Über das harte Leben der Stadttauben und eine sinnvolle Hilfsmaßnahme

horus: Du unterstützt häufig Initiativen für den Tierschutz. Lass uns heute über Tauben reden. Stadttauben haben kein gutes Image, niemand will sie haben, auch auf dem Markusplatz in Venedig nicht. Warum?

Marion Happe: Tauben gegenüber gibt es eine große Ambivalenz. Stadttauben vermehren sich relativ schnell. So kann es zu recht großen Populationen in den Städten kommen, und das nervt die Menschen. Dabei muss man aber wissen, dass das Brutverhalten, das häufige Eierlegen der Stadttauben, menschengemacht ist, es wurde ihnen angezüchtet. Die Vorfahren der Stadttauben waren Felsentauben. Die wurden domestiziert und gehalten, damit sie Fleisch- und ergiebige Eierlieferanten wurden. Die Menschen haben von ihnen profitiert.

h: Kann man sagen, dass die Tauben Nutztiere waren?

M. H.: Ja, sie waren Nutztiere. Heute würde man die Stadt- bzw. Straßentauben als Kulturfolger bezeichnen. Es ist so, dass Tauben auf der einen Seite geachtet werden, etwa als Friedenssymbol, als wunderschöne weiße Tauben bei Hochzeiten, als Rasse- oder Brieftauben, für die hohe Summen ausgegeben werden. Andererseits ist eine Taube ein Nichts und wird wie Abfall behandelt, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße landet, etwa weil sie sich als Brieftaube verfliegt und so zur Stadttaube wird. 

h: In der Stadt sind Tauben oft auch aus hygienischen Gründen nicht willkommen. 

M. H.: Viele glauben, dass Tauben große Krankheitsüberträger wären. Aber das sind sie gar nicht. Sie sind ganz normale Vögel, die genauso viele oder wenige Krankheiten wie andere Vögel übertragen. Extrem diskriminierend ist z. B. der Begriff „Ratten der Lüfte“ für Tauben. Tauben nehmen den Menschen nichts weg, nagen nichts an und werden nicht aggressiv. Es ist nur so, dass der Kot recht ätzend ist, Gebäude verschmutzt und Denkmäler angreift.

h: Kann man Tauben daran hindern, sich an bestimmten Orten niederzulassen, z. B. durch Taubenabwehr-Spitzen, diese kurzen dünnen Metallstäbe auf Fenstersimsen?

M. H.: Das halte ich für Tierquälerei. Das einzige, was wirklich hilft, ist ein Stadttaubenmanagement. Es besteht darin, an sogenannten Hotspots, also dort, wo viele Tauben sind, Taubenschläge zu errichten. Dort ziehen die Tauben ein – es wird ihnen schmackhaft gemacht, indem sie dort gutes Futter bekommen, artgerechtes Körnerfutter. Wird der Taubenschlag von ihnen angenommen, schlafen sie auch dort, koten dort ab und – ganz wichtig – sie brüten dort. Dann kann dort eine Geburtenkontrolle stattfinden: Die Eier werden weggenommen und durch Gips-Eier ersetzt. Die Tauben werden quasi hinters Licht geführt. Ihre Population kann dadurch kleiner gehalten werden. Die Taubenschläge müssen natürlich betreut werden, ehrenamtlich oder durch Angestellte der Stadt.

h: Gibt es positive Beispiele von Städten mit einem Taubenmanagement?

M. H.: Ja, z. B. Aachen, Augsburg oder Mainz. Dort gibt es diverse Taubenschläge und Ansprechpersonen bei Fragen zu den Stadttauben. Im Endeffekt ist das Taubenmanagement für Städte günstiger, als die Verschmutzungen an Gebäuden zu entfernen.

h: Du selbst hast ja auch schon versucht, ein Taubenmanagement für die Stadt Marburg zu initiieren. Wie bist Du vorgegangen?

M. H.: Seit 15 bis 20 Jahren bemühe ich mich sehr, den Stadttauben zu helfen. Es ist aber leider ein Fass ohne Boden. Anfangs habe ich umfangreiches Informationsmaterial zum Thema Stadttaubenmanagement ins Rathaus gebracht, mit der Bitte, es an den Bürgermeister weiterzuleiten. Da ist gar nichts passiert. Einige Jahre später hatte ich einen persönlichen Termin beim Oberbürgermeister. Er hat meine mitgebrachten Materialien, darunter waren DVDs und ausführliche Anleitungen, wie Taubenschläge sachgemäß errichtet werden sollten, innerhalb der Stadtverwaltung weitergeleitet. Als ich telefonisch nachgefragt habe, war schon die Hälfte der Materialien nicht mehr auffindbar. Später habe ich an einer Einwohnerfragestunde der Stadtverordnetenversammlung teilgenommen. Dort wurde meine Frage bezüglich eines Taubenmanagements in Marburg abgebügelt, nein, wir machen nichts für die Tauben.

Seit einem Jahr bin ich nun Mitglied der Stadttaubeninitiative Mittelhessen „Columba Livia“. Wir haben uns gemeinsam bemüht, nochmals mit der Stadt in Kontakt zu treten, um einen Taubenschlag zu errichten. Als Standort kam das Rathaus in Betracht, aber die Verantwortlichen haben sich gesperrt und wollten auch keine weitere Info-Veranstaltung. Gerne hätten wir darüber aufgeklärt, dass dem Rathausgebäude nichts passieren würde, wenn der Taubenschlag sachgemäß angebracht würde. Auf meinen Vorschlag hin, den Bahnhof oder umliegende Häuser als Standort für einen Taubenschlag in Erwägung zu ziehen, bekam ich bisher keine Antwort. 

Ich habe öfter mit der Unteren Naturschutzbehörde telefoniert, aber auch das hat leider nichts bewirkt. Es gab zwar eine gemeinsame Begehung von Mitgliedern von Columba Livia mit Verantwortlichen der Stadt, um einen möglichen Standort für einen Taubenschlag zu besichtigen. Aber dabei ist leider nichts Konkretes herausgekommen. Zusammenfassend kann ich sagen, dass all meine Bemühungen der letzten 20 Jahre komplett ins Leere gelaufen sind. Die Stadt Marburg tut schlicht und ergreifend nichts für die Tauben. Das Taubenfütterungsverbot schadet den Tieren. 

h: Was bedeutet das?

M. H.: Das Taubenfütterungsverbot ist in der städtischen Gefahrenabwehrverordnung festgelegt. Auch andere Städte haben das, z. B. Hamburg, so kann ein Bußgeld bis 5.000 Euro verhängt werden, wenn jemand Tauben im Stadtgebiet füttert. Das führt aber dazu, dass die Tauben den letzten Mist fressen, z. B. Kuchenreste, Pommes oder Brötchen. Für mich gibt es nur die Lösung Stadttaubenmanagement mit artgerechtem Futter.

h: Wie sicher leben Tauben in der Stadt, wie funktioniert ihr Schutz?

M. H.: Damit sieht es katastrophal aus. Jüngstes Beispiel, das mich und viele andere sehr verzweifeln lässt, ist die Stadt Limburg. In Limburg gibt es angeblich 700 Stadttauben. Durch ein missverständlich formuliertes Bürgerbegehren haben mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger dafür gestimmt, dass die Tauben durch einen Falkner getötet werden sollen. Die Stadt will die Population auf ungefähr 300 Tauben senken. Dagegen gab es großen Protest, man hat wohl versucht, Lösungen zu finden, z. B. 200 der Tauben einzufangen und sie im Gut Aiderbichl, einem Gnadenhof, unterzubringen. Aber das ist teurer als von der Stadt geplant, und nun soll wieder eine Ausschreibung zum Einfangen und Töten der Tauben kommen – 200 Tiere sind zunächst betroffen.

h: Es gibt viele Tauben, die humpeln oder verletzte Flügel haben.

M. H.: Ja, viele Stadttauben sind sehr schwach und extrem hungrig. Sie rennen allem hinterher, was auf dem Boden liegt, achten nicht auf die Gefahren, wie Busse, Autos oder Fahrräder, und werden angefahren. Es gibt auch mutwillige Verletzungen durch Menschen. Tauben werden oft getreten. Ich weiß von einem schlimmen Fall, wo einer Taube eine Gabel in den Rücken gerammt wurde, nur weil sie im Außenbereich eines Cafés herumgelaufen ist. Die Stadttauben leben auch nicht lange, ihre durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei zwei bis drei Jahren, eigentlich können Tauben bis 10 Jahre alt werden. 90 Prozent der Stadttauben sterben im ersten Lebensjahr.

h: Welche Tipps hast Du für diejenigen, die sich für ein Taubenmanagement einsetzen wollen?

M. H.: Ich würde mich mit Tierschutzvereinen zusammentun, z. B. mit Stadttaubeninitiativen oder Organisationen wie dem NABU oder Menschen für Tierrechte – Bundesverband der Tierversuchsgegner. Die haben viel Informationsmaterial und auch Filme auf DVD zum Thema Stadttaubenmanagement.

h: Wie ist Deine Erfahrung als Sehbehinderte bei der Zusammenarbeit mit Tierschutzorganisationen, gibt es Barrieren?

M. H.: Naja, für Seheingeschränkte ist es natürlich komplizierter als für Sehende, von hier nach dort zu kommen, um sozusagen im Außendienst für den Tierschutz tätig zu sein. Ich mache fast alles von Zuhause aus. Ich bin Fördermitglied in drei Tier- und Naturschutzorganisationen und spende auch monatlich für das Marburger Tierheim. Ich unterschreibe diverse Petitionen für die Tiere und leite die Newsletter der Organisationen an Freunde und Bekannte weiter. Die Mitarbeit an Infoständen oder die Teilnahme an Demonstrationen sind nichts für mich.

h: Welche Erfahrung hast Du selbst mit Tauben gemacht, was fasziniert Dich an den Tieren?

M. H.: Ich finde, das sind sehr friedliche, freundliche Tiere. Allein die Tatsache, dass Stadttauben so gehasst werden, empfinde ich als extrem ungerecht. Das ist ein Grund, warum ich mich für Tauben einsetze, auch weiterhin. 

Tiere mochte ich schon immer. Ich war bereits als Kind stark seheingeschränkt. Mein Vater hat in unserem Garten eine Voliere für mich gebaut. Dort gab es Hasen, Zwerghühner und Tauben. Ich habe viele Stunden dort bei meinen Tieren verbracht. Ich habe den Tauben Namen gegeben, sie saßen auf meiner Hand, auf der Schulter, auf dem Kopf; ich habe sie gefüttert und konnte sie kraulen. Ich fand zum Beispiel total faszinierend, wie mein Lieblingstäuber namens Peter gebalzt hat. Er war sehr zahm, saß auf meiner Hand, und hat mit „Guurukku“ seinen Hals und sein Köpfchen nach vorne gewippt. Es waren so liebe, freundliche Tiere. Nie bin ich durch sie krank geworden.

h: Wie kommunizierst Du mit den Tauben?

M. H.: Indem ich langsame, vorsichtige Bewegungen mache, nicht zu laut spreche, und versuche, Ruhe auszustrahlen.

h: Welche Tipps kannst du anderen Sehbehinderten geben, um Tauben zu beobachten?

M. H.: Geht auf Marktplätze, dort gibt es viele Tauben, oder geht an Flüsse, an Stellen, wo Enten und Schwäne gefüttert werden. Nehmt nicht irgendwelchen Schrott zum Taubenfüttern mit. Taubenfüttern in der Stadt darf ich natürlich nicht weiterempfehlen, es ist ja strafbar, was ich so absurd finde. Aber Tauben sind für gutes Futter äußerst dankbar. Sie kommen bis auf ein paar Zentimeter näher. Hört zu, wie die Tauben gurren. Die Laute der Stadttauben sind von denen der größeren Ringeltauben sehr gut zu unterscheiden. Männliche Tauben machen andere Laute als weibliche.

Tauben sind wundervolle Tiere, genauso liebenswert wie Amsel, Drossel, Fink und Star. 

h: Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Marion Happe (60) ist blista-Alumna und arbeitet als Telefonserviceassistentin bei der Bundesagentur für Arbeit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Hündin Surina, einer ehemaligen rumänischen Straßenhündin, in Marburg. 

Bild: Marion Happe blickt lächelnd nach links. Sie hat lockiges, dunkelblondes Haar und blaugraue Augen. Im Hintergrund wächst lichter Laubwald. Foto: privat.  

Bild: Beziehungsaufbau: Ein kleines Mädchen kniet ruhig auf einem gepflasterten Platz und wendet sich Tauben zu, die erwartungsvoll nahe herangelaufen sind und auf dem Boden nach Futter picken. Das Mädchen mit geflochtenem Zopf und rosa Kapuzenshirt ist nur von hinten sichtbar. Foto: pixabay / Alicja 

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