Von Lisa Mümmler
Ich schloss die Augen, ließ mich tief ins Kissen sinken, lauschte der Stille und fühlte mit all meinem Sein, dass an diesem Dezemberabend mein altes Leben enden und mit dem morgigen Augenaufschlag ein neues beginnen würde. Mein Leben mit Führhund. Mein Leben mit Harry.
Die Idee zum Blindenführhund wurde im Sommer 2016 geboren. Nach langem Kampf um das Rezept landete vier Jahre später die Bewilligung in meinem Briefkasten – ein papierener Schatz, auf dem noch heute die Spuren meiner Freudentränen zu sehen sind. Mindestens zwölf Monate Wartezeit wurde mir angekündigt. Doch Mitte November las ich „Dringender Rückruf erbeten“ auf meinem Smartphonedisplay. In zwei Wochen sollte ich meinen Führhund bekommen. Schlagartig war ich in Aufruhr. So viel vorzubereiten! Am selben Tag bestellte ich ein Hundebett, Näpfe und einen Sack Futter. Ich informierte meinen Arbeitgeber, meinen Vermieter, ließ mich „zur Anpassung von Hilfsmitteln“ krankschreiben, buchte die Fahrkarte… die Checkliste war plötzlich abgehakt, mir blieb nur noch das Warten. Zähes, vorfreudiges, schier unerträgliches Warten.
Und dann war sie da, unsere erste Begegnung. Unser Blinddate. Nach einer unruhigen Nacht mit drei Stunden Schlaf klingelte die Trainerin der Führhundschule pünktlich um 10 Uhr. Sie stand mit einem blonden, flauschigen Etwas vor der Türe. Oh Gott, das war er also. Der Hund. Viel größer als auf dem Foto, das ich gesehen hatte. Ich unterhielt mich mit der Trainerin, aber ich hatte nur Augen für das wuselige Bärchen, das schwanzwedelnd um mich herum hüpfte und aufgeregt durch die Wohnung flitzte – die Nase am Boden, flankiert von wehenden Schlappohren.
Ignorieren sollte ich ihn erstmal, damit er sich beruhigt. Und wer beruhigte mich? Vor Hunden hatte ich mein Leben lang Angst. Sobald ich merkte, dass mir einer entgegenkam, habe ich die Straßenseite gewechselt. Meinen ersten Nebenjob als Prospekteverteilerin kündigte ich schließlich wegen der Hunde, die hinter Briefkastenschlitzen und Gartentoren tobten. Aber ich wusste auch, dass meine Angst aus dem Unbekannten resultierte. Ich verstand Hunde nicht, kannte weder ihre Verhaltensweisen noch ihre Körpersprache. Trotzdem ließ ich mich auf das Abenteuer Führhund ein, denn ich wusste, dass ich meinen eigenen Hund von Grund auf kennenlernen würde. Und mit den blonden Löckchen, den tapsigen Pfoten und den braunen Knopfaugen sah Harry wirklich nicht zum Fürchten aus.
Gelassener wurde ich, als wir zur ersten Gassirunde gingen. Frische Luft, durchatmen. Ich bekam viele Infos, Kommandos mit Laut- und Handzeichen sowie eine Flexi-Leine, mit der ich den zwanzig Monate alten Goldendoodle über die hauseigene Wiese führte. Er war so süß! Dieser leichtfüßige Gang, das neugierige Näschen übers Gras tanzend und die Rute wie ein fröhliches Fähnchen erhoben. Kurz darauf lernte ich außerdem seine Pinkel- und Häufchenhaltung kennen. Für ein Blinddate ganz schön persönlich.
Dann waren wir allein. Er und ich. Beide aufgeregt und unruhig. Harry verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Ich ging zur Kaffeemaschine. Tapp tapp tapp. Ich ging ins Bad. Tapp tapp tapp. Ich hatte jetzt einen Hund, nur überhaupt keine Ahnung, wie ich mit ihm umgehen, was ich mit ihm tun sollte. Mit Tieren generell habe ich keine Erfahrungen, da ich gegen viele allergisch bin. Durch puren Zufall fand ich 2016 heraus, dass ich nur auf manche Hunderassen reagiere. Darum auch ein nichthaarender Goldendoodle. Und der saß nun neben mir mit seinem schäfchenweichen Fell, gerade nah genug, dass ich ihn streicheln konnte, und wir „nahmen Kontakt auf“. Mehr als Kopf und Rücken ging da noch nicht – absurd, wenn ich heute darüber nachdenke, wo ich ihm den Schlaf aus den Augen reibe, Zähne und Lefzen kontrolliere, seine Pfoten und Ohren putze und vieles mehr.
Großen Respekt hatte ich vor dem ersten Gang am Führbügel. Im Vorfeld hatte ich gehört, dass Führhundhaltende mit Sehrest oft Schwierigkeiten hätten, sich auf den Hund einzulassen. Das verunsicherte mich mit meinen acht Prozent Restsehvermögen und den fünf Grad Gesichtsfeld. Zu Unrecht. Als es soweit war, hielt ich mich am Führgeschirr, gab Harry das Go und etwas in mir machte Klick, fühlte sich einfach richtig an. Beschwingt ließ ich mich von Harry durch die fremde Stadt leiten – voller Bereitschaft, diesem Hund irgendwann zu vertrauen.
„Irgendwann“ kam schneller als gedacht. Wir bestanden unsere Gespannprüfung, gewöhnten uns mit Höhen und Tiefen aneinander und sind seit vier Jahren ein unzertrennliches Team. Gewünscht hatte ich mir einen Führhund, der mich auf meinen Wegen entlastet. Bekommen habe ich so viel mehr. Die Führarbeit ist nur ein kleiner Part von dem, was Harry mir schenkt. Er ist Teil meiner Familie, bringt mich mit seiner charmanten, drolligen Art zum Lachen, spendet Trost, wenn ich traurig oder krank bin, und gibt mir Sicherheit und Zuversicht. Und ich darf mich um seine Bedürfnisse kümmern, ihn pflegen, ermutigen, Spiel-Dates für ihn arrangieren und sein Fels in der Brandung sein. Er hat sich nicht bei mir als Assistenzhund beworben, er hat sich das nicht ausgesucht. Schon alleine darum möchte ich ihm das schönstmögliche Leben bieten, als ein tägliches Dankeschön für alles, was er für mich tut.
Wie sehr Harry mein Leben verändert hat, erkenne ich überdeutlich im Rückblick. Zum Beispiel habe ich seinetwegen nun ein Gartengrundstück. Ursprünglich wollte ich eine kleine, eingezäunte Wiese pachten, letzten Endes kaufte ich einen 800 Quadratmeter großen Schrebergarten. Die Vorbesitzer hatte Harry bei der Besichtigung ordentlich um die Pfote gewickelt. In unserer grünen Oase treffen wir uns seither mit Familie und den vielen neuen zwei- und vierbeinigen Freund*innen, die wir auf Gassirunden und über Online-Anzeigen für Hundebegegnungen gefunden haben. Limo und Hundepool gibt’s im Sommer, Glühwein und Schneebälle im Winter.
Tollen Austausch fand ich in einer WhatsApp-Gruppe für Führhundhaltende im Raum Stuttgart. Über Umwege kam ich dadurch zu einem neuen Ehrenamt: Ich wurde stellvertretende Leiterin der Führhundfachgruppe des Blinden- und Sehbehindertenverbands Württemberg. In dieser Funktion organisiere ich mehrmals im Jahr Stammtische für Führhundhaltende oder unterstütze Mitglieder dabei, selbst Treffen durchzuführen. Anliegen aller Art beantworte ich per Mail, telefonisch oder über WhatsApp – die Kontakte sind vielfältig. Manche Leute möchten einen Führhund beantragen und haben viele Fragen dazu. Andere haben bereits einen vierbeinigen Helfer und brauchen Unterstützung bei verweigertem Zutrittsrecht. Es kommen aber auch Anfragen von Studierenden, die für eine Arbeit recherchieren. Neben zahlreichen Umfragen, Fragebögen und Interviews wurden Harry und ich einige Wochen von einem Filmstudenten mit der Kamera begleitet. Entstanden ist ein 25-minütiger Dokumentarfilm über uns. Das war eines dieser vielen Erlebnisse, das ich ohne Harry nicht gehabt hätte.
Genauso wie das Fotoshooting für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für die Bundesinitiative Barrierefreiheit. Unerwartet kam diese wundervolle Erfahrung zu mir. Die Mitarbeiterin der zuständigen Agentur rief mich an, meinte, jemand hätte mich für das Shooting vorgeschlagen und ihr ein Bild von Harry und mir geschickt. Ich hatte mich dort also nicht beworben, aber sie wollten mich haben! Perplex und neugierig sagte ich zu. Das bedeutete eine Reise von Stuttgart nach Berlin. Geplant war eine gemütliche Zugfahrt, aber bundesweite Warnstreiks machten uns einen Strich durch die Rechnung. Schließlich fuhren meine Eltern uns mit dem Auto in die Hauptstadt und Harry und ich kamen pünktlich zum Shooting.
Eine völlig neue Welt für uns. Die Location, nachts ein Tanzclub, war voller beschäftigter Menschen. Leute von der Agentur, der Fotograf und Personen vom BMAS. Und mein Goldbärchen und ich mittendrin. Ich probierte ein paar Outfits an, bekam etwas Puder ins Gesicht, und Harry, frisch gewaschen und gebürstet, war natürlich perfekt, so wie er war, und bezauberte die Crew. Einen ganzen Vormittag dauerte das Shooting und unser Foto hing für mehrere Wochen an Bahnhöfen, Litfaßsäulen und Haltestellen, wurde in Online-Anzeigen ausgespielt und in Fachmagazinen abgedruckt.
Ja, mit Harry geht es wohl nicht ohne Rampenlicht. So wurde er zufällig Maskottchen für das Louis Braille Festival 2024 in Stuttgart. Das kam so: Seit drei Jahren arbeite ich beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) als Redakteurin für das Verbandsmagazin Sichtweisen. In der Berliner Geschäftsstelle freute man sich über die Stuttgarter Kollegin vor Ort. Insbesondere die Führhundlounge sollte ich mitorganisieren. Bei der Besichtigung des Geländes wurde ein Bild von Harry geschossen, das auf Social Media gut ankam. Daraus entstand die Idee des Festivalführhundes: Mit schönen Fotos und Videos vor Stuttgarter Kulissen warb Harry für das Festival. Wir zeigten den Schlossplatz, den Bahnhof, besuchten den SWR und das Mercedes-Benz-Museum. Schließlich trafen sich Festival-Schirmherr und Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, und Festivalführhund Harry vor dem Neuen Schloss zum Pressetermin. Kein Wunder, dass Harry für dieses Event sogar seine eigenen Autogrammkarten, natürlich mit Pfotenabdruck, bekam.
Ich hätte mir bei meinem Antrag nie träumen lassen, was ich alles mit und wegen Harry erleben würde, wohin die Reise führen würde. Beruflich und privat. Und leider nicht immer nur auf die Sonnenseite. Drei Monate, nachdem wir zusammengefunden hatten, musste ich meinen Liebling in die Tierklinik bringen – vergiftet. Als Golden-Retriever-Pudel-Mischling ist Harrys größter Fehler, wenn man das so nennen möchte, dass er Abfälle und so manches Taschentuch vom Boden frisst. Durch meine anfänglichen Ängste habe ich mich nicht getraut, ihm aufgenommene Dinge aus dem Maul zu nehmen. Etwas, das sich mit einem Schlag geändert hat nach dem überstandenen Klinikbesuch. Ich schwor mir, lieber einen Biss zu riskieren, als jemals wieder dieses furchtbare, hilflose Bangen durchmachen zu müssen. In städtischen Grünanlagen trägt Harry einen Fressschutz.
Hart war auch die Diagnose, die Harry im vergangenen Jahr bekommen hat: Aufgrund von Rückenbeschwerden wurde ein Röntgenbild angefertigt, das eine beginnende Spondylose, eine Erkrankung der Wirbelsäule, zeigte. Ich googelte, sah mein Bärchen an und mir brach es das Herz. Unheilbar. Degenerativ. Diese beiden Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Ich weinte, einen Tag und eine Nacht. Dann legte sich der Schock und ich wurde wieder handlungsfähig. Sofort stellte ich unseren Alltag um: Orthopädische Hundebetten wurden besorgt, Nahrungsergänzungsmittel für Rücken und Gelenke bestellt und rückenunfreundliche Gewohnheiten gestrichen. Stattdessen gehen wir zur Physiotherapie, wo ich lernte, Harry effektiv zu massieren und mit einfachen Mitteln im Alltag zu trainieren. Denn Muskelaufbau ist das A und O. Darum haben wir mittlerweile ein Set Steckhürden zu Hause, ein Balance Board für Gleichgewichts-Übungen und Hütchen für Slalom. Dreimal wöchentlich baue ich aus unserem bunten Trainingszubehör einen Parcours quer durch die Wohnung, und Harry absolviert ihn, wie es sich für einen sportlichen, schlauen Doodle gehört, mit Bravour.
Durch all diese Maßnahmen ist er nicht nur schmerzfrei, unsere Bindung ist durch die präventiven Maßnahmen noch inniger geworden. Das gemeinsame Training macht uns Spaß, und ich liebe es, wie Harry neue Übungen meistert, wie er mehr und mehr versteht, was ich von ihm will, wenn ich ihm Neues zeige. Wie wir uns auch durch schlechte Zeiten kämpfen und die guten dadurch umso intensiver erleben.
Ich bin so unendlich dankbar und überglücklich, diesen wunderbaren, liebenswerten Begleiter an meiner Seite zu haben. Gemeinsam stellen wir uns der Zukunft: Vier Pfoten und zwei Beine, verbunden durch einen Führbügel und Vertrauen.
Zur Autorin
Lisa Mümmler (36) hat Germanistik und Philosophie in Heidelberg studiert und arbeitet seither als Online-Redakteurin, zunächst im Marketing, seit 2022 in der Selbsthilfe beim DBSV. Seit Kurzem moderiert sie den Podcast „Fell und Führbügel“ (https://fell-und-fuerhbuegel.podigee.io/). Ihre Freizeit verbringt sie mit Yoga, Pilates, Wandern, Ausflügen und Reisen, kreativen Dingen – und natürlich mit ihrem Führhund Harry.
Bild: Führhund Harry bleibt auch auf dem Bahnhof gelassen. Der cremeweiße Goldendoodle mit lockig-flauschigem Fell sitzt auf dem Bahnsteig, Lisa Mümmler geht neben ihm in die Hocke und legt eine Hand auf seine Schulter. Lisa Mümmler hat langes, lockiges Haar und trägt eine große, sportliche Brille mit schwarz getönten Gläsern. Foto: privat
Bild: Lisa Mümmler lächelt. Sie hat ein schmales Gesicht, blaue Augen und blondes, schulterlanges, lockiges Haar. Foto: privat