Von Birgit Kaiser
Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger gibt es bei den Gerichten, bei den Staatsanwaltschaften und in den Justizverwaltungen. Rechtspfleger entscheiden frei in den ihnen durch das Rechtspflegergesetz übertragenen Aufgaben: Als Beamte in Justizverwaltungssachen sind sie unverzichtbar für Personalangelegenheiten, Organisation und Haushalt.
Rechtspfleger sind u.a. tätig auf den Gebieten:
- Familien- und Vormundschaftsrecht,
- Nachlassrecht,
- Grundbuchrecht,
- Registerrecht,
- Zwangsvollstreckungssachen,
- Insolvenzrecht,
- Zwangsversteigerungssachen oder
- Strafvollstreckungssachen.
(https://rechtspfleger.net/berufsbild.html)
Aber wie kam ich zum Beruf des Rechtspflegers?
Mein ursprünglicher Wunsch war es, Betriebswirtschaft zu studieren. Doch meine Mutter riet mir, mich doch besser für die Finanzverwaltung in Sachsen zu bewerben, um eine Beamtenlaufbahn einschlagen zu können und so einen sicheren Job zu bekommen. Gesagt, getan: Ich bewarb mich um ein Studium in der Finanzverwaltung an der Fachhochschule Meißen. Zur Sicherheit wählte ich zusätzlich die Studiengänge „Allgemeine Verwaltung“ und „Rechtspflege“. In einem gemeinsamen Bewerbungsgespräch für alle drei Fachrichtungen wurde schnell klar, dass im Fachbereich „Finanzverwaltung“ 1997 nicht ansatzweise der Wille erkennbar war, eine blinde Studentin aufzunehmen – ganz anders im Fachbereich „Rechtspflege“. Also entschied ich mich für diesen Fachbereich.
Von entscheidender Bedeutung waren gemeinsame Treffen zwischen der Fachbereichsleitung, einem Dozenten, einer Mitarbeiterin des Integrationsamtes, einem EDV-Fachmann der Fachhochschule bzw. des Praktikums-Gerichts, einem Vertreter meiner Hilfsmittelfirma, mir selbst und meiner Mutter bereits vier Monate vor Studienbeginn. So war es unmöglich, Probleme auf Verantwortliche „abzuschieben“, die gerade nicht anwesend waren. Mir wurden alle benötigten technischen Hilfsmittel sowie eine Assistenz finanziert. Man war offen für meine Belange, und ich war stolz, einen der 20 Studienplätze erhalten zu haben, auf die sich ca. 1.000 Leute beworben hatten.
Das Studium selbst war recht verschult: Es gab einen festen Stundenplan für alle mit Vorlesungen und Seminaren täglich von 8.00 bis 13.00 Uhr. Nachmittags keineswegs Freizeit, sondern Nacharbeit. Schon damals half mir die Devise: „Weniger ist mehr!“: Man muss nicht jeden Fachbeitrag kennen, entscheidend ist vielmehr, den „Roten Faden“ gedanklich zu behalten. Bis heute lese ich viel weniger in Kommentaren und Fachzeitschriften nach, als es meine sehenden Kollegen tun, und ich kann damit gut arbeiten. 9 Monaten Theorie in Meißen folgten 9 Monate Praktikum an einem Gericht, bei mir war es das Amtsgericht Zwickau. Nach einem weiteren Block dieser Art folgte das Examen, bestehend aus ca. zehn unmittelbar aufeinander folgenden schriftlichen Prüfungen zu je 5 Stunden (in meinem Fall waren es durch Zeitverlängerung jeweils sieben Stunden) und einer mündlichen Prüfung, die ich allein absolvieren durfte.
Die Mühe hat sich gelohnt.
Am 01.12.2000 durfte ich meinen Job als Rechtspflegerin am Amtsgericht Zwickau aufnehmen. Ich hatte mich bewusst für ein relativ großes Gericht mit ca. 130 Mitarbeitenden entschieden, um eine gewisse Einsatzbreite zu haben, denn schon bei den beiden Praktika, in denen ich alle Gerichtsabteilungen durchlaufen hatte, wurde mir klar, dass ich nur in wenigen Bereichen relativ selbständig würde arbeiten können: In vielen Bereichen sind so dicke Akten zu studieren, dass eine Vorlesekraft in Vollzeit unentbehrlich ist.
Auf meinen Vorschlag hin wurde ich im Vereinsregister eingesetzt. Die Anträge dort sind überschaubar, so dass ich täglich nur ein bis zwei Stunden personelle Unterstützung brauchte. Hierfür erhält die Justiz vom Integrationsamt den sog. Zuschuss für personelle Unterstützung; wegen einer festgestellten Minderleistung wird zusätzlich ein Beschäftigungssicherungszuschuss gewährt.
Bis heute arbeite ich mit diesem Modell und bin sehr zufrieden damit, meiner Unterstützungskraft gegenüber gerade nicht als Arbeitgeberin auftreten zu müssen. Ein guter zwischenmenschlicher Kontakt ist aus meiner Sicht unverzichtbar. Ich nehme gern Hilfe an, wenn es um das Heraussuchen und Vorlesen weniger, in der Akte verstreuter Informationen geht, wenn es um das Ausfüllen nicht barrierefreier Vordrucke geht oder wenn ich einen Weg gehen muss, den ich nicht kenne.
Inzwischen arbeite ich mit der dritten Kollegin zusammen und bin sehr stolz darauf, dass mir im Vertretungsfall viele andere Kolleginnen ihre Hilfe von sich aus anbieten. Das war nicht immer so, es gab auch Phasen, in denen ich um einen „Vorleser“ kämpfen musste. Dabei habe ich gelernt, dass mit Geduld und Freundlichkeit vieles möglich ist, was zunächst unmöglich erscheint. Der fortlaufende Zuspruch meiner besten Freundin war und ist da von unschätzbarem Wert.
Gleiches trifft auf meine Tätigkeit in der Rechtsantragstelle für Zivil- und Familiensachen zu, die ich von 2010 bis 2018 ausüben durfte. Erst vor Kurzem sprach mich ein Herr an, dem ich vor Jahren half, eine gerichtliche Umgangsregelung mit seinem damals erst vierjährigen Kind zu beantragen.
Wie gut war es damals auch, dass ich umfassende Unterstützung einer blinden Rechtspflegerin erhielt: Sie schickte mir all ihre selbst in MS-Word gefertigten Antragsmuster, denn die Justizprogramme waren und sind für mich nicht zugänglich. In dieser Zeit war immer wieder beeindruckend für mich, wie vorsprechende Bürgerinnen und Bürger (ich nenne sie immer noch gern Kunden) auf meine Blindheit reagierten: Zu merken, dass nicht nur sie selbst ein Problem haben, sondern das Gegenüber auch, brachte selbst aggressive Leute zur Ruhe. Ganz wichtig war und ist es mir, den Anderen das Gefühl zu geben, alles mir Mögliche für sie zu tun, sie nicht nur abfertigen zu wollen; das wurde und wird stets mit Geduld und Dankbarkeit belohnt.
Weitere Aufgaben kamen dazu.
So erlebe ich es auch in der örtlichen Schwerbehindertenvertretung, in der ich bereits seit über 20 Jahren als Vertrauensfrau tätig bin.
Seit 2018 habe ich mehr und mehr Zeit, mich um digitale Barrierefreiheit in der Justiz zu kümmern. Vieles habe ich mir selbst angeeignet, der Austausch mit fachlich versierten blinden und sehbehinderten Kollegen war und ist da Gold wert! Digitale Barrierefreiheit betrifft nicht nur ein einzelnes Gericht, und so lag der Schluss nahe, dass ich in der Hauptschwerbehindertenvertretung diesbezüglich noch mehr bewirken kann; seit zwei Jahren bin ich dort 2. stellvertretendes Mitglied. Es macht mich durchaus nachdenklich, dass das Amt der Vertrauensperson in der Hauptschwerbehindertenvertretung für mich nicht infrage kommt. Ideen für diese Arbeit hätte ich genug, aber die Reisezeiten mit dem ÖPNV wären einfach zu lang, und einen Fahrer für all die anstehenden Fahrten von Gericht zu Gericht bekomme ich nicht.
Barrierefreiheit bleibt ein Problem.
Nachdenklich stimmt mich auch, dass ich inzwischen nur noch zu einem Drittel als Rechtspflegerin für Vergütungen in Beratungshilfesachen tätig bin – im Übrigen bin ich verantwortlich für barrierefreie IT und Schwerbehindertenvertretung bzw. Frauenbeauftragte.
Der Grund hierfür ist mangelnde Barrierefreiheit: Das hier in Sachsen eingesetzte E-Akten-System „VIS Justiz“ ist leider nicht vollständig barrierefrei, und der integrierte Aktenviewer für blinde Menschen ist leider überhaupt nicht nutzbar. Auch die Fachanwendung „forumSTAR“ ist für mich nicht zugänglich. Vom Nachfolger „GeFa“ (Gemeinsames Fachverfahren der Justiz) erhoffe und verspreche ich mir einiges mehr. Mir ist selbständiges Arbeiten unheimlich wichtig, was ich selbst tun kann, tue ich selbst, und so scanne ich auch alle Schriftstücke eigenständig.
Einige blinde bzw. sehbehinderte Rechtspfleger sind auch in der Kostenbearbeitung, in Beratungshilfesachen bzw. in Zwangsvollstreckungssachen tätig. Mein Wunsch, beim Grundbuchamt eingesetzt zu werden, scheitert bisher an der nicht barrierefreien Fachanwendung „SolumSTAR“.
Richtige Entscheidung getroffen.
Rückblickend bin ich sehr froh, mich für den Beruf des Rechtspflegers entschieden zu haben. Wer bekommt schon unmittelbar nach dem Examen einen Job, der sicher ist!
So langsam habe ich mich daran gewöhnt, dass ich immer irgendwelche Hilfsmittelanträge bei unserer EDV-Stelle bzw. beim Integrationsamt „laufen habe“. Ist das Update des Screenreaders erledigt, geht der Scanner kaputt usw. Entsprechende Anträge zu stellen und alle nötigen Absprachen dazu zu treffen, sehe ich inzwischen als Teil meiner Arbeit, was mich vieles gelassener angehen lässt.
Mein Arbeitsweg von meinem Wohnort Schneeberg im Erzgebirge mit Bus und Bahn ist mit 1,5 Stunden pro Strecke relativ lang, ich arbeite in Vollzeit zu 40 Wochenstunden. Aber ich möchte meine Kollegen und Kolleginnen am Amtsgericht Zwickau nicht missen. Egal ob Richter, Rechtspfleger, Servicekräfte oder Wachtmeister - Wenn ich früh zur Arbeit komme, werde ich immer so richtig nett begrüßt, besser kann ein Tag nicht beginnen. Das Gefühl, dazu zu gehören und gebraucht zu werden, ist mir manche Mühe wert.
Bild: Birgit Kaiser sitzt unter einer Birke in der Nähe eines Gewässers und lächelt. Ihr braunes Haar trägt sie als Bob mit Pony. Foto: privat