ebene noch der „Internationale Währungsfonds (IWF)“ und die Weltbank.
Staatliche technische Zusammenarbeit hingegen setzt Entwicklungsprojekte meist auf Basis bilateraler Verträge zwischen Deutschland und Entwicklungsländern um. Auch hierfür existieren Umsetzungsgesellschaften, allen voran die „Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ)“. Aber das BMZ beauftragt auch deutsche Nichtregierungsorganisationen und fördert diverse Sonderorganisationen der UN von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zum Welternährungsprogramm (WFP). Die meisten dieser Organisationen wiederum arbeiten mit Partnern in den Entwicklungsländern zusammen. Sie unterstützen fachlich und finanzieren die Maßnahmen der Entwicklungsprojekte, unterhalten aber selbst kaum Umsetzungsstrukturen vor Ort.
4. Wirre Wirksamkeit?
Als Entwicklungshilfe nach dem 2. Weltkrieg startete, begann sie zum Zwecke der Sicherung militärischer Einflusszonen und zur Rohstoffsicherung in der auslaufenden Kolonialzeit. Später war sie Wirtschaftspolitik von oben nach unten und noch später von unten nach oben. Sie konzentrierte sich auf Armutsbekämpfung und leistete „Hilfe zur Selbsthilfe“. Schließlich wurde aus Entwicklungshilfe Entwicklungszusammenarbeit. Die Entwicklungsländer benennen ihre Bedarfe seither selbst und, soweit sie es vermögen, setzen sie die Maßnahmen auch selbst um.
Heute ist das in der 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung ausdifferenzierte Leitmotto globaler Entwicklung die nachhaltige Transformation. Der Planet soll ökologisch, ökonomisch und sozial zukunftsfähig bewirtschaftet werden. In dieser Denkweise sind alle Länder Entwicklungsländer. Sie übernehmen sowohl global Verantwortung als auch für sich selbst.
5. Bindende Beschlüsse?
Der Ort, an dem die Meilensteine globaler Entwicklung gesetzt werden, ist die UN-Generalversammlung. Hier wurden 2000 die Millenniumsentwicklungsziele und 2015 die nachhaltigen Entwicklungsziele beschlossen. Beides sind Deklarationen und die sind kein bindendes Völkerrecht. Was nicht heißt, dass sie keine Wirkung entfalten. Auch die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte aus dem Jahr 1949 war eine Deklaration. Sie wurde später in einer Reihe von Konventionen ausdifferenziert und die erlangten bindenden völkerrechtlichen Status.
Insofern bilden die Menschenrechte die völkerrechtliche Klammer um die globale Entwicklungspolitik. Sie wird am Ende für Menschen gemacht und von Deklarationen und Resolutionen der Generalversammlung unterstützt. Letztere sind zwar wiederum nicht rechtlich bindend, wenn sie nicht die Organisation der UN selbst betreffen, aber sie weisen Wege, hinter denen eine Mehrheit der Staaten steht.
Blicken wir mit diesem Wissen noch einmal auf die Eingangsfragen: Die tief hängenden Früchte bei der Verringerung der Umweltbelastung liegen global gesehen u.a. in Peru. Was hier mit vergleichsweise geringen Mitteln an Umweltentlastung erreicht werden kann, lässt sich so in Deutschland nicht mehr realisieren. Wann immer möglich, sollten Wirtschaftsunternehmen in den Entwicklungsländern selbst Aufgaben in der technischen Zusammenarbeit übernehmen und nicht ausländische Akteure. Es ist womöglich entwicklungsfördernd, wenn deutsche Unternehmen als „Erlös-Maximierer“ im globalen Süden investieren, aber hierfür gibt es die finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten des BMZ und die Außenwirtschaftsförderung. In den vergangenen Jahrzehnten ist in der globalen Entwicklung vieles erreicht worden, in der Gesundheitsversorgung, in der Bildung, in der Armutsbekämpfung… Aber wenn man sieht, dass die Militärausgaben global sechsmal so hoch sind wie die Entwicklungsausgaben, wenn man beobachtet, welche Beharrungskräfte wirken, wenn es um Klimaschutzziele, globale Entschuldung oder eine Reform der Vereinten Nationen geht, dann fragt man sich, ob es jemals den ernsthaften Versuch gab, mit globaler Entwicklungspolitik wirklich fertig zu werden.
Bild: Michael Herbst deutet ein Lächeln an. Er hat weißes Haar, dunkelgraue Augen und trägt zum dunklen Anzug ein gestreiftes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Foto: privat
Bild: Michael Herbst steht im Juni 2023 mit Langstock vor dem UN-Hauptgebäude in New York. Dort beschließt die UN-Generalversammlung globale Ziele der Entwicklungspolitik. Er trägt einen dunkelblauen Anzug mit Krawatte und eine schwarz getönte Sonnenbrille. Foto: privat