Von Isabella Brawata

Ein Herr Ende sechzig hat einen gravierenden Sehverlust erlitten. Er möchte sich wieder eigenständig in seinem Umfeld bewegen und die Brailleschrift erlernen. Sein erstes Anliegen kann ganz einfach gelöst werden, denn es gibt speziell ausgebildete Fachkräfte für Orientierung und Mobilität, und die Schulungen werden von den Krankenkassen finanziert. Doch das Recht, nach einem Sehverlust wieder lesen und schreiben zu können, wird den Betroffenen bislang nur unzureichend gewährt. Solange man im berufsfähigen Alter ist, besteht die Möglichkeit, im Rahmen einer blindentechnischen Grundrehabilitation Brailleschrift zu erlernen. Aber die Menschen, die nicht oder nicht mehr berufstätig sind, haben kaum Möglichkeiten, eine Brailleschulung bezahlt zu bekommen. Es klappt manchmal im Rahmen eines Kurses für lebenspraktische Fähigkeiten oder im Rahmen der Eingliederungshilfe, aber die Finanzierung ist mühsam und häufig nicht gesichert. Daher setzt sich der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) dafür ein, dass Unterrichtsstunden in Braille genauso selbstverständlich vom Arzt verordnet werden können und die Krankenkassen die Kosten dafür übernehmen.

Ein weiterer Missstand besteht darin, dass es bislang keine Ausbildung zur Punktschriftlehrerin oder zum Punktschriftlehrer gab. Aber es ist allgemein bekannt: Wer großartig Handball spielen kann, ist deshalb noch lange nicht in der Lage, diese Sportart an andere weiterzugeben. Sie oder er muss zunächst eine Trainerlizenz erwerben, bevor sie oder er Kinder, Jugendliche und Erwachsene trainieren darf.

Im Rahmen des Projekts Punktum sollen daher Interessierte zu Lehrkräften für Braille ausgebildet werden. Ich arbeite seit mehreren Jahren an der blista als Punktschriftlehrerin in der blindentechnischen Grundrehabilitation. Daher war ich sehr froh, als sich mir die Gelegenheit bot, die Ausbildung zur Punktschriftlehrerin zu machen, um mein Wissen zu erweitern und zu vertiefen und ein Zertifikat zu erwerben. Ich möchte von meinen Erfahrungen berichten. Vielleicht wird mein Bericht Ihr Interesse wecken, denn es werden noch Kurse angeboten.

Von Behinderungsbewältigung bis Unterrichtsdidaktik: Mein Zertifikatskurs

Der Kurs setzte sich aus zwei Online-Kursen und einem fünftägigen Präsenzseminar zusammen. Das Lehrmaterial wurde für Personen erstellt, die bereits Schwarzschrift lesen und schreiben können und nun auf Brailleschrift umsteigen müssen.

Im ersten Online-Workshop ging es um das Thema Behinderungsbewältigung. Wie verarbeiten Menschen ihren Sehverlust? Welche Phasen gibt es? Wie sollte man als Lehrkraft mit Wut und Trauer der Menschen umgehen?

Anschließend ging es um Unterrichtsdidaktik. Wie bereite ich eine Unterrichtseinheit vor? Was muss ich bei der Unterrichtsplanung berücksichtigen? Wie kann ich Unterricht so gestalten, dass er den Lernenden Freude macht?

Das zweite Online-Seminar behandelte das Thema "Lernen im Alter". Dieses Thema hat mich besonders stark interessiert, denn natürlich kann man sich die Frage stellen: Macht es überhaupt noch Sinn, im Alter Brailleschrift zu lernen? Es gibt ja mittlerweile viele Hilfsmittel wie Daisy-Player oder Audio-Labeler. Doch technische Hilfsmittel sind nicht dasselbe wie eigenständig lesen und schreiben zu können. Früher galt häufig der Satz: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr. Doch heute ist erwiesen, dass wir ein Leben lang lernen und dass sich auch Menschen im hohen Alter neue Lerninhalte aneignen können. Es geht zwar häufig ein wenig langsamer, aber es geht. Die Tastsensibilität kann, muss aber nicht eingeschränkt sein, und durch intensives Üben lassen sich oft erstaunliche Erfolge auch bei den Menschen erzielen, die das Erfühlen der Punkte zu Beginn des Unterrichts große Mühe gekostet hat.

Das Präsenz-Seminar fand in meinem Fall in Witten statt. Im Rahmen des Workshops wurden das Braille-Punktum-Lernmaterial und die Punktum-Lernsoftware ausführlich behandelt. Das Konzept des Kurses besteht darin, zunächst Buchstaben zu lernen, die sich in ihren Punktkombinationen möglichst stark voneinander unterscheiden, um dann den Schwierigkeitsgrad immer weiter zu steigern. Schon nach drei Lektionen werden die Lernenden in die Lage versetzt, eine kleine Geschichte zu lesen. Im weiteren Lernverlauf erhalten die Teilnehmenden anspruchsvolle Übungen, die sie dazu anregen sollen, beidhändig zu lesen. So soll man beispielsweise aus einer zweispaltigen Tabelle zwei passende Wörter finden, die ein sinnvolles zusammengesetztes Wort ergeben.

Die Punktum-Software hat den unschätzbaren Vorteil, dass alle im eigenen Tempo lernen können. Man arbeitet mit der Braillezeile und bekommt die Aufgabe, eine bestimmte geometrische Figur herauszusuchen oder so schnell wie möglich einen bestimmten Buchstaben zu finden.

Wir lernten Spiele für die Braillezeile kennen und viele, viele Materialien wie Steckbretter oder Legosteine, die dazu genutzt werden können, Brailleschrift zu lernen.

In der letzten Unterrichtseinheit beschäftigten wir uns mit der Finanzierung von Braille-Schulungen. Um als freiberufliche Brailleschriftlehrkraft von der Arbeit leben zu können, muss man entsprechend kalkulieren. Wir rechneten exemplarisch durch, wie hoch unser Lohn sein müsste, damit unser Verdienst zum Leben reicht.

Um das Zertifikat zu erhalten, mussten wir eine kleine Prüfung ablegen. Wir erhielten Quizfragen, die wir beantworten mussten.

Fazit

Das Konzept, das Lernmaterial nach leicht voneinander unterscheidbaren und gut fühlbaren Buchstaben und anschließend nach der Häufigkeit der Buchstaben in der deutschen Sprache zu gliedern, finde ich sehr gelungen. Das Arbeiten mit der Punktum-Software ist für spielerisch veranlagte Menschen eine gute Möglichkeit, das Gelernte in ihrem eigenen Tempo zu üben. Die Aufgaben im Punktum-Braille-Ordner sind eine echte Innovation. Es handelt sich um vielfältige, interessante und mit viel Kreativität und einer Prise Humor erstellte Übungen, die recht anspruchsvoll sind und zum Um-die-Ecke-Denken anregen. Sie können viel Freude und Vergnügen bereiten und somit die Motivation deutlich steigern. Allerdings setzen nicht wenige der Übungen einen sehr guten Wortschatz voraus und sind daher nicht für alle geeignet. Auch sollte man nicht unterschätzen, wieviel Konzentration und Mühe es einigen Neulesenden abverlangt, selbst einfache Texte zu lesen und deren Inhalt zu erfassen, weil das Erfühlen der Punkte und das Zusammensetzen der Wörter so anstrengend ist. Lernende, denen das Lesen der Brailleschrift große Mühe macht, könnten von „langweiligeren“ und leichteren Aufgaben profitieren. 

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