Von Otfrid Altfeld

Paul Guinot

Paul Guinot war als Zeichner – heute würde man ihn als Designer bezeichnen – in einem Stickereibetrieb in den Vogesen beschäftigt, als er im Jahr 1909 infolge eines Unfalls mit 25 Jahren erblindete.

Offenbar gelang es ihm, diese traumatische Erfahrung rasch zu verarbeiten, und er startete bald eine Ausbildung zum Masseur und Physiotherapeuten. Dabei wurde er rasch mit den Fallstricken der französischen Gesetzgebung konfrontiert, die nicht vorsah, dass Menschen mit einer Behinderung überhaupt qualifiziert ausgebildet werden oder gar arbeiten könnten.

Er wurde zu einem wichtigen Akteur der französischen Selbsthilfe und gründete Initiativen, Vereine und Netzwerke zur Förderung der Eingliederung behinderter Menschen in die Gesellschaft, statt sie dem Fürsorgesystem zu überlassen. Die berufliche Qualifizierung von Menschen mit Behinderung stand dabei an erster Stelle. Guinot gründete die Fédération des Aveugles de France und die Confédération Française pour la Promotion Sociale des Aveugles et des Amblyopes (CFPSAA). Zu den von ihm gegründeten Vereinen gehört auch die in 1928 ins Leben gerufene Association Paul Guinot, die sich zum zentralen Ziel gesetzt hat, die Idee der Qualifizierung durch Angebote von beruflichen Ausbildungen für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung umzusetzen. 

Association Paul et Liliane Guinot

Zentraler Ort dieser Angebote ist heute das „Établissement et Service de Réadaptation Professionnelle (ESRP) Paul et Liliane Guinot“ in Villejuif südlich von Paris, das im Jahr 1984, 15 Jahre nach Guinots Tod, eingeweiht wurde. Hier werden drei Ausbildungen in verschiedenen Branchen angeboten: Masseur-Kinésitherapeute (Masseur*in und Physiotherapeut*in), Conseiller Relation Client à Distance (Customer Care Agent) und Développeur Web et Web Mobile (Entwickler*in für Web- und mobile Applikationen). Alle drei Ausbildungen werden mit staatlich anerkannten Zertifikaten abgeschlossen.

Die Association ist eine Non Profit Organisation, deren Angebote in erster Linie von der Agence régionale de santé ARS Ile de France des französischen Gesundheitsministeriums (Ministère de la Santé et de la Prévention) gefördert werden. Der Zugang zu den Angeboten erfolgt über das regionale MDPH (Maison Départementale des Personnes Handicapées). Die Förderung folgt der Teilnehmendenzahl, so dass die Association Paul et Liliane Guinot das mit der Realisierung der Angebote verbundene wirtschaftliche Risiko selbst zu tragen hat.

Kontakt und Kooperation

Seit 2023 bestehen informelle Kontakte zwischen dem Zentrum für berufliche Bildung (ZBB) der blista und der Association Paul et Liliane Guinot, um sich über die Bedingungen der Inklusion am Arbeitsmarkt in beiden Ländern und über Ausbildungskonzepte der Organisationen auszutauschen. 

Dabei wurde rasch klar, dass die kaufmännischen und informationstechnischen Angebote der Association im binationalen Vergleich konzeptionell eher den deutschen Umschulungen entsprechen. Die Ausbildungsdauer beträgt zwei Jahre, der Fokus der Kompetenzvermittlung liegt daher in erster Linie auf fachlichen Inhalten. Die Vorbereitung auf die außerfachlichen Anforderungen und die Entwicklung von personalen und sozialen Kompetenzen treten wegen der beschränkten Ausbildungsdauer etwas in den Hintergrund, wenn sie – wie im Fall der Customer Care Agents – nicht ohnehin zum fachlichen Curriculum zählen. 

Bewerber*innen ohne baccalauréat (vergleichbar dem deutschen Abitur) nehmen an einem optionalen zusätzlichen Vorbereitungsjahr teil, der classe préparatoire. Die classe préparatoire ermöglicht den Erwerb eines dem französischen baccalauréat gleichgestellten Bildungsabschlusses, so dass gewährleistet ist, dass die Teilnehmenden an den Ausbildungen auf miteinander vergleichbaren Bildungsniveaus aufbauen können. Dies ist insbesondere auch dann wertvoll, wenn die Teilnehmenden erwägen, nach dem Abschluss der Ausbildung einen Bachelor oder Master Degree zu erwerben. 

Die Ausbildung Masseur*in bzw. Physiotherapeut*in mit Diplôme d’État (staatlich geprüft) dauert fünf Jahre, hier wird im Wissen um die hohen Anforderungen des Berufsbildes an die soziale Kompetenz neben den fachlichen auch personalen und sozialen Kompetenzen ein großer Entwicklungsraum gegeben. Die Association Paul et Liliane Guinot fungiert als Institut de Formation en Masso-Kinésitherapeutique (IFMK). Sie gehört damit zu den über ganz Frankreich verteilten Organisationen, die Ausbildungen für Physiotherapeut*innen mit staatlichem Diplom anbieten, von denen sie sich lediglich durch ihre Spezialisierung auf Teilnehmende mit Blindheit oder Sehbehinderung unterscheidet. 

Wie in Deutschland wird auch in Frankreich aktuell eine Akademisierung des Berufsbilds des/der Physiotherapeut*in intensiv und ebenso kontrovers diskutiert. Die Association Guinot bereitet sich auf den zu erwartenden Transformationsprozess vor, indem sie die Kontakte zur Université Paris Saclay intensiviert, um hinsichtlich der zukünftig möglicherweise einzurichtenden Bachelor/Master-Studiengänge für Kinésithérapie eine Kooperation zu vereinbaren.

Arbeitsmarkt

Die Anforderungen des französischen IT-Arbeitsmarktes unterscheiden sich recht deutlich von der aus Deutschland bekannten Situation. Unternehmen in Frankreich setzen insbesondere für qualifizierte Beschäftigungen in der IT sehr häufig einen akademischen Abschluss voraus. Dies führt dazu, dass die Absolvent*innen der Ausbildung zum Web Developer trotz intensiven Bewerbungstrainings aktuell nur geringe Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, obwohl auch in Frankreich ein nicht unerheblicher Fachkräftemangel im Bereich der IT herrscht. In Deutschland dagegen werden von IT-Arbeitgebern – mit Ausnahme des öffentlichen Dienstes – Ausbildungen und Bachelorabschlüsse häufig gleichgestellt. Die Unternehmen schreiben Stellen stärker als Funktionen aus, Qualifikationen werden in den Anforderungen formuliert. Von dieser größeren Offenheit der Arbeitgeber profitieren die Absolvent*innen des ZBB in hohem Maße: vier von fünf Absolvent*innen der Ausbildungen der Fachinformatiker*innen hatten im Durchschnitt der letzten 25 Jahre innerhalb von sechs Monaten nach dem Ausbildungsende einen Job. 

Ein Grund für diese sehr unterschiedlichen Bedingungen auf den Arbeitsmärkten liegt sicherlich auch im Qualifizierungsniveau des in Frankreich staatlich anerkannten Web Developers. Die erworbenen fachlichen Kompetenzen sind deutlich auf den Bereich Web Development fokussiert und entsprechen häufig nicht den umfassenderen Anforderungen einer Vielzahl der Arbeitgeber. 

Die Association Paul Guinot reagiert nun auf die beobachteten Bedarfe des IT-Arbeitsmarktes, indem sie seit einigen Jahren eine intensive Kooperation mit dem Unternehmen Capgemini unterhält. Capgemini gehört zu den großen europäischen IT-Dienstleistern mit Angeboten im Cloud Computing, in der IT Security und der Unternehmensdigitalisierung und akquiriert über das regelmäßige Angebot von Praktika neue Mitarbeitende unter den Auszubildenden der Association Paul Guinot. Grundlage für diese Kooperation ist die vor einigen Jahren implementierte starke Corporate Identity mit einem klaren unternehmerischen Bekenntnis zur Diversität und Inklusion.

Innerhalb der Association Paul et Liliane Guinot wird zudem aktuell auch für die Ausbildung der Web Developer eine Kooperation mit der Université Paris Saclay diskutiert. Die Universität zeigt sich wie bei der Kooperation im Bereich der Kinésithérapie offen, so dass auch hier in Zukunft mit einer Akademisierung der Ausbildung zu rechnen sein dürfte. Ob Ausbildungsleistungen für das anschließende Studium anerkannt werden und die Semesterzahl dadurch verkürzt wird, ist noch nicht absehbar. Die französischen Universitäten genießen wie die deutschen Hochschulen eine weitgehende Autonomie und entscheiden über die Anerkennung von Vorleistungen.

Problematisch erweist sich bei den Absolvent*innen der Ausbildung zum Customer Care Agent, dass die bei den potentiellen Arbeitgebern eingesetzten digitalen Kommunikationssysteme häufig nicht barrierefrei sind. Zugleich sind die Arbeitgeber nicht selbst die Betreiber dieser Systeme, sondern nutzen die von den Partnern bereitgestellten Customer Relationship Management Systeme. Damit haben sie selbst keinen Einfluss auf die digitalen Arbeitsbedingungen. Für die Absolvent*innen der Ausbildung zum Customer Care Agent sind daher – und da unterscheidet sich die Situation in Frankreich nicht von der aus Deutschland bekannten – in erster Linie auf Beschäftigungen bei öffentlichen Arbeitgebern angewiesen, die auch in Frankreich eine stärkere Verpflichtung zur Schaffung adäquater Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende mit Behinderung haben als private Unternehmen.

Sehr offen präsentiert sich aktuell dagegen der französische Arbeitsmarkt für Absolvent*innen der Ausbildung zum/zur Masseur*in bzw. Physiotherapeut*in. Die Absolvent*innen erhalten häufig bereits im Verlauf der Praktikumsphase während der Ausbildung Angebote für eine spätere Beschäftigung. Die Quote der vermittelten Teilnehmenden liegt seit Jahren bei nahezu 100%, obwohl angesichts des aktuellen Transformationsprozesses in Richtung Akademisierung noch weitgehende Unsicherheit hinsichtlich der von den Arbeitgebern gewünschten Abschlüsse und der zukünftigen Regelung der Berufszulassungen herrscht.

Ausblick

Das ZBB der blista und die Association Paul et Liliane Guinot haben für die Zukunft eine engere Kooperation vereinbart. Für Auszubildende beider Organisationen soll regelmäßig die Gelegenheit zum fachlichen und kulturellen Austausch geboten werden. 

Es ist denkbar, dass – ausreichende Englischkenntnisse der Teilnehmenden vorausgesetzt – jeweils ein berufsfachlicher Ausbildungsabschnitt im Umfang von maximal drei Wochen in der jeweils anderen Organisation durchgeführt wird. Damit sollen interkulturelles und fachliches Lernen in die Ausbildungen beider Organisationen integriert werden, um die Bedeutung internationaler Kontakte und Kooperation und nicht zuletzt die kulturelle Bedeutung Europas für uns als private und professionelle Akteur*innen zu betonen.

Bild: Blick auf den Eiffelturm, dessen obere Hälfte im grauen Winternebel versinkt. Foto: privat

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