Liebe Leserinnen und Leser, liebe DVBS-Mitglieder,
Blindheit hat seit jeher Literaten und Künstler in ganz unterschiedlicher Weise fasziniert. Das beginnt schon bei den alten Griechen und dem blinden "Seher" Teiresias, der - so will es eine der Legenden - erblindete, nachdem er die Göttin Athene hatte nackt baden sehen. Das Motiv findet man öfter: Blindheit als Strafe für ein tatsächliches oder vermeintliches Verbrechen, so auch bei dem glücklosen Ödipus, der sich selbst blendete, nachdem er festgestellt hatte, dass er sich eines Inzestes schuldig gemacht hatte. Auch in Japan, so sagt man, sei Blindheit eine Strafe der Götter für Verfehlungen im aktuellen oder in einem früheren Leben. Eine andere Variante, repräsentiert in Wilhelm Tell, ist die ungerechte Bestrafung durch den Tyrannen Geßler.
In der Kunst ist es oft der blinde Bettler, der zum Gegenstand von Bildern wird, so etwa das Kollektiv von Blinden, dargestellt von Pieter Bruegel dem Älteren (1568) in "Der Blindensturz". Bei Hieronymus Bosch fallen zwei Blinde in einen Bach. Ob es sich bei diesen Bildern um die Beschreibung von "wirklichen" Blinden handelt oder eher die Allegorie des Nichtverstehens gemeint ist, lasse ich offen.
Nuancierter geht es in der modernen Literatur zu, wenn José Saramago in "Die Stadt der Blinden" ein wahres moralisches Inferno entfacht, weil plötzlich fast alle Menschen einer ganzen Stadt erblinden, oder wenn Max Frisch mit seinem Roman "Mein Name sei Gantenbein" eine Figur entwirft, die Blindheit vortäuscht.
Ein anderer Zweig führt zu Betroffenen selbst, die als Autoren oder Musikerinnen zu Ruhm gelangten, wie etwa John Milton im 17. Jahrhundert mit seinem Versepos "Paradise Lost", der im Alter von 44 Jahren völlig erblindete, oder die Virtuosin Maria Theresia Paradis, die als Musikerin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts berühmt wurde, später eine Musikschule für Blinde gründete, dann aber völlig verarmt starb. In der Moderne ist der argentinische Dichter Jorge Luis Borges zu nennen, der, kurz nachdem er mit 55 Jahren vollständig erblindet war, Direktor der argentinischen Nationalbibliothek wurde. Immerhin schaffte er es 2010 auch auf eine deutsche Briefmarke.
Über all diese Personen (und über weitere) würden sich längere Beiträge lohnen, die es jedoch in diesem horus nicht gibt. Gleichwohl vermittelt die Zeitschrift wieder spannende Einblicke in die Welt künstlerischen Gestaltens (dazu Monika Häusler), in das Leben einer blinden Autorin (siehe den Beitrag von Elke Irimia) oder in die Kritik verschiedener Darstellungen von blinden und sehbehinderten Menschen in ganz unterschiedlichen Genres (dazu das Interview mit Winni Thiessen).
Blindheit und Sehbehinderung bleiben schwere Handicaps. Aber sie können auch die Möglichkeit bieten, sich optischen Reizen ganz oder teilweise zu entziehen. Und das kann manchmal eine Chance darstellen. Vielleicht denken wir einmal darüber nach, wie real solche Chancen sind.
Das wünscht Ihnen und sich
Ihr und Euer
Uwe Boysen
Bild: Uwe Boysen trägt einen roten Pullover und eine dunkle Brille, sein Haar ist weiß. Das Sonnenlicht wirft gerade Flächen von Licht und Schatten an die Wand, auf Uwe Boysen fällt Licht. Er lächelt. Foto: DVBS