Von Mirien Carvalho Rodrigues
Es ist unübersehbar, dass maschinelle Übersetzung und künstliche Intelligenz (KI) in den letzten Jahren in einem rasanten Tempo Einzug in unser aller Leben gehalten haben.
In Ermangelung einer Kristallkugel kann ich hier nicht die Frage beantworten, wie angesichts dieser durchaus faszinierenden Entwicklung die Zukunft des Dolmetschens und Übersetzens aussehen wird und wie sich aktuelle Veränderungen auf blinde und sehbehinderte Berufstätige in diesen Bereichen auswirken werden. Sicher ist allerdings, dass es zwischen den extremen Positionen einer unkritischen Begeisterung und einer totalen Ablehnung eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema gibt. Es geht dabei wie so oft parallel um fachliche Erwägungen und hohe Qualitätsansprüche, und gleichzeitig um wirtschaftliche Interessen, die nicht selten zulasten der Qualität gehen.
Auf fremdsprachigen Webseiten erfahren wir mittlerweile in teils noch immer etwas holprigem Deutsch, wohin die Links führen und welche Inhalte uns erwarten. Den Sinn können wir verstehen, und wenn uns das in dem Moment genügt, weil wir nur etwas kaufen oder schnell eine bestimmte Information abrufen wollen, dann kommen wir zu dem Schluss, man kommt damit zurecht.
Tatsächlich lassen sich mittlerweile bestimmte Textsorten, wie etwa Serienbriefe, die berechenbar auf übliche Textbausteine zurückgreifen, erstaunlich gut maschinell übersetzen.
Gleiches kann für Verträge oder etwa Rezeptsammlungen gelten, die einen klar festgelegten Aufbau haben, und sogar bis zu einem gewissen Grad für politische Reden oder andere Texte, die einer vorgegebenen Struktur folgen und sich inhaltlich in einem engen, erwartbaren Rahmen bewegen.
Da solche Texte dennoch von einer fachkundigen Person überprüft werden müssen, entstand in der Welt der Sprachmittlung ein neues Tätigkeitsfeld, das sogenannte Post-Editing. Eine solche Entwicklung ist prinzipiell nicht neu, da sich die Berufsbilder seit der Einführung der ersten Übersetzungstools stetig verändern und zum Teil durch neue Technologien erst möglich werden.
Fiktionale Literatur
Das Thema KI und Literaturübersetzung schien jedoch noch vor wenigen Jahren in weiter Ferne zu liegen bzw. keine Rolle zu spielen. Und plötzlich ist sie da, die Frage, ob die KI allgemein die sogenannte Humanübersetzung überflüssig macht, und ob dies sogar literarische Übersetzung einschließen kann.
Für eine Annäherung an Antworten auf diese Frage, lassen Sie uns einen kleinen Ausflug in die bezaubernde und tiefgründige Welt der literarischen Übersetzung machen.
Literarische Übersetzung ist die langsamste Form der Lektüre, die es gibt. Dieses Zitat der US-amerikanischen Autorin und Übersetzerin Susan Bernofsky bietet dafür einen hervorragenden Einstieg.
Niemand liest einen Roman so intensiv und aufmerksam wie die Person, die ihn in eine andere Sprache und Kultur überträgt. In Vorbereitung auf die Arbeit des Übersetzens liest sie zunächst das gesamte Werk, um bereits Stilmittel oder Eigenheiten der Charaktere zu bemerken, die sich im gesamten Buch wiederholen oder sich im Verlauf der Geschichte entwickeln. Anspielungen, auf die zu einem späteren Zeitpunkt im Roman zurückgegriffen werden, bemerkt sie dabei ebenfalls und legt die Übersetzung entsprechend an.
Welche Ausdrucksweise ist für Charaktere aus einem bestimmten Milieu oder einer vorgegebenen Altersgruppe in der Zielsprache angemessen?
Müssen Namen oder Orte zugunsten einer besseren Verständlichkeit angepasst werden?
Wie können im Grunde unübersetzbare Inhalte oder Metaphern in der Übersetzung zu einem in sich schlüssigen, mitreißenden und dem Original ähnlichen Gesamterlebnis werden?
Das sind nur einige wenige beispielhafte Fragen, die sich im Verlauf einer literarischen Übersetzung immer wieder stellen können.
Während zum einen eine Strömung an Bedeutung gewinnt, die fordert, dass Werke von Autorinnen und Autoren, die bestimmten gesellschaftlichen Gruppen angehören, auch von Profis mit einem entsprechenden Erfahrungshintergrund übersetzt werden sollen, um in der Zielsprache eine größere Authentizität zu gewährleisten, gibt es auf der anderen Seite Stimmen, die sagen, eine maschinelle Übersetzung könne von einer Person überarbeitet werden, die nicht einmal die Ausgangssprache beherrscht, da es ja nur darum gehe, am Ende ein in der Zielsprache und -kultur stimmiges Werk zu präsentieren.
ChatGPT beantwortet die Frage - wenn man es so ausdrücken darf - besonnener als viele Menschen. Die KI erklärt, bei der Erstellung einer literarischen Übersetzung durchaus hilfreich sein zu können, aufgrund der Komplexität und des Tiefgangs des Prozesses aber eine solche Übersetzung nicht allein erstellen zu können.
Warum sollte man dennoch ganze Romane von einer KI übersetzen lassen?
Ein Vorteil kann sein, dass viele Werke, vor allem aus kleineren Sprachen, auf diese Weise überhaupt erst zugänglich werden. Dazu ist es allerdings wichtig zu wissen, dass die KI längst nicht über alle Sprachenpaare verfügt. Lässt man also einen Roman etwa aus dem Ungarischen übersetzen, ist es wahrscheinlich, dass die KI ihn zunächst ins Englische und dann vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Das Ergebnis ist dann noch weiter vom Original entfernt, als es nach einer KI-Übersetzung ohnehin wäre.
Aber nehmen wir das Beispiel Englisch/Deutsch. Hier kann man davon ausgehen, dass der KI eine Fülle von Sprachbeispielen zur Verfügung stehen, auf die sie zurückgreifen und von denen sie Wahrscheinlichkeiten ableiten kann. Dennoch, selbst hier ist sie nur in geringem Maße in der Lage, einen Kontext zu erkennen. Sie kann also keinesfalls Zusammenhänge erkennen, die sich über 200 Seiten erstrecken. Damit kann sie beispielsweise nicht einem Charakter eine bestimmte Ausdrucksweise zuordnen, sondern würde diese jedes Mal anders wiedergeben.
An Umgangssprache und Dialekten scheitert KI in der Regel ebenso grandios wie an Ironie oder Humor.
Ein bekanntes und beliebtes Beispiel für die Kreativität im Übersetzungsprozess ist das Rätsel der Sphinx im vierten Band der Harry-Potter-Reihe mit dem Titel "Der Feuerkelch". Hier wird der Romanheld während eines Turniers aufgefordert, anhand von Reimen eine Silbe, einen Buchstaben und einen Laut zu erraten.
Das Lösungswort ist "Spinne". Aber natürlich ist das Lösungswort ursprünglich "spider". Daraus folgt, dass Harry in allen anderen Sprachen andere Silben, Laute und Buchstaben erraten muss, und also die Zeilen aus der Originalversion nicht einfach sinngemäß übersetzt werden können.
Dazu kommt die Herausforderung, dass das Gedicht sich in allen anderen Sprachen, und seien sie in ihrer Struktur noch so weit vom Englischen entfernt, reimen soll.
Zunächst gilt es zu entscheiden, ob es für die Geschichte von Bedeutung ist, dass das Lösungswort erhalten bleibt, man also in jedem Fall ein Gedicht erfinden muss, an dessen Ende in der jeweiligen Landessprache das Wort für Spinne herauskommt.
Die meisten haben sich dafür entschieden. Der deutsche Übersetzer hatte Glück, denn die Rätselwörter ließen sich gut ins Deutsche übernehmen. Sein spanischer Kollege ließ sich ein zweiteiliges neues Rätsel einfallen, in dem sogar Spanien vorkommt, da España auf derselben Silbe endet wie araña, das spanische Wort für Spinne. In chinesischen und vietnamesischen Versionen ließ sich das Gedicht nur mit einer Reihe von Fußnoten verstehen, und die japanische Lösung kann offenbar nur nachvollziehen, wer ausreichend Englisch versteht. Die brasilianische Übersetzerin entschied sich als eine der wenigen, ein anderes Lösungswort zugrunde zu legen und darauf aufbauend ein Gedicht zu erfinden. Hier errät Harry eine Schlangenart, die in Amazonien bekannt ist und in Brasilien ähnliche Assoziationen weckt wie in vielen anderen Ländern eine Spinne. Selbstverständlich musste die Textpassage, in der Harry nach und nach die Lösung findet, zusätzlich angepasst werden.
Mit einer so vielschichtigen Aufgabe wäre eine KI hoffnungslos überfordert.
Die Frage, ob eine von einer KI erstellte Übersetzungsvorlage eines Romans dennoch eine Arbeitserleichterung sein kann, wird mittlerweile untersucht. Selbstversuche einzelner Übersetzerinnen haben gezeigt, dass dadurch keine Zeitersparnis entsteht. Die Qualität der KI-Vorlage reicht nicht aus, um sie, mit kleineren Korrekturen versehen, als endgültige Version herauszugeben. Somit hat man es bei der Übersetzung mit drei Texten zu tun: Dem Ausgangstext, der KI-Übersetzung und der Humanübersetzung. Durch diese Vorgehensweise wird der kreative Fluss des Übersetzens immer wieder unterbrochen, was den Prozess eher erschwert als erleichtert.
Das zuvor erwähnte Post-Editing, das sich bei anderen Textsorten als neues Berufsfeld bereits etabliert hat, kommt daher für Literatur eher nicht in Betracht, es sei denn, man legt aus finanziellen Gründen mehr Wert auf Quantität und lässt große Mengen an Text maschinell übersetzen und sie im Eiltempo von einer Person lektorieren, die möglicherweise nicht einmal vom Fach ist.
Punktuell lassen sich in Interaktion mit KI allerdings gute Lösungen finden.
So kann man sich z. B. eine Liste von Synonymen ausgeben lassen und dann auf der Grundlage der eigenen Kenntnisse etwas passendes finden.
Gleiches könnte man mit Umschreibungen oder Äquivalenten für Redensarten durchführen. Professionelle Übersetzerinnen und Übersetzer können also selbst im Bereich Literatur ruhig entspannter mit KI umgehen und diese Technologie als das einsetzen, was sie ist: Ein nützliches und vielseitiges Hilfsmittel.
Schriftdolmetschen
Ein anderes Berufsfeld, auf das sich die Fähigkeiten von KI bereits konkret und sehr deutlich auswirken, ist das Schriftdolmetschen, die simultane Verschriftlichung des gesprochenen Wortes für taube und schwerhörige Personen.
Hier steigen einige große Institutionen und Veranstalter bereits auf maschinelle Übersetzung bei ihren Livestreams um und sparen dadurch Kosten im Bereich barrierefreie Kommunikation ein. Anstelle zweier professioneller Schriftdolmetscherinnen oder -dolmetscher korrigiert nur noch eine Einzelperson im sogenannten Live-Editing die gröbsten Fehler, wofür ihr jeweils nur wenige Sekunden Zeit bleiben. Mit der kostengünstigen Variante steigt auch die Fehlertoleranz um ein Vielfaches an.
Schriftdolmetschen wird jedoch in allen Lebensbereichen benötigt und zumeist von Einzelpersonen in Anspruch genommen, die Schule und Studium, Ausbildung und Berufsalltag mit professioneller Unterstützung durchlaufen.
Aus Schulklassen und Teammeetings ist das Schriftdolmetschen durch Menschen nicht wegzudenken. Im normalen Alltag sprechen Menschen durcheinander, brechen Sätze ab, verwenden Umgangssprache und Dialekte, oder wechseln, wie im Fremdsprachunterricht, häufig zwischen zwei Sprachen hin und her.
All das und vieles mehr kompensieren die Profis, häufig zusätzlich bei suboptimaler Tonqualität, und wandeln es in einen gut lesbaren Fließtext um. Zudem verschriftlichen sie nonverbale Signale wie Glocken, Telefonklingeln, Gelächter und Applaus.
Eine KI wäre hier nicht nur völlig überfordert, sie würde auch halluzinieren, d. h. aus ihrem Datenfundus heraus irgendetwas einsetzen, was u. U. nichts mehr mit dem tatsächlichen Inhalt zu tun hat. Solche unlogischen und unerklärlichen Fehler würden der Zielgruppe die Lektüre zusätzlich erschweren. Da für taube Personen oftmals deutsche Gebärdensprache die Hauptsprache ist, ist da, wo sie deutsche Schriftsprache nutzen müssen, ein korrekter und gut lesbarer Text von besonderer Bedeutung. Zudem können die Kundinnen und Kunden einen Menschen im laufenden Einsatz bitten, mehr Absätze zu machen, einen Text auf das Wesentliche zu kürzen oder Sätze umzustellen.
Kein Orakel
Welche Entwicklung auch immer das Dolmetschen und Übersetzen in all seinen vielfältigen Bereichen nehmen wird, für blinde und sehbehinderte Personen kommt bei jedem neuen Berufsfeld die Frage nach der Barrierefreiheit hinzu. Einerseits hat der technische Fortschritt durch Online-Plattformen diesem Personenkreis den Zugang zu Dolmetschberufen erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht, andererseits sind viele dieser Plattformen nicht oder nur eingeschränkt mit Hilfstechnologie nutzbar. Gleiches gilt für Übersetzungstools und KI-Lösungen.
Da Dolmetschen und Übersetzen in der Regel freiberuflich ausgeübt wird, gilt es hier, immer wieder eine Nische zu finden, in der man sich gut aufstellen kann. Immerhin lässt sich auch ohne Kristallkugel feststellen, dass KI keine Urgewalt ist, die sämtliche Sprachberufe mit einem Schlag überflüssig macht.
Zur Autorin
Mirien Carvalho Rodrigues arbeitet als Dolmetscherin, Übersetzerin und Schriftdolmetscherin für Englisch, Portugiesisch und Deutsch. Die 55-Jährige liebt Reisen und ist seit 25 Jahren mit Führhund unterwegs.
Im DVBS engagiert sie sich ehrenamtlich im Leitungsteam der Gruppe "Selbstständige".
Bild: Mirien Carvalho Rodrigues hat blondes, schulterlanges Haar und trägt beim Waldspaziergang eine rote Outdoorjacke. Sie hält ein iPhone in Kinnhöhe, um eine plötzliche Idee per ChatGPT abzuklären. Foto: privat