horus 2/2019

Titelbild: Medienmix: Collage aus drei Bildern. Verschiedene Social Media und andere Apps auf dem Handy, blista-Schüler im Unterricht am Monitor, Mobil jederzeit erreichbar. Fotos: Pixabay, blista, Bruno Axhausen.



horus 2/2019
Schwerpunkt: "Medienmix im 21. Jahrhundert"

Inhalt

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Vorangestellt

Claus Duncker

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich bin noch im analogen Zeitalter aufgewachsen. Mit Büchern und Zeitungen aus Papier, Fernsehern mit Röhren und – ja diese Zeit gab es wirklich – ohne Internet. Was war es für eine Freude, während des Urlaubes im Ausland eine Zeitung zu finden, die noch keine Woche alt war. Und vor dem Urlaub schloss man sein Büro ab und war: „unerreichbar“! Heute unvorstellbar!

Wir tragen unser Büro jetzt in der Hosentasche und auch unsere Bibliothek, unsere Spielesammlung, unser Fotoalbum, unser Nachrichtenstudio, und, und, und….  

Meine letzte Zählung ergab, dass mein Smartphone 31 Anwendungsbereiche hat. Aber so, wie ich mein Handy nicht zum Einschlagen von Nägeln nutze, so nehme ich auch immer noch lieber ein analoges Buch oder eine knisternde Zeitung zur Hand. Dieser “Medienmix” gehört heute, mitten im 21. Jahrhundert, wie ganz selbstverständlich zu meinem Alltag. Aber gilt dieser vielfältige Zugang zu den Informationen der Welt auch gleichermaßen für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung? Antworten auf diese wichtige Frage versucht der Ihnen vorliegende horus. Ich wünsche Ihnen interessante Erkenntnisse und viel Spaß  beim Lesen.

Zum Inhalt

Patrick Dembinski beschreibt, wie er mit „seinem Medienmix” auf Reisen geht. Bernd Sanders lässt uns an seiner Begeisterung für Video- und Computerspiele teilhaben. Die Diskussionsbeiträge von Alexander Pavkovic und Eberhard Hahn zeigen auf, wie leidenschaftlich über Reformen in der – zu Unrecht – zum „Auslaufmodell“ erklärten Punktschrift debattiert wird. Dazu passend lesen Sie die wichtigsten Ergebnisse der „ZuBra“-Studie, die sich mit der Lese- und Schreibkompetenz von Punktschriftlesenden beschäftigt hat. Schließlich beleuchtet das Interview von Heinz Willi Bach mit Ralf Hohn noch die Arbeit eines „Audio-Dienstleisters“ und komplettiert so den “Medienmix” in diesem Heft.

„Die Mischung macht’s“... auch beim Thema Mobilität. Viele Menschen nutzen verschiedene Fortbewegungsarten. Mit dem Auto, dem ÖPNV, dem Rad oder auch zu Fuß. Die Elektromobilität erfährt momentan – nicht nur wegen der Dieselbetrügereien – enorme Aufmerksamkeit. Was diese neue Vielfalt im Straßenverkehr– nicht nur – für blinde und sehbehinderte Passantinnen und Passanten bedeuten würde, lesen Sie ebenfalls in der heutigen Ausgabe.

Ihr

Claus Duncker

Autorenfoto: Claus Duncker. Foto: Bruno Axhausen [Claus Duncker lächelt in die Kamera. Er hat kurze graue Haare und trägt eine randlose Brille.]

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Aus der Redaktion

Jede Reise geht einmal zu Ende

Mit diesem Heft beenden wir unsere Serie „horus Zeitreisen“. Sie hat uns seit Heft 1/2015 begleitet und war ursprünglich als Umrahmung für das 100-jährige Jubiläum von blista und DVBS gedacht. Dass sie sich nun bis ins Jahr 2019 ausweiten würde, war so nicht geplant, aber der Fülle des faszinierenden Materials geschuldet, auf das wir gestoßen sind. Wer sich nicht nur für die Themen interessiert, die uns heute im Sehbehinderten- und Blindenwesen beschäftigen, dem steht damit eine wahre Fundgrube von Aufsätzen und Abhandlungen zur Verfügung, die nicht nur für historisch interessierte wichtig ist; denn, wo wir herkommen, sollte uns alle Etwas angehen.

Mit dem Abschluss dieser Reihe gilt es, denjenigen noch einmal hervorzuheben, ohne dessen umfassende Kenntnisse des Materials schon die ersten drei Jahrgänge dieses Reisevergnügens nicht möglich gewesen wären und der ab 2018 erneut viele Highlights aus den letzten nunmehr über 100 Jahren in unser Gedächtnis zurückgeholt hat. Nur mit dem stets zuverlässigen Engagement und Kenntnisreichtum von Jochen Schäfer konnte dieser Schatz gehoben werden. Ihm gebühren deshalb unsere große Anerkennung und unser ganz herzlicher Dank.

Und noch eine weitere Person dürfen wir hier nicht vergessen zu erwähnen: Nach langen Jahren gibt Irene Lämmle die Korrektur des horus an Gisela Lütgens ab.

Mehr als 10 Jahre hat Irene alle drei Monate rund 150 Seiten Punktschrift in digitaler Form erhalten, um sie zu korrigieren. Neben der richtigen Wiedergabe der Blindenkurzschrift hat sie auf die korrekte Zeichensetzung und die Grammatik geachtet. Ihre Unterstützung hat uns vor so manchen Stilblüten bewahrt und war unverzichtbar. Wir danken ihr ganz herzlich für ihr unermüdliches Engagement und ihre schnelle und zuverlässige Arbeit.

Thema des nächsten horus: „Behinderung durch Politik?“

Auch wenn wir die Zeitreisen beenden - so ganz lösen können wir uns vom historischen Blick aber doch nicht. So wird es im nächsten horus um das Thema „Wenn Unsagbares sagbar wird – Behinderung durch Politik?“ gehen. Die politischen Entwicklungen der letzten Jahre, die oftmals erschreckend an gewisse historische Ereignisse seit 1933 erinnern, sind wohl an keinem spurlos vorbeigegangen und mit Besorgnis sieht der Großteil der Menschen auf Entwicklungen, die sich immer mehr gegen diejenigen richten, die in irgendeiner Form marginalisiert sind. Klares Ziel der neuen Rechten ist es, den Dialog zu stören und in eine Richtung zu lenken, die ihren Anhängern gefällt: das Unsagbare wieder sagbar machen. Wir möchten im kommenden horus die Probleme beleuchten, die damit einhergehen – aber auch die vielen Menschen und Projekte zeigen, die sich aktiv und erfolgreich gegen diese Entwicklung stellen.

Wo haben Sie zu kämpfen, wo engagieren Sie sich für eine bessere, gemeinsame Zukunft? Erzählen Sie uns von Ihren Erfahrungen und senden Sie uns Ihren Beitrag bis zum 24. Juni 2019 per E-Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Artikel für den Schwerpunkt können bis zu 12.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) lang sein, allgemeine Berichte bis zu 4.000 Zeichen, kürzere Meldungen bis 2.000 Zeichen.

Louis-Braille-Festival im Juli 2019

Die Redaktion hat sich übrigens schon für das Louis-Braille-Festival vom 5. bis 7. Juli 2019 in Leipzig angemeldet – was ist mit Ihnen?

Sowohl DVBS als auch blista werden am Samstag auf dem Markt der Begegnungen mit einem Stand vertreten sein, und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren!

Am Stand des DVBS können Sie sich am Dosenwerfen versuchen, oder – ganz passend zum Thema „Kultur“ –mit Mitgliedern unserer Fachgruppe Musik fachsimpeln. Haben Sie sich schonmal mit dem Thema Braillenoten beschäftigt? Hier ist Ihre Chance!

Das Standmotto der blista lautet „blista bewegt“. Wir informieren über die neuesten Angebote und lassen Sie an der 3D-Live-Produktion unserer „MuLIs“, der faszinierenden multimedialen Lernpakete für den naturwissenschaftlichen Unterricht, teilhaben. Eröffnen sie eine neue Lernkultur? Alle, die gerne knobeln, sind eingeladen zum spannenden Austausch.

Wir freuen uns auf Sie!

Abbildung: Louis-Braille-Festival 2019 – Komm nach Leipzig! Illustration: Robert Deutsch [Ein Löwe sitzt im Führhund-Geschirr auf einer Wiese.]

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Schwerpunkt „Medienmix im 21. Jahrhundert“

Dr. Eberhard Hahn

Wie funktioniert ein Screenreader? - ein Blick hinter die Kulissen per Telefonchat

Telefonchats können sehr informativ sein, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zweier Chats des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS) erfuhren. Sie bewerteten die Aktion der DVBS-Fachgruppe MINT durchweg als „sehr erfolgreich“. Während es beim ersten MINT-Telefonchat 2018 um Fragen zu verschiedenen Anwendungsprogrammen im Zusammenhang mit barrierefreien Dokumenten ging, befasste sich das zweite abendliche „Treffen“ am 28. August ausführlich mit der internen Struktur von Screenreadern. Das MINT-Leitungsteam -  Christoph Niehaus, Leonore Drewes und Oliver Nadig - hatte sich von der DVBS-Fachgruppe Studium und Ausbildung zu diesem Format inspirieren lassen und Jörg Korinek aus Nürnberg, der sich beruflich mit Softwareentwicklung beschäftigt, zu einem Referat über die Arbeitsweise von Screenreadern eingeladen.

Zusatzprogramm im Hintergrund

Wie Jörg Korinek erläuterte, sind die gebräuchlichsten Screenreader Jaws und NVDA. Ein Screenreader ist ein Zusatzprogramm, das blinden und sehbehinderten Benutzern die Verwendung „normaler“ Computerprogramme ermöglichen soll. Für gewöhnlich agiert es völlig im Hintergrund. Seine Aufgabe ist es, die von den laufenden Programmen produzierten Bildschirmausgaben mittels synthetischer Sprache und/oder Braillezeile nachvollziehbar zu machen.

Die Arbeit eines Screenreaders unter einer grafischen Benutzeroberfläche wie MS Windows darf man sich nicht zu einfach vorstellen. Dem sehenden Benutzer werden auf dem Bildschirm in aller Regel eine Vielzahl von rechteckigen Bereichen, „Fenster“ genannt, präsentiert. Sie werden durch optische Merkmale wie Vorder- und Hintergrundfarbe, Rahmen, Schriftgröße usw. gegeneinander abgegrenzt. Jedes Fenster hat eine eigene Bedeutung, die sich dem sehenden Benutzer zumeist leicht aus dem Zusammenhang erschließt. Neben einfachen, unveränderlichen Textbereichen gibt es Eingabefelder, in die man Text schreiben kann, Listen zum Auswählen bestimmter vorgegebener Werte, anklickbare Schalter zum Auslösen der verschiedensten Aktionen eines Programms usw. Als bequem handhabbares Instrument hat der Sehende die Maus zur Verfügung, mit der er eine Marke, den „Mauszeiger“, an eine beliebige Stelle auf dem Bildschirm positionieren und dort beispielsweise durch „Anklicken“, d.h. Betätigen einer Maustaste, eine Aktion anstoßen kann.

Bedienung ohne Computer-Maus

Wer sich allerdings den Inhalt des Bildschirms via Sprachausgabe oder Braillezeile erschließen muss und überdies keine Maus bedienen kann, braucht völlig andere Techniken, um einigermaßen effizient mit dem Computer arbeiten zu können. Für ihn ist es wichtig, dass er Elemente wie Eingabe- oder Schaltfelder mit Hilfe der Tastatur anspringen kann und dabei mitgeteilt bekommt, was für ein Element er jeweils angesteuert hat. Außerdem muss es möglich sein, den Mausklick durch Tastatureingabe zu simulieren.

Um diese Funktionalität bereitzustellen, genügt es nicht, dass der Screenreader den momentanen Bildschirminhalt ausliest. Es ist vielmehr notwendig, dass er vom Betriebssystem mitgeteilt bekommt, welche Elemente zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen und wie sie miteinander zusammenhängen. Jedes Element muss dann mit einer aussagekräftigen Erklärung versehen sein, denn der Benutzer eines Screenreaders kann die Anordnung auf dem Bildschirm normalerweise nicht erkennen.

Um die Arbeitsweise eines Screenreaders zu veranschaulichen, zeigte Jörg Korinek zunächst auf, wie die Ausgabefenster innerhalb des Betriebssystems organisiert sind. Jedes Fenster wird von einer Programmeinheit erzeugt, die man als „Objekt“ bezeichnet. Diese Objekte sind in einer so genannten „Baumstruktur“ organisiert. Stellen Sie sich dazu einfach einen Baum vor, wie Sie ihn im Obstgarten oder im Wald antreffen können. Von der Wurzel aus kann man zu jeder Stelle des Baums gelangen, also insbesondere zu jeder Verzweigungsstelle, die wir als „Knoten“ bezeichnen.

Nun denkt man sich an jedem Knoten ein Fensterobjekt angesiedelt. Der Stamm und die Astabschnitte zwischen den Knoten symbolisieren „Verbindungen“ zwischen den einzelnen Objekten. 

Von jedem Objekt aus gibt es einen eindeutigen Weg, der zum Wurzelobjekt zurückführt. Auf diesem Weg wird man möglicherweise mehrere andere Objekte passieren, also an mehreren Verzweigungsstellen vorbeikommen. Das erste Objekt, zu dem man dabei gelangt, nennt man „Elternobjekt“. Von einem Elternobjekt können – in umgekehrter Richtung – mehrere Verbindungen zu „Kindobjekten“ ausgehen. Hat ein Elternobjekt mehrere Kindobjekte, so spricht man in naheliegender Weise von „Geschwistern“.

Auswahl aktiver Fenster und Objekte

Nachdem Sie Ihren Computer eingeschaltet haben, wird Ihnen im Normalfall ein ganz bestimmtes Fenster angezeigt, das man als „Desktop“ bezeichnet. Dieses Fenster stellt das Wurzelobjekt im Fensterbaum dar. Auf dem Desktop finden Sie verschiedene Schaltflächen vor, über die Sie Ihre einzelnen Anwendungsprogramme starten können, beispielsweise den Browser zum Anzeigen von Webseiten oder ein Textprogramm. Immer wenn Sie ein Programm starten, öffnet sich ein neues Fenster, d.h. Sie hängen an den Baum ein neues Objekt an. Auch wenn Sie in einem Programm eine Aktion auslösen, durch die ein weiteres Fenster geöffnet wird, versehen Sie ein Objekt im Baum mit einem neuen Kindobjekt. Jedes Objekt kann Auskunft darüber geben, von welchem Elternobjekt aus es erzeugt wurde und zu welchen Kindobjekten es Verbindungen besitzt.

Nun ist es unter Windows so, dass immer genau ein Objekt den „Fokus“ erhält, also das aktive Objekt darstellt. Wenn Sie beispielsweise in Word einen Text schreiben, so hat das angezeigte Textfenster den Fokus. Ihre Tastatureingaben wirken sich genau auf dieses Fenster aus. Betätigen Sie die Eingabetaste, so beginnen Sie damit eine neue Textzeile bzw. einen neuen Textabschnitt. Haben Sie hingegen mit dem Browser eine Webseite geöffnet, so bekommen Sie in der Regel ein Fenster voller Text und Bilder angezeigt, in dem Sie keine Änderungen vornehmen können. Die Eingabetaste wird daher erst mal überhaupt nichts bewirken. Positionieren Sie sich jedoch auf die Beschriftung eines Links, d.h. geben Sie seinem Anzeigefenster den Fokus, und drücken dann Eingabe, so erscheint plötzlich eine andere Internetseite auf dem Bildschirm. Wie der Computer auf Ihre Tastenanschläge reagiert, hängt also wesentlich davon ab, was für eine Art von Objekt gerade den Fokus besitzt.

Der Screenreader reagiert nun auf jedes „Ereignis“ im Computer (Tastenanschlag, Mausbewegung usw.), indem er vom System Auskunft über das Objekt einholt, das im Moment den Fokus hat. Er prüft, um welche Art von Objekt es sich handelt: Textfeld, Schaltfläche, Auswahlliste usw. Dann bestimmt er den Status des Objekts: angekreuzt oder nicht, schreibgeschützt oder nicht u.Ä. Bei Textfeldern will er natürlich auch den Inhalt wissen, um ihn vorlesen oder auf die Braillezeile schreiben zu können. Schließlich muss er wissen, wie das Objekt „heißt“, d.h. was im „Name“-Feld des Objekts steht, denn wenn es sich beispielsweise um einen Schalter handelt, muss er dem Benutzer sagen können, was dieser Schalter bewirkt. Weitere Informationen kann er sich besorgen, wenn er den Fensterbaum absucht, also das Elternobjekt ermittelt, Geschwister des aktiven Objekts aufspürt usw.

Barrierefreie Software

Natürlich ging es bei unserem Telefonchat auch darum, welche Anforderungen an eine barrierefreie – besser: screenreadertaugliche – Software gestellt werden müssen. Hier stellt beispielsweise das „Name“-Feld von Objekten einen neuralgischen Punkt dar. Mancher Softwareentwickler dürfte sich fragen, warum er einem Objekt noch eine textliche Erklärung beifügen soll, wo doch seine Funktion eindeutig aus dem umgebenden Text oder der nebenstehenden Grafik hervorgeht. Der sehende Benutzer kann diesen Zusammenhang sicher leicht erkennen, aber für den Screenreader ist das ungleich schwerer oder vielleicht überhaupt nicht möglich, was für seinen Benutzer bedeutet, dass er völlig in der Luft hängt. Auch auf eine andere Eigenschaft von Objekten achten die Programmierer häufig nicht, nämlich auf die Navigierbarkeit über die Tastatur. Wichtig wäre, dass man etwa durch fortgesetztes Drücken der Tab-Taste jedes relevante Element erreichen kann.

Nachdem uns Jörg Korinek diese Problematik fachkundig erläutert hatte, befassten wir uns in der Diskussion u. a. mit der Frage, was getan werden müsste, damit Softwareprodukte von vornherein screenreadertauglich konzipiert werden. Wir waren uns darin einig, dass die „Barrieren“ für uns nicht aus Böswilligkeit errichtet werden, sondern dass den Programmierern schlicht und einfach Motivation und Kenntnisse fehlen, um ihre Programme so zu gestalten, dass sie nicht nur via Bildschirm und Maus, sondern auch mit Hilfe eines Screenreaders benutzbar sind.

Fazit

Als Fazit unserer Überlegungen soll darüber nachgedacht werden, wie man angehende Softwareentwickler gleich zu Anfang ihrer Ausbildung mit den notwendigen Programmiertechniken vertraut machen kann, damit ihre Programme screenreadertauglich werden. Im Grunde ist das nämlich gar nicht besonders schwierig, und die zu beachtenden Regeln sind hinreichend gut dokumentiert. Wenn sich die angehenden Softwareentwickler bewusst sind, warum diese Regeln sinnvoll sind, werden sie sie, so unsere Hoffnung, wohl auch in aller Regel anwenden, zumal es ungleich schwieriger ist, eine bereits bestehende Software im Nachhinein screenreadertauglich zu machen. Halten Sie uns also die Daumen, dass uns unser ehrgeiziges Vorhaben gelingt. Gute Ideen sind natürlich jederzeit willkommen.

Allerdings sollten wir den Fehler nicht grundsätzlich nur bei anderen suchen. Um ein grafisch orientiertes Betriebssystem blinden und sehbehinderten Benutzern ausreichend zugänglich zu machen, muss ein Screenreader notwendigerweise vielerlei Techniken zu seiner Handhabung anbieten. Wenn uns unser Screenreader wirklich gut mit Informationen versorgen soll, müssen wir uns eben schon die Mühe machen, seine Handhabung gründlich zu erlernen.

Wenn ich mich recht erinnere, war es bereits nach 22.00 Uhr, als wir, 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Chats, uns voneinander verabschiedeten. Bei einem der nächsten Telefonchats wollen wir darüber diskutieren, wie das Thema Screenreadertauglichkeit in die Lehrpläne an technischen Hochschulen und Universitäten aufgenommen werden könnte. Glücklich wären wir, wenn es uns gelänge, Fachleute aus dem Ausbildungsbereich als Gesprächspartner zu gewinnen.

Zum Autor

Dr. Eberhard Hahn war von 1955 bis 1962 Schüler der Carl-Strehl-Schule in Marburg. Nach seinem Abitur studierte er Mathematik an der Universität Tübingen und arbeitete anschließend am dortigen Zentrum für Datenverarbeitung. Seit 2001 ist Dr. Hahn Ruheständler.

Textkasten:

„Mein Screenreader erlaubt mir, dieselben Programme zu benutzen wie meine sehenden Kolleginnen und Kollegen und meine Freunde und Bekannten. Ich kann ihre Nachrichten und Beiträge lesen, sie können meine lesen. Auch im Internet kann ich mit meinem Screenreader surfen, egal ob auf dem Smartphone oder dem PC.“

Wilhelm Gerike

Ende Textkasten

Foto: Ob am Arbeitsplatz oder in der Freizeit: Erst durch Screenreader lassen sich Programme und Apps bedienen. Foto: DVBS (links), Hemmatian (rechts). [Laptop mit Braillezeile und kleinem Kopfhörer auf einem Schreibtisch (li), Frau mit Smartphone im Gespräch, sie sitzt auf einem Sofa (re).]

Autorenfoto Dr. Eberhard Hahn. Foto: privat [Eberhard Hahn trägt ein dunkles Jackett über einem gestreiften Hemd. Er hat kurze graue Haare und lächelt in die Kamera.]

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Patrick Dembinski

Unterwegs im Web 2.0

Für mich als passionierter Reisender mit Handicap spielen die neuen Medien eine ganz besondere Rolle. Wenn es um die Reiseplanung, Informationsbeschaffung, das Teilen von Reiseberichten oder das Knüpfen und Pflegen von Freundschaften geht, sind Medien wie das Internet inzwischen nahezu unverzichtbar.

Meine Reiselust entstand durch meine Teilnahme am International Camp On Communication And Computers (ICC), auf welches ich durch den horus aufmerksam wurde. Während des ICC habe ich binnen 10 Tagen eine Menge Leute aus allen Teilen Europas, Japan und den USA kennengelernt und viele neue Freunde fürs Leben gefunden. Selbstverständlich wollen diese Freundschaften auch nach dem ICC gepflegt werden.

Soziale Medien und Couchsurfing: Kontakte knüpfen und pflegen

Durch die sozialen Medien (Facebook, Skype, WhatsApp, etc.) erspart man sich nicht nur die Kosten für ein Ferngespräch oder das Briefporto, sondern erhält auch die Möglichkeit, per Gruppenchat oder Gruppenanruf mit mehreren Leuten gleichzeitig zu kommunizieren. Am Schönsten ist es aber immer noch, sich gegenseitig zu besuchen, dabei andere Länder zu bereisen und einen Einblick in die Kultur vor Ort zu bekommen.

Aber selbst wenn ich mal irgendwo keine Freunde antreffen kann, hält mich das vom Reisen nicht ab, denn dank Couchsurfing bekommt man im besten Falle sogar einen Schlafplatz angeboten, in jedem Fall aber verbringt man den Urlaub in guter Gesellschaft und kommt schnell in Kontakt sowohl mit Einheimischen als auch mit anderen Reiselustigen aus aller Welt. In Kopenhagen zum Beispiel wurden wir von einem Couchsurfing-Host zu sich nach Hause zum Abendessen eingeladen. Außer uns waren noch andere Couchsurfer zu Gast und jeder trug einen Teil zum Abend bei, sei es mit einer Kostprobe kulinarischer Spezialitäten aus der Heimat, sei es mit Anekdoten vorangegangener Reisen. Nach dem Abendessen holte unser Gastgeber eine Gitarre heraus und gab ein dänisches Lied zum Besten, worauf weitere Lieder in verschiedenen Sprachen folgten (insbesondere Folk-Songs), zu denen wir leidenschaftlich gern mitsangen.

Fest steht: Dieser gesellige Abend war ein absolutes Highlight unseres Kopenhagen-Aufenthaltes und wäre uns ohne Couchsurfing mit Sicherheit entgangen. Da wir allerdings schon weit im Voraus ein Zimmer in einem Hostel gebucht hatten, mussten wir das spontane Übernachtungsangebot unseres Gastgebers leider ablehnen, sind aber bis heute in Kontakt geblieben.

Portale und Apps: Reise und Unterkunft buchen

Was das Buchen eines Hotel- oder Hostelaufenthaltes betrifft, habe ich vor allem mit der Plattform booking.com gute Erfahrungen gemacht. Sowohl die Website als auch die App ist sehr barrierefrei, einfach in der Handhabung und man erhält detaillierte Angaben zu den in der Unterkunft gebotenen Services. Natürlich ist auch die Lage der Unterkunft entscheidend und – mal mehr, mal weniger beschrieben – in den Angaben enthalten. Zu guter Letzt spart man sich auch noch das lästige Eintippen der persönlichen Daten, wenn man ein Konto erstellt und die Daten dort bereits hinterlegt hat. So weit, so gut; aber wie kommt man da am besten hin?

Meiner Meinung nach gehören Bahn und Flugzeug zu den sichersten und zuverlässigsten Methoden zu reisen, vor allem in Hinsicht auf den Begleitservice, welcher bei Fernbussen bis dato noch nicht angeboten wird.

Zugverbindungen innerhalb Deutschlands bis ins Ausland können größtenteils auf bahn.de eingesehen und inzwischen auch gebucht werden; allerdings empfiehlt es sich, für Verbindungen im Ausland für die Buchung von Tickets die landesspezifischen Websites zu konsultieren, da bestimmte Verbindungen über die Deutsche Bahn zwar eingesehen, aber nicht gebucht werden können. Hilfeleistungen am Bahnhof und an Bord können später entweder online oder telefonisch hinzugebucht werden.

Was Flüge betrifft, komme ich am besten mit der Suchmaschine „Skyscanner“ zurecht. Nachdem man einen passenden Flug gefunden hat, wird man von Skyscanner auf die Seite des Anbieters – im besten Falle zur Fluggesellschaft direkt – weitergeleitet. Leider sind nicht alle Webanwendungen barrierefrei, was den Buchungsvorgang manchmal verlangsamen kann und etwas umständlich macht. Der Begleitservice kann erst nach der Buchung des Tickets über die Airline gebucht werden.

Google Maps und Navigürtel: Orientierung vor Ort

Was tun vor Ort? Viele Reiseportale schicken – neben der Buchungsbestätigung – auch gleich Informationen über die Stadt, welche man bereist, sowie Infos zu Touristenzielen mit. Toll, aber wie barrierefrei sind diese Attraktionen, und gibt es evtl. Ermäßigungen z.B. für die Begleitperson? Die Tipps der Reiseanbieter sind schön und gut, aber in diesem Falle empfiehlt es sich tatsächlich, Google zu befragen, die Websites der Attraktionen zu besuchen und ggf. für nähere Informationen telefonisch oder per Mail den Kontakt zu suchen.

Um mich notfalls auch alleine in mir fremden Gegenden orientieren zu können, gehören die Apps „Google Maps“ und „Blindsquare“ schon seit Längerem zur Standardausrüstung. Inzwischen bin ich auch stolzer Besitzer eines Navigürtels von der Firma FeelSpace. Durch die im Gürtel eingebauten 12 Vibrationselemente und die Möglichkeit, den Gürtel mit dem Smartphone zu koppeln, bekomme ich – nach Definierung eines Ziels – per Vibration die Richtung auf Luftlinienbasis angezeigt, in der sich von mir aus gesehen das Ziel befindet. In Kombination mit Google Maps bekomme ich per Sprache mitgeteilt, wann ich wo abbiegen muss, und kann gleichzeitig zumindest mithilfe des Gürtels sicherstellen, dass ich weiterhin in die richtige Richtung unterwegs bin. Neben einem GPS-Signal ist sowohl für Google Maps als auch für die Navigürtel-App eine Internetverbindung vonnöten.

Bloggen: Erfahrungen mit anderen teilen

Nebenbei unterhalte ich einen Blog (www.patrickdembinski.org), auf dem ich insbesondere meine Reiseberichte und andere interessante Ereignisse in englischer Sprache publiziere, in der Hoffnung, dass sowohl blinde und sehbehinderte Menschen als auch Normalsehende gleichermaßen einen Einblick in das Thema „Blind Reisen“ bekommen und von meinen Erfahrungen profitieren können. Sicher lief – wie sich aus einigen Blogbeiträgen herauslesen lässt – nicht immer alles glatt, aber in erster Linie ist mein Handicap für mich kein Hindernis, das mich davon abhält, (auch über die Landesgrenzen hinaus) eigenständig zu verreisen, und ich kann Ihnen und Euch versichern, dass ich – trotz der einen oder anderen Panne – am Ende immer unbeschadet am Ziel angekommen bin.

Schlussendlich lässt sich sagen, dass ich ohne die heutzutage verfügbaren Kommunikationsmedien und ohne das ICC vermutlich nie oder erst viel später den Mut aufgebracht hätte, auf eigene Faust andere Städte und Länder zu bereisen, um Freunde zu besuchen oder einfach auf gut Glück alleine auf Städtetour zu gehen und vor Ort neue Leute kennenzulernen. Um geknüpfte Kontakte insbesondere im internationalen Bereich aufrecht zu halten, ist das Internet gewissermaßen ein Hauptbestandteil meiner Freizeit, wobei mich das nicht zu einem Langzeitstubenhocker macht – ganz im Gegenteil!

Zum Autor

Der in Norddeutschland geborene Patrick Dembinski lebt seit 2007 in Marburg. Als blista-Schüler nahm er 2014 erstmals am ICC in Riga teil und hat bereits in Belgien, Kroatien und Deutschland Workshops und Vorträge zum Thema "Barrierefreies Reisen in In- und Ausland" mitorganisiert und durchgeführt. Seine damals erwachte Liebe zum Reisen hat ihn bereits in 20 Länder geführt. Er absolviert momentan eine Ausbildung zum IT-Kaufmann und lernt nebenbei Niederländisch. Wer mit dem Autor Kontakt aufnehmen möchte, erreicht ihn per E-Mail unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Foto: Freundschaften pflegen, Reisen buchen - Smartphone und Internet sind hilfreich. Foto: Pixabay [Smartphone-Display mit Icons verschiedener Social-Media Programme und eines Webbrowsers.]

Autorenfoto: Patrick Dembinski in Amsterdam. Foto: privat [Patrick Dembinski steht auf einer kleinen Grachtenbrücke, an der Brüstung lehnen Fahrräder. Er trägt einen Blindenstock und eine Blindenarmbinde und lächelt. Es nieselt.]

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Ursula Hofer, Markus Lang, Fabian Winter, Martina Schweizer, Annette Hallenberger, Frank Laemers

Lese- und Schreibkompetenzen von Braille Lesenden - Forschungsergebnisse aus dem Projekt „Zukunft der Brailleschrift“

Die folgenden Forschungsergebnisse des Projekts „Zukunft der Brailleschrift“ (ZuBra) werden aus Platzgründen hier nur in einer gekürzten Fassung wiedergegeben. Sie können den vollständigen Beitrag als Word-Dokument online unter https://tinyurl.com/horus2-2019-zubra finden oder in Punktschriftdruck erhalten. Schreiben Sie uns dafür eine E-Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Die Studie wurde in der längeren Fassung bereits in der Ausgabe 1/2019 von "blind - sehbehindert - Zeitschrift für das Blinden- und Sehbehindertenbildungswesen“ veröffentlicht. Wir danken ganz herzlich für die Abdruckgenehmigung.

Zusammenfassung/Abstract

Dargestellt werden die Ergebnisse der 190 Teilnehmenden aus der zweiten ZuBra-Erhebung zu Kompetenzen in Lesen, Hören und Rechtschreibung sowie Nutzungspräferenzen von Schriftsystemen und Technologien. Die Ergebnisse zeigen, dass hinsichtlich der Leseflüssigkeit selbst die schnellsten ZuBra-Teilnehmenden in Braille weit langsamer lesen als die Schwarzschriftlesenden in der Normierungsstichprobe. Betrachtet man das Leseverstehen in Abhängigkeit zur Lesegeschwindigkeit, dann sind bei ZuBra-Teilnehmenden allerdings erst bei sehr geringen Geschwindigkeiten signifikante Einbußen im Verstehen erkennbar. Beim Hören lassen sich dagegen keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Geschwindigkeit und Verstehen nachweisen. Die Rechtschreibleistungen der ZuBra-Teilnehmenden liegen in allen erfassten Strategien innerhalb der Normbereiche Sehender in den entsprechenden Altersgruppen. Darüber hinaus lassen sich Zusammenhänge zwischen Rechtschreibleistungen und Lesekompetenzen sowie zwischen Rechtschreibleistungen und der Nutzungshäufigkeit auditiver Technologien erkennen. Schnelle Braille-Lesende erbringen auch gute Rechtschreibleistungen. Hohe Nutzungsfrequenzen der Sprachausgabe im Schulalter gehen dagegen mit Werten unterhalb des Normbereichs in der orthographischen Strategie einher. In der Wahl von Brailleschriftsystemen fällt die Bevorzugung von Vollschrift oder Eurobraille gegenüber Kurzschrift auf. Die Mittelwerte der Lesegeschwindigkeit bei Kurzschriftnutzenden liegen allerdings signifikant über denen bei denjenigen, die bevorzugt Vollschrift oder Eurobraille nutzen.

Das Forschungsprojekt ZuBra: Aufbau, Datenerhebungen und Forschungsmethodik

Im Forschungsprojekt ZuBra wurde erfasst, wie hochgradig sehbehinderte und blinde Menschen Braille- oder adaptierte Schwarzschrift sowie assistive Technologien nutzen und über welche schriftsprachlichen Kompetenzen sie verfügen. Geplant und durchgeführt wurde das Projekt in Kooperation der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Weitere Informationen zum Projekt und Hinweise auf Projektpublikationen finden sich auf den Homepages der Hochschulen: http://www.hfh.ch/de/forschung/projekte/zukunft_der_brailleschrift_zubra/ und www.ph-heidelberg.de/blinden-und-sehbehindertenpaedagogik/forschung/zubra.html.

Gemäß mehrstufig angelegtem Forschungsdesign erfolgte die Datenerhebung in drei Etappen.

Um möglichst repräsentative Ergebnisse für die deutschsprachigen Länder zu erhalten, wurde die erste Erhebung in Deutschland und der Schweiz, die zweite und dritte Erhebung zusätzlich auch in Österreich durchgeführt.

Die erste Erhebung, eine Online-/Offlinebefragung Braillenutzender aller Altersstufen (9/2015 - 10/2015), diente der Gewinnung empirischer Daten über die Nutzung von Brailleschrift und assistiven Technologien.

In der anschließenden zweiten Erhebung richtete sich der Fokus auf Braillenutzende im Alter von 11.0 - 22.11 Jahren (4/2017-12/2017). Mittels einer zur Online-/Offlineerhebung kompatiblen Befragung wurden individuelle Lernbiografien sowie Nutzungsstrategien und -prioritäten erhoben. Standardisierte Tests dienten der Erhebung der Kompetenzen in Leseflüssigkeit, Lesegeschwindigkeit und -verständnis, Hörgeschwindigkeit und -verständnis sowie Rechtschreibung.

Zentrale Ergebnisse aus Befragung und Tests wurden aufbereitet und in einer dritten Erhebung im Rahmen von Fokusgruppen-Interviews präsentiert (5/2018 - 7/2018). In den zehn Fokusgruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz schätzten Fachpersonen die vorgestellten Ergebnisse vergleichend mit eigenen Praxiserfahrungen und Theoriebezügen ein. Daraus ergaben sich vielfältige Schlussfolgerungen für Weiterentwicklungen von Bildungsangeboten. Die als Audiodateien gesicherten Interviews wurden transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl. Kuckartz, 2014).

Schlussfolgerungen

Besonderheiten des taktilen Lesens, insbesondere der Wahrnehmungsprozesse, die wesentlich anders ablaufen als beim visuellen Lesen, die Systemvielfalt der Brailleschrift und deren oft begrenzte Zugänglichkeit und Verfügbarkeit führen zu geringeren Lesegeschwindigkeiten. Zusätzliche Bildungsangebote sowie angemessene Nachteilsausgleichmaßnahmen sind deshalb unabdingbar. In der Zuweisung besonderer Förderangebote ist zu berücksichtigen, dass diese aufgrund der Systemkomplexität der Brailleschrift zeitlich bis in die Sekundarstufe, in Fällen später eintretender Erblindung auch darüberhinausgehend, als individualisierende und motivierende Leseangebote zu konzipieren sind. Nachteilsausgleich durch Zeitverlängerungen, insbesondere aber auch in Form von didaktisch angemessen aufbereiteten Lernmaterialien, unterstützenden Unterrichtsstrukturen und methodischen Prinzipien muss zielbezogen geplant und regelmäßig evaluiert werden.

Die ZuBra-Ergebnisse belegen, dass durchaus auch schnelle Lesegeschwindigkeiten erreicht werden können. Als Tendenz erkennbar ist, dass früh einsetzende Brailleleseförderung höhere Lesegeschwindigkeiten begünstigt. Die Brailleschrift wäre demzufolge, auch wenn Schwarzschrift primär genutzt wird, bei dual Lesenden möglichst frühzeitig einzuführen. Dies schließt nicht aus, dass in jedem Fall die besondere persönliche Situation der Schülerin oder des Schülers umfassend zu analysieren ist. Darüber hinaus dürfen für effektiv Schwarzschrift Nutzende Übungsangebote im visuellen Lesen neben der Brailleleseförderung nicht wegfallen. Unterstützende Aspekte des Nachteilsausgleichs sind auch hier zu erwägen.

Geschwindigkeiten im Hören sind und bleiben höher als diejenigen im Lesen. Die Nutzung der Sprachausgabe neben dem Lesen stellt deshalb in oberen Klassenstufen eine schlichte Notwendigkeit zur Bewältigung des umfangreichen Unterrichtsstoffs dar. Ihr Vorteil bezüglich Geschwindigkeit, bei eher geringen Einbußen im Verstehen, ist somit reflektiert zu nutzen. Ein Gewinn bringender Einsatz sollte jedoch stets zielgerichtet, aufgaben- sowie fächerspezifisch erfolgen.

Effizientes und effektives Hören ist als Kompetenz gezielt zu fördern. Während beim Lesen die Geschwindigkeit im Sinne eines „Bottom-up-Prozesses“ kontinuierlich den Textanforderungen angepasst werden kann, wird beim Hören die Vorlesegeschwindigkeit in der Regel durch Voreinstellungen festgelegt, was einem „Top-down-Prozess“ gleichkommt. Dies kann mit ein Grund dafür sein, dass bei der Anforderung, gut zu verstehen und zu lernen, das Lesen bevorzugt wird. Der Erwerb der Fähigkeit, die Hörgeschwindigkeit gezielt und flexibel den textlichen Anforderungen und Schwierigkeitsstufen anzupassen, erfordert entsprechende Hilfsmittelkompetenzen. Sorgfältige und zielgerichtete Planung der elektronischen Ausstattung sowie die Vermittlung sicherer Nutzungsstrategien sind dazu unerlässlich.

Hören wie Lesen sind zwei verschiedene Kompetenzen, wobei die eine keinen grundsätzlichen Ersatz für die andere darstellt. Als wichtige Ausnahme zu betrachten sind Lernende, welchen aufgrund ihrer kognitiven Voraussetzungen lesend kein Zugang zu Texten möglich ist. Hören sichert dieser Gruppe den Zugang zu schriftsprachlichen Inhalten, weshalb diese Kompetenz, gestützt auf sorgfältig und individuell angepasste Hilfsmittelzuweisung und -einführung, gefördert werden muss.

Für Lernende, welche über ausreichend kognitiv-sprachliche Kompetenzen verfügen, lässt sich die grundsätzlich bestehende Kontroverse „Lesen oder Hören“ indessen nicht auflösen. Beide Zugangsweisen zur Schriftlichkeit haben ihre unbedingte Berechtigung – neben ihren modalitätsspezifischen Nachteilen. Schwerpunkte und Kompetenzen der Lehrpersonen dürfen somit nicht bestimmend sein in der Setzung von Prioritäten. Vielmehr sind Kompetenzen der Lehrenden nach Bedarf durch Weiterbildungsangebote zu sichern und/oder durch gut organisierte Kooperation bedarfsorientiert zu nutzen.

Kurzschrift kann einerseits Lesegeschwindigkeit und -verständnis, aber auch Rechtschreibung unterstützen. Ihre anspruchsvolle Komplexität stellt für viele Lernende jedoch eine besondere, nicht immer zu bewältigende Hürde dar. Während Vollschrift mehrheitlich als Erstschrift den Vorzug erhält, da sie als eine solide Unterstützung des Schriftspracherwerbs im Lesen und Schreiben betrachtet wird, gewährt Eurobraille als Erstschrift die notwendige digitale Verfügbarkeit von Lernmaterialien. Für kooperatives Lernen und Üben mit Nicht-Braille-Nutzenden bietet Eurobraille eine wichtige Grundlage.

Die ZuBra-Ergebnisse könnten ein altes Vorurteil, wonach sich Nicht-Sehen negativ auf Rechtschreibkompetenzen auswirkt, abschwächen: Gute Rechtschreibung setzt Lernangebote und Förderung des Strategieerwerbs voraus. Das Schriftsystem, Brailleschrift oder Schwarzschrift, scheint dabei nicht entscheidend zu sein.

Ein individuelles Training von Lesekompetenzen sowie das fächerübergreifende Unterstützen des regelmäßigen Lesens stellen dagegen wichtige Voraussetzungen des Rechtschreibens dar. Außerdem kann die Vermittlung einer anforderungsbezogen differenzierenden Nutzung der Sprachausgabe dazu beitragen, dass sich der bewusste Einsatz auditiver Strategien positiv auf die Rechtschreibleistungen auswirken kann. Erfahrene Nutzende können über die Sprachausgabe viele Rechtschreibfehler identifizieren.

Ebenfalls bedeutsam ist der Aufbau angemessener Kontrollmöglichkeiten des Schreibens, wozu auch die sichere Nutzung von Rechtschreibprogrammen gehört. Der dazu notwendige Lernaufwand ist auf jeden Fall berechtigt.

Abschließend gilt es nochmals zu betonen, dass aufgrund der stets besonderen funktionalen Voraussetzungen, der unterschiedlichen Lern- und Schulbiografien betroffener Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener individualisierende Entscheide in Bildungs- und Ausbildungskontexten generellen Konzepten vorzuziehen sind.

Foto: Kenntnisse in taktilem Lesen sind auch für die Computerbraillezeile nötig. Foto: ZuBra-Studie. [Finger eines jungen Lesenden an lila Braillezeile]

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Dr. Eberhard Hahn

Was haben die mit unserer Kurzschrift angestellt?

Seit Anfang 2018 haben wir das Vergnügen, ein neues „Regelwerk“ für die Übertragung in Blindenkurzschrift zu genießen. Der DBSV hat in den „Sichtweisen“ 10/2018 ein Interview mit Anja Lehmann, einem Mitglied des Brailleschriftkomitees der deutschsprachigen Länder, veröffentlicht. Frau Lehmann erläutert hierin die wesentlichen Änderungen, die an der deutschen Blindenkurzschrift vorgenommen wurden. Als Reaktion darauf waren in den „Sichtweisen“ etliche Leserbriefe zu finden, die mir wahrlich aus dem Herzen gesprochen haben. Mir scheint, dieser Gegenstand ist es wert, auch im „horus“ behandelt zu werden.

Als Zielsetzung für die Überarbeitung des Regelwerks wird angegeben, dass es an den starken sprachlichen Wandel in den vergangenen 20 Jahren angepasst werden sollte. Stimmt schon, viele neue Wörter haben in unseren Sprachgebrauch Einzug gehalten. Aber wie hat das Komitee dem Rechnung getragen? Es hat sich darauf beschränkt, einige altbewährte Kürzungen abzuschaffen. Neue Kürzungen hat es sich nicht einfallen lassen. Ach, wie innovativ, möchte man da sagen.

Einige bewährte Kürzungen wurden abgeschafft

Abgeschafft hat man beispielsweise einige zweiformige Kürzungen, weil sie auch als Buchstabenpaare in Wörtern auftreten. Das betrifft die Kürzungen „bl“ für „blind“, „fr“ für „frag“ und „sp“ für „sprach“.

„Blind“ soll man deshalb nicht mehr kürzen, weil man bei den Wörtern „Blindendienst“ und „blenden“ erst mit dem fünften Zeichen erkennt, um welchen Wortstamm es sich handelt. Klar, da kann man sich schon mal verlesen. Aber wie oft stoßen wir auf „blind“ und wie selten auf „blend-“? Ich frage mich da unwillkürlich: Waren denn die Menschen, die sich seit über 100 Jahren mit großem Engagement und Einfallsreichtum um die Schaffung und Weiterentwicklung einer deutschen Blindenkurzschrift bemühten, allesamt so verblindendet - ähm, wollte sagen: verblendet, dass sie diese gefährliche Klippe nicht bemerkten?

Beispiele, wo man „frag“ und „fr“ ernsthaft verwechseln kann, wollten mir trotz intensiven Nachdenkens nicht einfallen. Bei „sprach“ und „sp“ ist das schon eher vorstellbar, aber auch da möchte ich davon ausgehen, dass niemand auf den „Sprachrossen“ einer Leiter in eine Baumkrone klettern will.

Auch die Kürzungen „ph“ für „Philosoph“ und „mn“ für „Mann“ sollen nicht mehr verwendet werden. Dazu möchte ich doch sagen dürfen, dass das Wort „Philosoph“ heute nur noch selten vorkommt, und entsprechend selten wird man über das Kürzel „ph“ stolpern, zumal die neue Rechtschreibung so manches „ph“ durch „f“ ersetzt hat. Aber um die Kürzung für „Mann“ tut's mir wirklich leid, denn diesem Wort begegnet man doch ständig. Ich würde da eher dafür plädieren, die alberne Regel abzuschaffen, dass in Eigennamen keine Wortkürzungen erlaubt sind. Wenn man sich nach alter Schreibweise streng an diese Regel gehalten hat, musste man unterscheiden, ob jemand „Zimmermann“ ist oder „Zimmermann“ heißt.

Schließlich hat man die einformigen Kürzungen für die Vorsilbe „aus“ (äu-Zeichen) und die Nachsilbe „ion“ („j“) gestrichen. Begründung: Diese Kürzungen machen Probleme bei der automatischen Übertragung von Wörtern aus fremden Sprachen. Wie bitte? Fremdsprachliche Wörter, die mit „aus“ beginnen, sind so häufig, dass man ihretwegen die Kurzschrift ändern muss? Das „j“ für „ion“ ist vielleicht ein bisschen problematischer, weshalb man schon bald nach ihrer Einführung diese Kürzung nur noch in den Verbindungen „sion“ und „tion“ zugelassen hat. Aber gerade diese Nachsilben liest man doch so oft, dass sich jeder Anfänger schnell an sie gewöhnen sollte.

Im Übrigen bleiben auch nach den vorgenommenen Streichungen noch genügend Möglichkeiten, sich zu verlesen. Betrachten Sie etwa das Wort „Zwischenergebnis“. Auch da ist erst beim fünften Zeichen klar, dass es nicht um „Zwerge“ geht. Oder hätte ich mir dieses Beispiel lieber verkneifen sollen, um keine schlafenden Hunde zu wecken?

Ach, und wollen Sie wissen, wie es mir, einem Schwaben, mit der Kürzung für „irgendwelche“ geht, die man genauso als „Igele“ lesen kann? Ich meine, für solche Probleme gibt es eine recht einfache Lösung: Die Leser haben ein Gehirn und können mitdenken.

Wie gesagt, man kann sich wegen einiger Kürzungen schon mal verlesen, aber eben nur „schon mal“. Demgegenüber hat man tausendmal öfter die Gelegenheit, sich über geschmeidige Kürzungen zu freuen, die weniger Platz brauchen und schneller zu lesen und zu schreiben sind. Will man sich bei so weitreichenden Entscheidungen wirklich an einigen „langsamen“ Punktschriftlesern orientieren, bei denen es sich in der Regel um Anfänger handelt? Wenn es diese langsamen Leser so machen wie wir einst, dass sie nämlich fleißig üben, dann gehören sie schon bald zu den „schnelleren“ oder gar „schnellen“ Lesern, und das bleiben sie dann jahrzehntelang.

Aber seien wir nicht ungerecht. Als Trostpflaster bekommen wir vom Komitee gesagt, dass diejenigen, die die Brailleschrift nur für sich selbst anwenden, gar nicht umlernen müssen. Ach, wie reizend! Dieses Argument sollte man sich gut merken, falls man doch noch auf die Schnapsidee kommt, die Kurzschrift komplett abzuschaffen (entsprechende Forderungen hat's durchaus schon gegeben). Auch dann werden die Kurzschriftleser überhaupt nicht umlernen müssen, denn die Vollschrift beherrschen sie ja sowieso. Genial, nicht wahr? Nur, Herrschaften, geht's ja nicht ums „Umlernen“, sondern ums „Umgewöhnen“. Wer ein Leben lang häufig vorkommende Wörter in Form kompakter Kürzungen gelesen hat, kann wohl kaum darüber glücklich sein, dass diese Wörter plötzlich doppelt so lang geworden sind. Das Traurige ist, dass man offenbar eigens auf diese Tatsache hinweisen muss.

Wieso geht man eigentlich so leichtfertig mit der Abschaffung von Kürzungen um? Abgeschaffte Kürzungen werden ja nicht mehr gelehrt. Was machen dann die Schüler von morgen mit den Punktschriftbüchern, die in den letzten 50 Jahren gedruckt wurden? Wenn sie die „schwer zu lesenden“ Kürzungen schon gar nicht mehr lernen durften, wie mühsam wird es dann für sie sein, sie im Selbststudium zu erraten und einzuüben, nur weil sie gern dieses oder jenes Buch lesen würden? Viel eher werden wohl diese Schüler die Lust an den „alten“ Büchern verlieren und sie nicht mehr anrühren. Trägt man nicht auch eine gewisse Verantwortung für die vielen, vielen Druckwerke, die mit großem Engagement und finanziellem Aufwand während eines halben Jahrhunderts hergestellt wurden und daher ein beachtliches Kulturgut darstellen?

Innovatives fehlt

Nein, das Abschaffen von Kürzungen ist unbestreitbar der absolut falsche Weg. Viel sinnvoller wäre es gewesen, wenn man sich wirklich am Wandel der Sprache orientiert und ein paar neue Kürzungen eingeführt hätte. Was spricht z.B. gegen „cp“ für „Computer“ oder „in“ (ausgeschrieben) für „Internet“? Oder wie wäre es gar mit „sb“ für „sehbehindert“? Alle naselang werden doch in unseren Publikationen „Blinde und Sehbehinderte“ in einem Atemzug genannt. Stellen Sie sich vor, Sie dürften das in der Form „ble u sbe“ lesen. Nur zur Erinnerung: Wir reden über „Kurzschrift“!

Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass es nicht nur eine Schwäche unserer Blindenkurzschrift ist, dass man gelegentlich einen großen Teil eines Wortes lesen muss, ehe man es richtig interpretieren kann. In der Schwarzschrift kann einem das genauso passieren. Betrachten Sie doch einmal die Wörter „Professor“, „Professoren“ und „professoral“. Jedes dieser langen Wörter müssen Sie ganz lesen, ehe Sie wissen, wie es zu betonen ist. Und noch schlimmer: Wie sprechen Sie „Montage“ aus, oder wie trennen Sie „Staubecken“ am Zeilenende? Die richtige Antwort muss wohl lauten: „Wenn ich den Zusammenhang kenne, sag ich's dir“. Und eben darauf kommt's an: Man liest nicht nur mit den Augen oder den Fingern, sondern auch mit dem Köpfchen. Wollten doch alle, die sich berufen fühlen, stellvertretend für die gesamte Leserschaft an unserer Punktschrift herumzubasteln, diese Tatsache gebührend berücksichtigen!

Fazit

Man mache die unglücklichen Eingriffe in unsere Kurzschrift so schnell wie möglich rückgängig, ehe sie in viele Druckerzeugnisse Eingang finden. Und dann überlege man sich ernsthaft, ob man dem modernen Sprachgebrauch nicht durch ein paar neue Kürzungen in angemessener Weise Rechnung tragen kann.

Wenn es mir mit diesem Beitrag gelänge, unter den Lesern des „horus“ eine rege Diskussion anzustoßen, wäre ich überglücklich.

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Dr. Aleksander Pavkovic

Sprache und Sprachgebrauch unterliegen ständigem Wandel

"Flüssiges Lesen gehört zur Inklusion." So lautet die Überschrift einer der Briefe, die in den "Sichtweisen" Dezember 2018 veröffentlicht wurden. Darin wird, wie in allen anderen dort publizierten Zuschriften, die neue Brailleschrift-Systematik ausschließlich unter einem Aspekt kritisch gewürdigt: der Abschaffung einiger Kürzungen, die sich in den Augen der Schreiber bewährt hatten.

Flüssiges Lesen gehört zur Inklusion. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Bei der Brailleschrift, die ihrer Natur nach viel Platz in Anspruch nimmt, scheint im deutschen Sprachraum (im Gegensatz zu vielen anderen Regionen der Welt) größtmöglicher Konsens zu herrschen: Eine Kurzschrift ist unerlässlich, wenn flüssiges Lesen gelingen soll. Jedoch ist bei der Kurzschrift die Anzahl an Zeichen nicht das einzige Kriterium. Fahren die Finger über weniger Zeichen, ist dies zwar meist ein entscheidender Vorteil. Es gibt jedoch Situationen, wo die Platzersparnis einen hohen Preis hat - dann nämlich, wenn die Kürzungen erst mit viel Aufwand im Kopf "entschlüsselt" werden müssen. Dann hilft sie langsamen Lesern nicht und bremst schnelle Leser unnötig. Die deutsche Blindenkurzschrift hat durch ihre zahlreichen Ausnahmen ohnehin keinen leichten Stand. Was darf ich wann kürzen am Wortanfang oder -ende? Muss ich Sprachwissenschaft betreiben, um zu wissen, warum ich zwar den Ortsnamen Überlingen nicht kürzen darf (es hat nichts mit "über" zu tun), sehr wohl aber Vorarlberg?

Klar hätte auch ich manche Kürzungen gern weiter genutzt, zum Beispiel die für das Wort "blind". Doch wenn ich an ein Lese-Erlebnis von vor ein paar Jahren denke, wird hoffentlich deutlich, dass bei der kleinen Reform keinesfalls Willkür oder akademische Spielerei ausschlaggebend waren. Da las mir eine Freundin aus einem theologischen Fachbuch vor, von der Braillezeile: "Heideggers Spontologie: Das Ungewohnte gibt zu denken." "Bitte? Spontologie", fragte ich sie, "ist das die Lehre vom Spontanen?" Aus dem Kontext erschloss sich bald, dass es sich um "Sprachontologie" handelte. Ein ungewöhnliches Wort, deren es dennoch eine ansehnliche Zahl gibt.

Wir können uns nicht vor den Veränderungen verschließen, die sich in der Sprache in den letzten Jahrzehnten ergeben haben. Wir können uns auch nicht nur deshalb mit dem Argument "Üben hilft" den zahlreichen Anfragen aus Pädagogik und anderen Praxisbereichen verweigern, weil uns Kürzungen jahrzehntelang überaus dienlich waren und sich bewährt haben.

Die deutsche Blindenkurzschrift setzt nicht einfach nur ein gewisses Lesetempo voraus. Sie setzt vor allem eine gewisse Sprachaffinität voraus. Sprachintuition auf muttersprachlichem Niveau ist hilfreich. Doch diese Voraussetzungen erfüllen zunehmend weniger Menschen, die auf Braille angewiesen sind. Es wäre nicht die richtige Strategie, die Kurzschrift deshalb abzuschaffen. Aber sie einfach so, wie sie ist, zu konservieren, weil sie doch vielen Generationen (angeblich) keine Probleme bereitet hat? Wo die Anliegen und Anforderungen so klar und konkret ans Brailleschriftkomitee herangetragen wurden wie im Fall schwer zu dekodierender Kürzungen, da war das Gremium durchaus "beeindruckt" und bereit, Gewohnheiten zu hinterfragen.

Die zwar wenigen, jedoch vielfach genannten weggefallenen Kürzungen sind ja nun nicht alles, was sich bei der kleinen Reform 2018 geändert und für viele Lesende verbessert hat. Das Komitee schuf für alle, die Texte in Braille übertragen, an mehreren Stellen klarere Regelungen, die allen Lesenden zugutekommen. Mit alternativen Aufzählungs- und Hervorhebungszeichen und anderem tragen wir der Tatsache Rechnung, dass es zunehmend wichtig wird, Gegebenheiten der Schwarzschriftvorlage auch in Braille eindeutig wiederzuerkennen.

Sprache und Sprachgebrauch unterliegen einem ständigen Wandel. Das Brailleschriftkomitee wird diese Entwicklung auch künftig begleiten und, wo dies sinnvoll erscheint, versuchen, darauf zu reagieren. Wo wir Änderungsbedarf sehen, mögen uns - vielleicht mehr noch als bisweilen in der Vergangenheit - zwei Prinzipien leiten: der Dialog mit allen, die bisher schon gern und viel Braille nutzen, sowie die Berücksichtigung derjenigen, die künftig in die Lage versetzt werden sollen, Braille möglichst leicht zu erlernen und effektiv zu nutzen.

Dr. Aleksander Pavkovic, Mitglied des Brailleschriftkomitees der deutschsprachigen Länder, für das Komitee

Foto: Lesen mit Braille. Foto: kaninstudio [Zwei Hände beim Lesen eines Braille-Drucks.]

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Bernd Sanders

Blind und trotzdem ein Held

Wenn ich Sehenden auf die Frage “Was sind eigentlich so deine Hobbys?” antworte, dass ich für mein Leben gern Videospiele aller Art spiele, kann ich mir den seltsamen Blick auf diese Antwort, ehrlich gesagt, ziemlich gut vorstellen, auch wenn ich ihn nicht sehe.

Das liegt daran, dass die Leute ja keine Ahnung haben können, was genau ich nun sehe und was nicht. In meinem speziellen Fall ist es so, dass ich ein unglaublich stark eingeschränktes Gesichtsfeld habe - auf einem Auge. Auf dem anderen sehe ich im Prinzip nur hell, dunkel und große Farbflächen (meint: Wände, Fußböden - anderes Mobiliar geht schon unter). Das “gute” Auge hat noch ein wenig Restsehvermögen, mit dem ich noch an Computern arbeiten und auch selbstständig lesen kann, sofern man die Buchstaben denn groß genug für mich bekommt. Farben sind kein Problem, Dreidimensionalität wiederum schon. Dazu braucht man nun mal zwei Augen.

Weder meine Mutter noch meine Ehefrau können zuverlässig abschätzen, was genau ich im Alltag sehe und was nicht. Ich kann also von meiner restlichen Umwelt noch viel weniger erwarten, dass sie das können. Entsprechend kann ich die oben erwähnten irritierten Blicke also gut nachvollziehen.

Aber warum um alles in der Welt sollte man sich, wenn man schon so schlecht sieht, mit kleinen Farbpunkten auf einem flimmernden Bildschirm beschäftigen, wenn man doch auch kegeln könnte? Das ist doch anstrengend und eben optisch und überhaupt …

Helden und Computerspiele in Kindheit und Jugend

In meinem Fall liegt die Antwort darauf bereits in meiner Kindheit und Jugend. Technik war spannend, stand irgendwie immer in Verbindung mit Science Fiction und Fortschritt. Außerdem wuchs ich mit den Cartoons der 80er und 90er Jahre im Privatfernsehen auf, in denen es um Helden, Abenteuer, Gerechtigkeit und Freundschaft ging. Und auch die Realserien waren sehr ähnlich aufgebaut.

Irgendwann hat mein Vater einen C128 in meinem Kinderzimmer aufgestellt. Da kam plötzlich Musik aus diesem Ding - und die Hauptfigur der Geschichte, war sie noch so platt, albern oder eintönig, konnte ich, nur ich, mit diesem lustigen kleinen Joystick steuern. Ob meine kleine Figur Erfolg hatte oder nicht, das hing von mir ab.

Es dauerte auch gar nicht lang, bis ich nach diversen Autorennspielen, Side-Scrollern (man denke an die guten alten Giana Sisters), Flugsimulatoren (Hand auf’s Herz: Warum Tom Cruise in Top Gun zusehen, wenn man selbst wie er sein kann?) und Rätselspielen auf mein erstes Rollenspiel stieß: Zak McKracken and the Alien Mindbenders.

„Abends liegt Zak in seinem Bett. … Allein. … Wie immer.“ Und obwohl ich in meinen jungen Jahren noch keine Ahnung hatte, was mit so einer Anspielung gemeint sein könnte, wollte ich ihm helfen herauszufinden, was in seinem Leben gerade alles so falsch läuft. Die Rätsel hießen jetzt nicht mehr Tetris, sondern waren Probleme wie: Wie zum Donner bekomme ich die Glückszahlen der zukünftigen Lottoziehung heraus? Und was habe ich mich gefreut, als ich am Ende doch tatsächlich die Welt vor der Invasion durch Elvis-Aliens gerettet hatte. Ein kleiner Held mit geballten zehn Jahren.

Natürlich sah das bei mir in der Praxis etwas anders aus als bei anderen Kindern: Ich saß viel zu nah an dem Fernseher, der damals das Bild für die Spiele lieferte. Heute würden Eltern ihr Kind nicht mehr so nah vor einen Monitor setzen. Natürlich hat es mich mehr Zeit gekostet, die bunten Texte oder bestimmte Hieroglyphen zu lesen und das zugehörige Rätsel zu lösen. Ich gehe auch davon aus, dass meine Körperhaltung nicht die gesündeste war und jeder Physiotherapeut mich dafür heute steinigen würde. Aber die Geschichten, die ich da erlebt habe, das waren meine. Ganz wie bei allen anderen Kindern auch.

Mit der Zeit wurde ich natürlich größer. Aber nicht nur ich, sondern auch die Geräte wuchsen, wurden schneller, leistungsfähiger - die Spiele erst bunter, dann realistischer und vielfältiger. Ich habe viel Zeit an Game Boy, Game Gear, Super Nintendo, dann auch der PlayStation verbracht. Aus dem C128 wurde irgendwann ein normaler Laptop, dann PC. Natürlich ging das Problem mit der Entfernung zum Bildschirm nicht weg. Dafür wurden die Geräuscheffekte und die Begleitmusik immer besser.

Große Helden, epische Games - Faszination für Erwachsene

Inzwischen sind nicht nur gefühlte 30 Jahre ins Land gezogen. Während ich das hier tippe, starre ich konzentriert auf das 27”-Retina-Display meines iMacs, auf dem ich gängige Spiele entweder direkt für den Mac spiele oder eben auf eine Windowspartition umboote, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Und weil jede Software-Firma so ihre eigene Liste an “coolen Kindern” hat, für deren Systeme sie Spiele vertreiben, hängt an diesem Mac auch noch eine PS4, sodass ich bequem über diesen wirklich großen Monitor ganz der Zockerei frönen kann.

Natürlich darf man sich auch in der jetzigen Situation keine Illusionen machen. Meine Haltung ist auch 30 Jahre später miserabel, der Monitor gerade mal 10 cm von meiner Nasenspitze entfernt, die Buchstaben unglaublich groß eingestellt - und ich bin mir nach wie vor ziemlich sicher, dass mir die meiste Schönheit meiner geliebten Spiele verschlossen bleiben wird, weil sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eben für das sehende Auge geschaffen wurden. Wirtschaftlich gesehen gehöre ich nun mal, völlig nachvollziehbar, zu keiner ausreichend großen Zielgruppe.

Aber erinnern wir uns doch an die Helden, von denen ich vorhin schrieb: Inzwischen sind die Spiele so groß geworden, so inszeniert, dass man nicht einfach nur davon träumen kann, was Batman wohl so alles erlebt - sondern man kann ihn selbst durch das nächtliche Gotham City hangeln lassen. Man muss nicht mehr umständlich mitlesen, was die Charaktere so untereinander zu sagen haben, sondern die Personen sprechen wie in echten Filmen, von Schauspielern gesprochen. Und auch die Musik darf man nicht vernachlässigen. Während irgendein Handlanger von mir ein wenig auf die Nase bekommt, spielt mir ein ganzes Orchester die passende Untermalung ins Ohr. Inzwischen ist das Spielerlebnis richtig episch geworden. Man ist kein kleiner Held mehr, man ist ein ganz, ganz großer.

Und damit komme ich auch gern zur eigentlichen Faszination. Spiele - wie das eben beschriebene um Batman - verfolgen für gewöhnlich ein Skript, das man zwar auf verschiedene Weise abarbeiten kann, unterm Strich kennt man aber für gewöhnlich nur ein oder höchstens zwei, drei verschiedene Enden der Geschichte.

Es gab nämlich noch einen Durchbruch, der aus dem einsamen Gamer im Jugendzimmer ein Mitglied in einer Gruppe machte: MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) – Spiele, in denen zwar nach wie vor jeder Spieler die Rolle eines einzelnen Charakters übernimmt, sich aber alle in der gleichen Spielwelt treffen können und zusammen Abenteuer bestehen.

Natürlich meint das zum einen, dass man sich treffen kann, um einen Drachen zu töten, der ein Dorf schon seit langem in Angst und Schrecken versetzt. Jeder in der Gruppe bekommt eine Aufgabe: Heilen, dem Gegner Schaden zufügen, den Gegner durch bestimmte Fallen schwächen und vieles mehr. Dieser Aspekt erinnert sehr an die alten Abenteuer, wie wir sie schon aus Kindertagen gewohnt sind.

Der andere Aspekt ist aber, dass man nicht einfach nur die Aufgaben löst, die einem die Spielwelt bietet, sondern auch beginnt, eigene Geschichten zu erzählen.

Geschichten erzählen: Games, bei denen es nicht auf gutes Sehen ankommt

Da man zusammen spielt, kann man Geschichten also auch gemeinschaftlich erzählen. Man kann sich aussuchen, ob man den Bauern spielt, der zum Helden wider Willen wird, den Grafen, der sich entscheiden muss, ob er dem wahnsinnigen König die Treue hält oder doch lieber seine eigenen Leute schützt und damit leider, leider in Ungnade fällt oder ob einem die Rolle der verwegenen Piratin an Bord eines Freibeuterschiffs eher zusagt - und wie genau sich die Geschichten entwickeln sollen. Man durchlebt gemeinsam die Höhen und Tiefen der Charakterentwicklung, ganz wie in einem guten Buch, wenn man mitfiebert, gelegentlich die Fingernägel kaut oder dem Autor das Ding um die Ohren hauen will, weil es einfach so schön frustrierend ist. Nur diesmal schreibt man eben selbst – und es gibt niemand, der einem vorschreibt, wie die Geschichte auszugehen hat. Vielleicht gewinnt diesmal doch der wahnsinnige König. Vielleicht ruft ihn der eigentlich einfältige Stalljunge mit einer Anekdote, die ihm sein Vater erzählt hat, wieder zur Vernunft. Oder die Köchin rettet diplomatische Verhandlungen mit dem meisterhaften Essen, das sie auf den Tisch zaubert.

Diese zweite Variante ist für uns, die wir schlecht oder gar nichts sehen, sogar noch besser. Hier kommt es kaum darauf an, wie gut oder schlecht man sieht. Man muss sich nur auf die Gemeinschaft einlassen und sich Mühe beim Erzählen geben. Sonst nichts. Es gibt sogar Spielformen, die sich auf reinen Textaustausch, ganz ohne Musik und irgendeine Form von Grafik, beschränken.

Aus beiden Varianten können sich gute, tragfähige Freundschaften entwickeln. Ich habe so Freunde gefunden, die ich seit diesen ersten Spielen kenne und sehr schätze. Und egal wie weit wir auseinander wohnen oder wie selten wir uns sprechen - wenn wir zusammen sind, sei es auch nur in einer Skype-Konferenz, ist es wieder ganz wie früher. Man erinnert sich gern und tauscht die alten Geschichten noch einmal aus.

Und wenn man ganz viel Glück hat, findet man über dieses gemeinsame Hobby vielleicht sogar den Partner fürs Leben. So wie ich. Eine Frau, die nicht mit mir gerechnet hat und ich nicht mit ihr, die ganz normal ist. Nur ein wenig verrückt. Das verbindet eben - in allen Welten.

Textkasten:

„Computerspiele vereinen Spaß und Innovationen und sind damit eine wichtige Triebfeder für die Digitalisierung.“

Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitalisierung
anlässlich der Verleihung des Deutschen Computerspielpreises am 9.4.2019 in Berlin
Zitiert nach: Frankfurter Rundschau, 11.4.2019, S. 39

Ende Textkasten

Foto: Nah dran am Bildschirm, nah dran an der Geschichte: Gute Computerspiele haben ihre eigene Sogwirkung. Foto: Tomasz Mikołajczyk/Pixabay [Die Rückenansicht auf eine*n Gamer*in mit langen blonden Haaren und großem Kopfhörer erlaubt einen Blick auf das Spiel am Bildschirm.]

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Juliane Taubner

Preisverdächtige Phantasien

Wer kennt es nicht: man liest ein Buch, sieht einen Film oder eine Serie, hört ein Hörspiel, und am Ende sitzt man da und denkt: „Das hätte ich anders besser gefunden.“

Das Ende der Story gefällt nicht, die Wendung des Plots nicht, und wäre es nicht toll gewesen, wenn dieser Charakter eine Beziehung mit jenem anderen Charakter eingegangen wäre? Wie wäre die Geschichte wohl verlaufen, wenn nur diese eine Kleinigkeit nicht passiert wäre? Was, wenn in „Der Hobbit“ Bilbo den Einen Ring nicht mitgenommen hätte? Was, wenn in „Star Wars“ Anakin Skywalker nicht zu Darth Vader geworden wäre?

Diejenigen, die sich nicht nur mit dem Gedankenexperiment zufriedengeben wollen, setzen sich hin und schreiben die andere Version der Geschichte auf: eine neue Fanfiction ist geboren.

Wikipedia definiert Fanfiction folgendermaßen: „Fanfiction […] ist die Bezeichnung für Werke, die von Fans eines literarischen oder trivialliterarischen Originalwerkes (zum Beispiel eines Films, einer Fernsehserie, von Büchern, Computerspielen usw.) […] erstellt werden, welche die Protagonisten und/oder die Welt dieses Werkes […] in einer neuen, fortgeführten oder alternativen Handlung darstellen.“

In der Literaturszene hat Fanfiction bislang keinen großen Stellenwert. „Das ist ja alles nur Porno“, sagen die einen. „Schlecht geschrieben“, sagen die anderen. „Keine eigenen Ideen, da ist nichts Originäres drin“, heißt es, „wertlos“.

Und natürlich, wie in jedem Genre gibt es auch bei Fanfiction bessere und schlechtere. Es gibt die Pornos, in denen Sherlock Holmes und John Watson mehr Sex haben als Fälle lösen. Es gibt Geschichten, die so schlecht geschrieben sind, dass sich beim Lesen die Fußnägel krümmen und man sich wünscht, man hätte schneller weggeklickt. Es gibt die langweiligen Abhandlungen, bei denen man sich fragt, was die Autorin eigentlich will.

Aber es gibt eben auch andere Fanfiction. Intensive, tiefgehende Auseinandersetzungen mit der ursprünglichen Geschichte und dem Hintergrund, der sogenannten „Lore“, eines Settings. Gedankenspiele, die so brillant sind, dass man sich fragt, warum sie nicht schon längst veröffentlicht wurden. Da gibt es Nebencharaktere aus einer Serie zu entdecken, die nun die Protagonisten ihrer eigenen Geschichte sind, oder Hintergrundgeschichten von Charakteren, die man durch eine Computerspielreihe geführt hat, mit Erklärungen von Szenen und Entscheidungen, die im Spielerlebnis zu kurz kommen.

In den Tiefen der Fanfiction-Szene gibt es unendlich viele Geschichten, die herzzerreißend, originell, tiefgehend, lustig und beeindruckend sind, kurze Geschichten oder vielbändige Werke. Und alle wurden geschrieben, um zu erzählen, aus Spaß am Schreiben und aus Liebe zu der gewählten Welt, ohne Erwartungen an Erfolg, Ruhm oder Geld.

Wenn man es genau nimmt, sind einige der bekanntesten Autoren der Weltliteratur nichts weiter als Fanfiction-Schreiber. Vergils „Aeneis“ ist eine Neuerzählung der Ilias und Odyssee aus einer Zeit, in der Homer bereits als Klassiker galt. Shakespeares Werke basieren fast samt und sonders auf anderen Werken – Gedichten, Märchen, Erzählungen. Wie viele Artus-Legenden kennen Sie? Mark Twain schrieb eine Zeitreisegeschichte von einem „Connecticut Yankee“, der durch die Zeit in König Artus‘ Tafelrunde geworfen wird. Alexandre Dumas‘ „Die Drei Musketiere“ ist sogar ganz offen eine Fanfiction, die Charaktere sind einem anderen Buch namens „Mémoires de Monsieur d’Artagnan“ entnommen.

Fanfiction öffnet Grenzen und Möglichkeiten

Die Grenzen zwischen Fanfiction und originärer Fiktion sind also mehr als fließend. Und tatsächlich haben viele heute sehr bekannte und erfolgreiche Autor*innen als Fanfiction-Schreiber*innen begonnen. Insbesondere für junge Menschen kann Fanfiction ein Einstieg in die Welt der Autorenschaft und Literatur sein – auch ein Grund, weshalb einige Texte noch nicht die literarische Qualität eines lektorierten, redigierten, veröffentlichten Buchs haben: oftmals sind die Autor*innen sehr jung. Sie probieren sich aus in einem sicheren Umfeld, das kaum Tabus kennt, erforschen Themen und Ideen in ihren eigenen Worten, und viele finden dabei auf mehr als eine Weise ihre eigene Stimme.

Dieses Jahr wird zum ersten Mal eine Fanfictionwebseite mit einer Nominierung gewürdigt. Die bekannteste und größte Fanfiction-Archivseite im Internet, Archive of our Own (oder auch AO3, zu erreichen unter https://archiveofourown.org), ist für einen Hugo Award nominiert.

Die Hugo Awards werden seit 1953 jährlich in 16 Kategorien an die besten Werke aus dem Bereich Fantasy und Science Fiction verliehen. Zu ihren Gewinnern gehören Ursula K. Le Guin, N. K. Jemisin, George R.R. Martin, Isaac Asimov und Neil Gaiman, um nur einige wenige zu nennen.

Die Nominierung von AO3 ist auf mehreren Ebenen eine Besonderheit. Die Würdigung dieser Seite ist eine Würdigung eines bahnbrechenden Archivsystems, dessen Indexierung und Datenbankstruktur herausragend ist und von dem sich viele andere Seiten eine Scheibe abschneiden können. Doch das ist noch nicht alles. AO3 wurde von Frauen gegründet und wird primär von Frauen geführt, programmiert und instandgehalten. Die Seite ist profitfrei und die Nutzung ist für Schreiber*innen und Leser*innen kostenlos. Damit dies möglich ist, engagieren sich hunderte von Freiwilligen für AO3. Der Großteil der Mitwirkenden, sowohl was den Inhalt als auch das Framework angeht, ist weiblich. Leider ist die Nutzung der Seite für Screenreader aber noch nicht optimiert.

Mit der Nominierung wird die mehr als zehnjährige Geschichte einer Plattform gewürdigt, die von Fans für Fans gegründet wurde, um Geschichten zu teilen und zu feiern, die jenseits dessen gehen, was wir auf der gedruckten Seite oder dem Bildschirm sehen.

Vielleicht haben ja auch Sie mal Lust, Ihre Ideen mit der Welt zu teilen?

Im Archive of our Own sind alle willkommen.

Foto 3.7: In Fanfiction kann man selbst entscheiden, wie es weitergeht. Bild: Screenshot aus dem Computerspiel „Dragon Age Inquisition“. [Screenshot, der eine weibliche Elfe zeigt, die lächelnd einen nur von hinten erkennbaren männlichen Charakter ansieht. Ein Entscheidungsrad, das die Wahl zwischen „[Kiss him.]“ und „It’s okay.“ anbietet, der Entscheidungspfeil steht auf „[Kiss him.]“.]

Logo: Archive of our Own. Organization for Transformative Works (OTW)

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Dr. Heinz Willi Bach

Unterm Strich ist die Digitalisierung ein Segen für uns

Dr. Heinz Willi Bach interviewt den erfolgreichen blinden Audio-Dienstleister Ralf Hohn zu seinem beruflichen Werdegang und vor allem zu Fragen der Digitalisierung.

Bach: Es ist Montagnachmittag, 16 Uhr. Wie sah dein heutiger Arbeitstag bisher aus?

Hohn: Mein Arbeitstag begann um 4 Uhr früh. Da habe ich eine von zwei Morning Shows für Radio 90.vier MHz aufgezeichnet, das in der Großregion Oldenburg funkt, und habe die Moderation einer Vier-Stunden-Sendung in einer Stunde fertiggestellt; einschließlich Wetter sowie O-Tönen, Beiträge und auch Eigenrecherchen. Anschließend habe ich das hochgeladen, damit ich Zeit für meine Livesendung von 6:00 bis 9:00 bei einem anderen Sender habe. Parallel dazu habe ich noch den Verkehrsservice für Radio 90.vier aktualisiert. Um 9:00 habe ich vier Stunden Moderation für einen Sender Radio Schwab-München in Augsburg aufgezeichnet. Zwischendurch führte ich Telefonate für Werbespotproduktionen und ähnliches, das nebenher läuft. Und heute Nachmittag habe ich für den BLR, den Verbund der bayerischen Lokalradios mit Sitz in München, Moderationen aufgenommen für Sendungen, die auf mehreren Stationen heute Abend laufen werden.

Bach: … und der Mann ist noch nicht heiser!

Hohn: Nee, das stimmt.

Bach: Wie bist du zu dem Beruf gekommen?

Hohn: Radio hat mir immer schon sehr viel bedeutet und mir mehr gegeben als TV oder Videospiele, anders als bei meinen sehenden Freunden. Was der DJ da im Radio macht, Hitparaden ansagen usw. – das wollte ich später auch mal machen. Als ich 12 war, haben wir mit Piratensendern experimentiert und später sogar richtige professionell gestaltete Sendungen gemacht – sind dann auch mal erwischt worden. Über ein paar Umwege und Kontakte hat’s dann auch geklappt, dass ich meinen Berufswunsch verfolgen konnte.

Das Handwerkszeug lernte ich bei den Piraten, habe mich erfolgreich bei der Deutschen Welle in Köln für ein Praktikum beworben und wurde dort wie üblich durch alle Stationen geschleift. Ich wollte aber gern noch mal ans Mischpult und selbst eine Sendung machen. „Ja mach mal“, meinte der Musikredakteur, „lass dir die entsprechenden CDs usw. raussuchen, dann zeig ich dir das Studio.“ Das war damals noch alles analog, mit zwei, drei CD-Playern, Bandmaschine usw. Meine aufgezeichnete Musiksendung fanden sie dann so gut, dass ich später gleich eine Krankheitsvertretung machen konnte: die von Wolfgang Sauer, der ja auch blind war und dort die „Classics“ moderierte. Da sagte der Musikredakteur: „Auf meinem Sendeplan steht jetzt Moderation Ralf Hohn.“

Ich war der erste Praktikant, der eine Sendung on air gemacht hat; für mich eine Bestätigung, dass das, was ich mir angeeignet hatte, im professionellen Bereich auch funktioniert.

Über einen anderen Bekannten bin ich zu Radio Köln, dem ansässigen Lokalsender, gekommen, habe da als freier Mitarbeiter Interviews gemacht und Beiträge produziert. Es war Karnevalszeit, da kam man auch schnell rein, war ja auch viel zu tun.

Über wieder einen weiteren Bekannten kam ich zu Radio Südtirol – wir waren als Funkenthusiasten eigentlich seminarmäßig dort – die suchten für die Ferienzeit einen Moderator. Da hatte ich also einen Job in einem damals noch überwiegend analogen Studio. Jemand, den ich wiederum da kennenlernte, hat mich zwei Jahre später für ein Lokalradio für München eingestellt. So bin ich nach und nach in das Geschäft reingekommen. Und inzwischen mache ich das jetzt so 20, 25 Jahre und bin da ganz gut vernetzt.

Bach: Du warst die überwiegende Zeit als freier Mitarbeiter oder als Angestellter tätig. Seit wann bist Du endgültig selbständig?

Hohn: So wirklich komplett selbständig bin ich seit 2013. Davor war ich die meiste Zeit fest angestellt bei verschiedenen Sendern, habe aber immer schon nebenher ein eigenes Gewerbe gehabt, um Werbespotproduktionen zu machen oder um Veranstaltungen zu beschallen als DJ. Ich war da sehr flexibel, von Rock, Pop bis Oldies, und habe damit auch in den 90ern mein Studium mitfinanziert.

Bach: Du hast ja, seit Du angefangen hast, Radio zu machen, enorme technologische Entwicklungen erlebt.

Hohn: Ja. Ich habe ja noch ganz klassisch analog gearbeitet. Als DJ habe ich Wäschekörbe mit Schallplatten durch die Gegend geschleppt. Aber was in den 90ern in zehn CD-Koffern drin war, liegt jetzt auf einer Festplatte im Laptop. Beim Radio war’s eine ähnliche Entwicklung. Ich kenne noch Bänder, die geschnitten wurden, klassisch mit dieser Scherenfunktion auf den Bandmaschinen. Die Jingles für die verschiedenen Radiosendungen wurden von sogenannten Tarts gespielt, kleinen Kassetten, wo ein richtiges Band durchlief.

Irgendwann kam die digitale Aufzeichnung, das war damals eine sehr gute Möglichkeit, dann kam die Minidisk, die sich ja parallel zur CD entwickelt hat.

Bach: Das war schon digital, hatte nur wirtschaftlich keinen großen Erfolg.

Hohn: Leider, ein tolles System, und ich nutze es teilweise auch heute noch, denn das war für uns als blinde Radiomacher eine gute Möglichkeit, digital zu schneiden.

Es gab dann in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Computerprogramme und auch schon Schnittsysteme auf dem Computer. Da kam die MP3-Technik so langsam auf. Aber es war ja für uns alles noch nicht so richtig bedienbar. So 2001/2002 wurde der Computer dann auch für uns als blinde Nutzer im Audiobereich interessant, als Hilfsmittel wie JAWS und ähnliche Programme es so langsam möglich machten, Audio- und Schnittprogramme zu bedienen. Von daher war dieser Schritt der Digitalisierung über Minidisk und CD bis hin zur Festplatte die logische Konsequenz. Ich habe damals schon mal eine Sendung auf CD gebrannt.

Es war schon eine abenteuerliche Zeit, mit heute gar nicht mehr zu vergleichen. Aber es hat funktioniert. Und da war die Digitalisierung, muss ich sagen, für uns blinde Nutzer ein sehr großer Segen, ein großer Fortschritt.

Bach: Hast Du den Eindruck, überwiegend davon profitiert zu haben?

Hohn: Auf jeden Fall. Ich sag mal: Ohne die Digitalisierung, ohne die Entwicklung des Internets, ohne die Entwicklung der Datenleitungen mit der Geschwindigkeit, die heutzutage machbar ist, wäre ein Großteil meiner heutigen Arbeit gar nicht möglich. Wären wir noch da, wo wir vor 25 Jahren waren, wäre es nicht möglich, so große Datenmengen mit der Geschwindigkeit zu übertragen und vor allem auch, sich entsprechend mit dem Material so digital auseinanderzusetzen, zu schneiden, zu vertonen. Da würde ich schon sagen, dass ich und sicherlich auch viele andere blinde Leute – und generell alle, die diese Datenmengen von A nach B schaufeln – auf jeden Fall davon profitieren.

Bach: Was ist heute State of the Art, technisch und überhaupt? Du schaffst ja offenbar simultan Sendungen für fünf Sender.

Hohn: State of the Art ist natürlich in erster Linie die Verbindung nach außen. Das heißt: Da ich hier in meinem Studio Sendungen produziere, anbiete und streame, ist eine Übertragungsleitung, die gut funktioniert, so eine 100.000er DSL-Leitung, praktisch. Alles andere darunter ist zu viel Zeitaufwand. Außerdem braucht es voll digitale Produktionsabläufe, damit man dann wirklich auch das Produkt, was man abliefert, egal ob Moderation, Jingle, Werbespot oder sonst irgendwas, auch entsprechend als digitale Datei vorliegen hat. Entsprechende Schnittprogramme, die für uns Blinde nutzbar sind, wobei man da immer schon mal an Grenzen stößt. Da muss man sich dann auch ein bisschen zurechtfummeln oder mit Kollegen austauschen, die ein ähnliches Programm nutzen.

Das ist eigentlich so das A und O, dass man da ein bisschen netzwerken kann. Man schaut, wie der und jene das macht, was man vielleicht verändern kann, gibt es Skripte, die man für bestimmte Programme schreiben kann, und so weiter.

Bach: Wie sieht deines Erachtens die absehbare Zukunft in Deinem Bereich aus? Und wie weit traust Du Dir zu, sie abzusehen?

Hohn: Schwierig. Einerseits sind einige Sender dazu übergegangen, überhaupt keine Livesendungen mehr zu machen. Sie machen das sogenannte Voicetracking, d.h. Moderation entweder kurz vorher oder auch länger im Voraus aufzuzeichnen, gerade für die Sendungen in den Randzeiten, den Abendstunden oder auch am Wochenende. Die Sendesysteme sind in der Lage, das so zu bringen, dass der Hörer es gar nicht merkt. Moderation und Musik werden so miteinander verblendet, dass es wirklich so klingt, als ob jemand live im Studio wäre. Das hat natürlich den Nachteil: Wenn jetzt ein Hörer eine Mail schreibt, anruft oder sich am Programm beteiligen will, läuft das erstmal ins Leere. Wie weit dieser Trend sich fortsetzt, muss man schauen, das hängt auch von der Philosophie des entsprechenden Senders ab.

Ich kriege immer mehr mit, dass gerade der Mehrwert des Radios für die Leute ist, dass sie wirklich auch einen Ansprechpartner haben. Man darf sich nichts vormachen: Die Konkurrenz schläft nicht. Viele stellen sich über Spotify oder andere Dienste ihre Playlists zusammen und sagen: Warum soll ich noch Radio hören? Aber der Mehrwert des Radios ist eben der Moderator. Es ist eine Gratwanderung, die wir jetzt gerade durchschreiten.

Auf der anderen Seite kommt wieder mehr die Nachfrage nach Personality im Radio zum Tragen, nach Stimmen, die man gerne hört, nach Menschen, wo man sagt, wenn der sendet, schalte ich gerne ein. Diese Menschen nutzen Radio nicht nur als Begleitmedium, sondern suchen bestimmte Sendungen. Dieses Verlangen kommt seit einiger Zeit wieder stärker zurück. Man besinnt sich wieder mehr auf den Ursprung des Radios.

Bach: Und was zeichnet sich in Deinem, dem Medienbereich, hinsichtlich der Digitalisierungstechnik ab?

Hohn: Man denkt natürlich immer: Wenn man gerade etwas Neues angeschafft hat, der Computer sei so schnell, besser geht es eigentlich gar nicht mehr, das sei nun nicht mehr zu toppen. Ich weiß noch, als es hieß: Wir haben einen Walkman, später einen Discman, die sind ja schon so klein, kleiner geht’s nicht mehr. Jetzt sind wir 10–20 Jahre weiter. Die Technik wird immer kleiner und kann immer mehr. Wo ist das Ende der Fahnenstange erreicht? Das kann man schwer abschätzen. Die Entwickler werden sich immer noch mehr einfallen lassen.

Ich hoffe, dass der Moderator nicht abgelöst wird durch eine synthetische Sprache. Es ist schon in der Welt: Vom Bayerischen Rundfunk z.B. gibt es einen Verkehrskanal über Digitalradio und Internet, der nur noch mit synthetischer Sprache arbeitet. Er verbreitet Verkehrsinformationen. Im allgemeinen Programm würde meines Erachtens eine synthetische Stimme wohl vom Hörer abgelehnt.

Die Entwicklung ist also schwer abzuschätzen. Aber ich kann sagen, wenn ich mir so die letzten 20 Jahre anschaue, dass die Digitalisierung gerade für uns blinde Leute nicht nur im Radiobereich, sondern in vielen Bereichen positiv wirkt. Egal ob ich als Telefonist oder als Jurist arbeite, viel mehr Daten als früher sind für mich zugänglich. Unterm Strich, würde ich schon sagen, ist die Digitalisierung für uns schon ein Segen.

Bach: Bist du irgendwann oder irgendwo mal an Grenzen gestoßen?

Hohn: Na, natürlich gab es Situationen, wo ich ein Programm, das mir empfohlen worden war, installiert habe und dann feststellen musste, dass die Hälfte der Funktionen nicht angesagt oder vorgelesen werden. Auch ein Programm einer Hilfsmittelfirma enttäuschte bei dem, was ich brauchte.

Klar geht es nicht immer nur geradeaus, da muss man mal nach rechts oder links gucken und Alternativen finden. Es geht ja bei uns immer um die Anpassung und um die Möglichkeit, es mit den Screenreadern auch steuern zu können. Da sind wir immer noch eingeschränkt gegenüber den sehenden Kollegen. Ich habe aber auch das schöne Beispiel, dass ein Kunde die Arbeitsumgebung speziell für mich anpasst – Webumgebung, Interfaces im Dialog mit mir gestaltet. Ein schönes Beispiel von Geben und Nehmen im Prozess der Inklusion. Wir müssen da auch versuchen, so gut es geht Ideen einzubringen und Vorschläge zu machen.

Bach: Was würdest Du jemandem empfehlen, wenn sie oder er den Weg wie Du nehmen wollte?

Hohn: Wichtig ist, auch für sich selber zu erkennen, dass man sich gut ausdrücken kann, nicht unbedingt alles ablesen muss, sondern auch mal drei Sätze geradeaus sprechen kann. Eine gute Stimme ist im Radio auch wichtig. Die kann man auch ein stückweit schulen, zum Beispiel durch Sprecherziehung, das habe ich auch ein paar Jahre lang gemacht. Man sollte computeraffin sein und offen in alle Richtungen, offen auf Menschen zugehen und neugierig sein. Ich mache auch Reportagen ohne Auftrag, weil mich das interessiert. Und man braucht ein bisschen Glück, dass man irgendwo den Fuß in die Tür bekommt. Das sind die Dinge, die ich dem- oder derjenigen mitgeben würde, die versuchen wollen, diesen Weg zu gehen. Man muss auch viel selbst ausprobieren, Learning by Doing.

Ich habe auch keine klassische Ausbildung gemacht als Moderator, sondern mir das alles selbst erarbeitet, auch kein Volontariat. Piratensender, Praktikum und weiter, das war eigentlich die beste Schule.

Bach: Ralf, herzlichen Dank für all die vielen differenzierten Auskünfte.

Hohn: Bitteschön, gern geschehen.

 

Das viel umfangreichere und sehr lebendige Interview finden Sie als Audiodatei unter https://dvbs-online.de/index.php/aktuelles_2/schwerpunkte/interview-audiodienstleister

Den Mitschnitt eines Berichts von Ralf Hohn, den er im Rahmen des Stammtischtreffens der DVBS-Bezirksgruppe Hessen am 15. Februar 2019 in Marburg gehalten hat, finden Sie ebenfalls dort.

Foto: „Radio hat mir immer schon sehr viel bedeutet.“ - Ralf Hohn in seinem Studio. Foto: Privat. [Ralf Hohn sitzt an einem schmalen Schreibtisch, die Regale vor und hinter ihm sind mit audiotechnischen Geräten gefüllt. Er trägt Kopfhörer, ein Mikrofon hängt von der Decke. Seine Finger gleiten über Punktschriftpapier.]

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Beruf, Bildung und Wissenschaft

Prof. Dr. Bernhard A. Sabel

Ursachen von Sehbehinderung jenseits der Augen

Einleitung

Bisher gilt das Dogma: „blind bleibt blind“, da Sehverluste durch Augenerkrankungen der Netzhaut oder des Sehnervs als irreversibel gelten, ohne Chance auf eine Erholung.

Seit über 30 Jahren erforsche ich zusammen mit meinem Team die Frage, ob dieses Dogma wirklich in Stein gemeißelt bleiben muss oder ob es doch Mittel und Wege gibt, die Sehleistung zu verbessern. Unsere Forschungsergebnisse sowie die von anderen Wissenschaftlern zeigen, dass zwar keine komplette Normalisierung der Sehfähigkeit möglich ist. Wohl können aber zum Teil erhebliche Verbesserungen erreicht werden mit neuartigen Verfahren wie etwa Sehtraining oder der Behandlung mit schwachen Wechselströmen. Noch stehen wir am Anfang eines Paradigmenwechsels und die Erfolge sind bisher immer noch recht variable, da nicht alle Patienten auf die Therapie gleich gut ansprechen. Aber das pessimistische Dogma „für immer blind“ beginnt zu bröckeln.

In diesem Beitrag möchte ich diese völlig neue optimistischere Perspektive vorstellen und diskutieren, wie wichtig Faktoren „jenseits des Auges“ sind, um das Sehen zu optimieren und ein bisher nicht bekanntes Erholungspotential entfalten zu können. Da ist mehr Licht am Ende des Tunnels.

Holistische Betrachtungsweise

Klassische Augenleiden sind nicht nur eine Angelegenheit der Augen, sondern müssen vielmehr im Sinne einer „Systembetrachtung“ im Kontext anderer Körperfunktionen analysiert – und entsprechend behandelt - werden. Da sowohl das Gehirn als auch der kardiovaskuläre Zustand (Durchblutung) eine entscheidende Rolle bei normalem Sehen und bei der Entstehung von Sehverlusten spielt, müssen wir bei der Suche nach neuen Behandlungsmöglichkeiten auch andere Organsysteme berücksichtigen, vor allem das Gehirn und das Herz/Blutgefäß-System.

Gehirn und Sehbehinderung

Das Sehen ist ein komplexer Vorgang, der zunächst eine gut funktionierende Optik der Cornea und der Linse erfordert, die die Lichtstrahlen auf die Netzhaut fokussieren. Dort werden sie sodann in elektrische Nervenimpulse verwandelt und über die Sehnerven ins Gehirn geleitet. Erst dort werden diese Signale inhaltlich analysiert und interpretiert, und es entsteht ein subjektives Seherlebnis nach einem komplexen Prozess der Informationsverarbeitung.

Wie bedeutungsvoll das Gehirn für normales Sehen ist, lässt sich schon aus der Tatsache ableiten, dass das Gewicht des Nervenzellgewebes im Auge nur ca. 1 Gramm beträgt, wohingegen das Sehsystem im Gehirn mehrere hundert Gramm Nervengewebe benötigt, um die vielen Teilfunktionen der Seherfahrung (Interpretation und Bewusstsein) und der visuell gesteuerten Funktionen (sensomotorische Koordination) zu steuern, in einer wahrlich komplexen Choreographie aktiver Nervenzellen und deren Netzwerkverbindungen.

Betrachten wir z. B. die Verarbeitung eines punktförmigen Lichtblitzes, wie er etwa bei der Vermessung des Gesichtsfeldes in der Arztpraxis zur Anwendung kommt. Selbst eine so simple Aufgabe ist gehirntechnisch recht kompliziert.

Der Patient hat zwar eine scheinbar einfache Aufgabe: immer dann eine Taste zu drücken, wenn ein Punkt im Test aufblitzt. Aber hierfür sind viele Verarbeitungsschritte im Gehirn erforderlich, die einen Unterschied machen können, ob der Patient den Punkt erwischt oder nicht: zur sensorischen Aufnahme des Reizes bedarf es zunächst der Umwandlung von Lichtwellen in elektrische Nervenimpulse in den Sinneszellen der Netzhaut, die über den Sehnerv die Sehimpulse Richtung Gehirn schickt. Dazu braucht es genügend überlebende Nervenzellen, damit das Signal im Gehirn überhaupt in hinreichender Stärke ankommt. Ab dort wird es dann komplizierter, denn das Gehirn hat die formidable Aufgabe der Weiterverarbeitung und Interpretation der Sehimpulse. Daran ist ein ganzes Orchester von Teilfunktionen beteiligt, damit die besagte Taste auch gedrückt wird. Dazu gehört zunächst, dass der Patient die Aufgabe überhaupt versteht („Wissen und Minimum an Intelligenz“), die Vigilanz („hinreichend wach“), die Motivation („ich will den Test mitmachen“), die Aufmerksamkeit („aufgepasst! Drücke nur, wenn der Punkt kommt“), das Abrufen von visuellen Gedächtnisinhalten („ein Punkt ist ein rundes Objekt“), und die inhaltliche Interpretation („ist es mein Zielpunkt?“). Gleichzeitig müssen sich die Augen stabil auf den „Fixationspunkt“ im Zentrum des Testgerätes richten („Augen nicht bewegen“), und es bedarf des richtigen Befehls an das Motorikzentrum im Gehirn für die Koordination der Handhaltung („Schalter festhalten“) und der Ausführung einer Daumenbewegung („Taste jetzt drücken“).

Für jede dieser Teilfunktionen hat das Gehirn neuronale Schaltkreise, die - ähnlich den Instrumenten in einem großen Symphonieorchester - zeitlich und räumlich exakt koordiniert bzw. synchronisiert werden müssen, und zwar in einem Zeitfenster von weniger als einer halben Sekunde (200-500 ms). Ist an irgendeiner Stelle dieses komplexen Vorgangs von Hirnnetzwerken ein Problem (Aktivität oder Synchronisation zu gering), drückt der Patient den Knopf nicht oder zu spät. Dies kann an einer „Sehschädigung“ liegen, aber es gibt auch andere Gründe, etwa eine Aufmerksamkeitsablenkung, Müdigkeit, mangelndes Interesse an dem Test oder Angst vor dem Ergebnis. Ergo: die falsche Reaktion kann – muss aber nicht immer – durch eine organische Schädigung mit Verlust von Nervenzellen in der Netzhaut bedingt sein (z. B. durch Glaukom oder Sehnervschädigung).

Ein weiterer, bisher wenig beachteter Aspekt der Beteiligung des Gehirns an Sehschäden ist der emotionale Zustand. Denn Menschen mit langanhaltendem Stress, etwa durch Lebensumstände (finanzieller Druck, Arbeitsbelastung, Erkrankungen/Tod von Partnern), Perfektionismus oder Sorgenfokus, überfluten ihre Blutgefäßsysteme dauerhaft mit Stresshormonen (Adrenalin, Cortisol, Endothelin), was zu pathologischen Veränderungen der Blutgefäßwände führen kann.

Zum Autor

Zu den Forschungsschwerpunkten Prof. Dr. Ph.D. Bernhard A. Sabels gehören neuropsychologische und neurobiologische Fragestellungen zur Plastizität des Gehirns und zur Restitution visueller Funktionen. Er beschäftigt sich mit Behandlungsmöglichkeiten bei Sehbehinderungen durch Aktivierung und Rehabilitation von Restsehleistungen sowie mit der Diagnose und Behandlung von Sehdefekten bei Schlaganfall- und Glaukompatienten, u. a. durch nicht-invasive Wechselstromstimulation. Der Psychologe leitet das Institut für Medizinische Psychologie an der Universität Magdeburg.

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Klaus Rohrschneider

Entwicklung der Häufigkeit von Blindheit im 20. Jahrhundert (Teil 2)

Fortsetzung der Serie „Blindheit in Deutschland“ aus horus 1/2019

Nicht nur die Definition, was unter Blindheit zu verstehen sei, erweist sich als historisch variabel, vielmehr wandelte sich im Zeitverlauf auch der jeweilige Prozentsatz von Menschen, die innerhalb einer Gesellschaft als blind diagnostiziert wurden. So zeigte sich von 1900 bis 2000 ein fast stetiger Anstieg der Zahl blinder Menschen von fünf auf 19 je 10.000 Einwohner. Aus der 1925/26 erfolgten, das gesamte Deutsche Reich umfassenden, Reichsgebrechlichenzählung stammen die ersten umfassenden Angaben zur Anzahl blinder Menschen in Deutschland[1]. Wilhelm Feilchenfeld teilt hierzu mit, dass im Rahmen umfassender Untersuchungen alle Personen mit einer Sehschärfe von weniger als Fingerzählen in einem Meter Abstand gerechnet wurden.[2] Auf diese Weise wurden 33.192 Blinde erfasst, das entspricht 5,3 je 10.000 Einwohner. Vor dem Zweiten Weltkrieg ist die Anzahl auf 36.000 angestiegen, angesichts einer gleichzeitigen Zunahme der Einwohnerzahl in Deutschland um 26 Prozent vor allem durch Hinzurechnung von Sudetenland und Memelland bedeutet dies nur noch einen Anteil von 4,5 je 10.000.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, Mitte 1946, ging Strehl dann wiederum von zusätzlichen 7.000 Kriegsblinden aus, so dass sich bei gleichzeitigem Rückgang der Einwohnerzahlen auf das Niveau von 1933 nunmehr ein Anteil von 6,6 Blinden je 10.000 Einwohner ergab.[3] Wilhelm Rohrschneider gab 1962 die Anzahl der Blinden in der Bundesrepublik wiederum mit etwa 30.000 Zivilblinden an, wozu nochmals 7.000 Kriegsblinde hinzuzurechnen seien. Mangels Quellenangabe ist zu vermuten, dass er hierbei jedoch unverändert auf das o.g. Zahlenmaterial von Strehl zugegriffen hat, und damit eine Inzidenz von 7,4 je 10.000 Einwohner berechnete.[4]  Er weist auch auf die deutlich höhere Prävalenz blinder Menschen in Großbritannien und den USA mit 19 bzw. 20 je 10.000 Einwohnern hin und erklärt diese mit einer intensiveren Erfassung sowie der dort üblichen Blindheitsdefinition, die deutlich weiter gefasst ist als in Deutschland. 1978 fand Hammers in einer Untersuchung der Zivilblinden des Rheinlandes anhand der Blindengeldempfänger eine Prävalenz von 10.502 Personen bei einer Einwohnerzahl von 9.110.904.[5] Dies ergibt 11,5 blinde Menschen je 10.000 Einwohner. Für die DDR liegen hingegen lediglich für 1980 Daten vor, es wurden dabei 32.500 Blinde registriert, die eine Sehschärfe von maximal 1/25 hatten, dies ergibt eine Prävalenz von 19 je 10.000 Einwohner. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass die der Erhebung zugrundeliegende Definition von Blindheit nicht mit der in der Bundesrepublik geltenden übereinstimmte und deshalb eine höhere Prävalenz erklären kann.[6]

Für 1983 wurden im Gebiet der Bundesrepublik 80.000 Blinde nach den gesetzlichen Vorgaben (BSHG) geschätzt, das entspricht 12,9 je 10.000 Einwohner. Die nächste Schätzung des DBSV aus dem Jahre 1996 geht bereits von 155.000 Blinden aus, damit war der Anteil nunmehr auf 18,9 je 10.000 Einwohner gestiegen. Vergleicht man die vorliegenden Zahlen aus der Schwerbehindertenstatistik, so ergibt sich für denselben Zeitraum lediglich ein Anstieg von 52.783 auf 73.866, mithin um 40 Prozent. Daher ist durchaus denkbar, dass die Annahme von 80.000 blinden Menschen für 1983 zu niedrig ist. Dafür sprechen auch aktuellere Untersuchungen, die aus Datenmaterial der WHO mit Studien in Dänemark, Finnland, Island, Irland, Italien, Niederlande und Großbritannien den Anteil blinder Menschen für das Jahr 2002 mit 0,2 Prozent oder 164.000 Personen in Deutschland errechnen.[7] Allerdings ist Blindheit auch hier entsprechend der WHO-Stufe 3, das heißt mit einer Sehschärfe von maximal 0,05 definiert worden.

Für die Zeit nach der Wiedervereinigung existieren für das Bundesgebiet abermals nur Schätzungen zur Blindheitshäufigkeit, die ihrerseits auf Statistiken verschiedener Bundesländer, den Zahlen des statistischen Bundesamtes anhand der Schwerbehindertenstatistik und Angaben zur Anzahl der Blindengeldempfänger beruhen. Dabei geben die Zahlen der Schwerbehindertenstatistik grundsätzlich eher niedrige Prävalenzen an. Nach diesen Erhebungen lebten 2003 im Bundesgebiet insgesamt 81.027 als schwerbehindert Anerkannte mit der schwerwiegendsten Schädigung Blindheit. Im Jahre 2004 bezogen nach Angaben der Stadt Hamburg in Deutschland insgesamt 128.065 Menschen Blindengeld. Da zusätzlich eine gewisse Dunkelziffer anzunehmen ist, und Kriegsblinde hier nicht erfasst sind, ging der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) in seinem Internetauftritt im Jahre 2005 von 145.000 blinden Menschen in Deutschland aus.[8] Insgesamt ist in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von einer umfassenden Erfassung der blinden Menschen auszugehen. Die Prävalenz hat sich seitdem auch nicht mehr wesentlich geändert.

Veränderung der Blindheitsursachen

Neben Veränderungen der Anzahl der (erfassten) blinden Menschen haben sich auch die Ursachen für Erblindung in dem beobachteten Zeitraum erheblich verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der größte Teil von Blindheit betroffener Menschen bereits seit Geburt blind oder spätestens im Schulalter erblindet. Daher ist durch die umfassende Dokumentation der Blindheitsursachen in Blindenschulen eine recht sichere Aussage zu den zugrundeliegenden Erkrankungen möglich. Viele Augenerkrankungen waren zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch meist Folge von Entzündungen, vor allem des vorderen Augenabschnittes. So war allein die Neugeborenenblennorrhoe, eine eitrige Bindehautentzündung, die zu einer Eintrübung der Hornhaut führt, für etwa 20 Prozent der Erblindungen verantwortlich. Die Einführung der Crede’schen Prophylaxe, die Gabe eines Tropfens Silbernitratlösung in den Bindehautsack, führte dann zu einem weitgehenden Verschwinden dieser Erkrankung. Daneben stellte das Trachom, eine bakterielle Augenerkrankung (ägyptische Körnerkrankheit), noch bis 1926 besonders in Ostpreußen eine gefürchtete zur Erblindung führende Erkrankung dar, die es heute in Europa nicht mehr gibt.[9]

Im Zusammenhang mit der Reichsgebrechlichenzählung sind die Erhebungen von 1926 wohl die genauesten im gesamten Jahrhundert. Hier konnte bei 57 Prozent der 33.192 blinden Menschen die Erblindungsursache anhand der Krankenakte überprüft werden, bei 23.148 oder 70 Prozent lag ein aktueller augenärztlicher Befund vor.[10] Dennoch wurden insbesondere altersabhängige Erkrankungen lediglich global unter Arteriosklerose und Altersveränderungen zusammengefasst und hatten einen Anteil von lediglich 8,2 Prozent (Abb. 1). Angesichts des relativ geringen Anteils von unter 25 Prozent an Personen über 60 Jahren ist dies verständlich (Abb. 2). Demgegenüber waren verschiedene entzündliche Erkrankungen die erheblich führende Ursache gefolgt von Augenverletzungen in 21,3 Prozent.

Eine gewisse Sonderstellung nimmt der Grüne Star, das Glaukom, ein. Hierbei handelt es sich prinzipiell um eine Erkrankung des höheren Lebensalters, heutzutage sind lediglich ein Prozent der Patienten jünger als zehn Jahre. Aufgrund der fehlenden operativen Möglichkeiten war die Diagnose eines angeborenen Glaukoms um 1900 nahezu gleichbedeutend mit einer Erblindung. Daher waren zu dieser Zeit etwa zehn Prozent der Betroffenen durch ein Glaukom erblindet. Bereits 1925 hatte der Anteil auf 15 Prozent zugenommen, bis zur Mitte des Jahrhunderts stieg er sogar auf knapp 20 Prozent. Seitdem ist der Anteil wieder rückläufig und betrug bereits 1968 nur noch 14,8 Prozent und lag zum Ende des Jahrhunderts fast unverändert bei 15 Prozent.[11] Diese Abnahme ist den zunehmenden Behandlungsmöglichkeiten geschuldet, einerseits den seit den 1970er Jahren eingeführten Operationen unter dem Mikroskop, andererseits den in den letzten Dekaden des Jahrhunderts zunehmenden medikamentösen Behandlungsoptionen.

Die Folgen von Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) auf das Sehvermögen spiegeln auf andere Weise den medizinischen Fortschritt wider. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die diabetischen Augenveränderungen im Sinne einer diabetischen Retinopathie bis hin zu schweren globalen Durchblutungsstörungen des Auges quasi unbekannt, da eine Behandlung des Diabetes nicht existierte und die Patienten vor Entwicklung von Augensymptomen verstarben. Noch in den 1950er Jahren wurde dies lediglich von Georg Pietruschka in 1,4 Prozent als Ursache einer Erblindung genannt.[12] Parallel zu einem steilen Anstieg auch des Altersdiabetes als Folge unserer Wohlstandsgesellschaft nahm die Inzidenz diabetischer Erblindungen seitdem stark zu und ist inzwischen die deutlich häufigste Ursache während des Berufslebens. Mittlerweile sind insgesamt etwa 15 Prozent aller Erblindungen in Deutschland Folge einer Zuckerkrankheit.

Auch die altersabhängige Makuladegeneration (AMD) spielte zu Beginn des letzten Jahrhunderts keine wesentliche Rolle. Dies ist sicher überwiegend auf die geringere Lebenserwartung zurückzuführen. Zur Mitte des Jahrhunderts ist sie für etwa 5 Prozent der Erblindungen verantwortlich, zwischen 1960 und 1970 bereits für 12 Prozent, nach anderen Quellen sogar für 30 Prozent. Makabe und Hellwig berichteten 1988 anhand des Patientenkollektivs der Frankfurter Universitäts-Augenklinik über Patienten im Zeitraum von 1972 und 1986. Diese Studie verdeutlichte, dass die Makuladegeneration in den meisten Fällen nicht zu einer so schwerwiegenden Funktionseinbuße führt, dass (gesetzliche) Blindheit resultiert. So litten unter den Patienten mit einer Sehschärfe von maximal 0,02 nur 7,3 Prozent an AMD, während der Anteil unter den Patienten mit einer Sehschärfe bis 0,1 bereits 20 Prozent betrug.[13] Dies erklärt auch, weshalb zahlreiche Studien zu Blindheitsursachen zum Ende des 20. Jahrhunderts und danach einen deutlich höheren Anteil der AMD als frühere Untersuchungen finden, hier wird die Grenze der Erblindung meist mit 0,05, teilweise gar mit 0,1 angegeben. Eine solche Funktionseinbuße tritt deutlich häufiger ein als eine Reduktion der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger. Im Rahmen einer Auswertung der Erblindungsursachen in Baden zwischen 1980 und 1999 anhand von Anträgen auf Blindenhilfe zeigte sich daher ein etwas geringerer Anteil für Makuladegeneration, während vor allem der Grüne Star (Glaukom) und die Folgen des Diabetes zur Blindheit führten.

Der dritte und letzte Teil der Reihe folgt in horus 3/2019.

Abb. 1: Blindheitsursachen der Reichsgebrechlichenzählung 1925/26 in Prozent. (Quelle: O.A., Statistik des Deutschen Reichs … Gebrechlichen.)[14]  [Verletzung (ca. 21), Glaukom (ca. 15), erbl. Erkr. (ca. 9), altersabh. Erkr. (ca. 8), Tuberkulose (ca. 7), Myopie (ca. 5), Blennorrhoe (ca. 4,5), Trachom (ca. 1)]

Abb. 2: Alter bei Erblindung zum Zeitpunkt der Reichsgebrechlichenzählung, getrennt für Männer und Frauen. (Quelle: O.A., Statistik des Deutschen Reichs … Gebrechlichen.)[15]  

Foto: Regelmäßige Untersuchungen beim Augenarzt unterstützen die Früherkennung von Augenerkrankungen. Foto: Pixabay

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100 Jahre horus

Jochen Schäfer

Die ersten 100 Jahre - eine historische horus-Revue in vier Teilen

Teil 4 (letzter Teil): Der technische Fortschritt

Wir sind bei unserem Rückblick auf ein Jahrhundert nun in unserer Zeit angelangt, in der die Digitalisierung Einzug hielt. Da wir davon ausgehen können, dass die Ereignisse ab 2000 noch vielen geläufig sind, werden wir auf die 1990er Jahre ausführlicher eingehen, die folgenden Jahrzehnte werden kurz gestreift und es wird eher hinter die Kulissen geschaut.

1990: „Marburger Beiträge“ auf Diskette

Schon in den 80er Jahren machte sich die EDV immer mehr breit. Es ist u.a. Dr. Otto Hauck zu verdanken, dass auch in DVBS und blista die Technik immer mehr an Bedeutung gewann, da es ihm sehr wichtig war, blinden und sehbehinderten Menschen den Zugang zu modernen Hilfsmitteln zu ermöglichen. Auch auf unsere Zeitschrift sollte dies Auswirkung haben. Ab 1990 gab es die „Marburger Beiträge“ auch auf Diskette. Damit hatten die „Beiträge“ eine weitere Vorreiterrolle, denn digitale Textversionen folgten in den anderen Zeitschriften des Blindenwesens erst Jahre später.

Heft 1/1990 beginnt mit Vergangenheitsbewältigung in Form zweier Artikel: „Wer schützt uns vor der ‚Neuen Ethik‘?“ von Renate Faerber-Husemann und „Das Buch wird unkritisch nachgebetet“ von Brigitta Huhnke. Dazu bestanden gleich zwei Anlässe: Vom 02.-05.11.1989 fand das vom DVBS organisierte Seminar „Blinde unterm Hakenkreuz“ in Berlin-Wannsee statt (siehe dazu die Presseerklärung in MB 6 und horus 4/1989), außerdem wurde im Sommer 1989 der Auftritt des australischen Philosophen Peter Singer bei einem internationalen Symposium der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. zum Thema "Biotechnik – Ethik – Geistige Behinderung" in Marburg in letzter Minute verhindert. Singer sortierte lebenswertes und -unwertes Leben, vergleichbar mit Dr. Boeters aus Zwickau, der dies bereits rund 70 Jahre früher tat (siehe Teil 1 der Revue in horus 1/2018).

1990 war auch zum ersten Mal von Hörfilmen die Rede (siehe Brass: „Als die Bilder sprechen lernten“, MB 4 und horus 3/1990). Diese heute weit verbreitete Audiodeskription wurde ab 1993 immer populärer, zunächst beim Filmfest München (siehe Bethke in MB 5 und horus 4/1993) und dann am 14.10. auch im Fernsehen (ZDF) mit „Eine unheilige Liebe“ von Michael Verhoeven (siehe Dahesch: „Blinde sehen fern“ in MB 6/1993 und horus 1/1994).

1990 wurde die „SSG Blista Marburg“ 20 Jahre alt. Diese 1970 als „Versehrtensportgemeinschaft Blindenstudienanstalt (VSG)“ gegründete Vereinigung erhielt 1980 den noch heute gültigen Namen „Sehgeschädigten-Sportgemeinschaft Blindenstudienanstalt“ und wird nächstes Jahr 50! Man kann sagen, dass 1990 in den „Beiträgen“ ein heimliches Sportjahr war, denn schon in Heft 1 berichtete Michael Plarre über das 5. Internationale Torballturnier in Marburg am 30.09.1989 - „Knapp vorbei am Doppelsieg“, wo u.a. Oliver Nadig mitspielte, der heute Rehalehrer an der blista ist. In MB 4 und horus 3/1990 gab es gleich drei SSG-Artikel.

1990 wurde auch die DVBS-Fachgruppe „Medien“ gegründet, die lange Jahre von ihrem ersten und sehr aktiven Vorsitzenden Franz-Josef Hanke geleitet wurde (siehe seinen Bericht zur Gründung in MB 6 und horus 3/1990).

Öffnung, Annäherung, Wiedervereinigung

Am 09.11.1989 fiel die Berliner Mauer und die Grenzen der DDR zur BRD wurden geöffnet. Dieses Fundamentalereignis in Deutschland, auf das so viele gewartet haben, sollte sich maßgeblich auch auf das deutsche Blindenwesen auswirken:

Vom 11.-20.07.1990 fand in Boltenhagen der Internationale Kongress von Delegierten des Blindenwesens der Ostsee-Anrainerstaaten statt, veranstaltet vom Blinden- und Sehschwachen-Verband der DDR (BSV) und erstmals unter Beteiligung der BRD (siehe den Bericht von Rudi Leopold in MB 5 und horus 3/1990). Vom 12.-26.07.1990 fand das erste und einzige deutsch-deutsche Jugendtreffen in Inzell statt, diesmal gemeinsam veranstaltet von BSV und DBV (siehe den Bericht von Willi Gerike in MB 5 und horus 4/1990).

Es sollte eine der letzten Aktionen des BSV sein, denn dieser wurde Ende 1990 auf dem IX. Verbandskongress in Cottbus aufgelöst (siehe Jaedicke „Begräbnis oder Blick nach vorn?“ in MB/horus 1/1991). 1957 als „Allgemeiner Deutscher Blinden-Verband (ADBV)“ gegründet, umbenannt 1969 in „Deutscher Blinden- und Sehschwachen-Verband (DBSV)“ und erneut umbenannt in BSV der DDR 1973, war er der populäre Selbsthilfeverband des zweiten deutschen Staates, der sich für die Belange seiner Mitglieder einsetzte. Mehr dazu schrieb wiederum Dr. Martin Jaedicke als eines der langjährigen Vorstandsmitglieder in „Zur Geschichte des BSV“ (MB 4 und horus 2/1991). Nach der Auflösung bildeten sich fünf Landesverbände, die dem DBV angegliedert wurden. „Die Gegenwart“, so der alte Name des BSV-Organs, wurde ab 1993 die Zeitschrift des DBV in Gesamtdeutschland genannt (siehe Dr. Thomas Nicolai in MB 6 und horus 4/1992). Ab dieser Zeit gab es auch dort die Texte der Artikel auf Diskette.

Für einen „Blick nach vorn“ entschieden sich die blinden und sehbehinderten Berufstätigen der ehemaligen DDR, die schon Anfang 1990 regelrecht zum DVBS strömten. Dessen Vorsitzender Dr. Otto Hauck kümmerte sich zum einen um die Zukunft seiner juristischen Berufskolleginnen und -kollegen, damit diese im Gesetzeswerk der BRD mithalten konnten, einige waren sogar ihren sehenden Kollegen überlegen; siehe Uwe Boysen „Juristen aus der ehemaligen DDR berichteten über ihre Arbeit“ (MB/horus 1/1991). Zum anderen gab es noch zu DDR-Zeiten eine „Vorübergehende Sonderregelung“ (MB 3 und horus 2/1990), die den dortigen Mitgliedern Vergünstigungen einräumten. Mit der Wiedervereinigung am 03.10.1990 erhielten auch die blinden und sehbehinderten Ostdeutschen ein höheres Blindengeld als zu DDR-Zeiten, daher regte das DVBS-Vorstandsmitglied aus dem Osten an: „Inzwischen haben wir Blindengeld und es geht uns jetzt so gut, bitte streichen Sie die Vergünstigungen!“ - Eine Zusammenarbeit zwischen Ost und West, die unter den Blinden und Sehbehinderten besser funktioniert hat als unter den Sehenden, wie Dr. Hauck oft stolz berichtet.

1991 konnten alle gemeinsam das 75-jährige Jubiläum von DVBS und blista feiern. Dort gab es u.a. ein Referat von Prof. Dr. Werner Boldt, Dortmund „Fortschritt und Hinschritt“, in dem es um die Nutzung grafischer Oberflächen für blinde Computeranwender ging (siehe MB 6 und horus 4/1991).

Frauen mit Behinderung

Diesem zweifellos wichtigen und teilweise heiklen Thema nahmen sich die „Beiträge“ in den späten 80er und vor allem den 90er Jahren an. Zunächst gab es spezielle Frauenseminare, über die ab MB/horus 2/1988 regelmäßig berichtet wurde, dann gab es ab 1992 einige Artikel, die sich mit dieser Thematik befassten. Darin wurde die Brisanz deutlich, dass viele behinderte (auch blinde und sehbehinderte) Frauen in verschiedenen Bereichen diskriminiert werden. Die Titel sprechen für sich: „behinderte Frauen - doppelt benachteiligt?“ (Barbara Nolte in MB 6/1992 und horus 1/1993), „Vom erdrückenden Schweigen befreien - Behindert und in doppelter Hinsicht Verliererinnen“ (Dahesch in MB/horus 3/1993), „Geschlecht: behindert - Besonderes Merkmal: Frau“ (Andrea Schatz in MB/horus 1/1994, nach dem Titel einer Broschüre), „Lieber lebendig als normal!“ (Birgit Schopmans in MB 4 und horus 3/1995), um die wichtigsten zu nennen.

Weitere Schlaglichter der 90er

1994 trat Wolfgang Angermann als Geschäftsführer zurück, ihm folgte Andreas Bethke. Dr. Otto Hauck dankte Angermann in MB/horus 1/1995.

Ab 1995 gab es „Der Hörtip“, zunächst eingerahmt in „Bücher und Zeitschriften“, von 1997-2007 als eigene Rubrik, ab 2008 innerhalb der „Bücher“. Darin wurden neue Hörbücher des Aufsprachedienstes/Textservice des DVBS vorgestellt.

Über das Internet finden wir z. B. schon etwas in MB/horus 4/1994, und zwar in einem Überblick über die elektronischen Telekommunikationshilfsmittel von Richard Heuer gen. Hallmann „Bits und Bytes aus der Ferne“. 1995 berichtete Franz-Josef Hanke über die Nutzung von GPS für Blinde (siehe „Blinde von Satelliten gesteuert?“ in MB 6/1995 und horus 1/1996, wo übrigens auch das erste Mal vom „Handy“ die Rede ist); Dr. Rüdiger Leidner legte dann in MB/horus 2/1996 mit „Sie befinden sich nicht auf der Route!“ nach. Die zunehmende Technisierung betrachteten viele Blinde und Sehbehinderte mit Sorge, weil sie das Aus für traditionelle Büro- und Medienberufe befürchteten in Bezug auf die barrierefreie Nutzung. Ein Beispiel: „Der Arbeitsplatz ist tot - es lebe der Computer!“ (Peter Beck in MB/horus 1/1997). Wie wir heute wissen, barg die Technik Chancen, die man damals noch nicht erkennen konnte.

1997 wurde die noch heute existierende Rubrik „Aus dem Recht“ eingeführt. Ab 1998 erschienen in unregelmäßigen Abständen Sonderausgaben unter dem Titel „horus spezial“. 1998 wurde der Deutsche Blindenverband in „Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV)“ umbenannt (siehe Dr. Thomas Nicolai: „Neuer Name - neuer Präsident“ in MB 5 und horus 4/1998).

1999: „horus“ in allen Ausgaben

Genau 30 Jahre nachdem „horus“ in Schwarzschrift „erstmals urkundlich erwähnt“ wurde, zierte die einäugige Gestalt nun beide Versionen. Zunächst erschienen 1999 noch immer 6 Hefte in Punkt- und 4 in Schwarzschrift und es wurden 2 neue Rubriken („Ausbildung“ und „Internet“) eingeführt, ab 2000 6 Hefte pro Jahr in beiden Ausgaben, sodass nun alle dieselben Informationen bekamen, was von großem Vorteil war. Ab 2000 begann jede Ausgabe mit „Vorangestellt“, vergleichbar mit „Zum Geleit“ aus der Scholler-Ära, womit von 1969-72 jeder Punktschriftjahrgang sowie jede Schwarzschriftausgabe anfing. „Vorangestellt“ kommt heute abwechselnd von Uwe Boysen und Claus Duncker.

„horus aktuell“

Am 01.07.2003 wurde der elektronische Newsletter vom damaligen Pressesprecher Michael Herbst als „Eilkurier im Blindengeldkampf“ aus der Taufe gehoben. Bis heute liefert er vielseitige aktuelle Informationen. Zunächst als Gemeinschaftsproduktion der beiden Selbsthilfeverbände aufgelegt, wurde er seit 2004 offiziell von DVBS und blista herausgegeben und wird seit 2018 als DVBS-Mailingliste produziert.

Der Blindengeldkampf sollte aber bisher ungeahnte Dimensionen erlangen. 2005 wurde in Niedersachsen, 2006 in Thüringen das Blindengeld für einen Großteil der Empfangenden gestrichen! Diese unhaltbare Veränderung wich dem Druck des Volksbegehrens in Niedersachsen. 2006 wurde dort, ein Jahr später auch in Thüringen das Blindengeld wieder eingeführt. Es war zwar niedriger als vor der Streichung, inzwischen hat es in beiden Ländern aber sogar eine Erhöhung erfahren. In den gedruckten horus-Ausgaben finden wir genügend über diese schwierige Situation.

2004 verließ Andreas Bethke die Geschäftsstelle, Dr. Hauck dankte ihm in horus 2/2004. Die Geschäftsführung wurde daraufhin zunächst doppelt besetzt: Michael Richter wurde hauptamtlicher Geschäftsführer, verantwortlich für Rechtsfragen, sein direkter Stellvertreter wurde Michael Herbst, verantwortlich für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Dr. Hauck trat nicht mehr zur Wahl als Vorsitzender an und wurde zum Ehrenvorsitzenden ernannt. horus 4/2004 widmet diesem einschneidenden Ereignis einen Großteil der Ausgabe, die in Punktschrift sogar 3 Teile umfasst. Zu Haucks Nachfolger wurde Uwe Boysen gewählt, er selbst blieb bis 2011 Mitglied der horus-Redaktion.

2005 wurde „horus digital“ eingeführt, der die Text- und Audioversionen auf einer CD-ROM enthielt. Dadurch gab es keine Disketten- und Cassettenausgaben mehr. In den letzten Jahren wurde „horus digital“ durch den horus-Download ergänzt.

2007 trat blista-Direktor Jürgen Hertlein nach 29 Jahren Dienstzeit in den Ruhestand und schied damit gleichzeitig aus der horus-Redaktion aus. Vorstandsassistentin Marika Winkel, die seit 2002 dabei war, blieb bis 2015.

2008: „horus-Strukturreform“

In jenem Jahr wurde der Umfang der jährlichen Ausgaben von 6 auf 4 Hefte gesenkt. Auf Grund des zunehmenden Kostendrucks, insbesondere durch die Punktschriftproduktion, entschied man sich für diesen Schritt, der in der Leserschaft nicht unumstritten war, da man auf diese Weise nicht mehr so aktuell berichten konnte wie früher. Nach „Vorangestellt“ und „Aus der Redaktion“ (seit 2018) haben die horus-Hefte folgende Rubriken: Schwerpunkt, Bildung, Beruf und Wissenschaft (seit 2019 unter diesem erweiterten Namen), Recht, Barrierefreiheit und Mobilität, aus der Arbeit des DVBS, aus der blista, Bücher, Panorama. Die Schwerpunkte sind immer sehr lebendig gestaltet, außerdem gibt es seit 2012 die Reihe „Zeitenwende - vom Leben nach der blista“, in der ehemalige SchülerInnen über ihr Studium berichten. Seit 2018 umfassen die Punktschriftausgaben jeweils drei Teile, seit Ausgabe 1/2019 gibt es die oben genannte Rubrikreihenfolge - und ab 3/2019 keine horus-Rubrik mehr.

„Auf die nächsten 100 Jahre!“

Aus rund 100 Jahren horus-Geschichte habe ich die wesentlichsten Dinge ausgewählt, verteilt auf 6 Ausgaben, also den früheren Umfang eines Jahres. Am Ende möchte ich mich ganz herzlich beim Redaktionsteam für die Offenheit und Unterstützung bedanken.

Foto: DVBS-Vereinsvorsitzender Dr. Otto Hauck und sein Nachfolger Uwe Boysen bleiben auch in den Folgejahren im Gespräch. Foto: blista [Uwe Boysen und Dr. Hauck im Gespräch, beide tragen dunkle Anzüge.]

Foto: Schulleiter Dr. Matthias Weström (li hinten) und Direktor Jürgen Hertlein (re hinten) übergeben ihr Amt an Joachim Lembke (li vorne) und Claus Dunker (2. von rechts). [Offizielle Veranstaltung unter der Moderation von Thorsten Büchner (vorne links). Rechts eine junge Frau mit Blumenstrauß]

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Barrierefreiheit und Mobilität

Der Gehweg muss ein Weg zum Gehen bleiben! – Aktion zu Elektrokleinstfahrzeugen

"Elektrokleinstfahrzeuge" - klingt erst mal harmlos. Mit diesem Begriff werden beispielsweise elektrisch betriebene Tretroller bezeichnet. Laut Verkehrsplanern gehört ihnen die Zukunft, weil man sie in Bus und Bahn mitnehmen und dann im Anschluss nutzen kann, um die letzten Meter bis zum Ziel zurückzulegen. Mehrere Verleih-Unternehmen stehen schon in den Startlöchern.

Noch kommen sie aber nicht zum Zuge, denn der Einsatz dieser Fahrzeuge im Verkehr, wo und wie schnell man damit fahren darf, ist bisher nicht geregelt. Das soll sich nun ändern, das Bundesverkehrsministerium hat den Referentenentwurf (siehe unten) für eine entsprechende Verordnung veröffentlicht.

Und die hat es in sich: "Beim Lesen des Entwurfs muss man sich wirklich fragen, ob das Wort ,Gehweg' zukünftig noch seine Berechtigung haben wird", kommentiert DBSV-Geschäftsführer Andreas Bethke. Elektrokleinstfahrzeuge bis 12 km/h Höchstgeschwindigkeit sollen nämlich zukünftig auf Gehwegen - und nur dort - zugelassen sein. Einzige Voraussetzung, um sie zu fahren, ist ein Mindestalter von 12 Jahren, eine Schulung oder gar Prüfung der Fahrerinnen und Fahrer ist nicht vorgesehen. Und abstellen soll man die Geräte dann wo? Richtig - auf dem Gehweg.

"Der Gehweg muss ein Weg zum Gehen bleiben! Es kann nicht sein, dass der ohnehin schon knappe Platz zukünftig mit Teenagern, gestressten Berufstätigen und anderen Menschen geteilt werden muss, die dort mit dreifacher Schrittgeschwindigkeit unterwegs sind", stellt Bethke fest.

Eile ist geboten, denn der Bundesrat wird aller Voraussicht nach bereits Mitte Mai in dieser Frage entscheiden. Deshalb hat der DBSV seinen Landesverbänden einen Musterbrief an Landesverkehrsminister und Ministerpräsidenten zur Verfügung gestellt. Zudem sind gemeinsame Aktivitäten mit FUSS e. V., der Interessenvertretung der Fußgängerinnen und Fußgänger in Deutschland, dem Sozialverband VdK Deutschland e. V. und weiteren Verbänden geplant.

Im Detail: Was steht im Referentenentwurf der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung?

  1. Elektrokleinstfahrzeuge (eKF) sind elektrisch betriebene Fahrzeuge mit Lenker und ohne Sitz, die eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 6 bis 20 km/h haben, ein Maximalgewicht von 55 kg und bestimmte Maximalabmessungen nicht überschreiten. Die bekanntesten Fahrzeuge dieser Art sind E-Tretroller und die sogenannten "Segways".
  2. eKF sollen erstmalig verkehrsrechtlich zugelassen werden. Bis 12 km/h Höchstgeschwindigkeit sollen sie schon ab 12 Jahren gefahren werden können und nur auf Gehwegen zugelassen sein. Die Fahrzeuge mit einer Höchstgeschwindigkeit zwischen 12 bis 20 km/h können ab 14 Jahren gefahren werden und sollen Fahrrädern gleichgestellt werden. Diese eKF können aber in Einzelfällen oder durch das Anbringen von einem neu eingeführten Sonderzeichen auch auf Gehwegen und in Fußgängerzonen zugelassen werden.
  3. Die Erlaubnis zum Fahren dieser Fahrzeuge setzt keine Prüfung oder Schulung voraus.
  4. Es besteht eine Versicherungspflicht. Alle eKF müssen mit einer Versicherungsplakette versehen sein.
  5. Das Abstellen der eKF soll wie bei Fahrrädern auf Gehwegen geschehen.

Download des Referentenentwurfs (PDF, nicht barrierefrei) unter: www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/G/Gesetze-19/II-15-referentenentwurf-ekfv-enorm.html

Quelle: dbsv-direkt Nr. 21-19

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Benedikt van den Boom

Die Qual der Wahl

Zwischen dem 23. Mai und dem 26. Mai 2019 fanden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Blinde und sehbehinderte Wählerinnen und Wähler von Lissabon bis Helsinki, von Dublin bis Nikosia waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Sie alle erlebten aber ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie Wahlen barrierefrei gestaltet werden können.

45 Länder, ein Problem

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die inzwischen in ganz Europa gilt, stellt eine Sache unmissverständlich dar: Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe am politischen Leben, also auch an Wahlen. Aber Wahlen sind so, wie sie im Moment durchgeführt werden – als Markierung einer oder mehrerer präferierten Optionen auf einem Stimmzettel aus Papier – grundsätzlich nicht zugänglich für die meisten blinden und sehbehinderten Stimmberechtigten. Daher hat es sich die Europäische Blindenunion (EBU) zum Ziel gesetzt, diese Barrieren abzubauen. Seit über einem Jahr leitet der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) nun das daraus resultierende Projekt AVA („Accessible Voting Awareness-Raising“ – „Bewusstseinsbildung zu barrierefreien Wahlen“).

Als Kernstück des Projektes haben wir im November letzten Jahres einen umfangreichen Bericht über den Status Quo in Europa veröffentlicht. Dafür haben wir das Wahlrecht in 45 Ländern analysiert und eine Umfrage unter EBU-Mitgliedern durchgeführt. Einen besonderen Fokus haben wir dabei auf die Frage gelegt, welche Wahlmethoden für blinde und sehbehinderte Wählerinnen und Wähler besonders geeignet sind, und was die Staaten machen können, um diese Methoden bestmöglich auszugestalten. Auf Basis des Berichtes und einer kurzen Broschüre werden wir in den nächsten zwei Jahren mit einzelnen Ländern zusammenarbeiten, um dort konkrete Verbesserungen herbeizuführen.

Als wichtige Beobachtung stellt unser Bericht fest, dass es in allen Ländern Europas Barrieren für blinde und sehbehinderte Personen bei der Stimmabgabe gibt. In einigen Ländern wie beispielsweise Norwegen oder Island sind diese Barrieren niedriger, in anderen wie zum Beispiel Griechenland oder Armenien sind sie höher. Sie bestehen aber überall. Zudem stellt unser Bericht ein Missverhältnis zwischen den existierenden Wahlmethoden und den Methoden fest, welche sich Experten aus den EBU-Mitgliedsverbänden wünschen. Zum Beispiel bieten nur 14 Länder Wahlschablonen an, was 31% entspricht, aber 67% der Experten wünschen sich dieses Hilfsmittel. Noch stärker ist der Unterschied beim Elektronischen Wählen. In den verschiedenen Spielarten bieten es 4 Staaten an, was 9% entspricht, aber knapp 80% der Experten wünschen sich diese Möglichkeit.

Horrorgeschichten aus Europa

Um zu verstehen, woher dieses Interesse an alternativen Wahlmethoden kommt, ist es hilfreich, sich die existierenden Lösungsansätze in Europa genauer anzuschauen. Zunächst ist dort die Wahl mit Assistenz zu nennen. Sie wird praktisch in allen Ländern angeboten und dient damit gewissermaßen als Rückfalloption für die Frage, wie blinden und sehbehinderten Menschen ihre Stimmabgabe ermöglicht werden kann. Für einige Wählerinnen und Wähler mag diese Wahlmethode auch ihren Reiz haben, es ist aber festzuhalten, dass das Wahlgeheimnis bei Assistenzwahl qua System verletzt wird. Auch stellt sie keine vollkommen gleichberechtigte Wahl mit allen anderen Stimmberechtigten dar, da immer eine Assistenz zu organisieren ist.

Gerade bei letzter Frage gibt es viele fragwürdige Ansätze in Europa. In Irland muss die blinde oder sehbehinderte wählende Person einen im Wahlrecht vorformulierten Schwur ablegen, dass sie tatsächlich der Assistenz bedürftig ist, während die Assistenz befragt wird. Da diese Prozedur zeitaufwendig ist, kann blinden und sehbehinderten Personen in den letzten Stunden des Wahltags die Stimmabgabe verweigert werden. In Portugal muss jede Person ihren Assistenzbedarf mit einem aktuellen ärztlichen Attest belegen. Das geht soweit, dass am Wahltag Arztpraxen Notdienst haben, damit alle Bürgerinnen und Bürger wählen können. EBU-Experten bestätigen die Vermutung, dass diese Regelungen fehleranfällig sind und regelmäßig zur Verweigerung der Bürgerrechte blinder und sehbehinderter Personen führen.

Auch wird die UN-Behindertenrechtskonvention in vielen Ländern verletzt. In Zypern zum Beispiel muss die vorstehende Person der Wahlkommission im Wahllokal als Assistenz gewählt werden. In der Türkei soll bevorzugt ein Familienmitglied assistieren. In mehreren Ländern, zum Beispiel Großbritannien, darf jede Assistenz nur einmal assistieren, was gerade bei stationären Einrichtungen für blinde und sehbehinderte Menschen ein Problem darstellen kann. Artikel 29 der Konvention stellt aber klar fest, dass die Assistenz völlig frei wählbar sein muss. Diese Regel wird in der Minderheit der Staaten, unter anderem in der Schweiz oder in Ungarn, eingehalten.

Die Grenzen der Schablonen

Als Alternative zur Stimmabgabe mit Assistenz ist die Wahlschablone in Deutschland seit längerer Zeit fest etabliert. Grundsätzlich erlauben es Wahlschablonen blinden und sehbehinderten Menschen, ihre Stimmen geheim, unabhängig und gleichberechtigt mit allen anderen Stimmberechtigten abzugeben. Der Teufel liegt allerdings auch hier oftmals im Detail.

In Deutschland beispielsweise sind die Wahlschablonen für die Europawahl hervorragend geeignet, versagen aber regelmäßig bei Kommunalwahlen in Bundesländern mit kompliziertem Wahlrecht. Der Grund hierfür ist, dass die Stimmzettel förmlich Tischdeckengröße haben und Stimmen auf mehrere Kandidierende verteilt werden können. Auch andere Länder kennen diese Probleme. In der Slowakei gibt es bei jeder Wahl für jede Partei einen Stimmzettel in A5 Größe, auf dem bis zu 150 Kandidierende aufgeführt werden, was eine Schablone unmöglich macht. In Österreich können Namen vom Stimmzettel gestrichen oder handschriftlich hinzugefügt werden, was logischerweise nicht schablonenkompatibel ist.

Oft schaffen Schablonen aber auch unerwartete und skurrile Probleme. In Malta zum Beispiel wurden Schablonen eingesetzt, die nur in Braille, nicht aber in Großdruck-Relief beschriftet waren. Nachdem über 10 Jahre hinweg praktisch niemand diese Schablonen benutzt hatte, stellte man fest, dass es keine Braillelehrer auf Malta gibt. Als Konsequenz gibt es inzwischen in jedem Wahllokal eine Hörbeschreibung des Stimmzettels und der Schablone, ähnlich wie in Deutschland. Der Zeitplan ist ebenfalls ein Problem. In Dänemark steht der Stimmzettel erst eine Woche vor dem Wahltag fest, was für die Herstellung von Wahlschablonen nicht ausreicht. Aus Albanien wurde ein Fall gemeldet, in dem sogar 30 Tage Vorbereitung hierfür nicht ausgereicht haben. Auch aus Deutschland ist dieses Problem bekannt, da Deutschland das einzige Land in ganz Europa ist, welches auf ein einheitliches Format des Stimmzettels verzichtet, sodass Schablonen regelmäßig angepasst werden müssen oder sogar unbrauchbar werden.

Digitalisierung als Lösung?

Weitere Wahlmethoden, die in Europa genutzt werden, sind Briefwahl, flexible Wahltermine oder mobile Wahlurnen, die am Wahltag bei Personen mit eingeschränkter Mobilität zuhause vorbeigebracht werden. Grundsätzlich bewertet unser Bericht diese Ansätze positiv, da Wählerinnen und Wähler mit Sehbehinderung eine gute Beleuchtung einfacher in ihrem Wohnzimmer sicherstellen können, oder ältere blinde und sehbehinderte Personen mit weniger Stress in aller Ruhe ihre Stimme abgeben können. Aber diese Methoden sind nicht von sich aus barrierefrei, sondern hängen immer von Hilfsmitteln wie Wahlschablonen ab. Daher bleibt die Frage, wie Wahlen barrierefrei gestaltet werden können.

Unser Bericht schlägt elektronische Wahlen als das Mittel vor, um blinden und sehbehinderten Menschen eine geheime, gleiche und eigenständige Stimmabgabe zu ermöglichen. Von zwei europäischen Ländern kann man dabei lernen. In Belgien wird seit Jahren mit Wahlmaschinen gewählt. Diese Maschine druckt einen Beleg aus, der anschließend zur Zählung gescannt und danach zur Dokumentation aufgehoben wird. Es findet dabei im Regelfall keine Übertragung der Stimmübergabe auf Servern statt. In Belgien sind dabei mehrere Wahlmaschinen im Einsatz, die meisten leider nicht barrierefrei. Das neueste Modell, welches auch bei der Europawahl eingesetzt werden wird, verfügt allerdings über ein sprachgesteuertes Menü, eine Audioschnittstelle und eine integrierte Braillezeile sowie Vergrößerungs- und Kontrasteinstellungen. Noch einen Schritt weiter geht Estland, wo Bürgerinnen und Bürger seit 2007 im Internet wählen können, aber natürlich auch ganz normal mit papiernen Stimmzetteln am Wahltag. Nach Angaben des dortigen Blindenverbandes ist die Internetseite, über welche die Stimmabgabe stattfindet, barrierefrei zugänglich. Nur bei Nutzung des MacOS in einem Browser gibt es noch kleinere Probleme, die aber vom Barrierefreiheitsbeauftragten der Wahlkommission angegangen werden. Diese Rückmeldung zeigt, dass die Probleme in Estland kleiner zu sein scheinen als die grundsätzlichen Herausforderungen in vielen anderen Ländern.

In Deutschland steht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes dem elektronischen Wählen im Weg. Europaweit wird befürchtet, dass die elektronische Stimmabgabe, sei es an Maschinen oder im Internet, von ausländischen Hackern angegriffen werden kann. Unser Bericht zeigt aber ganz deutlich das Potential der digitalisierten Wahl für blinde und sehbehinderte Menschen. Kumulieren und Panaschieren, das Streichen und Hinzufügen von Kandidierenden, die Auswahl aus 150 Namen oder die Auswahl des richtigen Stimmzettels – all dies ist leichter am Bildschirm und setzt weder Braillekenntnisse noch einen wohlgesonnenen Wahlvorstand voraus. Daher spricht sich die EBU dafür aus, existierende Lösungen aufzugreifen, notwendige Sicherheitsstandards zu entwickeln und die Digitalisierung der Stimmabgabe in ganz Europa voranzutreiben.

Über den Autor

Benedikt van den Boom ist seit 2018 Referent für Internationale Arbeit des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) in Berlin. Für die Europäische Blindenunion (EBU) betreut er das dreijährige Projekt „Accessible Voting Awareness-Raising“. Mehr Informationen zu dem Projekt, einschließlich einer deutschen Teilübersetzung des Berichtes, sind der Internetseite des DBSV zu entnehmen: www.dbsv.org/ava.html

Foto: Die Wähler entscheiden darüber, wer im Europaparlament - hier das Gebäude in Straßburg - arbeitet. Foto: Europäisches Parlament [Flaggen vor dem Gebäude des Europaparlaments in Straßburg]

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Berichte und Schilderungen

Kerstin Peters

Blind Sight - mein FSJ in einer Kita

08:00 Uhr morgens: Der Gruppenraum füllt sich allmählich mit Leben. Ein Kind tippt mich mit dem Finger an und führt mich zu einem Stuhl am Maltisch. "Hier, kannst ja mal eine Sonne malen wie ich", sagt es und legt ein Blatt Papier vor mich auf den Tisch. Ich taste nach den Stiftedosen, greife ziellos einen Stift heraus und male eine Sonne auf das Blatt. "Na, gefällt sie Dir?", frage ich das Kind, als ich fertig bin. Dieses lacht: "Hey, Kerstin, Deine Sonne ist ja grün!"

Nein, diese Begebenheit stammt nicht aus irgendeinem Buch oder Film, sondern ist für mich Alltag - denn ich bin seit meiner Geburt blind. Ich heiße Kerstin, bin 17 Jahre alt, habe letztes Jahr meinen Realschulabschluss gemacht und beginne im September dieses Jahres eine Ausbildung zur Verwaltungswirtin. Das Freiwillige Soziale Jahr in einer Kita ist quasi die Zwischenstation zwischen Schule und Beruf. Ich hatte einfach keine Lust mehr, immer am Schreibtisch zu sitzen, brauchte mal etwas Praktisches, worin ich mich entfalten kann, Blindheit hin oder her - und deshalb sitze ich nun am Maltisch und male eine grüne Sonne.

Den ehrlichen Kommentar des Kindes nehme ich mit Humor, schließlich sind solche Situationen für mich vollkommen normal. Ich bin inzwischen dabei, die Stifte zu spitzen, da steht die Sprachfachkraft neben mir: "Ich möchte mit einem Kind ein Bilderbuch anschauen. Kannst Du mir dabei helfen?" Klar kann ich das! Ich verfolge aufmerksam den Dialog zwischen Sprachfachkraft und Kind und notiere mit meiner Braillezeile alles, was das Kind sagt. Beim späteren Durchlesen der Aussagen werde ich bereits eine erste Sprachanalyse durchführen, Auffälligkeiten notieren, das Ganze für die Sprachfachkraft ausdrucken und es mit ihr besprechen, denn Sprache ist etwas Wunderbares, das für mich nicht nur gut erfassbar, sondern auch unumgänglich ist. Ein Kind muss mir alles genau beschreiben, wenn es mir ein Bild zeigen möchte, mir akustisch antworten, wenn ich es rufe und mir auf die Frage "Was machst Du?" eine ehrliche und klare Auskunft geben - Gestik und Mimik bringt mir hier gar nichts.

Etwas später gehen alle nach draußen. "Kerstin, spielen wir Verstecken?", ruft ein Kind. "Na klar!", erwidere ich und beginne sogleich zu zählen. Meistens finde ich die Kinder ziemlich schnell, denn die Verstecke sind vielleicht nicht einseh-, aber durchaus einhörbar, und ja, der Hof ist groß, aber hat man erstmal in ruhigen Momenten einen Streifzug unternommen, muss man nicht sehen können, um sich auch ohne Blindenstock sicher zu bewegen. Auch in den Räumlichkeiten habe ich die Wege von Anfang an ohne dieses wichtige Orientierungsmittel geübt. Dass das Gebäude relativ klein ist und es nicht zu viele verschiedene Räume gibt, kam mir dabei sehr zugute und sorgte dafür, dass ich kein gezieltes Orientierungstraining brauchte. Zum einen wurde ich in der Anfangsphase von A nach B geführt und ging die Wege dadurch immer wieder, aber vor allem nutzte ich ruhige Phasen am frühen Morgen oder am späten Nachmittag, um mir systematisch und in meinem Tempo alles nach und nach anzueignen. Im Laufe der Zeit lernte ich, die verschiedenen Räume zu erkennen, sei es am Geruch, an bestimmten Orientierungspunkten oder an der Akustik. Durch Erkundungstouren innerhalb der Räume konnte ich mir zudem ein Bild von den Möbeln und Gegenständen in dem jeweiligen Raum machen und dessen Aufbau immer mehr verstehen. Im Hof gibt es zwar keine verschiedenen Räumlichkeiten, aber Orientierungspunkte gibt es trotzdem - die, wie die Erfahrung zeigt, teilweise hervorragend als Versteck geeignet sind, wenn die Kinder suchen müssen ...

Für die Ruhezeit nach dem Mittagessen habe ich heute ein etwas anderes Bilderbuch dabei: Alle Bilder sind tastbar, und Bildbeschreibungen sowie der Buchtext sind in Blindenschrift gedruckt. Die Kinder lieben das. Sie hören aufmerksam zu - und tasten auch beim zehnten Kontakt mit solchen Büchern noch fasziniert über die Punkte und die taktilen Bilder.

Soziale Interaktion, Sprache: Ich entdecke meine Beobachtungsgabe

Die restliche Zeit sitze ich völlig unscheinbar im Raum herum. Nach außen hin wirkt es, als würde ich nichts tun, doch tatsächlich kriege ich sehr viel mit - keine visuellen Dinge, keine Bilder, keine Außenwirkung, keinen Blickkontakt, aber dafür umso mehr die soziale Interaktion, die Sprache - und die Musik. Ich beobachte, dokumentiere und tausche mich mit meinen Kolleginnen darüber aus. Manchmal bekomme ich auch explizite Beobachtungsaufträge, denen ich in diesen Phasen dann nachgehe.

Meine Lieblingsaktivität ist die "Musikzeit". Dabei lade ich eine kleine Gruppe von etwa vier Kindern in den Nebenraum des Gruppenraums ein, um mit ihnen gemeinsam meiner Leidenschaft nachzugehen: Ein musikalisches Spiel, die Arbeit mit Instrumenten, gemeinsames Musikhören, die Verknüpfung von Musik und Bewegung, Versuche gezielter Sprachförderung durch Musik oder auch einfach eine gemeinsame Singrunde - das Arbeitsfeld ist grenzenlos und vor allem unabhängig von der Sehkraft. In den kleinen Gruppen kann ich gut auf jedes Kind eingehen, gleichzeitig behalte ich noch den Überblick, denn in der großen Gruppe von 15 oder 20 Kindern bin ich mitunter ziemlich chancenlos: Visuelles bleibt mir verborgen und die Lautstärke ist zu groß, um jedes Kind im Fokus zu haben. Manchmal ist die Situation auch einfach nicht blind zu verfolgen, ganz nach dem Motto: Ich höre, das Dreirad fährt - aber hält sich das Kind darauf auch fest?

Solche Erfahrungen frustrieren, denn schließlich möchte ich bestmöglich unterstützen. Die Erkenntnis, selbst manchmal Hilfe zu brauchen und bei manchen Arbeiten deutlich langsamer als eine sehende Person zu sein, machen es mir nicht unbedingt leicht. Andererseits habe ich meine Beobachtungsgabe für manche Dinge und das Arbeitsfeld Sprachförderung erst im Laufe der Zeit entdeckt. Das FSJ ist deshalb vor allem eine wichtige Zeit für mich selbst: Sehende sammeln Erfahrungen im Umgang mit anderen (und ich auch), aber vor allem werde ich dazu angehalten, mich intensiv mit mir selbst auseinanderzusetzen, meine Einschränkung besser und richtig einschätzen zu lernen und angemessen und souverän damit umzugehen.

Kinder sagen und fragen alles ohne Hemmungen

Nicht zuletzt ist das auch im Hinblick auf die Kinder wichtig. Auch sie müssen lernen, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen, und auch sie haben Gedanken, die Erwachsene als Vorurteile bezeichnen: Die freche Aussage in einer Wartesituation "Dann hörst Du ja überhaupt nicht, wenn es mir zu langweilig wird und ich weggehe" musste erst durch eine kleine Verfolgungsjagd durch den Gruppenraum entkräftet werden. Auch nutzen manche Kinder meine Blindheit aus, indem sie Dinge, die ich gerade suche, gezielt verstecken oder mir, wenn sie dadurch z.B. mit weniger Ärger davonkommen, relevante und visuell wahrnehmbare Dinge verschweigen. Andererseits ist es toll, wie einige Kinder mich gezielt ansprechen oder antippen, um mit mir Kontakt aufzunehmen, mir beim Aufräumen oder Zusammensuchen von Sachen helfen, mich führen, Bilder durch Nachfahren mit der Schere fühlbar machen und viel beschreiben.

Das Schöne bei Kindern ist, dass sie so ehrlich sind und alles sagen und fragen, wodurch Fragen zu meiner Blindheit ohne Hemmungen gestellt und auch beantwortet werden - bei Erwachsenen ist das leider oft anders. Doch auch in dieser Hinsicht habe ich riesiges Glück mit meiner FSJ-Stelle gehabt. Es melden sich immer wieder Blinde bei mir, die nicht wissen, wo sie eine Einsatzstelle finden sollen. Tatsächlich sind viele Arbeitgeber, obwohl sich alles im sozialen Bereich abspielt, sehr skeptisch bei der Einstellung einer seheingeschränkten Person. Bei dieser Kita jedoch war das überhaupt nicht so: Ausnahmslos alle Mitarbeiterinnen sind mir gegenüber sehr offen und aufgeschlossen, waren von Anfang an hilfsbereit und gaben und geben mir dadurch das Gefühl, dass meine Blindheit eine Eigenschaft, wie Sehende auch ihre Schwächen, Stärken und Charakterzüge haben, ist. Diese Einstellung, einer blinden Person die Möglichkeit eines FSJ einzuräumen und die Blindheit nicht als "behindert" abzustempeln, ist absolut nicht selbstverständlich. Umso mehr weiß ich das zu schätzen und merke, wie viel ein souveräner Umgang und eine gute Aufklärung bezüglich seines Handicaps ausmacht: Was ich nicht kann, kann ein anderer, dafür kann ich was anderes.

Zusammengefasst ist eine Blinde in der Kita für alle Neuland und tatsächlich weichen meine Aufgaben durchaus von den Aufgaben der sehenden Freiwilligen ab, doch auch wenn das ein oder andere vielleicht mit Herausforderungen verbunden ist oder man einsehen muss, dass manches eben einfach nicht wie bei Sehenden funktioniert, ergeben sich doch immer wieder Chancen für alle Seiten - und deshalb bedeutet soziales Engagement für mich nicht nur die Arbeit mit Kindern, sondern eine Zusammenarbeit, in der eine Behinderung keine Behinderung darstellt.

Foto: Gelb, blau, grün - alle Farben sind willkommen. Foto: Pixabay [Die rechte Kinderhand malt mit einem dicken gelben Stift, die andere mit dem blauen Stift auf Papier.]

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Aus der Arbeit des DVBS

Juliane Taubner, Sabine Hahn

Erfolgreiche Fachtagung trotz Sturmtief und Karneval: „Teilhabe im Job - vor Reha, vor Rente“ als wichtige Forderung der Selbsthilfe bekräftigt

Nein, Katerstimmung dürfte am „Tag danach“ bei keinem der rund 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgekommen sein. Denn die DVBS-Fachtagung „Teilhabe im Job – vor Reha, vor Rente“, die am 4. und 5. März 2019 - am Rosenmontag und Faschingsdienstag - in Kassel stattgefunden hatte, machte deutlich, wie förderlich und unbedingt nötig Vernetzung und Informationsaustausch sind, damit schwerbehinderte Menschen durch Weiterbildung auf dem Arbeitsmarkt bestehen können. Vor allem aber: Wie viel angesichts von Digitalisierung und Arbeit 4.0 noch zu tun ist, damit Vorbehalte, Vorurteile und Hürden bei Entscheidern in Arbeitsagenturen, Jobcentern und Rentenversicherungen sowie bei Arbeitgebern schwinden, um schwerbehinderte Beschäftigte bei beruflichen Problemen nicht automatisch in Reha oder Rente zu drängen.

Einige Hindernisse hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits beim Check-In am Montag gegen 15 Uhr überwunden: Sturmtief „Bennet“ fegte über das Land und nötigte Anreisenden verstärkt Geduld und manchen Umweg ab - vertraute Aspekte für diejenigen, die in ihrer täglichen Arbeit nach gangbaren Wegen und Strategien suchen. Wer als Vertreterin oder Vertreter eines Integrationsamts oder Sozialleistungsträgers, als Schwerbehindertenvertreter oder IT- und Hilfsmittelspezialist, als Engagierter der Selbsthilfe, als Beratender oder als Betroffener den Weg zur Tagung gefunden hatte, wurde ab Montagnachmittag durch lebhafte Fachgespräche, gegenseitige Unterstützung und neue Anregungen belohnt.

Jan Miede, Geschäftsführer der Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, hielt das Eingangsstatement mit der Forderung: „Arbeit vor Rente, Reha vor Rente!“. Er berichtete über innovative Beratungs- und Förderverfahren seiner Organisation. Anschließend moderierte Uwe Boysen souverän die Podiumsdiskussion zur Frage „Sind die Leistungsträger noch up to date?“. Betont wurden noch einmal die Erfolgsfaktoren für berufliche Teilhabe in unserer heutigen Zeit: Rechtzeitige berufliche Weiterbildung und Kompetenzentwicklung.

Nach dem Abendessen ab 20 Uhr und dem informellen Beisammensein war mancher froh, sich bereits vorab zur Übernachtung in der Nähe des Tagungshauses, dem Anthroposophischen Zentrum in Kassel, entschieden zu haben.

Vortragende gaben Impulse

Der Dienstagvormittag war für die Arbeitsmarktforscherin Dr. Christa Larsen und den Anwalt Dr. Michael Richter reserviert. Dr. Christa Larsen, Geschäftsführerin des Instituts für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (http://www.iwak-frankfurt.de/), stellte die Ergebnisse einer Studie unter dem Titel „Wirtschaft digital: Herausforderungen für die Weiterbildung“ vor. Sie beschrieb Schlüsselkompetenzen, die es Beschäftigten erleichtern, am digitalen Wandel teilzunehmen. Hierzu gehören Eigenverantwortung, Lernbereitschaft, Kooperationsfähigkeit und fachübergreifende Kenntnisse. Vor allem kleine und kleinste Weiterbildungsanbieter können, wenn sie selbst nicht digitalisiert sind, in den meisten Fällen entsprechende Kompetenzen nicht weitergeben und keine Anschlussmöglichkeiten schaffen, so gab Dr. Larsen später auch im Beitrag des Deutschlandfunks vom 6.3.2019 in der Sendung „Campus und Karriere“ zu bedenken.

Dr. Michael Richter, Geschäftsführer der Rechte behinderter Menschen rbm gGmbH, berichtete über die Ergebnisse seines sozialrechtlichen Kurzgutachtens zur Finanzierungssituation von Fort- und Weiterbildungsangeboten insbesondere für blinde und sehbehinderte Menschen. Dr. Richter betonte, dass der Zeitpunkt für Diskussionen und Änderungen jetzt günstig sei, da seit Januar das neue „Qualifizierungschancengesetz“ gilt und ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts über Leistungen der begleitenden Hilfen im Arbeitsleben nach § 185 SGB IX Rückenwind gibt. „Die gesetzliche Basis ist vorhanden! Doch die Umsetzung bedarf viel guten Willens“, so Dr. Richter. Er plädierte dafür, die Bundesagentur für Arbeit, aber auch Renten- und Unfallversicherungen aufzufordern, Förderempfehlungen für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu erlassen, um Entscheider für die besonderen Bedarfe schwerbehinderter, vor allem blinder und sehbehinderter Menschen, zu sensibilisieren. Außerdem sollte bei der Fort- und Weiterbildungsförderung der Einsatz von Einkommen und Vermögen von Menschen mit einer Behinderung gestrichen und allenfalls durch eine Eigenbeteiligung ersetzt werden.

Ein großer Schritt vorwärts wäre eine Gesetzesänderung, die die Aufgaben des Integrationsamtes gem. § 185 SGB IX erweitert, damit Anbieter von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für die barrierefreie Gestaltung Förderungen durch das Integrationsamt erhalten könnten. (Das Kurzgutachten wurde von Dr. Richter zusammen mit der Rechtsassessorin Renata Kohn verfasst und ist online zugänglich unter https://weiterbildung.dvbs-online.de/infothek/broschüren.html, die Printversion ist in der DVBS-Geschäftsstelle erhältlich.)

Nach dem Mittagessen stellten zunächst die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DVBS-Projekts „inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren“ (iBoB) ihre Arbeit und die Plattform für barrierefreie Weiterbildungsangebote vor (https://weiterbildung.dvbs-online.de). Das Projektteam leistet nun im dritten Jahr viel Aufklärungsarbeit, damit Anbieter von Bildungsmaßnahmen die Scheu vor der barrierefreien Gestaltung ihrer Angebote verlieren, denn das Thema ist in der Weiterbildungs- und E-Learning-Branche doch relativ neu. Außerdem unterstützt das Team durch konkrete Weiterbildungsberatung und Mentoringangebote auch blinde und sehbehinderte Erwerbstätige.

Diskussionen führten zu einer Resolution

Ab 13:30 Uhr beschäftigten sich die Tagungsteilnehmenden in fünf parallelen Workshops mit der Frage: „Was muss verbessert werden, um blinden und sehbehinderten Erwerbstätigen durch präventive und zielführende berufliche Weiterbildung die erfolgreiche Teilhabe am Wandel zur Arbeit 4.0 zu sichern?“ Die Ergebnisse flossen in das Abschlussplenum ab 15:30 Uhr ein. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nutzten das Plenum, um Forderungen für eine gemeinsame Resolution zu sammeln, die sich an Politik, Sozialleistungsträger und Integrationsämter richtet (siehe Folgebeitrag).

Zentrale Forderung ist, dass die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen bei der Ausgestaltung der Förderpraxis der zuständigen Stellen wie Arbeitsagentur, Rentenversicherung und Integrationsamt stärker als bisher einbezogen werden sollen. Verfahren und Entscheidungskriterien müssen sich an den Interessen schwerbehinderter Erwerbstätiger orientieren, damit die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im Kontext von Arbeit 4.0 gelingt.

Fazit

Die Diskussionen zwischen Leistungsträgern, Betroffenen, Interessenvertretungen und Beratenden verdeutlichten den enormen Gesprächs- und Handlungsbedarf. Sie zeigten aber auch, dass die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Gruppen an einer Verbesserung der Situation interessiert und zu einem Austausch bereit sind.

Wind und Wetter hatten sich wieder gemäßigt, als die Fachtagung am Dienstag gegen 16:30 Uhr zu Ende ging. Die Arbeit am Thema wird weitergehen, so ist sich der Initiator der Fachtagung, iBoB-Projektleiter Klaus Winger, sicher. Wie bewertet er im Nachhinein die Veranstaltung? „Positiv fand ich besonders, dass es uns gelungen ist, alle für unser Thema wichtigen Akteure zusammen und ins Gespräch zu bekommen“, so Winger. „Wir freuen uns, wenn nun unsere Anliegen in die Institutionen getragen und dort diskutiert werden. Das ist ein prima Einstieg in Gespräche über konkrete Verbesserungen, die jetzt folgen werden.“

Und DVBS-Geschäftsführerin Marianne Preis-Dewey ergänzt: „Ein herzliches Dankeschön an alle, die die Tagung ermöglicht haben. Es konnten wichtige Impulse gegeben werden, die eine positive Veränderung herbeiführen können, wenn alle Beteiligten - Weiterbildungsanbieter, Sozialleistungsträger und Selbsthilfe - weiter im Gespräch bleiben und an Lösungen arbeiten.“ Sie fügt hinzu: „Wir werden uns auch weiter dafür einsetzen, dass blinde und sehbehinderte Menschen ihren beruflichen Werdegang selbstbestimmt gestalten und beruflichen Erfolg erzielen können.“

Ein Trost für alle, die nicht zur Tagung kommen konnten: Die Tagung wurde aufgezeichnet, ein Video wird online gestellt. Zusätzlich ist eine Tagungsdokumentation geplant, die in der Reihe „horus spezial“ erscheinen wird.

Foto: Blick auf das Podium während der Tagung. Foto: DVBS

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Teilhabechancen erwerbstätiger Menschen mit Behinderungen verbessern

Resolution zum Abschluss der DVBS-Fachtagung „Teilhabe im Job - vor Reha, vor Rente“

(4.-5. März 2019, Kassel)

Der aktuelle Wandel in der Arbeitswelt wird getrieben durch rasante Digitalisierungsentwicklungen. Um nicht abgehängt zu werden, müssen alle Erwerbstätigen erhebliche Veränderungs- und Qualifizierungsanforderungen erfüllen. Auch blinde und sehbehinderte Erwerbstätige wollen und müssen an diesen Entwicklungen erfolgreich teilhaben. Sie stehen vor besonders großen Herausforderungen, nicht zuletzt bei beruflicher Weiterbildung und -entwicklung.

Erwerbstätige mit Behinderungen erleben Veränderungen im Arbeitsumfeld als Mehrfachherausforderung. Sie müssen sich mit der digitalen Innovation auseinandersetzen und ihre Hilfsmittel und Arbeitsroutinen den neuen organisatorischen und technischen Herausforderungen anpassen. Und sie müssen ihre räumliche Mobilität, aber auch ihr Kooperations- und Kommunikationsverhalten neu justieren. Deshalb müssen sie zum einen - wie alle anderen auch - die Nutzung der digitalen Innovationen erlernen. Aber sie müssen sich zum anderen auch für die effektive Nutzung der neuen oder angepassten Hilfsmitteltechnologie sowie die effiziente Leistungserbringung in einer veränderten räumlichen und sozialen Umgebung qualifizieren. Diese Mehrfachherausforderung gilt nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen, sondern in jeweiligen behinderungs- und krankheitsspezifischen Varianten für alle Erwerbstätigen mit Behinderungen.

Vorbehalte bei Arbeitgebern, aber auch Hürden auf Seiten der Sozialleistungsträger und der Integrationsämter, beeinträchtigen - insbesondere auch durch die zersplitterten Zuständigkeiten - nach wie vor die beruflichen Teilhabechancen der Beschäftigten mit Behinderungen in der modernen, immer stärker digitalisierten Arbeitswelt.

Deshalb erwarten wir zur Verbesserung der beruflichen Teilhabechancen aller erwerbstätigen Menschen mit Behinderung von Arbeitgebern, den zuständigen Rehabilitationsträgern und Integrationsämtern:

  1. Erwerbstätige mit Behinderung werden präventiv, rechtzeitig vor Einführung neuer Technologien und Arbeitsabläufe über erwartbare Veränderungen informiert und durch spezifische, barrierefreie und inklusive Weiterbildungsangebote auf solche Veränderungen vorbereitet.
  2. Rehabilitationsträger und Integrationsämter tragen durch ihre Fördermöglichkeiten dazu bei, dass die Wettbewerbsfähigkeit behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt gestärkt wird und nicht nur die Arbeitsplatzsicherung im Zentrum steht.
  3. Arbeitgeber, zuständige Rehabilitationsträger und Integrationsämter fördern neben dem Erwerb von erforderlichen fachlichen Fertigkeiten auch die Weiterbildung in den allgemeinen und behinderungsspezifischen Kompetenzen, die das Teilhabeverhalten von Beschäftigten mit Behinderung stärken (Soft Skills / Digitalkompetenzen).
  4. Die Rehabilitationsträger befähigen ihre zuständigen Mitarbeiter*innen durch entsprechende Weiterbildung und systematisches Wissensmanagement dazu, die speziellen Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung im digital getriebenen Umbruch zu kennen und bestmöglich zu fördern.
  5. Die Rehabilitationsträger wandeln sich zu Akteuren, die nicht mehr leistungs-, sondern bedarfsorientiert beraten und fördern. Sie praktizieren insbesondere in der Förderung von schwerbehinderten Menschen ein trägerübergreifendes Case-Management.
  6. Die Bundesagentur für Arbeit nimmt ihre aus dem Qualifizierungschancengesetz erwachsenen neuen Beratungs- und Förderaufgaben im Blick auf deren Umsetzung für Beschäftigte mit Behinderung an und baut sie aus. Im Rahmen eines Aktionsplans werden die BA-Mitarbeiter*innen entsprechend qualifiziert. Dies gilt analog für die anderen Träger der Rehabilitation. Betriebliche Multiplikatoren wie Schwerbehindertenvertretungen,  Inklusionsbeauftragte und Personalverantwortliche werden von der BA über die neuen Fördermöglichkeiten informiert. Die arbeitsweltbezogene Fachkompetenz von Behindertenselbsthilfeorganisationen wird  in die Beratungsprozesse einbezogen.
  7. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) entwickelt ihre aus 2013 stammenden Empfehlungen für Hilfen zur Teilnahme an Maßnahmen zur Erhaltung und Erweiterung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne des Qualifizierungschancengesetzes des Bundes weiter. Dabei nutzt sie auch den Sachverstand der Behindertenselbsthilfeorganisationen. Dazu wird eine entsprechende Struktur geschaffen.
  8. Die Rehabilitationsträger stellen in ihren Anerkennungsverfahren für förderfähige Weiterbildungsleistungen sicher, dass diese für Menschen mit Behinderungen barrierefrei nutzbar sind und inklusiv angeboten werden.
  9. Damit Beschäftigte mit Behinderungen erfolgreich am digitalen Wandel in der Arbeitswelt teilhaben können, setzen Arbeitgeber und Rehabilitationsträger sowie Integrationsämter auch berufs- und tätigkeitsbezogenes Peer-to-Peer-Counseling als förderbare Weiterbildungsleistung ein.
  10. In das Kündigungsschutzverfahren von schwerbehinderten Arbeitnehmer*innen wird aufgenommen: Vor der Zustimmung durch das Integrationsamt muss auch die Frage beantwortet werden, ob hinreichend versucht wurde, den schwerbehinderten Menschen zu qualifizieren.

Der DVBS macht sich diese Erwartungen der Teilnehmenden an seiner Fachtagung „Teilhabe im Job – vor Reha, vor Rente“ am 4. und 5. März 2019 zu eigen. Er wird entsprechende Gespräche mit den Rehaleistungsträgern und Integrationsämtern aufnehmen.

Marburg, den 12. April 2019

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Miriam Witt

Start der ersten Infoveranstaltung über Musikerberufe der Fachgruppe Musik

Vom 1. bis 3. März 2019 führte die Fachgruppe Musik das erste Infoseminar zum Thema „Musikerberufe“ im Stephansstift Hannover durch.

Michael Kuhlmann, der dort als Kirchenmusiker tätig ist, war mit dem Haus gut vertraut und konnte uns dort alles Nötige genau zeigen. Stefan Albertshauser und Gabriele Firsching hatten die Planung mit unterstützt, und Angela Estner war uns während des ganzen Seminars bei aller Art von Fragen behilflich.

Während der Workshops konnten sich Schüler und junge Erwachsene bei vier sehbehinderten und blinden Referenten über die Berufe des Klavierstimmers, des Kirchenmusikers, des Audioengineers sowie die Perspektiven des Musiklehrers und des freischaffenden Künstlers informieren. Außerdem wurde das bbs Nürnberg mit seinen Ausbildungsmöglichkeiten zum Kirchenmusiker bzw. zum Chor- und Ensembleleiter vorgestellt. Aber auch für die wenigen Teilnehmer unter uns, die schon eine Berufsausbildung abgeschlossen hatten, bot diese Veranstaltung eine schöne Möglichkeit zum Austausch und zum geselligen Miteinander.

Nachdem wir am Freitag eingecheckt hatten, gab es eine intensive Führung durchs Haus oder besser: übers Gelände, denn alles war ein wenig weitläufig, so dass man zwischen Speiseraum, Zimmertrakt und Tagungsraum auf alle Fälle immer eine Prise Sauerstoff tanken konnte.

Nach dem Abendessen und der Vorstellungsrunde gab uns Alexandra Schlotterer eine Einführung zum Kirchenmusikerberuf. Sie betonte, dass die gute Zusammenarbeit mit Gemeinde und Pfarrei ein wichtiger Gesichtspunkt sei. Wer sich also für diesen Beruf entscheidet, sollte demnach auch ein wenig gesellig sein.

Schließlich hatten einige Teilnehmer die Gelegenheit, den Umgang mit dem Taktstock am Beispiel eines Kanons kennenzulernen. So wurde "Froh zu sein bedarf es wenig" dirigiert und gesungen.

Samstags ging es dann weiter mit dem Beruf des Klavierstimmers. Martin Rembeck gab uns die Möglichkeit zur Praxis: Man durfte mit seiner Hilfe eine Saite des Flügels dort stimmen. Er verwies darauf, dass es keine Schande sei und sogar authentischer wirke, wenn man für Kunden im Fall von technischen Problemen bei Kollegen Rat hole, wichtig sei ja am Schluss, dass der Kunde zufrieden sei und der Auftrag gut erledigt werde.

Weiter ging es mit Martin Weigerts Vortrag über Musiklehrer und freischaffende Künstler. Freischaffende Künstler müssten mit viel Fingerspitzengefühl und Geduld vorgehen und buchhalterisch alles genau planen, denn bei den Veranstaltern sei auf Absprachen leider nicht immer Verlass, erfuhren wir.

Als Musiklehrer bevorzugt Martin Weigert Einzel- oder Privatunterricht und nimmt von großen Schulklassen Abstand, um alles genau im Blick zu behalten.

Joy Bausch schließlich stellte zwei Möglichkeiten vor, eine Ausbildung als Audioengineer zu absolvieren. Leider spielte die Technik an diesem Nachmittag nicht recht mit, so dass Praxisbeispiele nicht möglich waren, aber an einem kleinen Modell-Mischpult konnte man ein wenig abschätzen, ob man mit dieser Vielzahl an Reglern in der Realität wohl zurechtkäme.

Die Podiumsdiskussion befasste sich mit Begriffen wie Musikalität: Wie wird dieser Begriff von Eltern verstanden und angewendet, was bedeutet Improvisation? Martin Rembeck gab ein kurzes Beispiel, wie man Schülern Regeln für Improvisation an die Hand geben kann, die sie dann selbst auf andere Patterns übertragen können.

Der Gottesdienst am Sonntag wurde durch Orgelmusik einer Teilnehmerin eingerahmt und durch ein an den Vorabenden einstudiertes Chorlied sowie ein Vortragslied bereichert.

Anschließend gab es einen Info-Vortrag zum bbs Nürnberg von Thomas Pracht mit Hinweis auf die Orientierungstage im Mai. Die musikalische Ausbildung im bbs Nürnberg hat verschiedene Schwerpunkte und dauert zwei Jahre. Man kann aber auch ein Berufsvorbereitungsjahr "dazu buchen", in dem Notenschriftkenntnisse, Fähigkeiten in Gesang oder Instrumentalunterricht vermittelt werden. Ein drittes künstlerisches Jahr zur Vorbereitung auf eine Hochschule ist ebenfalls möglich. Betont wurde, dass die Ausbildungsleiter gerne hilfreich zur Seite stehen, man aber selbst auch genau überlegen muss, welcher Hilfebedarf nötig ist. Weitere Informationen gibt es unter www.bbs-nuernberg.de.

Foto: Gar nicht so einfach, die vielen Flügelsaiten zu stimmen! Foto: Pixabay [Blick in das Innere eines Konzertflügels]

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Marianne Preis-Dewey

Die ersten 100 Tage …

Liebe Leserinnen und Leser,

in der Politik ist es ja häufig so, dass neuen Amtsinhabern eine 100-Tage-Frist zugestanden wird, um sich einzuarbeiten und erste Erfolge vorzuweisen. Die ersten 100 Tage sind also noch so etwas wie eine Schonfrist, aber danach wird’s ernst: Dann werden die Aktivitäten, Äußerungen und Pläne des neuen Amtsinhabers genau unter die Lupe genommen und bewertet.

Ich bin zwar keine Politikerin, aber auch ich bin mittlerweile mehr als 100 Tage im Amt und möchte Ihnen nun kurz berichten, womit ich mich in den ersten gut fünf Monaten meiner Tätigkeit als neue Geschäftsführerin beim DVBS beschäftigt habe.

Bis Ende Oktober letzten Jahres gehörte ich ja selbst noch zu den ehrenamtlich Aktiven des Vereins und kannte dadurch schon das eine oder andere Mitglied aus dem Bezirk Hessen, aber auch aus anderen Bundesländern durch meine Mitarbeit im Leitungsteam der FG Selbständige. Die Struktur des Vereins zu kennen, hat mir den Einstieg erleichtert, aber natürlich gibt es auch noch genug zu lernen. Ich habe immer geahnt, dass „hinter den Kulissen“ – also in der Geschäftsstelle – noch viel mehr passiert, als man von außen wahrnimmt. Und so ist es auch. Zurzeit mache ich mir einige Gedanken darüber, wie man die Mitglieder noch besser darüber informieren kann, was in der Geschäftsstelle alles „läuft“.

Erste Einblicke in die Arbeit einiger Bezirks- und Fachgruppen konnte ich im Rahmen mehrerer Seminare gewinnen, bei denen ich bereits vorbeischauen oder mitwirken durfte. Der Austausch dort sowie allgemein mit den Gruppenleitungen und -mitgliedern ist mir sehr wichtig.

Auch außerhalb des Vereins konnte ich bereits den einen oder anderen Kontakt knüpfen und mich einigen wichtigen Kooperationspartnern vorstellen. Ich möchte mich dafür einsetzen, die Zusammenarbeit mit den Stellen und Organisationen, die für unsere bestehenden und potenziellen Mitglieder wichtig sind, zu intensivieren.

Und um nochmal auf die Politik zurückzukommen: Der DVBS leistet hinter den Kulissen sehr viel politische Arbeit und vertritt die Interessen seiner Mitglieder auf vielfältige Weise. Aktuell begleiten wir zahlreiche Gesetzgebungsverfahren, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Novellierung der verschiedenen Landes-Behindertengleichstellungsgesetze (BGG) oder der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung (BITV) sowie andere wichtige Gesetze. Fast wöchentlich erreichen uns in der Geschäftsstelle Aufforderungen zur Abgabe einer Stellungnahme, Teilnahme an einer Anhörung o.ä. Und das wird so weitergehen. Diese wichtige Arbeit ist ohne den unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz einer Handvoll engagierter Juristen und juristisch interessierter Mitglieder gar nicht machbar. Ihnen bin ich zutiefst dankbar!

Welches Fazit ziehe ich nach den ersten gut fünf Monaten als Geschäftsführerin?
Der DVBS verfügt über eine immense Expertise und leistet unverzichtbare Arbeit in den Bereichen Bildung und berufliche Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen. Es gibt auch weiterhin viel zu tun, und ich freue mich darauf, die vielfältigen Herausforderungen gemeinsam mit den Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle, dem Vorstand und natürlich den ehrenamtlich aktiven Mitgliedern in unserem Verein weiter anzugehen!

Foto 9.4: Marianne Preis-Dewey. Foto: privat [Das Portraitfoto zeigt Marianne Preis-Dewey lächelnd mit offenen, dunklen Haaren. Sie trägt einen Blazer.]

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Christian Axnick, Dr. Katarzyna Kalka

DVBS-Seminarvorschau 2019

DVBS-Seminare

19.-22.09.2019: „Gesprächsführung - Herausfordernde Gesprächssituationen - Gespräche mit schwierigen Kunden. Mehr Selbstvertrauen entwickeln für herausfordernde Situationen einschl. Zeit- und Selbstmanagement“ Fortbildungsseminar der FG Wirtschaft in Herrenberg.

18.-20.10.2019: Seminar der FG Soziale Berufe und Psychologie in Baunatal

08.-10.11.2019: Gemeinsames Seminar der FG Jura und Verwaltung in Baunatal

Ehrenamtsakademie

29.-30.06.2019: „Arbeitstechniken und Zeitmanagement“, CVJM Tagungshaus Kassel.

10.-11.08.2019: „Selbstpräsentation - Coaching für blinde und sehbehinderte Menschen“, CVJM Tagungshaus Kassel

Die Teilnahme an einem Seminar der DVBS-Ehrenamtsakademie ist für Menschen mit und ohne Behinderung, die in der Selbsthilfe aktiv sind oder aktiv werden möchten, kostenfrei.

Aktualisierte Termine und Ausschreibungen zu allen unseren Seminaren finden Sie auf der Homepage des DVBS in der Rubrik "Angebote/Seminare", weitere Informationen erhalten Sie gerne telefonisch unter 06421 94888-0.

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Fachtagung im Herbst

Wir möchten Sie herzlich zu der Fachtagung „Qualifizierung sehbeeinträchtigter Ehrenamtlicher zu IT-Barrierefreiheit in BGG und Vergaberecht anhand aktueller gesetzlicher Regelungen“ einladen, die am 31. August und 1. September in Frankfurt stattfinden wird.

Die Digitalisierung wirft Fragen nach barrierefreiem Zugang für blinde und sehbehinderte Menschen auf. Ziel der Fachtagung ist es, Umsetzungsstandards für digitale Barrierefreiheit vorzustellen, Beteiligungsformen in Prozessen der Digitalisierung zu diskutieren und Strategien für die Interessenwahrnehmung aufzuzeigen. Dazu gehört die Analyse von Gesetzesvorlagen, die Entwicklung von fundierten Stellungnahmen, die interdisziplinäre Kooperation von selbst betroffenen Fachleuten.

Noch ist vieles in der Planung, doch alle, die sich für das Thema IT-Barrierefreiheit interessieren, sollten sich dringend den Termin freihalten. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!

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Norbert Bongartz

Ein Verein in Aktion - DVBS-Arbeitsausschuss 2018

Einmal jährlich trifft sich der Arbeitsausschuss des DVBS, bestehend aus den Leiterinnen und Leitern seiner Bezirks-, Fach- und Interessengruppen, um über die Geschicke des Vereins zu beraten, diesmal am 24. November 2018 in Marburg. Traditionell steht am Anfang dieses Treffens der Bericht des Vorstandes. Die 1. Vorsitzende Ursula Weber resümiert, dass der DVBS politisch sowie innerhalb des Vereins auf ein bewegtes Jahr zurückblicken könne.

Änderung in der Geschäftsführung des DVBS

2018 fanden aus unterschiedlichen Gründen zwei Wechsel der Geschäftsführung des DVBS statt. Zum 1. Februar 2018 war Michael Längsfeld als Nachfolger von Klaus Winger eingestellt worden. Von Michael Längsfeld hat sich der DVBS in gegenseitigem Einvernehmen mit Ablauf der Probezeit getrennt. Klaus Winger blieb zunächst mit reduzierter Stundenzahl bis zum 31.10.2018 im Amt. Seitdem ist er ausschließlich als Leiter des Projekts iBoB und Mitarbeiter des Projekts AKTILA-BS beschäftigt und wird diese Funktionen bis zum Ende der Projektlaufzeiten wahrnehmen. Als Ergebnis eines weiteren Bewerbungsverfahrens wurde Marianne Preis-Dewey am 1.11.2018 als neue Geschäftsführerin eingestellt.

Die Leitthemen „Digitalisierung und Teilhabe“

Ursula Weber betont, dass der DVBS sein Profil in den Bereichen Digitalisierung und Teilhabe, Beruf und Bildung weiter stärken muss. Es gibt bereits zahlreiche Aktivitäten, aber weitere Projekte müssen initiiert und die Zusammenarbeit mit anderen intensiviert werden. Sie berichtet, dass sich der Arbeitskreis Arbeit und Beruf (AK-AB) Anfang des Jahres neu formiert hat (Leitung: Erwin Denninghaus und Dr. Heinz Willi Bach). In zwei Untergruppen befasst sich dieser Arbeitskreis mit den Themen „Assistenzversorgung bei atypischen Erwerbsformen“ und „Berufliche Teilhabe im Spannungsfeld des digitalen Wandels“.

Die Internetplattform des Projekts iBoB (inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren) ist seit Frühjahr 2018 online. Dort finden Interessierte Informationen zu passgenauen Weiterbildungsangeboten. Im Rahmen des Projekts wurde das KODE-Verfahren zur Kompetenzfeststellung getestet und wird seit 2018 erfolgreich eingesetzt. In diesem Kontext kooperiert iBoB mit dem Ressort „Teilhabe und berufliche Bildung“ der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista). Diese Leistungen gilt es auch zukünftig zu nutzen und zu vermarkten. Dieses Thema wird den Vorstand und Arbeitsausschuss noch in einer der nächsten – möglicherweise auch außerordentlichen Sitzung – beschäftigen.

Weiter berichtet Ursula Weber über das Projekt AKTILA-BS (Aktivierung und Integration (langzeit-)arbeitsloser blinder und sehbehinderter Menschen), an dem der DVBS im Bereich Mentoring beteiligt ist. Aktuell wird ein „Werkzeugkoffer“ entwickelt, der Teilnehmenden beim Wiedereinstieg in den Job helfen soll. Ein weiteres Mentoring-Projekt des DVBS ist TriTeam. Es richtet sich schwerpunktmäßig an Studierende, die am Übergang zum Master-Studium oder zum Berufseinstieg stehen. Dank einer Spende der Commerzbank läuft aktuell die 4. Runde des Projekts.

Im Rahmen des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung sollen Wissenschaftler mit Behinderung in die Forschung mit einbezogen werden. Die Forschungsprojekte müssen noch gewählt werden. Die Teilhabeforschung kommt aus der UN-BRK und wird vom BMAS gefördert.

Junge engagierte DVBS-Mitglieder haben 2018 mit großem Erfolg ein Europaseminar geplant und organisiert. Thematisch ging es um Studium, Praktika und Studien- bzw. Arbeitsbedingungen in verschiedenen europäischen Ländern.

Das International Camp on Computers and Communication (ICC), an dem sechs junge Menschen aus Deutschland engagiert und begeistert teilnahmen, fand 2018 in Kroatien statt. Es gab vier Workshops unter deutscher Leitung.

Vernetzung und Inklusion im DVBS

Werner Wörder berichtet aus den Bereichen Vernetzung und (v. a. schulische) Inklusion. Bei einer GEW-Kreisklausur wurde Kritik und Ablehnung gegenüber der Inklusion deutlich, weil es an Ausstattung und Ressourcen fehle. Es gebe aber auch positive Beispiele: Immer mehr inklusiv beschulte Schülerinnen und Schüler erlangen einen erfolgreichen Abschluss. Insgesamt sei Inklusion gemischt zu betrachten.

Der Arbeitskreis Inklusion im DVBS pflegt eine Unterseite der DVBS-Webseite, wo ein Interviewleitfaden zu Erfahrungen mit schulischer Inklusion zu finden ist. Zudem können Materialien und Berichte eingestellt werden. Ziel ist es, Erfahrungen zu teilen und Forderungen zu entwickeln.

Die Fachgruppe Erziehung und Wissenschaft bemüht sich um die Vernetzung mit anderen Fachgruppen, um u. a. weitere Seminare zu entwickeln.

Herausforderungen im Bereich Medien

Andrea Katemann fragt, wie sich der DVBS im Bereich Medien noch zielgruppengerechter aufstellen kann. Der horus hat eine Art Alleinstellungsmerkmal, da darin auch komplexe Zusammenhänge in längeren Artikeln erläutert werden können. Aber welche (weiteren) Formen sind noch zeitgemäß?

In Bezug auf den Marrakesch-Vertrag sollte beispielsweise überlegt werden, ob sich der DVBS als sogenannte „Befugte Stelle“ registrieren lässt, um weiterhin Materialien umsetzen zu können. Laut Marrakesch-Vertrag darf Literatur auch für Menschen mit Lesebehinderung produziert werden. Deshalb werden sich einige Blindenbüchereien zukünftig mit E-Books und deren Produktion beschäftigen, sodass im günstigsten Fall Texte parallel gelesen, gehört und am Bildschirm mitgelesen werden können.

Die ZuBra-Studie zum Thema Zukunft der Brailleschrift ist nun abgeschlossen und hat Bedenken, die Rechtschreibung sei unter Kurzschriftnutzern schlechter, nicht bestätigt.

DVBS politisch

Der 2. Vorsitzende Uwe Bruchmüller geht auf politische Entwicklungen ein. Auf EU-Ebene wird der European Accessibility Act (EAA) beraten. Die Umsetzung der EU-Richtlinie über barrierefreie Webseiten und mobile Anwendungen öffentlicher Stellen (EU-RL 2016/2102) in deutsches Recht führt zu Gesetzgebungsverfahren auf Länderebene. In diesem Zusammenhang lobt Uwe Bruchmüller insbesondere das große Engagement von Uwe Boysen und Andreas Carstens, die etliche Stellungnahmen verfasst und an diversen Anhörungen teilgenommen haben. Zwar sind die Bemühungen des DVBS nicht immer sichtbar. Doch werden die Stellungnahmen veröffentlicht und es finden zahlreiche informelle Gespräche statt, z.B. auf dem EDV-Gerichtstag. Dort hat der DVBS seit Jahren einen Infostand und pflegt den Austausch mit Vertretern aus den Bereichen Jura und IT. Uwe Bruchmüller bedankt sich ausdrücklich für das Engagement der Mitglieder, die aktiv sind und waren.

Da der Namensänderungsantrag bei der Mitgliederversammlung im Mai 2018 nur knapp die erforderliche Mehrheit verfehlte, soll er bei der nächsten Mitgliederversammlung erneut gestellt werden.

Aus der Geschäftsstelle

Uwe Bruchmüller zeigte sich erfreut, dass trotz der Wechsel in der Geschäftsführung die Kontinuität der Arbeit gewährleistet blieb. Die Beratungstätigkeit hat deutlich zugenommen, 2018 gab es bis Mitte November bereits 40 Beratungen. Die Ehrenamtsakademie plant weitere Seminare für ehrenamtliche Mitglieder. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und -abläufe u. a. durch die Erneuerung der Telefonanlage und der Mitgliederdatenbank geht voran. Die Interessenvertretung muss weiter gestärkt werden. Zum Zeitpunkt der Sitzung steht ein Mitgliederzuwachs 2018 von 30 Mitgliedern netto fest.

Marianne Preis-Dewey stellt sich den Anwesenden als neue Geschäftsführerin vor. Die diplomierte Übersetzerin hat zuletzt im Bereich Barrierefreie Information und Kommunikation gearbeitet und ist seit vielen Jahren in der Selbsthilfe – auch im DVBS – aktiv. Sie freut sich auf die Zusammenarbeit und den Austausch mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und den Mitgliedern.

Die wirtschaftliche Lage des DVBS

Uwe Bruchmüller erklärt die derzeitige wirtschaftliche Situation als relativ gut. Das wirtschaftliche Überleben des Vereins ist gesichert, die Liquidität muss aber langfristig stabilisiert und die Zahlungsfähigkeit gewährleistet werden. Nach der Feststellung des Jahresabschlusses 2017 und der Entlastung des Vorstandes für das Geschäftsjahr 2017 verabschiedete der Arbeitsausschuss den Wirtschaftsplan für 2019 im Volumen von 1,1 Millionen Euro, der ohne Defizit abschließt.

Die blista berichtet

Im Anschluss berichtet Claus Duncker, Vorstand der blista, über Anforderungen an die Arbeit der blista und deren Kooperation mit dem DVBS unter den Bedingungen einer nach Inklusion strebenden Gesellschaft. In der blista spiegelt sich vieles davon, was in der Gesellschaft läuft. Sprach man früher im Bildungssektor von Integration, spricht man heute von Inklusion. Auch früher habe es schon behinderte Schüler an Regelschulen gegeben, wenn auch seltener an Gymnasien.

In der Regelschule funktioniere Inklusion häufig dann nicht, wenn zur Sehbeeinträchtigung noch andere Faktoren hinzukommen, z.B. ein Migrationshintergrund oder andere gesundheitliche Beeinträchtigung. In der Pubertät könne es zudem zu Ausgrenzungen kommen. Früher konnte man den Bildungsweg planen, heute sei alles kurzfristiger.

Im letzten Jahr seien 18 Schüler zur blista gewechselt. Oft gebe es große Defizite auszugleichen. Zudem haben sich viele Neuankömmlinge mit ihrer Sehbeeinträchtigung vorher nicht auseinandergesetzt. Damit die Lerngruppen auch langfristig funktionieren, sichert die blista das Angebot durch Kooperationen mit anderen Schulen.

Zwar hat sich die Carl-Strehl-Schule für sehende Schüler geöffnet, aber es sollen immer mehr blinde/sehbehinderte Schüler in einer Klasse sein als sehende. Aus wirtschaftlichen Gründen entwickelt sich die blista zudem zu einem regionalen Bildungsanbieter durch die Kooperation mit der Montessori-Schule. Es werden neue Ausbildungsgänge im Gesundheitswesen sowie im IT-Bereich, z.B. e-Commerce-Kaufmann, angeboten.

Herr Duncker berichtet von einem Mangel an Reha-Fachkräften, einige Regionen sind derzeit völlig unversorgt. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass die Ausbildung von Interessierten selbst finanziert werden muss. Inzwischen gibt es die Ausbildung berufsbegleitend. Inhaltlich wird die Ausbildung getrennt in den Bereich Orientierung und Mobilität (O&M) und den Bereich Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF), wodurch sich die Ausbildung verkürzt. Nach Bemühungen von blista und DBSV hat sich die Kniese-Stiftung bereit erklärt, die Ausbildung zu fördern.

Abschied von Dr. Johannes Jürgen Meister

Ursula Weber dankt Dr. Johannes Jürgen Meister für sein jahrzehntelanges Engagement in diversen Bezirks-, Fach- und Interessengruppen, im Arbeitsausschuss sowie in mehreren Kommissionen. Sein Ziel war stets, den DVBS voranzubringen und seine Mitglieder zu unterstützen. So brachte er sich aktiv in der BAGSO und verschiedenen anderen Gremien ein – immer im Sinne von lebenslangem Lernen blinder und sehbehinderter Menschen. Sie wünscht ihm alles Gute auf seinem weiteren Weg und überreicht ein Geschenk.

Dr. Meister bedankt sich bei Ursula Weber und betont die Wichtigkeit der Selbsthilfe, „um unsere Interessen in die Gesellschaft hineinzutragen“. Er blickt zusammenfassend auf seine geleistete Arbeit zurück.

Anschließend bedankt sich Norbert Bongartz auch im Namen des Arbeitsausschusses und wünscht Herrn Dr. Meister alles Gute.

Wahl des Leitungsteams des Arbeitsausschusses

Im Zweijahresrhythmus wählt der Arbeitsausschuss ein neues Leitungsteam. Als Leiter des Arbeitsausschusses wurde Norbert Bongartz wiedergewählt, zu seinen beiden Stellvertretern Dr. Heinz Willi Bach und Dr. Andreas Wagner.

Abschließend dankte der Arbeitsausschussvorsitzende für das große Engagement und die konstruktive Zusammenarbeit der Teilnehmenden und warb darum, diese auch in Zukunft fortzusetzen.

Foto: Norbert Bongartz, Dr. Heinz Willi Bach und Dr. Andreas Wagner (v. l. n. r.) engagieren sich ehrenamtlich als Vorsitzende des DVBS-Arbeitsausschusses. Fotos: privat/DVBS/privat [3 Portraitfotos]

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Fit für Weiterbildung: Neues Angebot für berufstätige blinde und sehbehinderte Menschen

Wenn Weiterbildungen oder Jobveränderungen ins Haus stehen, mag die Frage auftauchen: Kann ich den individuellen Gebrauch meiner Hilfsmittel optimieren? Wie kann ich sicherer und effektiver damit arbeiten? Aber auch der Arbeitsalltag verlangt eine gute und sichere Hilfsmittelnutzung.

Mit dem neuen Bildungsangebot „Fit für berufliche Weiterbildung und -entwicklung“ spricht der DVBS e.V. sehbeeinträchtigte Erwerbstätige an, die für ihre berufliche Tätigkeit technische Hilfsmittel benötigen oder bereits benutzen. Für sie können die Kosten vom zuständigen Integrationsamt übernommen werden.

Fit für Weiterbildung - in aller Kürze:

  • viertägiges Seminar
  • individuelle Hilfsmittelbegutachtung und -beratung
  • bedarfsgerechte Auffrischung oder Vermittlung von behinderungsspezifischen Arbeitsweisen und Hilfsmittelnutzungen
  • Schwerpunkt: das ausführliche Üben des effizienten Hilfsmitteleinsatzes in einem konkreten Arbeits- oder Bildungskontext.

Das Seminar kann in Halle, Stuttgart, Chemnitz, Marburg, Düren oder Frankfurt/Main stattfinden.

Sie haben selbst Interesse an der Fortbildung?

Sie sind in der Beratung sehbeeinträchtigter Menschen oder Personalentwicklung tätig, in der Schwerbehindertenvertretung aktiv oder ein Bildungsanbieter und möchten mehr über das Angebot wissen?

Rufen Sie uns an unter 06421 94888-0 oder schreiben Sie eine Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! und nennen Sie als Stichwort „Fit für Weiterbildung“. Sie finden die ausführliche Beschreibung auch auf unserer Webseite unter Angebote > Seminare.

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Aus der blista

Dr. Imke Troltenier

Ein guter Start

Erste Erfahrungen in einer inklusiven blista-Klasse

Seit Schuljahresbeginn 2018/19 geht die blista neue Wege. Zum ersten Mal lernen sehende, sehbehinderte und blinde Schülerinnen und Schüler an der blista von Anfang an zusammen. Im Gespräch berichtet Angelika Kolbeck, Eingangsstufenleiterin an der Carl-Strehl-Schule und Klassenlehrerin der 5a, über erste Erfahrungen.

Eine tolle Klasse

„Die 5a ist eine tolle Klasse, die Kinder sind aufgeschlossen und aneinander interessiert. Dass die Klasse zusammenwächst, hatten wir erwartet, dass es aber so schnell so gut läuft, hat unsere Erwartungen übertroffen“, erzählt Angelika Kolbeck. Natürlich komme es auch vor, dass die Schülerinnen und Schüler streiten und Blödsinn im Kopf haben, das gehöre dazu. Es mache Freude zu sehen, wie die Klasse ihre Gemeinschaft entwickelt und die Kinder immer wieder gut aufeinander achten.

Die Klasse 5a besteht aus acht Kindern, zwei Mädchen und sechs Jungen. Vier Kinder sehen normal, vier sind hochgradig sehbehindert oder blind. Angelika Kolbeck unterrichtet als Klassenlehrerin das Hauptfach Englisch. In der Planungsgruppe, die das inklusive Konzept zum Carl-Strehl-Gymnasium in den Vorjahren erarbeitet hatte, berichtet Kolbeck, habe sie anfangs argumentiert, dass der inklusive Unterricht erst ab Klassenstufe 7 angeboten werden soll. Es gab gute Gründe, denn für blinde und hochgradig sehbehinderte Schülerinnen und Schüler ist der Erwerb der Arbeitstechniken grundlegend und zugleich von spezifischer Bedeutung für die Chancengleichheit. Wenn sie damals zunächst die Ansicht vertrat, es brauche dafür in den Klassenstufen 5 und 6 einen Schonraum, so sprachen gleichzeitig viele gute Gründe für die Aufnahme in der Klassenstufe 5. Letztendlich war man sich sicher, dass der Erwerb der Arbeitstechniken im inklusiven Setting gelingt. Denn dafür haben wir als Förderschule einfach die langjährige Expertise. „Es ist tatsächlich toll, zu sehen wie gut das jetzt läuft“, freut sich Kolbeck.

Das Miteinander steht im Vordergrund

Der frühe Beginn hat einen bedeutsamen Vorteil: „In der Klassenstufe 5 profitieren wir von der Unbefangenheit der Kinder. In diesem Alter spielen die Schülerinnen und Schüler noch viel miteinander, sie gestalten Fantasiewelten und sind unvoreingenommen. Es ist nicht wichtig, ob jemand vielleicht seinen Pulli auf links angezogen hat“, erklärt Kolbeck.

Beim gemeinsamen Spielen ergeben sich immer wieder spontane Aktivitäten. Der eine hüpft, die andere springt, die Dritte dreht sich im Kreis oder singt. In der Klasse lernen die Kinder voneinander, probieren sich aus und entwickeln sich weiter. In diesem Alter, so Kolbeck, sei es oft nicht so wichtig, ob etwas gleich, später, anders oder gar nicht klappt: „Das Miteinander steht im Vordergrund. Diese unbekümmerte, leichte, quasi beiläufige Form des Lernens können Pädagogen selbst kaum anleiten.“

Die Kinder spüren, dass wir sie annehmen, wie sie sind

Auch die normal sehenden Kinder fühlen sich in der Klassengemeinschaft gut aufgehoben. Angelika Kolbeck betont: „Unser Lernkonzept unterscheidet sich, es basiert auf dem Begreifen, nicht auf abstrakten Herleitungen. Die Schülerinnen und Schüler merken, dass wir dabei die Einzelnen im Blick haben und darauf achten, dass alle die Zeit bekommen, die sie brauchen - diese Möglichkeiten haben wir. Die Kinder spüren, dass wir sie annehmen, wie sie sind und mit dem, was sie mitbringen.“

Im Klassenraum haben alle - wie eh und je – ihre individuell angepassten Arbeitsplätze. Neu angeschafft wurde ein Deutschbuch, dessen Arbeitshefte sich durch vielfältig differenzierte Aufgaben auszeichnen. Auch Schallschutz-Kopfhörer wurden gekauft. Die kann sich nun jeder aufsetzen, der sich beim Schreiben vom „Geklapper“ der Braille-Schreibmaschinen gestört fühlt.

Dabei ist es im Unterricht durchaus nicht so, dass die, die besser sehen, auch immer schneller arbeiten. „Das Arbeitstempo geht gar nicht so weit auseinander, die einen haben Probleme mit der Rechtschreibung, den anderen fällt die Aufmerksamkeit leichter. Sich von visuellen Reizen bei der Arbeit nicht stören zu lassen, müssen manche erst lernen. Wenn es beispielsweise auf die Konzentration ankommt, dann liegen die blinden Kinder in der Klasse oft vorn. Sie gehen sehr strukturiert an ihre Aufgaben und lassen sich weniger leicht ablenken“, berichtet Kolbeck.

Sie ist sich sicher, dass die Balance, das ausgewogene Zahlenverhältnis von Kindern mit und ohne Seheinschränkungen, wichtig ist. Das Gemeinschaftsgefühl der Klasse trägt sich auch in die Freizeit. Zum Kindergeburtstag von Lennja war letzthin die gesamte Klasse eingeladen. Für das soziale Miteinander sind Beeinträchtigungen ohne Bedeutung.

„Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung“, sagt Kolbeck. Unter Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Meseth vom Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg werden Karola Cafantaris und Jürgen Braun voraussichtlich in der kommenden Ausgabe an dieser Stelle über erste Ergebnisse berichten.

Foto: Die Klasse 5a. Foto: blista [Blick in den Klassenraum mit Schülerinnen und Schülern an den Pulten]

Foto: Die Arbeitsplätze sind individuell angepasst. Foto: blista [Lehrerin in Gespräch mit einer Schülerin.]

Foto: Der Erwerb der Arbeitstechniken ist grundlegend. Foto: blista [Ein blindes Mädchen, das mit einer Braille-Tastatur arbeitet]

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Thorsten Büchner

„So hätte mir Chemie auch Spaß gemacht“

Abi-Jahrgang 1959 besucht die blista

Groß war die Wiedersehensfreude, als sich das Grüppchen der vier Abiturienten des Jahres 1959 und ihre vier Ehefrauen auf dem blista-Campus trafen. In den nächsten Stunden wurden so auch jede Menge Erinnerungen an die eigene blista-Zeit wieder lebendig. Gleichzeitig erfuhren sie aber auch, wie der blista-Alltag heute, auf den Tag genau sechzig Jahre nach dem eigenen Abitur, aussieht. Zunächst wurde anhand des taktilen blista-Modells am Infopunkt genauestens verfolgt, wie sich der Campus in den letzten Jahren verändert und vergrößert hat. Anschließend wurde mit dem Klassenraum der Jahrgangsstufe 5 ein moderner Unterrichtsraum unter die Lupe genommen, in dem sehende, sehbehinderte und blinde Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen. Beeindruckt zeigten sich Werner Vogt, Dr. Otto Hauck, Dr. Helmut Vollert, Hubertus Ellerhusen und ihre Partnerinnen von den technischen Möglichkeiten und Bedingungen im Oberstufengebäude.

Der Schulleiter der Carl-Strehl-Schule, Peter Audretsch, begrüßte die Gruppe im Foyer der Schule, beantwortete Fragen, stellte selbst welche und erfuhr so, dass die Gruppe der erste Jahrgang war, der im Gebäude „Am Schlag 6a” die Abiturprüfungen ablegte, eben 1959, ein Jahr nach Einweihung der „Carl-Strehl-Schule“. Danach begleitete Audretsch die Jubilare in die elfte Klasse von Herrn Balzer. Dort erzählten blista-Schülerinnen und -Schüler wie Leonie und Finn von ihrer bisherigen Schullaufbahn und ihrem Lernalltag und Hobbys an der blista. „Ich finde es toll, dass einige von euch, neben den modernen Techniken wie dem Internet und der Braillezeile, auch noch echte Punktschriftbücher aus Papier in die Hand nehmen“, freute sich Hubertus Ellerhusen. Gerne beantworteten die vier Jubilare auch Rückfragen zur eigenen Schulzeit. „Wenn blista-Schülerinnen und -Schüler wissen wollen, wie es früher an der blista so zuging: Wir erzählen gerne davon und kommen auch gerne mal zu einem Besuch in den Unterricht“, fügte Ellerhusen hinzu. Die Zeit mit der elften Klasse verging wie im Flug, so dass sich die Gäste fast ein wenig sputen mussten, um rechtzeitig zu „ihrer Chemiestunde“ bei Tobias Mahnke zu erscheinen.

Dort präsentierte Mahnke mit Feuereifer die neuen Möglichkeiten, mit 3D-Modellen chemische Vorgänge „begreifbar“ und „handhabbar“ zu machen. Für viele der Gäste war diese Chemiestunde ein „ganz besonderes Erlebnis“. „So hätte mir früher Chemie auch richtig Spaß gemacht”, war Otto Hauck sichtlich begeistert davon, dass das eigene Ausprobieren und Experimentieren im Mittelpunkt des naturwissenschaftlichen Unterrichts an der blista steht. „Krater und Kerze“ stand genauso auf dem Programm, wie das Wahrnehmbar-Machen einer farblichen Veränderung von Flüssigkeiten in einem Reagenzglas. „Da muss ich fast 80 Jahre alt werden, um endlich mal ein Reagenzglas für ein Experiment in der Hand zu halten”, war Helmut Vollert stolz auf seine „chemische Premiere”.

Bevor es zum gemütlichen Ausklang des blista-Rundgangs in die Mensa ging, stand noch eine Stippvisite im „alten Klassenraum“ auf dem Programm. Kaum betraten die Jubilare den Raum im zweiten Stock, begannen schon die Erinnerungen zu sprudeln: „Du hast ganz hinten gesessen. Wir eher hier vorne.“ „Damals habe ich mich doch in einem dieser Hochschränke mal versteckt.“

Zum Schluss erhielten die vier Abiturienten, wie es seit vielen Jahren für die blista-Absolventen Tradition ist, mit sechzigjähriger Verspätung durch die blista-Öffentlichkeitsarbeit eine blista-Tasse mit Brailleaufdruck.

Voller Eindrücke und zufrieden verließ das muntere Grüppchen die blista, um sich auf das abendliche Beisammensein in der Marburger Oberstadt vorzubereiten.

Foto: Die vier Abiturienten des Jahres 1959 mit ihren Ehefrauen vor dem Schulgebäude. Foto: blista [Gruppenfoto vor der Carl-Strehl-Schule]

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Jürgen Nagel und Susanne Patze im Gespräch mit Thorsten Büchner

„Eine Bündelung von Kompetenzen“

Interview zu den ersten hundert Tagen „blista Frankfurt“

Seit dem 15. Oktober letzten Jahres bietet „blista Frankfurt“ auch im Rhein-Main-Gebiet Beratungs- und Schulungsangebote für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung an. Dabei kooperiert die blista eng mit dem „Blinden- und Sehbehindertenbund in Hessen“ (BSBH) und dem BFW Würzburg. Im Interview berichten der stellvertretende Direktor der blista, Jürgen Nagel, und Susanne Patze, Mitarbeiterin von „blista Frankfurt“ für Beratung, Jobcoaching und Rehamanagement, über die Angebote und die ersten Erfahrungen vor Ort.

Thorsten Büchner: Was waren die Beweggründe, mit „blista Frankfurt“ die Angebote im Beratungs- und Schulungsbereich auch im Ballungsraum Rhein/Main anzubieten?

Jürgen Nagel: Wir wollten schon länger unsere Angebote im Beratungs- und Schulungsbereich auch Menschen in anderen Regionen anbieten. Damit die Angebote auch dort genutzt werden, wo die Ratsuchenden ihren Lebensmittelpunkt haben. Erste Schritte hatten wir schon mit der Einrichtung eines Büros für die blista-Tochtergesellschaft “focus arbeit gGmbH” in diese Richtung unternommen. Es ergab sich dann die Chance, nach dem Umzug des BSBH, gemeinsame Räumlichkeiten inmitten der Frankfurter Innenstadt zu beziehen. Zudem möchten wir unseren blista-Absolventinnen und -Absolventen den Einstieg in Ausbildung oder Beruf erleichtern, indem wir in einem der wichtigsten Ballungs- und Wirtschaftsräume Deutschlands präsent sind und vor Ort unterstützen können.

Büchner: Was bietet „blista Frankfurt“ Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung?

Susanne Patze: Wir unterstützen, beraten und schulen zu allen beruflichen Fragen. Neben LowVision-Beratung, Schulungen und Überprüfungen im EDV-Bereich und individueller Jobberatung bieten wir auch ab Juni die durch die Kostenträger finanzierte Qualifizierungsmaßnahme „PROJob!“ an. Wir verfügen über einen Schulungsraum mit acht blinden- und sehbehindertengerechten PC-Arbeitsplätzen, einen nach den modernsten Anforderungen ausgestatteten LowVision-Raum und einen Beratungsraum, der auch für Einzelschulungen genutzt werden kann. Meine Kollegin Frau Rougier und ich sind vor allem für „Beratung, Jobcoaching und Rehamanagement“ zuständig, während die Schulungen in EDV, die Punktschriftkurse und die LowVision-Beratung von Kooperationspartnern aus der Region durchgeführt werden. Die Unterrichtsbereiche „Orientierung und Mobilität“ sowie „Lebenspraktische Fähigkeiten“ werden entweder durch Kollegen aus Marburg oder von Fachkräften des BSBH durchgeführt. Zudem begleiten wir –wenn Bedarf dazu besteht - Auszubildende mit Sehbehinderung oder Blindheit während ihrer Ausbildung. Diese Begleitung kann beispielsweise auch durch das „persönliche Budget“ finanziert werden.

Büchner: Wie sieht eine solche Begleitung aus?

Patze: Über die Begleitung bei der Beantragung von Hilfsmitteln und deren optimaler Nutzung bis hin zur Unterstützung in der Berufsschule oder dem Ausbildungsbetrieb ist alles möglich. Wir unterstützen die Auszubildenden so dabei, im Betrieb und in der Berufsschule optimale Ausbildungs- und Weiterbildungsbedingungen herzustellen und zu ermöglichen.

Büchner: Welche Rolle spielt die Nähe und Kooperation zum und mit dem BSBH und dem BFW Würzburg, das ebenfalls ein Büro dort besitzt?

Nagel: Im Mittelpunkt stehen die Ratsuchenden. Die Bündelung von Kompetenzen unter einem Dach mit Anbietern von beruflicher Weiterbildung wie dem BFW Würzburg, von Schulungs- und Beratungsangeboten wie der blista und der Blindenselbsthilfe wie dem BSBH bietet Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung aus der Region einen enormen Vorteil und erleichtert die Teilhabe, nicht nur im beruflichen Kontext.

Büchner: Wie sind Ihre ersten Erfahrungen nach 100 Tagen „blista Frankfurt“?

Patze: Zu uns kommen Ratsuchende jeden Alters. Etwa eine junge Frau, die während ihrer Ausbildung eine enorme Sehverschlechterung zu beklagen hatte. Dann schauen wir, wie wir sie darin unterstützen und begleiten können, dass sie die Ausbildung fortsetzen und erfolgreich absolvieren kann. Uns kontaktieren aber auch Leistungsträger wie Rentenversicherungen, Arbeitsagenturen oder Jobcenter. Das ist besonders erfreulich, da uns, denke ich, mit Sicherheit der bekannte Name “blista” auch im Frankfurter Raum da sehr weiterhilft.

Nagel: Der Status von „blista Frankfurt“ als „vergleichbare Einrichtung zur beruflichen Rehabilitation“ nach §51 SGB IX und unsere AZAV-Zertifizierung helfen schon sehr, um für einen Kostenträger als Partner in Frage zu kommen.

Büchner: Gibt es für die Zukunft bereits weitere Ideen?

Patze: Wir planen demnächst eine ambulante und mobile BTG (blindentechnische Grundrehabilitation) anzubieten, um den Menschen die Möglichkeit zu bieten, denen es aus familiären oder räumlichen Gründen nicht möglich ist unsere BTG in Marburg zu besuchen.

Nagel: Die Inklusion ist der blista auch im beruflichen Bereich sehr wichtig. Daher ist es ein weiteres Ziel von „blista Frankfurt“, mit allgemeinen Anbietern von beruflicher Bildung, wie dem BFW Frankfurt, zu kooperieren, um eben auch dort Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung Beratung und Unterstützung im Ausbildungsprozess anbieten zu können.

Weitere Informationen

Ausführliche Informationen über die Angebote von „blista Frankfurt“ und eine detaillierte Wegbeschreibung finden Sie unter http://www.blista.de/blista-frankfurt

Kontakt

blista Frankfurt
Reha-Beratungs- und Schulungszentrum
Börsenstr. 14 / Ecke Hochstraße
60313 Frankfurt
Tel. 069 403561-35
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Die Terminvergabe für die LowVision-Beratung erfolgt durch den BSBH/Blickpunkt Auge, Tel.: 069 150596-80

Foto: Susanne Patze (li) und Berit Rougier (re). Foto: blista

Foto: Ein Beratungsraum bei blista Frankfurt. Foto: blista [Blick in den Beratungsraum.]

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Bücher

Thorsten Büchner

Hörbuchtipps aus der blista

Robert Seethaler: Das Feld

Hanser Berlin, München, 2018. Bestellnummer: 841951. Laufzeit: 6 Std. 39 Min.

Ein Feld vor den Toren Paulstadts. Fast täglich sitzt Harry Stevens hier auf einer alten Bank zwischen den Gräbern und denkt darüber nach, was die Toten vom Leben und Sterben erzählen würden, hätten sie noch einmal eine Stimme. Wie haben sie ihr Leben gelebt, wie viel verpasste Chancen, wie viele Glücksmomente hielt es für sie bereit? Wo war Schuld, wo konnte Vergebung erfahren werden? Und wo war einfach nur Leere und Sinnlosigkeit?

Otto Waalkes: Kleinhirn an alle. Die große Ottobiografie

Heyne, München, 2018. Bestellnummer: 852241. Laufzeit: 11 Std. 22 Min.

Siebzig Jahre ist er nun geworden, der junge Schlacks, der uns in unserer eigenen Jugend mit seinen ungehobelten Albernheiten stets begeistern konnte und dann, so jede Dekade immer mal wieder, mit neuen Gags unter Zuhilfenahme alter Edgar-Wallace-Filme oder unter dem Beistand von sieben albernen Komödianten-Zwergen mit recht humorvollen Filmen aufwartete. Jetzt bietet er seine Ottobiografie an, in der Otto Waalkes unter Zuhilfenahme des alten Weggefährten Bernd Eilert "von den glücklichsten und den glanzvollsten Momenten, ohne die peinlichsten und traurigsten auszulassen" erzählt.

John Le Carré: Das Vermächtnis der Spione

Ullstein, Berlin, 2017. Bestellnummer: 836301. Laufzeit: 10 Std. 12 Min.

1961: An der Berliner Mauer sterben zwei Menschen, Alec Leamas, britischer Top-Spion, und seine Freundin Liz Gold. 2017: George Smileys ehemaliger Assistent Peter Guilliam wird ins Innenministerium einbestellt. Die Kinder der Spione Alec Leamas und Elizabeth Gold drohen, die Regierung zu verklagen. Die Untersuchung wirft neue Fragen auf: Warum mussten die Agenten an der Berliner Mauer sterben? Hat der britische Geheimdienst sie zu leichtfertig geopfert? Halten die Motive von damals heute noch stand? In einem dichten und spannungsgeladenen Verhör rekonstruiert Peter Guilliam, was kurz nach dem Mauerbau in Berlin passierte. Bis George Smiley die Szene betritt und das Geschehen in einem neuen Licht erscheint.

Siddhartha Mukherjee: Das Gen. Eine sehr persönliche Geschichte

Fischer, Frankfurt/Main, 2017, Bestellnummer: 829341, Laufzeit: 25 Std. 45 Min.

Warum sind wir so, wie wir sind? Was ist in der Familie angelegt, was erworben? Was können wir selbst bestimmen? Pulitzerpreisträger Siddhartha Mukherjee erzählt die Geschichte der Entzifferung des Mastercodes, der unser Menschsein bestimmt. Von den Erbsenkreuzungen Mendels bis zur neuesten Gen-Bearbeitungs-Methode CRISPR schreibt Mukherjee den Roman einer wissenschaftlichen Suche und verwebt ihn mit der Geschichte seiner eigenen Familie.

Hörbücher zum Schwerpunkt “Medienmix im 21. Jahrhundert”

Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung

Hanser, München, 2018. Bestellnummer: 849391. Laufzeit: 8 Std. 54 Min.

Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft. Pointiert und sachkundig stellt er dar, wie wir durch die sozialen Medien eine "Emotions- und Erregungsindustrie" am Laufen halten. Das Banale und Bestialische drängt nach vorn, wir leben in einer Zeit der Dauerirritation, in Filterblasen, und wir halten Ungewissheiten und Wartezeit kaum mehr aus. Verschwörungstheorien haben Konjunktur. In dieser Situation gehört der kluge Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung und sollte in der Schule gelehrt werden. Medienmündigkeit ist zur Existenzfrage der Demokratie geworden.

David Sax: Die Rache des Analogen. Warum wir uns nach realen Dingen sehnen

Residenz-Verlag, Salzburg, 2016. Bestellnummer: 822061. Laufzeit: 13 Std. 47 Min.

Viel „Analoges“ wird aktuell wiederentdeckt und erfreut sich einiger Beliebtheit: Vinyl, Papierprodukte, Brettspiele, Buchhandlungen. Kenntnisreich spürt der Autor dieser Entwicklung nach.

Ihr Kontakt zur DBH

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Foto: „Hör‘ doch mal!“ Hörbücher, die begeistern, gibt es beispielsweise in der DBH. Foto: Hemmatian [Ein Hörbuchfan hält ihr handliches Abspielgerät freudig dem Betrachtenden hin.]

Thorsten Büchner

Buchtipps aus der Braille-Druckerei

Jean-Paul Didierlaurent: Der unerhörte Wunsch des Monsieur Dinsky

Deutscher Taschenbuch-Verlag, München, 2017. Bestellnummer: 4887. 2 Bände, KR, 43 Euro (in Papier und für Braillezeile erhältlich)

Ambroise Lanier arbeitet als Leichenpräparator. Manelle Flandin kümmert sich als Angestellte eines ambulanten Pflegedienstes um Senioren. Vermutlich hätten sich die Wege der beiden nie gekreuzt, wäre da nicht Samuel Dinsky. Als der 82-Jährige eine niederschmetternde Diagnose erhält, will er eine letzte Reise unternehmen. Zusammen mit Manelle und Ambroise. Durch einen wundersamen Zufall wird es eine Reise zurück ins pralle Leben.

Chris Geletneky: Midlife-Cowboy

Lübbe, Köln, 2016. Bestellnummer: 4847. 3 Bände, KR, 64 Euro (in Papier und für Braillezeile erhältlich)

Ein denkwürdiger Moment auf seinem Rasentraktor macht Tillmann klar, dass er in einer ausgewachsenen Midlife-Crisis steckt. Wann genau sind seine ambitionierten Träume bloß zu diesem Spießerleben mit Reihenhaus und Gartenteich mutiert? Eins steht fest - er muss dringend etwas ändern! Prompt schlittert er in eine Affäre, die ausgerechnet an seinem 10. Hochzeitstag auffliegt. Und als er versehentlich ein Video veröffentlicht, das Tausende Beziehungen zerstört, hasst ihn außer seiner Frau jetzt auch noch der Rest der Welt. So hatte sich Tillmann sein neues Leben irgendwie nicht vorgestellt.

Hermann Hesse: Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlass

Suhrkamp, Frankfurt/Main, 2013. Bestellnummer: 4796. 5 Bände, KR, 107,50 Euro (in Papier erhältlich)

Das Buch enthält eine Sammlung von Erzählungen, Erinnerungen, Studien, Parodien, die größtenteils nicht in Buchform veröffentlicht wurden. Hesse schreibt dazu in einem Vorwort von 1932: „... diese etwas spielerischen, häufig ironisch gefärbten Gelegenheitsäußerungen haben für mich einen gemeinsamen Sinn: den Kampf gegen das, was ich in unserer Öffentlichkeit den verlogenen Optimismus nenne ...“

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Leserbriefe

Leserbrief zu Judith Faltl: Sieben Punkte für eine erfolgreiche medizinische Rehabilitation für blinde und sehbehinderte Menschen (horus 1/2019)

Entsetzt habe ich die Schließung der Reha- und Badeabteilung des Aurahotels Saulgrub vernommen. Es ist ein unwiederbringlicher Verlust für die blinden Menschen. Das Aurahotel Saulgrub bietet mir, was andere Reha-Zentren nicht haben: das zugängliche Schwimmbad, bedienbare Fitnessgeräte, einen barrierefreien Speiseplan, Tandem fahren in meiner anwendungsfreien Zeit, Unterstützung bei Wanderungen, die Angebote der Gästebetreuung. Die bekannte Umgebung mit eigenständiger Mobilität öffnet Wege, ein anderes Reha-Zentrum kann diese Freiräume nicht bieten.

Austausch mit Betroffenen im Sinne der Selbsthilfe, außerhalb der Kur- und Begegnungszentrum gGmbH kenne ich kein gleichwertiges Angebot für sehgeschädigte Menschen.

Mein Zugang zur Aurahotel gGmbH war die medizinische Rehabilitation. Ihr Haus habe ich kennen und schätzen gelernt und es gab viele Anlässe zum Feiern. Urlaub im Sommer und Langlauf im Winter ist für mich seit 2011 ein fester Bestandteil.

Schließung bis 31.12.2019 ist nun die endgültige Lösung! Ihnen wünsche ich, dass es kein Anfang vom Ende wird, wie es die Auras in Osterode und Bad Meinberg erleben mussten. Für beide Aurahotels war das Ende von Kur und Reha die erste Stufe bis zur Schließung.

Ihnen und Ihren Mitarbeitern wünsche ich Glück.

Machen Sie es gut.

Thorsten Wolf

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Impressum

Herausgeber

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

Redaktion

  • für den DVBS: Uwe Boysen, Andrea Katemann, Mirien Carvalho Rodrigues und Juliane Taubner
  • für die blista: Isabella Brawata, Thorsten Büchner und Dr. Imke Troltenier

Koordination

DVBS-Geschäftsstelle, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Tel.: 06421 94888-0, Fax: 06421 94888-10, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.dvbs-online.de

Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck ‑ auch auszugsweise ‑ nur mit Genehmigung der Redaktion.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.)

Uwe Boysen (DVBS) und Dr. Imke Troltenier (blista)

Erscheinungsweise

Der „horus“ erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und digital (wahlweise auf einer CD-ROM oder als Download-Link). Die digitale Ausgabe enthält die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version sowie die Braille-, RTF- und PDF-Dateien.

Jahresbezugspreis

  • 22 Euro (zuzüglich Versandkosten) für die Schwarzschriftausgabe,
  • 35 Euro für alle übrigen Ausgaben.

Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres. Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

Bankkonto des DVBS

Sparkasse Marburg-Biedenkopf

IBAN: DE42 5335 0000 0000 0002 80

BIC: HELADEF1MAR

Verlag

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg, ISSN 0724-7389

  • Punktschriftdruck: Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Marburg
  • Digitalisierung und Aufsprache: Geschäftsstelle des DVBS, Marburg
  • Schwarzschrift-Druck: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen

Die Herausgabe der Zeitschrift „horus“ wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der „Glücksspirale“ unterstützt.

Logo der Glücksspirale

horus 2/2019, Jg. 81 der Schwarzschriftausgabe

Titelbild: Medienmix: Collage aus drei Bildern. Verschiedene Social Media und andere Apps auf dem Handy, blista-Schüler im Unterricht am Monitor, Mobil jederzeit erreichbar. Fotos: Pixabay, blista, Bruno Axhausen.

Nächste Ausgabe (horus 3/2019)

Schwerpunktthema: „Wenn unsagbares sagbar wird - Behinderung durch Politik?“

Erscheinungstermin: 26. August 2019

Anzeigenannahmeschluss: 26. Juli 2019

Redaktionsschluss: 24. Juli 2019

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Kleinanzeigen

Private Kleinanzeigen bis zu einer Länge von 255 Zeichen werden kostenlos abgedruckt. Danach werden 17 Euro pro angefangene 255 Zeichen berechnet. Für die korrekte Wiedergabe ihres Inhalts (z. B. Namen, Anschriften usw.) kann keine Haftung übernommen werden.

Für gewerbliche Anzeigen und Beilagen bitte die horus-Mediadaten anfordern.

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blista

Inklusion braucht Qualität! Ihr Onlineshop für inklusive Medien und Unterrichtsmaterialien:

In unserem Shop finden Sie Multimediale Lernpakete für den Inklusiven Unterricht, kurz „MuLIs“. Sie richten sich an junge Menschen mit und ohne Behinderung. Die neu entwickelten Materialien öff nen den Zugang zu den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik auf interessante Weise. Sie sprechen verschiedene Sinne an und erleichtern das gemeinsame, chancengleiche Lernen.

Schauen Sie sich um,entdecken Sie mehr!

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

blista-Campus ∙ Am Schlag 2-12 ∙ 35037 Marburg

Tel. : 06421 606-0 ∙ E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Help Tech

Wir sagen Danke! Danke, dass wir seit 25 Jahren als Ihr zuverlässiger Partner mit unseren innovativen Hilfsmitteln zur Verbesserung der Lebensqualität blinder und sehbehinderter Menschen beitragen dürfen.

Help Tech GmbH – ehemals Handy Tech seit 1994 – 25 Jahre

  • Gelebte Inklusion: Unsere Kundenberater sind zum Teil selbst blind oder haben eine Seheinschränkung.
  • Eine große Auswahl an Hilfsmitteln
  • Beratung und Erprobung: In einer unserer Filialen oder bei Bedarf bei Ihnen zu Hause
  • Beantragung beim Kostenträger: Als zugelassener Hilfsmittellieferant übernehmen wir das für Sie
  • Umfangreiche Serviceleistungen

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www.helptech.de

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Stuttgart 0711-2202299-0

Köln 0221-921556-0

Marburg 06421-690012-0

Lüneburg 04131-699698-0

Bildbeschreibung:

Es sind 3 Bilder abgebildet. Auf dem ersten Bild wird auf einer Handy Tech Braillezeile geschrieben. Darauf sind die konkaven Brailleelemente besonders gut zu erkennen, diese ermöglichen in entspannter Handhaltung das Schreiben von Texten. Das Bild in der Mitte zeigt einen Mann, der eine Brille trägt, an welcher die OrCam 2 befestigt ist. Damit lässt er sich eine Zeitschrift per Fingerzeig vorlesen. Rechts davon ist die elektronische Lupe explore 5 abgebildet, auf der ein Kreuzworträtsel vergrößert abgebildet ist.

IPD

Professionelle Betreuung am Arbeitsplatz durch IPD!

Seit 24 Jahren ist IPD als Hilfsmittelanbieter am Markt tätig und bietet Ihnen Hilfsmittel zahlreicher renommierter internationaler Hersteller, individuelle Lösungen für Braille-Arbeitsplätze, für Arbeitsplätze mit vergrößernden Sehhilfen und Software sowie für Mischarbeitsplätze, individuelle Anpassungen von JAWS für spezielle Anwendungen wie Telefonanlagen, Branchenlösungen und auf Ihren Bedarf abgestimmte Trainings.

Zeitgleich zum Start von Office 2019 hat Freedom Scientific auch seine Screenreader aktualisiert. JAWS, Zoomtext und Fusion sind entsprechend in der Version 2019 erhältlich.

Sprechen Sie mit uns, wenn Sie auf eine qualifizierte Beratung und Betreuung Wert legen. Wir sind für Sie da!

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Wir beraten Sie individuell über Möglichkeiten des beruflichen Schulbesuchs, der Ausbildung und des Wohnens. Wir freuen uns auf Sie!

Regina Deckert, Tel. (0711) 6564-128

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www.berufsbildungswerk-stuttgart.de

Frank Salzer, Tel. (0711) 6564-211

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www.tilly-lahnstein-schule.de

Unsere Termine: 27.06.2019 (Ausbildung), 09.07.2019 (Ausbildung) sowie nach Vereinbarung.

Am Kräherwald 271, 70193 Stuttgart

Papenmeier RehaTechnik

Papenmeier Hotline Service

Unser WIR für Ihren Notfall

kostenfreie Hotline: +49 2304 946 118

F.H. Papenmeier GmbH & Co. KG, Talweg 2, 58239 Schwerte

Telefon: 02304-946-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Internet: www.papenmeier-rehatechnik.de

Bildbeschreibung: Unser WIR für Ihren Notfall: Es ist eine Gruppe von drei RehaTechnik Mitarbeitern, zwei Männer und eine Frau, zu sehen, die lächelnd in die Kamera schauen.

RTB

Akustik für Lichtzeichenanlagen.

Leicht zu folgen. Die sichere Führung blinder und sehbehinderter Menschen über die Fahrbahn ist ein absolutes Muss. Bereits seit 25 Jahren leistet RTB mit der Akustik einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung der Mobilität.

  • Optimale Schallausrichtung gemäß Straßenbreite und Bebauung
  • Perfekter Anwohnerschutz durch individuelle Anpassung der Signalisierung
  • Automatische Anpassung der Lautstärke an den Umgebungslärmpegel.

RTB, www.rtb-bl.de

SynPhon

Elektronische Hilfen für Sehgeschädigte GmbH

Im Hilfsmittelkatalog gelistet: Der EinkaufsFuchs Produkterkenner sagt ganz einfach, was es ist. Abermillionen Waren erkennt er bereits und er merkt sich auch alle Dinge, die man selbst damit kennzeichnet.

„Tütütüt, Hallo!“, begrüßt Sie der EinkaufsFuchs, und dann piepst er, sobald er den Produktcode erblickt. Sofort spricht er, was es denn diesmal ist: „Vollmilchschokolade, 100 Gramm …“. Er liest und spricht exakt und sehr sehr deutlich alle Produktangaben. Leichter kann Dinge unterscheiden nicht sein.

Haben Sie Fragen? Rufen Sie an! Telefon 07250 929555, www.synphon.de

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Fußnoten

[1] O.A., Statistik des Deutschen Reichs … Gebrechlichen, S. 9–26.

[2] Feilchenfeld, „Die Blinden“, S. 250.

[3] Scholtyssek, Späterblindete, S. 2.

[4] Rohrschneider, „Bewahrung“, S. 1408.

[5] Hammers, Erblindungsursachen, S. 12 und 15.

[6] O.A., „Blinden- und Sehschwachenwesen DDR“, S. 22–23.

[7] Resnikoff u.a., “Visual impairment”, S. 845–848.

[8] Knauer/Pfeiffer, „Erblindung“, S. 736; Rohrschneider, „Blindheit“, S. 370.

[9] Feilchenfeld, „Die Blinden“, S. 251; Magnus, Blindheit S. 95 und 113.

[10] Feilchenfeld, „Die Blinden“, S. 250.

[11] Ebd.; Hugger, „Auswertung“, S. 723.

[12] Nach: Schmöger, „Blinden- und Sehschwachenwesen“, S. 737 und 898.

[13] Makabe/Hellwig, „Wandel“, S. 137.

[14] Man erkennt den hohen Anteil der Folgen von Augenverletzungen. Exemplarisch sind auch definierte entzündliche Erkrankungen wie Tuberkulose (6,5 Prozent) und Trachom (1,1 Prozent) aufgeführt.

[15] Man erkennt einen mit etwa 25 Prozent recht geringen Anteil der blinden Menschen über 60 Jahre.