horus NR: 2 / 2012 - globalisierte Blindenwelt

Inhaltsverzeichnis


Vorangestellt

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder,

während meines Studiums war ich in den frühen 80ern für einige Wochen in Asien. Um mal eben kurz zu Hause anzurufen, dafür benötigte ich einen Tag. Ich wartete über Stunden in glühender Hitze, bis ich in einem "Post Office" eine internationale Telefonverbindung erhielt. Beim vielen Rauschen in der Leitung war das Telefonat dann eher frustrierend, verstand ich doch nur Teilsätze. Und eine Zeitung aus der Heimat, die jünger als eine Woche war: ein großes Fest. Heute sitze ich in einem verwunschenen Teil der Welt und hole mir mit meinem mobilen IT-Gerät die Tagesschau auf das Display. Telefonieren ist out. Per Skype und Webcam kommuniziere ich mit meinen Liebsten am Küchentisch - Tausende von Meilen entfernt.

Globalisierung nennt man das. Die Welt ist ein globales Dorf geworden. Informationen sind überall verfügbar, Gedankenaustausch ist in Echtzeit möglich. Und blinde und sehbehinderte Menschen? Mittendrin, mit ihren elektronischen Hilfsmitteln, die digital alle Informationen für sie bereithalten? Die Welt ist nicht nur digital. Kultur ist mehr als nur Information und Kommunikation. Wenn wir zusammenrücken, dann müssen wir uns auch gut verstehen. Das gelingt aber nur, wenn wir mehr über Menschen aus allen Teilen der Welt mit ihrer Kultur, ihrer Geschichte lernen.

Moderne Ausbildungs- und Studienprogramme haben dies erkannt. Die Kultur eines Landes, einer Region ist nur vor Ort erfahrbar. Irisches Bier schmeckt am besten in einem irischen Pub, wenn der Westwind an der Kneipentür rüttelt. Geröstete Hühnerfüße auf einem asiatischen Wochenmarkt kann, aber muss man aber nicht essen. Mit Erasmus, dem Austauschprogramm der Europäischen Union, ist es heute ein Leichtes, ein Semester in Istanbul oder Sevilla zu studieren. Und Absolvierende ohne Auslandserfahrung haben in vielen Berufen heute schlechte Chancen.

Auslandsemester für Studierende mit einer Sehbeeinträchtigung und eingeschränkter Mobilität? In dieser Ausgabe lesen wir den beeindruckenden Bericht von einem, der auszog, um die Fremde kennenzulernen. Er lernte die Sprachen, erkundete neue Wege und fand viel Freunde.

Dies ist kein Einzelfall. Aus der blista kenne ich einige ehemalige Schülerinnen und Schüler, die nicht nur fremde Länder bereist haben, sondern auch gleich dort geblieben sind. Damit Reisen in die Fremde aber keine Ausnahme sind, müssen die Rahmenbedingungen so geschaffen sein, dass Menschen mit einer Seheinschränkung von Austauschprogrammen genauso profitieren können, wie jeder andere auch. Dass die Welt für ALLE offen ist, daran müssen wir arbeiten!

Ihr Claus Duncker

Die Schwarzschriftausgabe enthält ein Portraitfoto von Claus Duncker. Er lächelt und trägt Anzug und Krawatte (Foto: Tom Engel). Die Bildunterschrift lautet: Claus Duncker, Direktor der blista.


In eigener Sache

Gestatten, ich bin die Neue hier

Mein Name ist Christina Muth, ich bin das neue Gesicht im Team der DVBS-Geschäftsstelle und Ihre Ansprechpartnerin für alle Bereiche der horus-Redaktion. Am 1. April habe ich die Nachfolge von Dr. Imke Troltenier als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit in Marburg angetreten. Der Start beim DVBS war ein Seitenwechsel für mich, denn ursprünglich komme ich aus dem Tageszeitungsgeschäft: Nach dem Volontariat habe ich als Redakteurin für die Oberhessische Presse und deren Tochteragentur mymedia in Marburg gearbeitet . Von der Informationsverarbeiterin zur Informationslieferantin - diesen Weg zu gehen, war schon seit längerer Zeit mein Wunsch. Umso mehr freue ich mich, ihn jetzt mit dem DVBS zu gehen. Vielen Dank, dass ich mit großer Herzlichkeit aufgenommen wurde und schon jetzt einen Einblick in die vielfältigen Arbeitsbereiche der Selbsthilfeorganisation gewinnen konnte. Ich bin beeindruckt, mit welchem Engagement die hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitglieder ihre Ziele verfolgen.

"Globalisierte Blindenwelt" lautet das Schwerpunktthema dieses Heftes. Als blinder Student ein Auslandssemester zu absolvieren, Schüleraustauschprogramme an der Carl-Strehl-Schule und die Umsetzung der BRK in ihrem Ursprungsland Mexiko - Internationalität bestimmt den Inhalt der aktuellen horus-Ausgabe. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, auf spannende Themen, packende Geschichten und ganz besonders darauf, möglichst viele Mitglieder kennenzulernen! Bei Fragen und Anregungen können Sie sich jederzeit gerne bei mir melden. Sie erreichen mich unter der bekannten Telefonnummer 06421/9488813. Wenn Sie mir eine E-Mail schicken möchten, richten Sie diese bitte an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Übrigens: Das Schwerpunktthema der nächsten horus-Ausgabe lautet "Blindheit und Gesundheit". Wir sind gespannt auf Ihre Erfahrungen, Berichte und Hinweise. Auf Ihre Beiträge freut sich die horus-Redaktion: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Redaktionsschluss ist der 5. Juli 2012.

Ihre und Eure Christina Muth


Bildbeschreibung Titel

horus 2/2012 trägt den Titel "Globalisierte Blindenwelt". Das Titelfoto in der Schwarzschriftausgabe zeigt einen Relief-Globus, auf dem Europa, Teile von Afrika und Asien und Grönland zu sehen sind. Zwei tastende Hände erfühlen die Erhebungen. (Foto: DVBS/Christina Muth).


Wie steht es mit der Umsetzung der BRK in ihrem Urpsungsland Mexiko?

Die politische Initiative zur Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) ging von Mexiko aus. Das Land war auch eines der ersten, das das Abkommen 2007 ratifizierte. "horus" fragte Carolina Barrera, die beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) als Koordinatorin für die Kampagne "Woche des Sehens" tätig ist, was in ihrer Heimat seither geschah.

horus: Man hätte vermutet, dass die Initiative zur UN-BRK eher von einer Industrienation ausgegangen ist und nicht von einem Schwellenland wie Mexiko, das mit Alltagsproblemen ganz anderer Natur kämpft. Wie kam es zu dieser Initiative Mexikos?

Carolina Barrera: Das Bedürfnis Mexikos, Menschen mit Behinderung mittels einer rechtlichen Grundlage zu schützen ist keineswegs geringer als in anderen Ländern. Zudem waren die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein Thema, das sich die Regierung des damaligen Präsidenten Vicente Fox (2000-2006) auf die Fahnen geschrieben hatte. Die Initiative Mexikos erhielt von der UN-Generalversammlung sofort eine positive Antwort.

horus: Mexiko hat das Abkommen sehr rasch ratifiziert. Allerdings unter Vorbehalt. Was war das für eine Einschränkung und warum wurde sie gemacht?

Carolina Barrera: Ja, der Prozess ging sehr schnell! Weil aber die Mühlen der Gesetzgebung oft langsam mahlen, hat der Senat zur rechtlichen Absicherung übergangsweise eine Vorkehrung getroffen: Die Zustimmung zur UN-BRK wurde von einer interpretatorischen Erklärung begleitet. Der Senat hat damit Rechtssicherheit im Falle eines Konfliktes zwischen der UN-BRK und den Gesetzen Mexikos geschaffen. Es ging im Kern um die "Gleiche Anerkennung vor dem Recht", Artikel 12, Absatz 2 der UN-BRK. Das im Einzelfall anzuwendende Gesetz sollte dasjenige sein, das den Menschen einen besseren Schutz gewährt. So konnte man sicher sein, dass die "Würde, die physische, psychische, emotionelle und patrimoniale Integrität von Menschen mit Behinderung bewahrt werden". Das ist das Prinzip "Pro-homine".

horus: Später hat man sich an die Überarbeitung der Gesetze gemacht und diesen Vorbehalt zurückgenommen. Können Sie uns einige Beispiele geben, welche Gesetze geändert wurden?

Carolina Barrera: Nach der Zustimmung und dem Inkrafttreten der UN-BRK am 3. Mai 2008, hat Mexiko für die Rechte der Landsleute mit Behinderung gesetzlich sehr viel getan. Zum Beispiel mit dem "La Ley General para las personas con Discapacidad", dem "Allgemeinen Gesetz für die Menschen mit Behinderung". Dieses Gesetz wurde in Mai 2011 veröffentlicht, beinhaltet alle Prinzipien der BRK und geht an einigen Stellen sogar darüber hinaus. Zum Beispiel bei dem Recht auf gesundheitliche Re- bzw. Habilitierung ohne Diskriminierung. Im Juni 2011 wurde zudem das Pro-homine-Prinzip in die Verfassung Mexikos integriert. Dadurch verlor die interpretatorische Aussage ihre Bedeutung und wurde zurückgenommen.

horus: In Deutschland machte sich die Bundesregierung daran, einen Maßnahmenplan zur Umsetzung der BRK zu entwickeln. Geschah das in Mexiko auch und wenn ja, was sieht dieser Plan z.B. vor?

Carolina Barrera: Das allgemeine Gesetz für Menschen mit Behinderung beinhaltet den Grundriss eines Programms für die Entwicklung und Inklusion von Menschen mit Behinderung. Entsprechend wurden etliche Programme und Projekte geplant. Doch noch hat sich das alles nicht konsolidiert und viele behinderten Menschen leiden noch immer, haben keine Arbeit, keine angemessene gesundheitliche Vorsorge etc. horus: Das Leitmotiv der BRK ist die "inklusive Gesellschaft", also jene, in der sich behinderte Menschen gleichberechtigt entfalten können. Diese Vision wird hierzulande stark diskutiert; die einen halten sie für richtungweisend, die anderen für utopisch. Gibt es solch eine Diskussion in Mexiko auch?

Carolina Barrera: Die Machbarkeit dieser Vision wird auch in Mexiko in akademischen Kreisen diskutiert. Die Politik tut es nicht mehr. Der Begriff "Inklusive Gesellschaft" wird in den Gesetzen großgeschrieben, er steht zugleich auch für Demokratie und für eine gleichberechtigte "Gesellschaft für Alle". Insofern setzt eine "Inklusive Gesellschaft" eine Änderung der Mentalität der Menschen nicht nur gegenüber behinderten Menschen, sondern auch gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund, Homosexualität, ethnischer und religiöser Verschiedenheit etc. voraus. Das schafft man nicht per Gesetz oder Dekret. Um das zu erreichen, braucht man die aktive Teilnahme der Bevölkerung, ehrenamtliches Engagement und Ressourcen, um Projekte aller Art zu starten und durchzuführen.

horus: Gefordert wird in Deutschland auch die inklusive Schule. Weg mit den Förderschulen wird gerufen, her mit der gemeinsamen Beschulung Behinderter und Nichtbehinderter. Wie werden Blinde und Sehbehinderte in Mexiko unterrichtet und welche Hilfen bekommen sie?

Carolina Barrera: Ohne eine inklusive Gesellschaft - und das ist unsere Realität - kann man über ein inklusives Schulsystem nicht ernsthaft reden. Als Lehrerin habe ich in Mexiko jahrelang sowohl in Städten als auch in Indianerdörfern gearbeitet. Die Indianer sind die Ärmsten unter den Armen. Viele Dorfschulen bieten nur sehr schlechte Bedingungen. Sie sind nicht einmal für Kinder ohne Behinderung geeignet. Als ich von 1978 bis 1980 in " La Sierra de Chihuahua" arbeitete, hatte ich beispielsweise Schulklassen mit über 50 Kindern.

Heutzutage sind die Bedingungen nicht besser als damals. Was die Lehrerinnen und Lehrer dort über das Thema "inklusive Schule" sagen würden? Ich glaube, dass sie die Frage absolut lächerlich finden würden - sarkastisch gesagt. Dennoch gibt es Pläne und Entwicklungsprogramme. Dazu gehört u. a. das aktuelle "reformierte Schulsystem", diese Reform beinhaltet das Thema "inklusive Schule". Blinde und sehbehinderte Kinder besuchen staatliche wie private Schulen, die Bildungschancen dieser Kinder hängen sehr von der finanziellen Situation der Eltern ab. Es gibt Unterstützung durch NGOs, die mit Selbsthilfevereinen zusammenarbeiten. Diese wachsen und organisieren sich allmählich besser, wie z. B. die Stiftung "Teleton México", die von Unternehmern unterstützt wird.

horus: "Inklusion" meint auch Miteinbeziehung im Sinne von Mitbestimmung, Bürgerbeteiligung etc. Ausdruck sind Beiräte, z.B. der Beirat der Bundesregierung zur Umsetzung der BRK oder kommunale Beiräte behinderter Menschen. Gibt es dieses Prinzip des "Nichts über uns ohne uns" in Mexiko auch?

Carolina Barrera: Das allgemeine Gesetz zur Inklusion von Menschen mit Behinderung beinhaltet Aktionsprogramme, diese fördern u.a. die Bürgerbeteiligung in Form von Zentren in den Gemeinden und Selbsthilfevereinen. Auch durch das "Sistema Nacional para la integracion de la familia - DIF", das "Nationale System für die Integration der Familie" werden Menschen mit Behinderung unterstützt. Im Jahr 2009 wurde "Consejo Nacional para las personas con Discapacidad", der "Nationale Beirat für Menschen mit Behinderung" gegründet, er ist gegenüber der UNO verantwortlich. Aber es ist natürlich kein Geheimnis, dass Mexiko seit Jahrzehnten mit vielen Problemen kämpft: seinem eigenartigen Konzept der Demokratie, dem schlechten Erziehungssystem, der Arbeitslosigkeit, der Diskriminierung und vor allem der Korruption. Dazu kommt noch das Allerschlimmste: die Drogenmafia, die das Land nach und nach paralysiert. Unter solchen Bedingungen ist es sehr schwer, eine inklusive Gesellschaft zu verwirklichen und eine inklusive Bildung umzusetzen. Das Problem ist groß und die Ressourcen klein, aber unmöglich ist es nicht. Ich bin mir sicher, dass die Gesellschaft durch Selbstorganisation viel erreichen kann. Ich hoffe sehr, dass meine Landsleute die Rechte, die die UN-BRK beinhaltet, wirklich irgendwann spüren, und dass das schöne mexikanische Gesetz für die Inklusion von Menschen mit Behinderung Realität wird.

horus: Vielen Dank für das Gespräch!

Carolina Barrera: Gern geschehen!


Europa, USA, Lateinamerika - Auslandserfahrung nutzt Blinden doppelt

Zwei Semester Auslandsstudium an der Universidad de Salamanca in Spanien, vier Monate Auslandspraktikum im Werk Puebla bei Volkswagen de México, sieben Monate "Visiting Scolar" an der California State University, Northridge: Nach seinem Studium hatte Malte Oehlmann weitaus mehr in der Tasche als "nur" ein Diplom. Entsprechend schnell fand der blinde junge Mann einen attraktiven Arbeitsplatz in Berlin. Rückblickend, erzählt der technische Volkswirt, sei es allerdings der erste Schritt, der Umzug vom norddeutschen Heimatort Uelzen zum Studienort Karlsruhe gewesen, der ihm wohl den größten Mut abverlangt habe.

Wie man auf die Idee kommt, in Salamanca studieren zu wollen? "Ach", sagt Malte Oehlmann, "eigentlich war ich in der Schule nicht besonders gut in Fremdsprachen. Aber in Karlsruhe gab es die Möglichkeit Spanisch zu lernen und ich wollte gern einen Ausgleich zum Studium haben. Nach und nach wächst mit den Fremdsprachenkenntnissen dann automatisch das Interesse an Land und Kultur. Auch die Aussprache perfektioniert sich viel leichter vor Ort. Als ich angefangen habe, mir Kontakte aufzubauen, wurden die Pläne rasch konkret. Schließlich habe ich mich beim europäischen Austauschprogramm ERASMUS beworben und das Bewerbungsverfahren erfolgreich durchlaufen. Das Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) hat dann den Kontakt zum Büro für Menschen mit Behinderung in Salamanca hergestellt. Diese Büros arbeiten in Spanien immer sehr eng vernetzt mit der Selbsthilfeorganisation ONCE und vermitteln zum Beispiel auch Kontakte zu blinden Studierenden mit ähnlichen Fachrichtungen."

Zeitvorlauf einplanen ist wichtig

Was gilt es vorab zu organisieren und zu planen? "Drei Bereiche sind neben sehr guten Kenntnissen der Landessprache immer wichtig", erklärt Oehlmann: "Das Wohnen vor Ort, Orientierung und Mobilität und die Informations- und Literaturbeschaffung zum Studieren. Aber natürlich kann man nicht alles im Vorfeld organisieren, entweder ist es nicht möglich oder die Dinge verändern sich dann doch wieder. Deshalb baue ich immer auf Kontakte, Kontakte, Kontakte. Die Wohnungssuche war zum Beispiel viel problemloser als hier an den deutschen Studienorten, denn das Wohnungsangebot in Salamanca war größer als die Nachfrage und so habe ich mein WG-Zimmer direkt über den Vermieter bekommen. Ich musste mich also nicht - wie in Deutschland üblich - bei WGs bewerben, Auswahlgespräche meistern und dabei immer auch eventuelle Berührungsängste der potentiellen Mitbewohner abbauen. Meine WG in Salamanca erwies sich sogar als absoluter Glücksfall, wir waren fünf Leute aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten.

Auch das Studieren stellte sich teilweise unkomplizierter heraus als in Deutschland: Der Professor war immer mein erster Ansprechpartner: für die Literaturbeschaffung, die Prüfungsmodalitäten und die individuellen Absprachen zum Prüfungsverlauf. Ob mündlich, schriftlich oder mit Zeitverlängerung, wir haben die nötigen Dinge vorab immer durchgesprochen und er hat dann gesagt: "Ok, ich mach das so fertig."

Sich durchkämpfen zu lernen ist eine riesige Erfahrung

Und wie klappte es mit der fremden Sprache? "Natürlich ist der Anfang nicht ganz einfach", erzählt Malte Oehlmann: "Drum ist man immer gut beraten, einen Zeitvorlauf einzuplanen. Nach Salamanca bin ich beispielsweise vier Wochen vor Semesterbeginn gereist und habe die ersten drei Wochen vor Ort noch einmal einen Spanischkurs gemacht. Und, das war auch wirklich wichtig, ich war die erste Woche mit einem sehenden Freund unterwegs. Er ist mitgereist, hat mich auf allen Wegen begleitet und mir dann vor Ort alles gezeigt. Ein großes Mobilitäts- und Orientierungstraining, das gibt es da nicht. Den Rest habe ich dann nach und nach gelernt. Wenn ich Hilfe brauchte, gab es im Büro für Menschen mit Behinderung in Salamanca immer jemanden, der mich begleitet bzw. unterstützt hat. Rückblickend war es eine Superzeit, ich habe so viele Leute kennen gelernt, aber natürlich braucht man auch Mut. Sich durchkämpfen zu lernen ist eine riesige Erfahrung."

Mexiko war ein ganz anderes Kaliber

Mexiko - wie um alles in der Welt kommt man auf diese Idee? "Stimmt", sagt Malte Oehlmann, "das war schon ein wenig ungewöhnlich. Ich hatte in Salamanca lateinamerikanische Freunde gefunden und diese urlaubsweise besucht. Die Kultur, das Land, die Menschen … - alles hatte mir so gut gefallen, dass ich gezielt nach einem Praktikumsplatz gesucht habe. Die Bewerbung bei der Volkswagen AG verlief telefonisch und natürlich gab es die Frage: "Blind im Ausland, wie wollen Sie das denn machen?", aber die Tatsache, dass ich bereits zwei Semester in Spanien gelebt hatte, die hat schnell überzeugt." Wie bei vielen deutschen Unternehmen wurde den Praktikanten viel Organisation abgenommen: Die Wohnung wurde gestellt, zu viert bekam man für die Strecke zwischen Wohn- und Praktikumsort einen PKW zugeteilt. "Das Praktikum", erinnert sich Oehlmann, "hat viel Spaß gemacht, es ging um Auftrags- und Programmmanagement, also den Eingang und die Verteilung von Montageteilen. Mein Arbeitswerkzeug, Laptop mit Braillezeile, hatte ich wie immer selbst mitgebracht und brauchte wegen der hohen Sicherheitsbestimmungen dafür eine Sondererlaubnis meiner Chefin. Aber das war kein Problem, ich habe Daten aufbereitet, Dokumentationen erstellt und zwischen Deutsch und Spanisch hin und her übersetzt."

"Kein Problem, fass an, komm mit!"

"Aber natürlich ist Mexiko ein ganz anderes Kaliber als Spanien", erzählt Oehlmann lachend: "Die öffentlichen Verkehrswege sind längst nicht so gut ausgebaut, oft gibt es gar keine Bürgersteige. Das macht es zwar schwer und oft unmöglich, allein unterwegs zu sein, wird aber durch die superfreundlichen Menschen mehr als ausgeglichen. Besonders krass aufgefallen ist mir dabei ein Unterschied: In Deutschland gibt es mit fremden Leuten am Anfang quasi immer das Problem von Scheu, Berührungsängsten und Unsicherheit. Jedes Mal muss ich am Anfang Dinge erklären. In Mexiko war das ganz anders. "Kein Problem, fass an, komm mit!", die Behinderung wird einfach so hingenommen. Vielleicht liegt es daran, dass das Leben hier alle vor irgendwelche besonderen Herausforderungen stellt."

Ein Studium ist als Gelegenheit zu gut, um sie auszulassen

Wie haben Sie diese vier Monate finanziert? "Die Volkswagen AG zahlt eine Praktikumsprämie, die deckt zumindest ungefähr die Kosten von Unterkunft und Verpflegung. Bei meinem ersten Auslandsaufenthalt in Spanien war das anders, das Programm ERASMUS ist etabliert und verfügt sogar über einen Geldtopf für behinderungsbedingte Mehraufwendungen. Diese darf man allerdings nicht pauschal abrechnen, sondern muss sie 1:1 belegen, wie etwa die Reise- und Unterbringungskosten meines sehenden Begleiters in der ersten Salamanca-Woche. Dafür sollte man sich die Fördergrundsätze genau anschauen. Dies galt auch für meine dritte Reise, die mich zum Abfassen meiner Diplomarbeit nach Los Angeles an die California State University, Northridge (CSUN) geführte: Normalerweise sind die Studiengebühren nahezu unbezahlbar, aber durch die Kontaktvermittlung des SZS und das außergewöhnliche Engagement einer Mitarbeiterin der CSUN habe ich diese gespart. Der Professor, der seitens der CSUN meine Abschlussarbeit betreute, hat mich als "Visiting Scolar" an seinen Lehrstuhl eingeladen und ich hatte somit keinen Studierenden-Status. Für Unterkunft, Verpflegung, etc. musste ich allerdings mit Unterstützung meiner Eltern selbst aufkommen, da ich durch den DAAD nicht gefördert wurde. Hier gab es leider auch keine finanzielle Unterstützung für Menschen mit Behinderung."

War beim dritten Auslandsaufenthalt dann endlich alles ganz einfach? "Ach was", lacht Oehlmann: "Rückschläge kann es immer geben. In LA war es zum Beispiel eher schwer Freunde zu finden und über die Begrüßung "Hey, how are you" hinaus zu kommen. Aber da hatte ich auch wirklich wenig Freizeit und viel zu tun, ich musste in den sechs Monaten ja meine Diplomarbeit zu einem mir bis dahin noch relativ unbekannten Thema in englischer Sprache schreiben. Das Verfassen einer Abschlussarbeit in englischer Sprache ist übrigens ein weiteres Alleinstellungsmerkmal und bei Bewerbungen sicher ein Pluspunkt."

Auslandserfahrung nutzt Blinden doppelt

"Ein Auslandsstudium oder -praktikum kann ich jedem wirklich nur empfehlen. Natürlich muss man Eigeninitiative mitbringen und darf nicht darauf warten, dass die Dinge auf einen zukommen. Es ist spannend, andere Systeme und Kulturen kennenzulernen und die vielen, vielen privaten Kontakte sind einfach toll.

Auf keinen Fall sollte man sich von der Extrazeit abschrecken lassen: Ob 10 oder 14 Semester ist gar nicht wichtig, wenn man dafür so viel zu bieten hat. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich meinen jetzigen Job ohne die Auslands- und Fremdsprachenkenntnisse nicht bekommen hätte. Ich finde, Blinden nutzt die Auslandserfahrung doppelt, denn wenn im Bewerbungsgespräch die Frage kommt: "Wie wollen Sie das denn machen?" dann hat man glaubhafte Argumente vorzuweisen."

Das Gespräch führte Dr. Imke Troltenier.

In der Schwarzschriftausgabe ist ein Foto zu sehen, das Malte Oehlmann in Salamanca zeigt. Auf dem Foto sitzt er auf dem Boden vor dem Rathaus lächelnd in der Sonne. Er trägt eine Jeans, eine schwarze Jacke und hat die Augen geschlossen. Im Hintergrund sieht man das Rathaus mit im Wind flatternden Fahnen davor und einige Menschen, die über den Platz bummeln.


Aus der Welt der EBU

Die Europäische Blindenunion hielt im Oktober 2011 ihre 9. Generalversammlung in Dänemark ab. Dabei wurde Wolfgang Angermann zum neuen EBU-Präsidenten gewählt, dessen Tätigkeit die deutsche Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe mit einem "Europaforum" unterstützt. Weiter wurde bei der Generalversammlung ein strategischer Plan für den Zeitraum 2011 bis 2015 beschlossen, mit dessen Hilfe die Arbeit der EBU effektiviert werden soll. Im Folgenden werden einige Aktionspunkte dieses Planes aufgelistet.

Um zu einer effektiveren Nutzung von Kommunikation und Fundraising sowie der Politik- und Kampagnenressourcen der EBU-Mitgliedsorganisationen zu kommen, sollen die EBU-Mitglieder ihre Sachleistungen auflisten. Die Bemühungen, EU-Mittel für die Unterstützung der EBU-Arbeit in für blinde und sehbehinderte Menschen relevanten Kernbereichen zu erlangen, sollen fortgesetzt werden. Es wird angestrebt, zur Kosten- und Zeitersparnis effektive Systeme für die Durchführung "virtueller Sitzungen" von Präsidium und Kommissionen der EBU zu nutzen.

Beim Thema Gleichstellung und Vielfalt will die EBU unter anderem zusammen mit Partnern einen Aktionsplan zur Frühintervention erstellen, in dem auch Unterstützungsangebote und Ausbildungsstandards für Förderkräfte enthalten sein sollen. Weiter soll das Europäische Jahr 2012 für aktives Altern genutzt werden, um auf die besonderen Belange blinder und sehbehinderter Menschen hinzuweisen, die über 65 Jahre alt sind. Darüber hinaus wird angestrebt, verpflichtende Mindeststandards für Rehablitationseinrichtungen für Low Vision Betroffene sowie für die Bereitstellung von Low Vision Hilfen zu verankern. Im Kampagnenbereich beabsichtigt die EBU, ein BRK-Netzwerk zu etablieren. Seine Mitglieder sollen dafür sorgen, dass die Menschenrechte Blinder und Sehbehinderter angemessen behandelt werden. Weitere Aufgabe ist, auf den Europarat einzuwirken, damit die Umsetzung des Aktionsplans Behinderung 2006 - 2015 dem menschenrechtsbasierten Ansatz verpflichtet bleibt. Flankierend soll die Gesetzesdatenbank mit für blinde und sehbehinderte Menschen relevanten Normen weiter ausgebaut werden, um so den Austausch derartiger Informationen zu erleichtern. Fortzusetzen ist daneben die Lobbyarbeit für eine Antidiskriminierungsrichtlinie, die den Zugang zu IKT, Produkten, TV, Transport und die bauliche Umgebung auf Grundlage des Designs für Alle umfasst und Barrierefreiheit als Vergabekriterium für öffentliche Aufträge etabliert. Eng damit verknüpft ist die zusammen mit dem europäischen Behindertenforum (EDF) gestaltete Kampagne zur Einführung einer europäischen Mobilitätskarte, die wiederum im Zusammenhang mit der von der EU geplanten Richtlinie zur Barrierefreiheit steht. bei der Entwicklungshilfe soll die Zusammenarbeit mit den Organisationen der Entwicklungsländer vor allem im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung (capacity building) fortgesetzt werden. Weiter verfolgt werden soll auch die Idee eines Entwicklungsfonds für Ost- und Mitteleuropa in einem beschränkteren Umfang als bisher. Auf kulturellem Gebiet ist beabsichtigt, bewährte Verfahren zur Schaffung eines barrierefreien Zugangs zu Kunst und Kultur und Einrichtungen als Grundlage für Empfehlungen und Richtlinien mittels einer Umfrage zu erfassen und darzustellen.

Schließlich will die EBU mindestens 15 neue Berufsmöglichkeiten für Blinde und Sehbehinderte identifizieren und auf ihrer Webseite vorstellen sowie alle geeigneten Formen der Erwerbsarbeit einschließlich beruflicher Selbstständigkeit fördern.

Die soeben genannten Maßnahmen und Ziele spiegeln sich auch in den von der Generalversammlung angenommenen neun Resolutionen wider, weshalb hier nur eine von ihnen besonders erwähnt werden soll. In ihr wird an die EU, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und alle europäischen Regierungen appelliert, die Auswirkungen der Finanzkrise nicht auf dem Rücken behinderter Menschen und ihrer Angehörigen auszutragen, sondern an ihrer Inklusionspolitik festzuhalten.

Eine der Aufgaben der EBU ist es, zu geplanten Rechtsakten der EU Stellung zu nehmen. Das tat sie im Februar 2012 auch zu einer geplanten Richtlinie, mit deren Hilfe eine umfassende Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen im Binnenmarkt erreicht werden soll. Gemäß Arbeitsprogramm 2012 der EU-Kommission wird sie "gesetzlich verpflichtende Maßnahmen zur Förderung der Beschaffung und Harmonisierung von Standards für Barrierefreiheit umfassen." Schwerpunkte der EBU-Stellungnahme waren u. a. der barrierefreie Zugang zu Informationen, barrierefreies Reisen, Geldautomaten, Einkaufen (einschließlich Online-Shoppen), und Haushaltsgeräte.

Wer Näheres über die Aktivitäten der EBU erfahren möchte, der sei auf den EBU Newsletter verwiesen. Er wird vom EBU-Büro herausgegeben und erscheint vierteljährlich in Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch. Er informiert über aktuelle Entwicklungen in den EBU-Mitgliedsländern und über Projekte der Kommission. Die aktuelle deutsche Ausgabe, die auch einen Artikel über die EBU-Lobbyarbeit enthält, findet sich auf der EBU-Homepage unter http://www.euroblind.org/press-and-publications/publications/nr/43.

Einige Schlaglichter seien kurz erwähnt: So hat das Royal National Institut of the blind (RNIB) einen Billigflieger wegen einer nicht barrierefreien Website verklagt. In Österreich sind Taxifahrer seit Januar 2012 gesetzlich verpflichtet, Führhunde zu transportieren.

Weiter gibt es ein Bulletin der EBU-Verbindungskommission zur EU. Es wird in deren Auftrag von der ONCE (der spanischen Blindenorganisation) produziert und europaweit verteilt. Es enthält einen umfassenden Überblick über aktuelle Gesetzesinitiativen und Lobbyarbeit in den Bereichen Antidiskriminierung, Informationsgesellschaft, Transport, Beschäftigung, Soziales und Binnenmarkt. Die Darstellung der Projekte und Aktivitäten zeigt, dass die EBU im Zusammenspiel mit ihren Mitgliedsorganisationen und Partnern in der Lage ist, eine Reihe auch für uns wichtige Aktivitäten zu entfalten, deren weitere Beobachtung, aber auch Unterstützung sich lohnt.


EBU-Präsident spricht über Aufgaben und Strategien

Seit Oktober 2011 ist Wolfgang Angermann Präsident der Europäischen Blindenunion (EBU). Der blinde Jurist war von 1977 bis 1994 Geschäftsführer des DVBS. "horus"-Redaktionsmitglied Andrea Katemann sprach mit ihm über die Arbeit der EBU.

Andrea Katemann (AK): Herr Angermann, Sie sind seit kurzer Zeit der Präsident der Europäischen Blindenunion (EBU) aber seit Langem in der EBU aktiv. Können Sie zunächst einen kurzen Überblick darüber geben, wie sich die EBU eigentlich zusammensetzt?

Angermann: Im Grunde ist die EBU ein Verein. In diesem haben sich 45 Mitgliedsorganisationen zusammengeschlossen. Sie hat ein Präsidium, in diesem sind der Präsident, die zwei Vizepräsidenten, der Schatzmeister, der Generalsekretär, es gibt dann acht Beisitzer aus unterschiedlichen Ländern. Insgesamt sind wir also 13 Mitglieder im Präsidium. Die Arbeit vollzieht sich auf der Basis eines sogenannten Strategieplans also der Arbeitsplanung für eine Legislaturperiode, in den Fachkommissionen. Diese kann man sich so ein bisschen vorstellen wie die Fachgruppen des DVBS. Sie beschäftigen sich mit Themen wie Rehabilitation, Berufsfindung, Mobilität, Zugang zu Technik und Informationen, Zugang zu Kultur, Erziehung und Bildung, es gibt eine spezielle Kommission, die sich mit der Zusammenarbeit mit Drittweltländern und den ehemaligen Sowjetstaaten beschäftigt, eine andere Kommission behandelt speziell das Thema Taubblindheit. Darüber hinaus gibt es eine besonders wichtige Kommission, nämlich die Verbindungskommission zur europäischen Union. Das deshalb, weil wir in der EU noch 27 Staaten aber in der EBU 45 Mitglieder haben, d.h. es gibt eine ganze Menge Mitglieder, die nicht in der EU sind. Auf der anderen Seite gilt es für die EBU natürlich, teilzuhaben an Möglichkeiten, die die EU bietet durch die Schaffung bestimmter Programme, aus denen dann Projekte finanziert werden können. Ein solches Projekt war zum Beispiel intergen. Da ging es um das Wissen und den Austausch verschiedener Generationen. Das Projekt ELVIS ist speziell auf Sehhilfen für Sehbehinderte Menschen ausgelegt, es läuft gerade an und an beiden Projekten war bzw. ist Deutschland beteiligt. es sind immer transnationale Projekte, d.h. es sind immer mehrere Länder beteiligt.

AK: Was bietet die EBU dem DVBS, und was denken Sie kann der DVBS für die EBU tun?

Angermann: Wenn man für die EBU arbeitet, denkt man immer an das gesamte deutsche Blindenwesen. Es ist also wenig sinnvoll, in Bezug auf die Erwartungen an die deutschen Verbände zwischen Ihnen einen Unterschied zu machen. Die EBU-Satzung geht nicht davon aus, dass es hier in Deutschland einen DBSV oder einen DVBS gibt, sie sieht vielmehr vor, dass die deutschen Selbsthilfeorganisationen sich zu einem Konsortium zusammenschließen, und dieses Konsortium als solches dann in der EBU tätig wird. Wenn die deutschen Organisationen es für sinnvoll halten, unterschiedliche Stimmengewichtungen vorzunehmen, ist das ihr gutes Recht. Der DVBS hat eine recht gute personelle Kapazität in Bezug auf Know-how, allein dadurch, dass sehr viele Mitglieder, die im DVBS sind, das Glück haben, eine sehr gute Ausbildung hinter sich zu haben. Aufgrund dessen können diese Mitglieder dann auch sehr gut Aufgaben im internationalen Bereich übernehmen. In den schon erwähnten Fachkommissionen können die DVBS-Mitglieder sehr gut mitarbeiten. Von dem EBU-Präsidenten kann der DVBS wie die anderen deutschen Selbsthilfeorganisationen andererseits erwarten, dass er davon profitiert, was von Seiten der EBU an Lobbyarbeit geleistet wird - zum Beispiel bezogen auf den internationalen Literaturaustausch. EBU und WBU bemühen sich um einen Vertrag zwischen dem Weltverlegerverband und der Weltblindenunion, damit es leichter wird, auf internationaler Ebene Literatur zu bekommen, etwa wenn jemand in Deutschland z.B. Englisch studiert in den USA Bücher ausleihen möchte. Da sind wir noch nicht so weit. Und das wollen wir ermöglichen. Die EBU macht auch in vielen anderen Bereichen Lobbyarbeit: z.B. die Unterstützung der Audiodeskription bei Filmen, Fernsehen und Theater, oder bei Angeboten für blinde und sehbehinderte Menschen in Museen. Das ist also der kulturelle Bereich.

AK: Aber in Bezug auf Audiodeskription gibt es doch in Deutschland Hörfilme, Hörfilmvereinigungen Hörfilmpreise etc. was leistet die EBU hier besonderes?

Angermann: Die EBU bemüht sich darum, dass das irgendwann einmal von einer EU-Richtlinie getragen wird. Wir sind hier im Moment auf einem Level, dass es auf freiwilliger Basis passiert. Wir haben auch im Moment als Background die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die die EBU inzwischen auch unterzeichnet hat und die für Barrierefreiheit im weitesten Sinne mit herangezogen werden kann, und auf deren Basis wir hier in Deutschland auch argumentieren, Aber wir wollen natürlich, dass Audiodeskription auf rechtlich gesicherte Füße gestellt wird, dazu wäre eine EU-Direktive sinnvoll, damit vor allem der Umfang der Angebote erheblich größer wird, als das bisher der Fall ist.

AK: Für den DVBS sind wichtige Themen Bildung bzw. Ausbildung, Arbeit und Beruf: Da gibt es in der EBU auch Projekte, oder?

Angermann: Ja. Unsere Berufsfindungskommissionen sind natürlich bestrebt, dass blinde und sehbehinderte Menschen auf den normalen Arbeitsmarkt gelangen. Wir sind natürlich dabei, durch Austausch zu ergründen, wie ist die unterschiedliche Berufssituation in den einzelnen Ländern, wie ist die rechtliche Situation um in den Beruf zu kommen. Unsere Rechtskommission ist im Moment gerade dabei, eine Datenbank einzurichten, in der diese Rechtsgrundsätze zusammengetragen werden. Auf unserer Website sind Beispiele für den beruflichen Einsatz, die zur Information für potenzielle Arbeitgeber dienen sollen. Wir unterstützen natürlich auf nationaler Ebene hier auch, wo es gebraucht wird. Wir werden sicherlich das Problem aufgreifen, dass es in Österreich gar nicht gelingt, blinde Richter zu beschäftigen. Wir haben zwar kein Weisungsrecht, wir können aber an die zuständigen Stellen in Österreich herantreten - natürlich immer mit Rücksprache des zuständigen Mitglieds, also in diesem Fall in Rücksprache mit dem zuständigen Blindenverband in Österreich. Wir können die Situation schildern und darauf hinweisen, dass dies nicht mit der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen vereinbar ist. Dies haben wir auch gerade in Albanien getan, wo man dabei war, Rechtsnormen, die zugunsten von blinden und sehbehinderten Menschen waren, abzuschaffen und diese durch allgemeine Rechtsnormen für die Rechte behinderter Menschen zu ersetzen. Diese waren dann, vor allem was Sozialleistungen angeht, weniger gut ausgestattet. Aus den Antwortschreiben ging hervor, dass man in Albanien durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und durch die geforderten Zugangsvoraussetzungen zur EU nicht mehr die Aufgabe sieht, Rechtsnormen für blinde und sehbehinderte Menschen zu haben, sondern eine diskriminierungsfreie Politik für Menschen mit Behinderung jedweder Art zu gestalten. Dazu gehört es eben, Normen zu schaffen, die für Menschen mit sämtlichen Behinderungen gleichermaßen gelten. Dies werden wir so von der EBU nicht akzeptieren, denn natürlich gilt es zu schauen, wer aufgrund seiner Behinderung welche unterschiedlichen Leistungen braucht. Wir fordern mit dem europäischen Behindertenforum eine Diskriminierungsrichtlinie für Menschen mit Behinderungen. Doch hier tun sich die Stellen der EU sehr schwer. Sie denken Diskriminierung immer im breiteren Kontext, aus religiösen, ethnischen und eben aus Behinderungsgründen. Eine spezielle Richtlinie ist hier nicht gewollt.

AK: Ist es eines Ihrer Ziele als Präsident, die Schaffung einer europäischen Diskriminierungsrichtlinie für behinderte Menschen voranzutreiben, in der die Belange blinder und sehbehinderter Personen ausreichend berücksichtigt werden?

Angermann: Ja, das steht im Strategieplan. Die EBU führt hier natürlich die Argumente ins Feld, die für blinde und sehbehinderte Menschen wichtig sind, aber der Kontext aller Verbände ist schon wichtig.

AK: Vielen Dank für dieses informative Gespräch.


Blindheit im Islam - Gott gewolltes Schicksal oder Objekt gesellschaftlicher Projektion?

Der gottesfürchtige Blinde - ein vorbildhafter Muslim

Wenn man versucht, die Situation von Blindheit und blinden Menschen im Islam zu beschreiben, gilt es stets zwischen dem Islam als Religion und der Einstellung der Mehrheit der Muslime Blinden gegenüber zu differenzieren. Wie im christlich geprägten Europa ist die Reaktion der sehenden Mehrheit auf Blinde in muslimisch geprägten Ländern nur in geringem Maße vom tatsächlichen Bild, das ihre Religion von Blindheit besitzt, geprägt, sondern mindestens ebenso von traditionellen gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, die teilweise bis in die präislamische Zeit zurückzuverfolgen sind, anschließend aber mit dem Islam zu rechtfertigen gesucht wurden.

Ressentiments gegenüber Blinden waren offenbar so tief in der alten arabischen Gesellschaft verwurzelt, dass selbst Prophet Mohammed diese anfangs im Unterbewussten verinnerlicht hatte und erst durch eine göttliche Ermahnung sein Bild bewusst korrigiert hat. In der Sure 80 widmet der Koran der göttlichen Zurechtweisung des Propheten angesichts seines Verhaltens gegenüber einem Blinden sogar besondere Beachtung. Hierbei soll veranschaulicht werden, dass für Allah das Kriterium "blind oder sehend" in der Wertschätzung seines menschlichen Geschöpfes ebenso wenig Bedeutung besitzt wie "reich oder arm".

Die ersten zehn Verse folgender Sure heben in besonderer Weise hervor, dass die Behandlung von Menschen nach äußerlichen Kriterien, die im Arabien der Prophetenzeit ebenso üblich war wie sie heute in der Islamischen Welt und anderenorts existiert, in keiner Weise dem Menschenbild des Korans entspricht.

80. Der die Stirn runzelt (Abasa)

  1. Er runzelte die Stirn und wandte sich ab,
  2. Weil ein blinder Mann zu ihm kam.
  3. Was aber lässt dich wissen? Vielleicht wünscht er, sich zu reinigen,
  4. Oder er möchte der Lehre lauschen und die Lehre möchte ihm nützlich sein.
  5. Was den anlangt, der gleichgültig ist,
  6. Dem widmest du Aufmerksamkeit,
  7. Wiewohl du nicht verantwortlich bist, wenn er sich nicht reinigen will.
  8. Aber der, der in Eifer zu dir kommt,
  9. Und der (Gott) fürchtet,
  10. Den vernachlässigst du.

Hintergrund dieser göttlichen Ermahnung an den Propheten war, dass dieser auf einen wohlhabenden Mekkaner fixiert gewesen war, von dem er glaubte, mit seinem Reichtum würde dieser dem Islam in besonderer Weise dienlich sein. Er ignorierte dabei nicht nur die Tatsache, dass jener reiche Mekkaner überhaupt nicht bereit war, sich von seinem Heidentum zu lösen und sich zu Allah zu bekennen. Vielmehr missachtete Mohammed einen an seiner prophetischen Lehre ernsthaft interessierten, jedoch blinden und armen Zeitgenossen, dessen Bekehrung der Prophet im Sinne der Verbreitung der Religion in der Gesamtbevölkerung offenbar geringeren Stellenwert beimaß. Mit diesem Verhalten entsprach der Prophet allerdings in keiner Weise dem Auftrag Allahs, der für jeden, der sich zu ihm bekennt, den gleichen Lohn vorgesehen hat und von seinem Propheten erwartete, sämtlichen, an seiner Lehre Interessierten die Tür offen zu halten.

Prophet Mohammed beherzigte diese göttliche Ermahnung und brachte jenem Blinden anschließend die besondere Wertschätzung entgegen, die Allah ihm als Suchenden zuteil werden lässt. Der Prophet nahm vor dem Blinden sogar seinen Umhang ab und ließ diesen darauf sitzen. Wie weiter berichtet wird, hat der Blinde daraufhin nicht nur für sich selbst den Islam angenommen, sondern eine bedeutende Rolle bei seiner Verbreitung ausgeführt. Im Grunde genommen nahm die Überzeugung des Blinden für den Islam jenen Stellenwert ein, den Prophet Mohammed ursprünglich dem sehenden wohlhabenden Mekkaner zugedacht hatte.

Traditionelle Ressentiments werden religiös umgedeutet

Anders als der Prophet hat die Mehrheit der Muslime ihre grundsätzliche Voreingenommenheit gegenüber Blinden wie Behinderten allgemein mit der Bekehrung zum Islam nicht überwunden. Ähnlich wie im mittelalterlichen Christentum suchte man auch in der traditionellen muslimischen Gesellschaft, Phänomene, für die man keine rationale Erklärung parat hatte, religiös zu erklären. Blindheit und Behinderung allgemein assoziierte man daher vielfach mit einer "Strafe Gottes". Die Geburt eines blinden Kindes wäre demnach auf ein sündiges Verhalten der Eltern zurückzuführen. Da der Islam - anders als das katholische Christentum - keine Erbsünde kennt, mutet diese Interpretation aus theologischer Sicht geradezu abenteuerlich an. Zugleich belegt sie, in welch geringem Maße gesellschaftliche Ressentiments, auch wenn sie religiös begründet erscheinen, durch die tatsächliche religiöse Lehre gedeckt sind.

Eine andere Tradition sieht die Blindheit als Erkennungszeichen des Satanischen. Wer nicht sehen kann, sei kaltherzig und besitze einen schlechten Charakter. Die Blindheit gilt sozusagen als das Erkennungszeichen für die übrige Gesellschaft, dass diese Person frevlerische Absichten besitze und man sich von ihr auf Distanz zu begeben habe.

Die explizite Erwähnung des gottesfürchtigen Blinden im Koran hat natürlich auch umgekehrt die Assoziation von Blindheit mit einem besonderen Heiligenstatus geweckt. Einige Blinde in islamischen Ländern ziehen daraus den Nutzen, Koran rezitierend an Friedhöfen und vor Moscheen zu sitzen oder umherzuziehen. Ihr Verhalten ist getragen von dem sicheren Instinkt, auf diese Weise aus dem religiösen Gewissen der Umwelt heraus finanzielle Zuwendung zu erhalten. Bettelei ist zudem allgemein bis heute unter blinden Menschen in der Islamischen Welt verbreitet, woraus die Assoziation eines Blinden mit einer Bettlerexistenz erwachsen ist, die für jene Blinde, die einer geregelten Arbeit nachzugehen suchen, sehr verletzend sein kann. Die naheliegende Interpretation der Koransure 80, dass nicht der Blinde aufgrund seiner Blindheit bei Allah eine besondere Wertschätzung genießt, sondern mit oder sogar trotz seiner Blindheit, aber aufgrund seiner Aufrichtigkeit als Muslim, der ein gottesfürchtiges grundsatztreues Leben führt, ist in der islamischen Gesellschaft bis heute nur gering verbreitet. Fehlende Sozialgesetzgebung fördert die bestehende Ausgrenzung So sehr der Islam als Religion das Egalitätsprinzip, das zwischen Geschlechtern und Rassen gilt, auch gegenüber Blinden und Behinderten anderer Art gelten lässt, allgemeine menschliche Vorurteile gegenüber Blinden sind in der Islamischen Welt nicht geringer verbreitet als im Westen. Blinde leiden hier wie dort unter gesellschaftlicher Ausgrenzung. In Staaten, in denen die schulische Bildung und der allgemeine Wohlstand insgesamt unterdurchschnittlich liegen und die darüber hinaus von Armut und Analphabetismus geprägt sind, erscheint es als Blinder nahezu ausgeschlossen, eine erfolgreiche berufliche Karriere zu erreichen. Bettelei ist daher vielfach die einzige Möglichkeit, seine menschlichen Grundbedürfnisse zu decken. Das in der Gesellschaft verinnerlichte Bild vom umherziehenden bettelnden Blinden - auch wenn diesem die Aura des Heiligen anhaftet - trägt zusätzlich zu einer Ausschließung aus dem allgemeinen Gesellschaftsleben bei und führt zu Parallelgesellschaften.

Jene Ausgrenzung und Voreingenommenheit gegenüber Blindheit und Behinderung ist jedoch in keiner Weise ein spezifisches Kennzeichen der islamischen Gesellschaft. Westliche Gesellschaften kennen sie mindestens in gleichem Maße. Die offizielle Einstufung von Behinderung als "unwertes Leben" war hier in Deutschland in der jüngeren Geschichte sogar Grundlage einer menschenverachtenden Staatsideologie. Anschließend ist in Deutschland wie in den meisten westlichen Staaten jedoch ein Sozialstaat aufgebaut worden, der Behinderten spezifische Rechte einräumt und Blinden als Ausgleich für ihren erschwerten Zugang zu Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung spezielle Zuwendungen gewährt. Die zumeist ärmeren islamischen Staaten besitzen eine besondere Behindertengesetzgebung nicht, wodurch sich gesellschaftliche Ressentiments fast immer auch in wirtschaftlichen Notlagen ausdrücken.

Die Tatsache, dass dennoch auch hierzulande die Mehrheit der Blinden keine höher qualifizierten Berufe erwerben und die Arbeitslosenrate unter Blinden in allen westlichen Staaten über dem jeweiligen Landesdurchschnitt liegt, belegt, dass Ausgrenzung von und Ignoranz gegenüber Blindheit und Behinderung kein Phänomen einer bestimmten Religion oder Kultur darstellt, sondern zumeist aus Unwissenheit resultiert. Im Bewusstsein der Einstellung, die der Koran gegenüber Blindheit einnimmt, besitzen islamisch verfasste Staaten das Potential, eigene Behindertenrechtskataloge ethisch zu begründen. Nach westlichen Beispielen lassen sich Konzepte entwickeln, wie der bestehenden Ausgrenzung auf staatsrechtlichem Wege entgegen gewirkt werden kann. Bedeutsam erweist sich hier vor allem das Bildungswesen, das nicht nur den Blinden mehr Chancen zu bieten verpflichtet ist, sondern darüber hinaus die sehende Mehrheit auf die Partizipation blinder Menschen und deren islamische Rechtfertigung vorzubereiten hat.

Zum Autor

Mohammed Khallouk (*1971 in Marokko) ist Politologe und Islamwissenschaftler. Er studierte Arabistik und Islamwissenschaft an der Mohammed V. Universität Rabat und Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, wobei er sich Konflikten im Arabo-Islamischen Raum und dem Kulturaustausch zwischen Europa und der Islamischen Welt zuwandte. Für seine Magisterarbeit ist er 2003 mit dem DAAD-Preis ausgezeichnet worden. Seit seiner Promotion habilitiert er über Juden in Marokko und lehrt Politikwissenschaft sowohl an der Philipps-Universität Marburg als auch an der Universität der Bundeswehr München.

In der Schwarzschriftausgabe ist ein Foto eingefügt, das einen aufgeschlagenen Koran zeigt. Die Seiten sind in zwei Spalten geteilt, rechts steht der Originaltext, links die deutsche Übersetzung. Auf der rechten Seite des Korans liegt eine grüne Gebetskette, die aus grün-braunen Perlen besteht und eine lange Stoffquaste an ihrem Ende hat.

Das Portraitfoto in der Schwarzschriftausgabe zeigt den Autor Mohammed Khallouk. Er trägt einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd.


Bunter Haufen blista: Zur Internationalität an der Carl-Strehl-Schule

Die blista ist ein "bunter Haufen". Diesen Satz hört man recht oft. Bezieht er sich auf die vielfältigen Angebote, Bereiche der Deutschen Blindenstudienanstalt? Oder beschreibt diese Feststellung eher die Schülerinnen und Schüler der Carl-Strehl-Schule? Gibt es dort doch Geburtsblinde, Späterblindete, hochgradig Sehbehinderte, Sehbehinderte - kurzum: Jede Art von Sehbeeinträchtigung ist bei den knapp mehr als 300 Schülerinnen und Schülern die derzeit die blista besuchen, vertreten.

Doch auch in der eigentlichen Bedeutung des "bunten Haufens", der Herkunft der Schülerinnen und Schüler hält die blista der Behauptung Stand. Im Jahr 2010 besuchten insgesamt 303 Schülerinnen und Schüler die Carl-Strehl-Schule. Aus 31 Ländern kamen die 80 Jugendlichen mit Migrationshintergrund, 37 der Jugendlichen verfügten über keinen deutschen Pass. Die Schülerinnen und Schüler stammen aus allen Erdteilen und Ländern, unter anderem Chile, Vietnam, Nigeria oder Kroatien.

"An dieser internationalen Vielfalt hat sich in den letzten beiden Jahren nichts geändert", sagt Jochen Lembke, Schulleiter der Carl-Strehl-Schule. Probleme innerhalb der "bunten" Schülerschaft hat Lembke aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe nicht erlebt. "Im Gegenteil: Für die Schülerinnen und Schüler spielt es keine Rolle aus welchem Land, welcher Region ihre Mitschüler kommen. Das ist kein Thema. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass viele Schülerinnen und Schüler als Sehbehinderte oder Blinde einen anderen Umgang mit dem Anderssein entwickeln."

Wenn sich die Gelegenheit bietet, werden die Heimatländer der Jugendlichen im Unterricht vorgestellt und beleuchtet.

Neben dieser "alltäglichen Internationalität" wird dem internationalen Gedanken an der Carl-Strehl-Schule mit vier ausländischen Partnerschulen Rechnung getragen. Es gibt seit mehr als 20 Jahren jährlich stattfindende Austauschprogramme mit der Förderschule im englischen Worcester (seit 1989) und der weiterführenden polnischen Spezialschule mit dem Förderschwerpunkt Sehen in Krakau (seit 1990). Jedes Jahr besuchen blista-Schüler diese Partnereinrichtungen und fungieren dann als Gastgeber für die Gegenbesuche. Seit dem Jahr 2002 steht die Carl-Strehl-Schule in guten Verbindungen zum "Institut Monteclair", einem Förderzentrum im französischen Angers, mit dem ebenfalls reger Besuchsverkehr herrscht. In diesem Jahr kam mit der russischen Blinden- und Sehbehindertenschule in St.Petersburg ein neuer Partner hinzu. "Vertreter der russischen Schule hatten uns kontaktiert und engeren Austausch gewünscht", beschreibt Lembke die Kontaktaufnahme. Dieses Jahr fuhren einige russisch-stämmige Blista-Schüler nach St.Petersburg um erste Kontakte zu knüpfen, im September freut sich die Schulgemeinde auf den ersten Gegenbesuch.

Ein ganz besonderes Projekt stellt die Möglichkeit des sechswöchigen Worcester-Aufenthalts für einige blista-Schüler pro Jahr dar. Die Schüler nehmen in dieser Zeit am regulären englischen Unterricht teil, verbringen ihre Freizeit dort und haben die Chance, über einen längeren Zeitraum in einer anderen Kultur, einer anderen Sprache zu bestehen. "Das ist eine unheimlich wichtige Erfahrung für unsere Schüler", sagt Lembke. Bedauerlicherweise wurde in Worcester in den vergangenen Jahren das Lehrangebot für Deutsch zugunsten von Spanisch zurückgefahren, so dass ein sechswöchiger Marburg-Aufenthalt eines englischen Schülers nur schwer möglich ist. Neben den Austauschprogrammen stellen die Klassen- und Kursfahrten ins europäische Ausland, etwa die Fahrt des Oberstufenkurses Latein nach Rom, einen weiteren wichtigen Baustein im internationalen Angebot der Blista dar. Seit wenigen Jahren wird außerdem in der Jahrgangsstufe 10 ein Schulhalbjahr lang der Geschichtsunterricht mit dem Englischunterricht kombiniert. "Ich kann mir durchaus vorstellen solche bilingualen Angebote zukünftig weiter auszubauen", so der Schulleiter.

Für die Zukunft wünscht sich Lembke dass sich die Carl-Strehl-Schule in ihrem Status zu einer mitarbeitenden UNESCO-Schule entwickeln könnte. Diese Schulen, in Deutschland gibt es knapp 210 davon, verfolgen die Ziele der UNESCO. Unter anderem stehen die Umsetzung der Menschenrechte, "interkulturelles Lernen", "Nachhaltigkeit", "Globales Bewusstsein" und "Respekt, Toleranz und Achtsamkeit" in den Leitlinien dieser Schulen. Alle Schultypen sind dort vertreten. "Das würde uns die Chance eröffnen die Internationalität der blista und die wichtigen Erfahrungen in diesem Bereich noch stärker in den Unterrichtsalltag integrieren zu können", beschreibt Lembke seine Idee.

Der Schulleiter freut sich besonders, wenn er von ehemaligen Schülerinnen und Schülern erfährt, die den Schritt gewagt haben und Teile ihres Studiums im Ausland verbracht haben oder ganz im Ausland geblieben sind. "Es freut mich, dass diese Blinden und Sehbehinderten soviel Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl besitzen und nach dem Motto handeln: Ich muss mich nicht verstecken. Wenn wir mit unserer Arbeit dazu einen kleinen Beitrag leisten konnten", so der Schulleiter, "dann bin ich zufrieden."

Auf dem Foto, das in der Schwarzschriftausgabe enthalten ist, stehen neun Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihrem Lehrer Hans Junker im Treppenhaus der Eremitage in St. Petersburg. Auf den hellgrauen Marmorstufen liegt roter Teppichboden, und im Hintergrund sind die mit Stuck und goldenen Ornamenten verzierten Wände des Gebäudes zu sehen.


Schwerpunkt: globalisierte Blindenwelt

Rund um den Globus - blista International

Nicht nur die Carl-Strehl-Schule agiert im internationalen Bereich. Auch andere Abteilungen der Deutschen Blindenstudienanstalt bewegen sich über nationale Grenzen hinweg.

In den 1970er Jahren wurde die "Rehabilitationseinrichtung für Sehgeschädigte" (RES) der Blista durch den Amerikaner Dennis Corey und weiteren amerikanischen und niederländischen Mobilitätstrainern auf- und ausgebaut. Die blista konnte so von internationalem Know-how profitieren und neue Kompetenzen, neue Arbeitsfelder erschließen. Seit Mitte der 1980er Jahre haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RES ihr erworbenes Wissen im Bereich "Orientierung & Mobilität" sowie "Lebenspraktischer Fähigkeiten" und blindenspezifischen Hilfsmitteln selbst an andere, internationale Partner weitergegeben. So berichtet Jürgen Nagel, Leiter der RES, beispielsweise von Fortbildungen in Griechenland um dort die in Marburg gesammelten Erfahrungen weitergeben zu können.

In den vergangenen 20 Jahren arbeiteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RES in Projekten auf den Nordbahamas, in Katar oder - ganz aktuell - am Aufbau von blinden- und sehbehindertenspezifischen Rehabilitationsangeboten in Georgien. Sabriye Tenberken besuchte vor einigen Jahren mit Lehrkräften der von ihr gegründeten Blindenschule Lhasa Marburg, um an Schulungen und Fortbildungen im RES teilzunehmen. Der internationale Austausch stellt für die Abteilung RES einen wichtigen Bestandteil ihrer Arbeit dar. Dies wird etwa durch die kontinuierliche Teilnahme am "International Mobility Congress" (IMC), siehe Bericht in dieser Ausgabe, deutlich.

Internationaler Austausch und Kooperation haben auch für Manfred Fuchs, Leiter der Braille-Druckerei, einen nicht unwesentlichen Anteil an der Arbeit der Medien in Blindenschrift produzierenden Abteilung der blista. "Wir texten, prägen und zertifizieren beispielsweise die Punktschriftmarkierungen bei Medikamentenpackungen für den nationalen und internationalen Markt", so Fuchs. Unter anderem werden die kompletten Medikamentenverpackungen des ungarischen Marktes mit Blindenschriftmarkierungen versehen, so dass Blinde und Sehbehinderte aus Budapest ihre Halstabletten von blutdrucksenkenden Medikamenten unterscheiden können. "Um stets auf dem aktuellen Stand in Sachen Punktschriftmarkierungen auf Verpackungen zu sein tauschen wir uns regelmäßig mit anderen punktschriftproduzierenden Druckereien und Blindenverbänden aus", beschreibt Fuchs seine Arbeit. Desweiteren beteiligte sich die Brailledruckerei an der Erarbeitung von nationalen und europäischen Normierungen für Mindestprägegrößen bei Punktschriftmarkierungen auf Verpackungen.

Die "Deutsche Blindenhörbücherei" (DBH) versorgt zum überwiegenden Teil Hörerinnen und Hörer aus Deutschland mit aktueller Literatur - ob Belletristik oder Sachbuch, ob Bestseller oder literarischer Geheimtipp.

Insgesamt beliefert die DBH Blinde und Sehbehinderte in 33 Ländern. Unter anderem werden Hörbücher aus Marburg in Thailand, der Elfenbeinküste, Slowenien und Kanada gehört. Auch das Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL", das die DBH wöchentlich in voller Länge im DAISY-Format produziert, wird neben Deutschland in acht verschiedene Länder versandt. So konnten sich Blinde und Sehbehinderte in Spanien, der Schweiz, Kroatien, Österreich, Tschechien, Italien, Schweden und sogar Vietnam über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf dem Laufenden halten.


Integrative Schulbildung für blinde Kinder in Äthiopien - ein Erfolgsmodell

Seit zwei Jahren können blinde Kinder in Debre Marcos integrativ in regulären Schulklassen unterrichtet werden. Die Kinder zeigen hervorragende Leistungen und können am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Lehrer und Vertreter der Schulbehörde haben nach einem Intensivkurs in integrativer Pädagogik das Modell an verschiedenen Schulen mit großer Akzeptanz umgesetzt.

Bereits seit 25 Jahren werden 40 blinde Kinder in Addis Abeba an der German Church School (1.400 Schüler Klasse 1-8) integrativ unterrichtet. Nach einer Vorbereitungsphase zum Erlernen der Brailleschrift und lebenspraktischer Fähigkeiten können sie am regulären Schulunterricht teilnehmen. Sie erhalten zusätzlichen Unterricht für Mathematik und den Umgang mit dem Computer.

Die Dibza Junior Schule in Debre Marcos hat sich vor einigen Jahren bereit erklärt, das Integrationsmodell der German Church School mit Hilfe aus Deutschland einzuführen. Angeregt wurde das Projekt von der Augenärztin Ulrike Hohmann, die es seitdem umfassend betreut. Die meisten Kinder kommen aus einem Blindenheim, das bis vor fünf Jahren völlig vernachlässigt war. Die Kinder lebten ohne erwachsene Betreuung und besuchten eine einfache Blindenschule. Wir konnten die Lebensbedingungen seitdem erheblich verbessern: Das Heim wurde renoviert, es gibt nun eine Heimmutter, eine Putzfrau und einen Nachtwächter und die Kinder können neben dem Besuch einer Blindenschule Stricken und Handarbeiten erlernen.

Als erster Schritt wurden Klassenräume für den Vorbereitungsunterricht, für die Erstellung und Lagerung von Unterrichtsmaterialien und für einen Computerraum gebaut. Zusätzlich erhielten zwei Lehrerinnen eine Zusatzausbildung in Blindenpädagogik. Der zentrale Schlüssel zum Erfolg des Projektes sind dreiwöchige Intensivkurse für Lehrer und Mitarbeiter der Schulbehörde, die seit drei Jahren in Debre Marcos stattfinden. Die Kurse werden von zwei erfahrenen Lehrern der German Church School durchgeführt, die dort für die Integration der blinden Kinder verantwortlich sind. Anschließend kann die Gruppe in Addis Abeba an der German Church School integrativen Unterricht in der Praxis erleben. Alle Teilnehmer sind nach dem Lehrgang hochmotiviert und in der Lage, blinde Kinder in ihre Klassen einzugliedern.

Dank der intensiven Lehrgänge können inzwischen 100 blinde Kinder an Schulen in Debre Marcos und auf dem Land Integrationsklassen besuchen. Pro Klasse sind zwei bis drei blinde Kinder integriert. Sie haben ein sehendes Kind als Paten an ihrer Seite, das bei den Aufgaben und Klassenarbeiten hilft. Neun blinde Kinder haben es sogar geschafft zu den drei Besten ihres Jahrgangs zu gehören. Das ist ein unerwarteter Erfolg, der alle mit Freude und Stolz erfüllt hat. Durch den integrativen Schulbesuch haben sie neues Selbstbewusstsein erlangt und sind Teil der Gesellschaft geworden. Sie wünschen sich nun zusätzlichen Englischunterricht, einen Computer und einen Fernseher, um den Puls der Zeit zu spüren - Wünsche, die einfach zu erfüllen sind!

Inzwischen wurden Dozenten an der Universität von Debre Marcos fortgebildet um das Programm in die Ausbildung von Lehrern zu übernehmen, damit das Projekt möglichst rasch Verbreitung findet. Im Sommer wird ein Fortgeschrittenenkurs für besonders engagierte Lehrer und Dozenten stattfinden. Es ist günstig, dass die äthiopische Regierung am Thema Integration interessiert ist, und so wurde bereits ein Film über das Projekt im Rahmen der nationalen Lehrerfortbildung im Fernsehen ausgestrahlt.

Im letzten Jahr gab es einen Einführungskurs für Lehrer und Vertreter der Schulbehörde von Nekemte, sodass das Integrationsmodell nun in einer weiteren Region eingeführt werden kann. Dort leben 2.000 blinde Kinder auf dem Lande ohne Zugang zur Schulbildung. Um auch diese Kinder zu erreichen, werden wir die Lehrerfortbildung weiterführen und hoffen, dass sich damit das Programm als Schneeballsystem fortsetzt.

Der Erfolg des Projektes ist dem unermüdlichen Einsatz von Ato Teshome, Lehrer an der German Church School, zu verdanken, der alle Fortbildungen plant und durchführt. Die komplizierten Abrechnungen macht Ursel Stahlmann, eine pensionierte Lehrerin vom Rotary Cub Bole, Addis. Die Verbreitung des Programms wäre ohne Unterstützung von Schulbehörden und einer engagierten äthiopischen Lehrerschaft nicht möglich. Große Unterstützung haben wir durch die Philipp-Reis-Schule in Bremen und die Integrierte Gesamtschule Osterholz erhalten sowie durch die korrekte Verwendung der Spendengelder von Günter Meyerdierks vom Rotary Club Osterholz. Allen Beteiligten gebührt Dank und Anerkennung - möge das Projekt für möglichst viele blinde Kinder in Äthiopien ein "Lichtblick" sein.

Zur Autorin

Seit acht Jahren fahren die Augenärzte Thomas und Ulrike Hohmann nach Äthiopien, um augenärztliche Projekte zu betreuen. Ulrike Hohmann hat zusätzlich die Förderung junger Menschen zu ihrer Aufgabe gemacht. Das erste Projekt war die Unterstützung der Dibza Schule, u.a. mit dem Ziel blinde Kinder integrativ beschulen zu können. Durch die Entdeckung des Blindenheims wurde diese Aufgabe zum Schwerpunkt ihrer Arbeit. Zusätzlich hat sie mit einem Pastor in Nekemte ein Stipendienprogramm für junge mittellose Frauen aufgebaut, sodass inzwischen 70 Frauen studieren können. Neben den jährlichen Besuchen in Äthiopien steht Ulrike Hohmann in regem E-mail-Kontakt mit den Partnern vor Ort und pflegt die Kontakte zu den vielen hilfsbereiten Menschen in Deutschland. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

In der Schwarzschriftausgabe sind zwei Fotos beigefügt. Eines zeigt eine Gruppe sehender äthiopischer Lehrer mit verbundenen Augen beim Orientierungstraining. Am linken Bildrand gehen die Personen über Grasboden, am rechten Bildrand sind einige Lehrer damit beschäftigt, mit verbundenen Augen tastend an einer Hauswand entlangzugehen.

Auf dem zweiten Bild sind Schüler einer 8. Klasse in ihrem Klassenraum zu sehen. Zwei der Schüler, die sich rechts im Bild befinden, sind blind und werden von jeweils einem sehenden Paten im Unterricht begleitet. Alle Kinder stehen und lächeln in die Kamera.


With Dots and Pixels: Fallbeispiele zur verbesserten Arbeitseffizienz - ein Bericht von den Philippinen

In den vergangenen zehn Jahren hat die Digitalisierung für Blinde auf den Philippinen in punkto Arbeitsmarktintegration wahre Durchbrüche erzielt. Dass sich die Arbeitseffizienz blinder Angestellter verbesserte, dazu hat Braille immer mit beigetragen. Der folgende Artikel beschreibt drei Beispiele aus dem Ausbildungszentrum ATRIEV: 1) Computertraining mithilfe der Blindenschrift, 2) Personalvermittlung unter Einsatz von Braille und EDV, 3) Telesales mit Screenreader und Braillezeile.

Im Jahr 1994 von einer Gruppe von blinden Computer-Enthusiasten gegründet, ist ATRIEV eine Non-Profit-Organisation, die sich auf Informations- und Kommunikationstechnologie basierte Ausbildungsprogramme für sehbehinderte Personen spezialisiert hat. ATRIEV ist das einzige IT-basierte Ausbildungszentrum für Blinde auf den Philippinen. Die ATRIEV-Trainingsprogramme sind modular konzipiert und bauen aufeinander auf, d.h. der erfolgreiche Abschluss des ersten Moduls ist Voraussetzung für den Einstieg in eines der Folgemodule. Bislang wurden dort mehr als 500 blinde junge Erwachsene im Zugang zu den neuen Technologien geschult sowie Fachkräfte für Blinde und Eltern von blinden Kindern. Dabei hat ATRIEV auf den Philippinen eine Reihe von "Premieren" produziert: die ersten blinden medizinischen Schreibkräfte ausgebildet und blinde Menschen für die Berufsbereiche Programmierung, Callcenter-Service und -Vertrieb, Personalvermittlung, Online-Redaktion, Webdesign und Suchmaschinenoptimierung qualifiziert und auch erfolgreich vermittelt.

Braille hat zweifellos seinen Platz im digitalen Zeitalter

"Computertraining mithilfe der Blindenschrift" - dieser PC-Kurs wird im Präsenzunterricht mit blinden und sehbehinderten Teilnehmenden durchgeführt. Allen Kursteilnehmern steht dabei ein eigener PC zur Verfügung. Einführungen und Übungen erfolgen simultan. Die Nutzung eines Screenreaders bildet den Schwerpunkt des Trainings. Für geburtsblinde Studierende liegt bei dieser Trainerausbildung die Herausforderung darin, die Anordnung grafischer Elemente und die Cursor-Bewegungen nachvollziehen bzw. künftig erläutern zu können. Da Computer-Anwendungen sehr visueller Natur sind, gilt es zu begreifen, wie man sich auf den verschiedenen Ebenen des Bildschirm-Layouts bewegt, was ein Cursor ist, wie er aussehen kann und wie man ihn bewegt.

Die Lösung für diese Herausforderungen ist die Verwendung einer taktilen Darstellung des Bildschirms. Für die Textverarbeitung können Cursorfunktionen aber auch anhand einer Braillezeile erklärt werden. Als es ATRIEV im Jahr 2010 gelang, die Verwendung einer Braillezeile in die Vermittlung grundlegender Computerkenntnisse bei Geburtsblinden einzubeziehen, stieg die Erfolgsquote für konzeptionelles Verstehen auf 80 Prozent und damit zugleich auch der Anteil der erfolgreichen Absolventen.

Fallbeispiel: Personalvermittlung unter kombiniertem Einsatz von Braille und EDV

Im Alter von drei Jahren mit Retinitis Pigmentosa diagnostiziert, besuchte Criselda Bisda zunächst eine Regelschule und wechselte später auf eine "Highschool" mit spezifischen Förderangeboten. Dort lernte sie Braille lesen und schreiben. Später auf dem College belegte sie Kurse in Psychologie und engagierte sich unter anderem als Campus-Journalistin. Anschließend absolvierte sie bei ATRIEV einen EDV-Kurs, und von dort vermittelte man sie an das Unternehmen TeleTech, einen weltweit führenden Outsourcing-Dienstleister.

Zu ihren Aufgaben als Personalvermittlungs-Assistentin zählte das Durchführen von Telefoninterviews und vor Ort organisierten Bewerbergesprächen. Sie war dafür verantwortlich, dass die von ihr ausgewählten Bewerberinnen und Bewerber dem Anforderungsprofil entsprachen. Dazu galt es jeweils hunderte von Kriterien zu überprüfen und das innerhalb eines strikt vorgegebenen Zeitrahmens. Criselda Bisda bewährte sich hervorragend, wurde im Jahr 2009 zum "Corporate Ressource Spezialist" befördert und ist heute als "Marketing Communications Specialist" von TeleTech vor ein breites Spektrum unterschiedlichster Aufgaben gestellt.

Ein Computer mit Screenreader ist als grundlegende Arbeitsplatzausstattung unverzichtbar, wenn es um die rechtzeitige und genaue Erfüllung dieser Aufgaben geht: um das Schreiben von Berichten und E-Mails oder eine effiziente Interaktion mit Mitarbeitern und Partnern im ganzen Land. Auf der anderen Seite macht Criselda Bisda sich während Konferenzen und Offsite-Meetings ihre Notizen in Braille. Probleme treten auf, wenn das Unternehmen neue Online-Tools lanciert, die nicht barrierefrei sind und die blinde Frau in ihrer Produktivität einschränken oder die Berichtserstellung verzögern. Dann muss sie sich wichtige Informationen erst in zugängliche Formate übersetzen lassen bzw. mehr Zeit investieren.

Criselda Bisda ist die erste blinde Philipina im Mainstream der Wirtschaftwelt. Sie hat sich in einem global agierenden Unternehmen in sieben Jahren in eine der wichtigen Führungspositionen emporgearbeitet. Sie verdreifacht ihre Anstrengungen, um sicherzustellen, dass sie weiterhin die Erwartungen des Unternehmens übertrifft. Ihre Geduld, ihr Enthusiasmus und ihre Hingabe machen sie auch für ihre sehenden Kollegen zum Vorbild.

Telesales-Training

Unser Telesales-Trainingsmodul wurde mit dem Ziel der beruflichen Ausbildung zum "Sales Executive" unmittelbar auf die Anforderungen eines ATRIEV-Partnerunternehmens zugeschnitten. Es richtet sich an Highschool-Absolventen, die mindestens zwei Jahre College-Erfahrung mitbringen. Der Kurs ist in zwei Phasen unterteilt: Phase 1 besteht aus einem 20-tägigen Training in Callcenter-Grundlagen, Verkaufstechnik und Arbeitsethik. Phase 2 beinhaltet eine Produktschulung durch die Partnerfirma, die in den Räumen des ATRIEV Schulungszentrums durchgeführt wird. Zur Aufnahme in Phase 2 führt die Partnerfirma ein spezielles Assessment durch. Die erfolgreichen Kandidaten erhalten eine spezielle Datenbankschulung sowie Screenreader und Braillezeile bzw. Vergrößerungssoftware. Allen, die am Ende der Phase 2 die Abschlussprüfung bestehen, wird ein sechsmonatiger Arbeitsvertrag angeboten.

In der Partnerfirma erhalten die neuen Telesales-Agenten zunächst ein zweiwöchiges Training-on-the-Job, werden sodann verschiedenen Teams zugeordnet und die eigentliche Arbeit kann beginnen. Inhaltlich geht es dabei darum, die Bestandskundschaft eines Bankunternehmens über neue Produkte und Dienstleistungen zu informieren und entsprechende Vertragsabschlüsse zu erzielen. Alle Telesales-Agenten erhalten eine Kundenliste, die es abzutelefonieren gilt, sowie eine Zielmarge bezüglich der Abschlüsse. Dabei unterscheiden die zeitlichen Vorgaben für die Kontaktaufnahme und Erfolgsmargen grundsätzlich nicht zwischen sehenden, sehbehinderten oder blinden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Unter dem technischen Blickwinkel betrachtet, sehen die Arbeitsanforderungen wie folgt aus: Die Kundenkontaktlisten liegen im Excel-Format vor. Die Kontodetails der Bankkunden lassen sich Blinde vom Screenreader auslesen, dann nutzen sie das Telefon für die Kontaktaufnahme und verwenden während des Gesprächs die Braillezeile, um Informationen auszulesen bzw. einzugeben.

Im ersten Durchgang unseres Telesales-Trainings starteten zehn blinde und sehbehinderte Teilnehmende mit Phase 1, die besten fünf Kandidaten qualifizierten sich für Phase 2. Alle fünf absolvierten die Abschlussprüfung erfolgreich und erhielten einen sechsmonatigen Arbeitsvertrag. Der zweite Durchgang ist schon geplant.

Zur Autorin

Carolina Catacutan-Sam zählt zu den Gründungsmitgliedern der Organisation ATRIEV. Sie trainierte zunächst die Lehrenden, hatte dann die Direktion des Bereichs Schulung und Beschäftigung, später die Leitung der Entwicklungsabteilung inne und ist heute Geschäftsführerin.

Für Interessierte

Diesen Redebeitrag zum Weltkongress Braille21 in Leipzig gibt unsere deutsche Übersetzung gekürzt wieder. Die Tagungsdokumentation wird durch die DZB Leipzig in Schwarzschrift, digital und in Brailleschrift herausgegeben. Wenn Sie an einem Exemplar interessiert sind, wenden Sie sich bitte an die Kongressmanagerin Jenni Schwan (Tel.: 0341 7113-162, E-Mail:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!).

Das Foto in der Schwarzschriftausgabe zeigt die Autorin Carolina Catacutan-Sam während ihres Vortrags beim Weltkongress Braille21. Die blinde Geschäftsführerin verwendet einen Laptop mit Braillezeile. Das dunkle, halblange Haar wird von einem goldenen Haarreif gehalten, sie trägt ein bordeaufarbenes Satin-Top und dazu einen farbenfroh gemusterten Bolero. Die roten Ohrstecker stellen kleine Blüten dar. (Foto: DVBS itrol).


Das Projekt "Grundlagen der Rehabilitation blinder und sehbehinderter Menschen - Orientierung u Mobilität und Lebenspraktische Fähigkeiten in Georgien

Die Phase III des Projektes

Vom 13. bis zum 22. Februar 2012 fand Phase III des Projekts ebenfalls in den Räumlichkeiten der Ilia- Universität statt. Die Teilnehmerzahl hatte sich auf zwölf reduziert, da eine Teilnehmerin eine (zeitlich befristete) Stelle in einem anderen Projekt angenommen hatte.

Von Oktober 2011 bis Januar 2012 verfassten die Teilnehmer wie geplant ihre schriftlichen Hausaufgaben (in Georgisch), d.h. Berichte über ihre praktische Arbeit mit Schülern der Skola in Orientierung und Mobilität (O&M) und Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) und fertigten ihre Projektarbeiten an. Sie hatten erste Lehrpraxiserfahrungen gesammelt. Diese Arbeiten lagen uns rechtzeitig übersetzt in schriftlicher Form vor.

Zu Beginn der Fortbildung stellten die Teilnehmer diese Hausarbeiten im Plenum vor. Bei der Präsentation der praktischen Arbeit mit den Schülern stellten sich neben erfreulichen Ansätzen folgende Problemfelder heraus:

  • Statt einer Förderung im Bereich Low Vision hatten sehbehinderte Schüler Unterricht in Blindentechniken erhalten.
  • Die Lehrer beschränkten sich beim methodischen Vorgehen auf Frontalunterricht. Ein Dialog mit den Schülern fand kaum statt.
  • Inhalte wurden nur einmal vermittelt und nicht geübt.
  • Manche Techniken waren den Schülern nicht fehlerfrei gezeigt worden.

Es ergab sich daraus die Konsequenz, vom geplanten Programm abzuweichen: Statt weiterführende Themen zur Umweltgestaltung und zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel anzubieten, wurden bereits behandelte Inhalte anhand von anschaulichen und konkreten Beispielen wiederholt und vertieft. Der weitere Fortbildungsverlauf zeigte, dass die meisten Teilnehmer nun ein besseres Verständnis für die Inhalte entwickelt hatten und diese verbessert umsetzen konnten.

An neuen Inhalten wurden nur die Techniken der sehenden Begleitung vermittelt. Bei der Anfertigung der Hausaufgaben und der Durchführung der unterrichtspraktischen Prüfungen erbrachten nicht alle Teilnehmer die erforderlichen Leistungen. Daher wurden abschließend nur acht Zertifikate neben fünf Teilnahmebescheinigungen vergeben.

Abschlussveranstaltung:Die Phase III wurde mit einem Diskussionsforum abgeschlossen. Neben den Kursteilnehmern (bis auf zwei Erkrankte) nahmen daran die Schulleiterin der Schule für Blinde (Skola 202), Vertreter des Bildungsministeriums und der Blindenunion teil. Die Rückmeldungen der Kursteilnehmer über die erlebte Fortbildung waren durchweg positiv. In der Phase der praktischen Arbeit mit den Schülern hätten diese sehr motiviert und engagiert mitgearbeitet. Eltern wünschten die Fortsetzung der Rehabilitationsarbeit. Auch die Kursteilnehmer äußerten vielfach den Wunsch, ihre Arbeit mit Schülern fortsetzen zu können. Die Schulleiterin bot dafür organisatorische Hilfestellung an.

Die vertretenen Institutionen und die Teilnehmer äußerten sich zu der Frage, wie die Fortbildungsinhalte in nächster Zukunft umgesetzt werden könnten. Die folgenden Vorschläge wurden vorgetragen:

  • Fortbildung des Kollegiums der Schule 202 (der Schule für Blinde) durch die Lehrerinnen, die am Kurs teilgenommen hatten
  • Veranstaltung von Elternabenden, in denen über die Inhalte der Fortbildung informiert werden soll
  • Organisation von Seminaren mit Vertretern der Blindenunion in den Regionen Georgiens, in denen die Inhalte der Fortbildung vorgestellt werden sollen
  • Eine Teilnehmerin möchte ein Seminar an der Universität anbieten.
  • Seitens des Ministeriums wurde geäußert, dass die Inhalte des Universitätsstudiums geändert und vor allem durch Praxisanteile (Arbeit mit den Schülern der Skola 202) ergänzt werden sollen.

Die Ergebnisse wurden sowohl auf georgischer als auch auf unserer Seite protokolliert und werden künftig als Grundlage für die Überprüfung der Nachhaltigkeit des Projektes dienen.

2. Beobachtungen und Bewertungen

Die Rehabilitationslehrerinnen, Waltraud Czieslik und Natalja Mirau leisteten fachlich kompetent wiederum sehr gute Arbeit. In den schriftlich eingereichten Hausaufgaben wie auch in den von den Kursteilnehmern vorgeführten Unterrichtsbeispielen fiel auf, wie wenig noch bislang der Aspekt der individuellen Förderung des einzelnen jungen Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung im Bewusstsein der Teilnehmer verankert ist. Das äußerte sich z.B. darin, dass in der selbständigen Praxisphase in den Wintermonaten teilweise sehbehinderte Schüler durch eine Augenbinde "blind gemacht" wurden. Auch schien den Teilnehmern neu zu sein, im Dialog die individuelle Bedürfnislage jedes Einzelnen sorgfältig zu erkunden.

Als zielführend hat sich die Phase der praktischen Erprobung und konkreten Anwendung des Gelernten sowie dessen schriftliche Aufarbeitung durch die Kursteilnehmer während der Wintermonaten erwiesen:

  • Auf der Ebene der Kursteilnehmer offenbarten sich dadurch Schwächen, die erkannt und im weiteren Verlauf der Fortbildung zumindest teilweise aufgearbeitet werden konnten.
  • Den Schülern und ihren Eltern konnte dadurch konkreter Einblick in die neuen Inhalte gegeben werden. Zumindest bei einigen Eltern wich die anfängliche Skepsis und wandelte sich in wachsende Zustimmung, bis hin zu Forderungen nach mehr Rehabilitationsarbeit mit ihren Kindern. Die beteiligten Schüler äußerten sich durchweg positiv über den erreichten Zuwachs an Selbständigkeit.
  • Auf der Ebene des Ministeriums wurde die Wirksamkeit konkreter Reha-Maßnahmen mit zunehmender Dauer des Projektes neu eingeschätzt: Es wurde erkannt, dass die Lehrerausbildung (an der Universität) curricular verändert werden muss und dass darin Praxisanteile eingearbeitet werden müssen.

Als hilfreich für die Bewältigung der sich aus dem Projekt ergebenden neuen Aufgaben und Ziele erweist sich noch ein weiterer Aspekt: Einige der Kursteilnehmer (die Studenten und die beteiligten Lehrer der Skola) sind den Verantwortlichen im Bildungsministerium persönlich gut bekannt, sodass für die künftige Arbeit eine belastbare Vertrauensbasis gegeben ist.

Leider wurde - trotz meiner entsprechenden Ratschläge - die festliche Zertifikat-Übergabe nicht als Chance zu einer öffentlichen Darstellung der Bedürfnisse Blinder in Georgien genutzt: Die GBU hatte als Veranstalter versäumt, Presse und Fernsehen zum Festakt einzuladen.

Alle diese Aspekte zusammengenommen lassen mich zu dem Ergebnis kommen: Das bisherige Projekt mit den Phasen I - III kann als sehr erfolgreich bewertet werden.

Auswirkungen des Projektes und der nächste Schritt: Überprüfung der Nachhaltigkeit

Eine der beteiligten Kursteilnehmerinnen hat eine Stelle in einem "multidiszplinären Team", welches an der Skola 202 arbeiten wird, erhalten. Eine Teilnehmerin an Phase I und II arbeitet mittlerweile an einer Schule für Hörbehinderte. Zwei Teilnehmer werden den hochgradig sehbehinderten und stark gehbehinderten neunjährigen Schüler Giorgi in seinem Heimatort an der Grenze zu Aserbeidschan betreuen (die Verbindung zu der Familie kam durch die Initiative "Menschen in Not" aus Sachsen zustande). Die beiden Kursteilnehmer können auf diese Weise Erfahrungen sammeln und konkret Wege in das Pilotprojekt "Mobile Betreuung in Georgien" bahnen. Diese Entscheidung wurde im Einvernehmen mit der Skola 202 und dem Ministerium gefällt. Da letzteres erst Ende April Entscheidungen über die finanzielle Unterstützung dieser Maßnahme treffen kann, wurden 250 Euro aus Projektmitteln dafür zur Verfügung gestellt.

Ein wichtiger bevorstehender Bestandteil des laufenden Reha-Projektes ist die Überprüfung der Nachhaltigkeit der bisherigen Maßnahmen. Dies wurde den georgischen Partnern mehrfach verdeutlicht, verbunden mit der klaren Anmerkung, dass vom Ergebnis dieser Überprüfung die Entscheidungen über mögliche weitere Maßnahmen abhängig sein werde.

Den beteiligten Partnern - Blindenunion, Skola 202 und Ministerium - wurden die folgenden Bereiche genannt, auf die sich die Überprüfung der Nachhaltigkeit beziehen werde:

  • Verankerung der Reha-Maßnahmen in den Schulalltag und Verbreitung des Know-how innerhalb des Lehrerkollegiums durch interne Fortbildungsmaßnahmen
  • Verbreitung der Reha-Kenntnisse innerhalb der Organisationen der Blindenunion in den Regionen Georgiens
  • Aufnahme von Inhalten der Reha-Maßnahmen in die universitären Curricula der Lehrerausbildung.

Zur Durchführung der Nachhaltigkeitsprüfung müssen die Fragestellungen noch präziser ausgearbeitet und den Georgiern mitgeteilt werden - wobei das Moment einer möglichen Überforderung der georgischen Partner vermieden werden muss. Über die Zusammensetzung des überprüfenden Teams wird danach zu entscheiden sein.

Ausblick

Nach Abschluss der Fortbildung fand im Ministerium ein "Runder Tisch" statt, an welchem auch die Blindenunion, die Schulleiterin der Skola und ich teilnahmen. Erörtert wurden die strategischen Linien der Weiterentwicklung im Blinden-/Sehbehindertenbereich. Die Ergebnisse lassen sich in diesen Punkten zusammenfassen:

Die Skola 202 soll in Richtung eines Kompetenz- und Ressourcen-Zentrums weiterentwickelt werden (auch die "mobile Einheit" und der Bedarf an vollausgebildeten Reha-Lehrern wurden angesprochen). Die Skola organisiert eine Schulstunde/Tag, in welcher interne Fortbildung (auch die von Eltern) stattfinden soll. Die Fortgebildeten sollen nach Möglichkeit beteiligt werden. Es soll angestrebt werden, Lehrer der Skola (und auch die Fortgebildeten) mit einem Teil ihres Deputats in die Regionen (zum Zweck der Information) zu entsenden.

Bei dem Ziel, das Problem der beruflichen Bildung konkret anzupacken, sollen auch die vorhandenen Strukturen der Blindenunion genutzt werden (Nutzung des College für berufliche Bildung in Ponichala, Tbilisi). Der Aspekt konkreter praktischer Arbeit soll in die Curricula der Universität in Zusammenarbeit mit der Skola eingebaut werden.

Persönliche Beobachtungen veranlassen mich zu der Hinzufügung eines weiteren Punktes: Notwendig erscheinen mir Hilfestellungen für die Georgische Blindenunion, damit diese sich in die Richtung eines Interessenverbandes, der die verschiedenen Interessen bündelt und auch Lobby-Arbeit effektiv betreibt, entwickeln kann. Dies wäre strategisch sinnvoll, weil inzwischen einige NGOs (etwa sieben) im Blinden- bzw. Sehbehindertenbereich mit verschiedenen Zielrichtungen arbeiten (wollen) und zudem (teilweise gegeneinander, zumindest unverbunden) um Fördermittel und Reputation konkurrieren.


Stolpersteine auf dem Weg zur Inklusion

(Fortsetzung aus horus 1/2012: Teile 2, 3 und 4)

Stolpersteine auf dem Weg zur Inklusion - 30 Jahre Inklusion blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler in Dänemark - Ein Erfolgsmodell?

Teil 2: Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Sehen - Inklusion oder Isolation?

Dieser Teil des Forschungsprojekts stützt sich auf Gespräche mit 13 blinden bzw. sehbehinderten Kindern im Alter von 10 bis 15 Jahren, deren Eltern ebenfalls befragt wurden.

Der Bericht ergibt ein sehr besorgniserregendes Bild von blinden und sehbehinderten Teenagern. Heutzutage werden alle Schüler mit Förderbedarf im Förderschwerpunkt Sehen, aber ohne zusätzliche Behinderung in das reguläre Schulsystem eingebunden. Dies gibt ihnen einerseits die Anregung, mit ihren sehenden Peers mitzuhalten, aber es erlaubt ihnen nicht automatisch ein vollständig integriertes Leben zu führen. Um wirklich in die Gesellschaft mit eingebunden zu werden, müssten sie auch über soziale Interaktion und mehr über sich selbst und ihre Behinderung lernen, auch wenn dieser Prozess der Einsicht manchmal schwer und schmerzhaft sein kann. In diesem Fall versagen die Erwachsenen. Sie sind über das Wohlergehen des Kindes im Hier und Jetzt besorgt, und sie möchten den Kindern und Jugendlichen eine glückliche Kindheit bieten, geschützt und abgeschirmt von schmerzhaften Erfahrungen. Die Erwachsenen können erfolgreich im Hier und Jetzt leben; aber für die Kinder geht dies auf Kosten einer adäquaten Entwicklung der menschlichen Ressourcen, die später im Leben von so großer Wichtigkeit sind, besonders auf dem Arbeitsmarkt.

Aktuelle Ergebnisse soziologischer Forschung bei Kindern bestätigen, dass das Verhältnis mit Gleichaltrigen der wichtigste Faktor in der Identitätsentwicklung eines Kindes darstellt. Aber der Forschungsbericht macht deutlich, dass sich die Diskrepanz zwischen blinden und sehbehinderten Kindern und ihrer Peergroup im Teenageralter verstärkt.

Die sehbehinderten Kinder geben in der Untersuchung an, dass sie gut in der Schule sind aber dass sie das Gefühl haben, nicht mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert zu sein wie ihre Mitschüler. Eine der häufigsten Aussagen der Eltern ist, dass sie ein "extrem enges" Verhältnis zu ihrem Kind haben. In dieser Hinsicht setzen sie sich von den Eltern von sehenden Kindern ab, die ihr Verhältnis zu ihrem Kind lediglich als "eng" beschreiben.

Einige Zahlen über das Sozialleben von Kindern und Teenagern

blind/sehbehindert normal sehend Besuch von Freunden empfangen: 5 Mal die Woche 0 9 2-4 Mal die Woche 8 49 1 Mal die Woche 15 22 Ein paar Mal im Monat 23 14 Selten oder nie 54 7 Freunde besucht: 5 Mal die Woche 0 7 2-4 Mal die Woche 8 55 1 Mal die Woche 8 12 Ein paar Mal im Monat 23 12 Selten oder nie 62 5

Die Forschung hat ergeben, dass Regelschulen Probleme haben, den blinden und sehbehinderten Schülern ein Bildungsniveau zu bieten, das auf dem gleichen Stand ist wie das der sehenden Schüler. Viele Schüler mit dem Förderschwerpunkt Sehen haben kein zufriedenstellendes Bildungsniveau wenn sie die Schule verlassen. Ihre Noten sind im Schnitt schlechter und 44 Prozent der sehbehinderten Schüler verlassen die Schule nach neun oder zehn Jahren ohne Abschluss. Dadurch wird die Hälfte der sehbehinderten Schüler automatisch von einer weiterführenden oder berufsbildenden Schule ausgeschlossen.

Generell sind die blinden und sehbehinderten Schüler mit ihrer Schule zufrieden, einige Faktoren werden jedoch als schwierig beschrieben. Viele Befragte geben an, dass sie sich als schwach oder "besonders" betrachtet fühlen und dass dieses Stigma sie davon abhält in vollem Maße mit ihrer Peergroup zu interagieren. Die Schüler äußern, dass sie durch ihre Behinderung oft in atypische Situationen, sowohl im schulischen als auch im sozialen Zusammenhang, versetzt werden. Paradoxerweise scheint das Kind in diesem Zusammenhang die Unterstützungsmaßnahmen eher als ein Stigma und ein Hindernis bei der sozialen Interaktion zu sehen, und nicht als eine Hilfestellung zur Entwicklung.

Teil 3: Wie psycho-soziale Faktoren den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren

Wie bereits erwähnt ist die Arbeitslosenrate unter Menschen mit Sehbehinderung in Dänemark extrem hoch. Dies hat natürlich zu mehreren staatlich finanzierten Projekten geführt, um die Zugangsmöglichkeiten dieser Gruppe zum Arbeitsmarkt zu verbessern.

Eines dieser Projekte, "Fuß fassen auf dem Arbeitsmarkt", reichte im Mai 2011 seinen Abschlussbericht ein. Das Projekt wurde von einer Kooperation bestehend aus dem dänischen Blindenverband, dem Ministerium für Beschäftigung und dem Forschungszentrum Marselisborg in Aarhus durchgeführt. 2008 führte der dänische Blindenverband eine Beschäftigungsstudie durch, in der die Mitglieder gefragt wurden, ob sie an diesem Projekt teilnehmen wollen. Ziel des Projektes war es, die Teilnehmer dabei zu unterstützen, eine Anstellung zu finden. 360 blinde und sehbehinderte Menschen antworteten: Sie möchten gerne teilnehmen, sie wollen einen Job. Nach zwei Informationsveranstaltungen in Aarhus und in Kopenhagen meldeten sich schließlich 99 Personen an. 56 von ihnen beendeten die gesamte Studie, 45 verließen sie vor Abschluss des Projekts. Von den 56 Teilnehmern, die bis zum Ende dabei waren, hatten 37 eine Anstellung gefunden oder nahmen zur Zeit des Abschluss des Projekts an einer Qualifizierungsmaßnahme teil. Der Bericht unterscheidet nicht, wie viele Personen in der einen oder der anderen Gruppe waren.

Warum konnten weniger als 10 Prozent der Personen, die angaben dass sie eine Stelle suchen, im Endeffekt Arbeit finden? Warum brachen mehr als 90 Prozent der Teilnehmer im Zeitraum zwischen dem Bekunden ihres Interesses bis zum Ende des Projekts ab? Vielen der Befragten, die sich dazu entschlossen hatten, sich gar nicht erst anzumelden oder die im Verlauf des Projekts aufhörten, wurde diese Frage gestellt. Die typische Antwort war, dass sie ihre "Meinung geändert" hatten.

Die Projektleiter schlossen daraus, dass Menschen mit Sehbehinderung eine Gruppe sind, "der schwer zu helfen ist".

Die meisten Erklärungen, die die Gruppe der "Abbrecher" gaben, standen im Zusammenhang mit Angst und Besorgnis. Sie hatten ein sehr geringes Selbstvertrauen und waren unsicher im Bezug auf ihre eigenen Fähigkeiten. Sie sahen bereits alle möglichen Schwierigkeiten auf sie zukommen, aber vor allem war es schwierig, die Motivation aufrecht zu erhalten.

Motivation ist ein psychologisches Phänomen, das eng mit Identität und Selbstbild verbunden ist - genau diejenigen Kompetenzen, die bereits in Teil 2 erwähnt wurden. Wenn die Beziehungen und Verbindungen zur Peergroup schwach sind, zeigt sich oft eine spezifische Identitätskonstellation, die sich durch ein mangelndes Verständnis seiner eigenen Fähigkeiten, begrenzten sozialen Fähigkeiten und sozialem Verständnis sowie durch Probleme, seine eigenen Ziele realistisch zu definieren und zu realisieren, auszeichnet. Dies hat zum Ergebnis, dass Menschen mit Sehbehinderung oft unsicher und ängstlich sind, was es verständlicherweise schwieriger macht, diesem Menschen professionell zu helfen.

Von daher gesehen ist es offensichtlich, warum Inklusion in Dänemark nicht funktioniert. Inklusion in Dänemark hat nicht versagt; sie hat einfach nicht das gewünschte Ergebnis produziert: aktive und vollwertige Beteiligung in der Gesellschaft. Wir tun es einfach nicht in der richtigen Art und Weise.

Teil 4: Was ist der richtige Weg?

Im Vorstand von ICEVI-Europe wurde oft über den integrativen Bildungsansatz diskutiert und die Entwicklungen - inklusive der Arbeitslosenzahlen - in den verschiedenen Ländern wurden beobachtet. Auf dieser Basis wurden drei verschiedene relevante Felder identifiziert, die sich natürlich überschneiden:

A) Die Qualifikationen der beteiligten Fachkräfte

Dies beinhaltet Klassenlehrer, Beratungslehrer, Sozialarbeiter und Integrationshelfer sowie Rehabilitationsfachkräfte und Ausbilder.

Diese Berufe benötigen vor allem Wissen in den folgenden Bereichen:

  • Kompensationsmethoden oder Bildungsansätze, die für blinde und sehbehinderte Menschen geeignet sind
  • Kompetenzen, um inklusive Bildungsmethoden zu managen
  • Kompetenzen, um mit Beziehungen zu arbeiten; z.B. das Verhalten der Familie, die Rolle des Beratungslehrers und des Integrationshelfers im Klassenraum, die Einstellung der Eltern der Mitschüler und die generelle Interaktion zwischen der Öffentlichkeit und der sehgeschädigten Person.

Diese Qualifikationen sollten verpflichtend sein. In einigen Ländern sind diese speziellen Eignungsvoraussetzungen für Lehrer gesetzlich in einem speziellen Lehrplan festgelegt. In Dänemark existieren solche auf nationaler Ebene festgelegten Voraussetzungen nicht.

B) Die Struktur des Unterstützungssystems

Dies bezieht sich auf die Anzahl der Einrichtungen und die Art der Unterstützungsmaßnahmen; auf welche Art und Weise ihre Verantwortlichkeiten festgelegt und beschrieben sind und wie sie untereinander kooperieren. Dies ist von grundlegender Bedeutung für die Effektivität der Maßnahmen.

Zu den Leistungserbringern gehören z. B. Frühförderung, Blinden- und Sehbehindertenpädagogen, Förderschulen bzw. Förderzentren, Medienzentren, nationale oder lokale Spezialeinrichtungen, berufliche Bildungszentren und Hochschulen, Arbeitsagenturen, Angebote beruflicher Weiterbildung, Rehabilitationszentren, die Versorgung mit technischen Hilfsmitteln am Arbeitsplatz und die Selbsthilfe blinder und sehbehinderter Menschen. Diese Dienstleister können unterschiedliche Namen haben und in jedem Land anders organisiert sein. Wenn allerdings zu viele unabhängige Organisationen involviert sind, die nicht eng genug zusammenarbeiten, ist das Ergebnis für die sehbehinderten Nutzer dieser Maßnahmen eher dürftig. Im Gegensatz dazu hat man in einem einheitlichen System mit klaren Verantwortlichkeiten sehr viel bessere Ergebnisse festgestellt.

Das dänische System besteht aus verschiedenen Organisationen auf nationaler, regionaler und Gemeindeebene. Es gibt keine formelle Kooperation oder staatliche Regulierung, es gibt im Gegenteil eher eine Wettbewerbsstruktur, in der jeder sich um "Kunden" bemüht um seinen Haushalt auszugleichen.

C) Die Finanzierung der Maßnahmen

Die zentrale Frage bei allen Maßnahmen ist, wer am Ende die Rechnung bezahlt. Natürlich sind in Dänemark alle Ausgaben auf gewisse Art und Weise aus öffentlichen Geldern finanziert. Kein sehbehinderter Schüler muss für seine Ausbildung aufgrund seiner Behinderung extra bezahlen. In Dänemark wird oft gesagt, dass z.B. technische Hilfsmittel kostenfrei sind. Das stimmt, aber die wahren Kosten könnten hinsichtlich der langfristigen Integration entstehen.

Ein Beispiel: Der Autor besuchte eine Schule, in der ein blinder Junge in der siebten Klasse einen Computer im Klassenraum benötigte. Aufgrund von politischen Entscheidungen über den Haushalt wurden alle finanziellen Mittel für den Bildungsbereich, die den örtlichen Schulen zugewiesen wurden, auf der Basis der Schülerzahl aufgeteilt. Der Schule, die er besuchte, wurden keine zusätzlichen Mittel für diesen Jungen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zugeteilt, so dass die Kosten für den Computer aus dem regulären Schulbudget gedeckt werden mussten. Die einzige Kostenstelle, aus der der Schulleiter den recht teuren Computer finanzieren konnte, war das Budget für die außerschulischen Aktivitäten. Die jährliche Klassenfahrt wurde abgesagt, der Junge bekam seinen Computer. Aber das machte ihn natürlich nicht gerade beliebt bei seinen Mitschülern. Dieses Beispiel zeigt, dass die Konsequenzen für die Integration katastrophal sind, wenn eine allgemeine Schule oder eine Universität die zusätzlichen Kosten für spezielle Maßnahmen so wie z.B. technische Hilfsmittel, zusätzliche Lehrerausbildung oder spezielle Klassenraumbeleuchtung aus dem normalen Budget finanzieren muss.

Wie bereits erwähnt: Alles wird aus öffentlichen Geldern bezahlt. Aber wenn ein Lehrer oder Eltern den Eindruck haben, dass andere Schüler oder die Schule finanzielle Einbußen aufgrund der Integration eines Schülers mit sonderpädagogischem Förderbedarf hat, oder wenn der Deutschlehrer des behinderten Schülers einen Braille-Kurs benötigt aber mit dem Mathematiklehrer konkurrieren muss, weil beide gleich hohe Ausbildungsbedürfnisse haben, müssen die Dinge irgendwann schief laufen.

Es ist wichtig, dass ein Land die finanziellen Ressourcen, die für blinde und sehbehinderte Schüler zur Verfügung stehen, zentralisiert und klar gekennzeichnet hat. Dies beinhaltet Ressourcen für die Lehreraus- und -weiterbildung, für professionelle Unterstützung, für Hilfskräfte, und für didaktisches Material. Wenn Inklusion funktionieren soll, ist es wichtig, dass Schüler mit Behinderungen niemals als eine zusätzliche finanzielle Belastung angesehen werden.

In Dänemark gibt es auf der politischen Ebene starke Tendenzen zur Reduzierung der nationalen oder regionalen Ressourcen. Das Prinzip, dass "Entscheidungen am besten auf lokaler Ebene getroffen werden", wird hochgehalten. Das bedeutet, dass der Schulleiter selbst entscheidet, ob das Dach der Schule repariert wird oder ob die Lehrer eine Fortbildung bekommen. Dies kann von Vorteil sein, es hilft allerdings nicht im Bezug auf die Integration von sehbehinderten Schülern.

4. Zusammenfassung

In Dänemark ist bezüglich der Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bildungsbereich genau der falsche Weg eingeschlagen worden. Es ist nicht die Frage, ob integrative Bildung an sich falsch oder ineffektiv ist. Aber es muss richtig gemacht werden und nicht unter der Prämisse, Geld zu sparen. In vielen Fällen ist ein inklusives Bildungssystem teurer als der Unterricht in segregierter Form. Im Vergleich einiger europäischer Länder sieht man deutlich das direkte Verhältnis zwischen der Art und Weise wie ein Land die drei organisatorischen Faktoren managed und der Arbeitslosenquote von blinden und sehbehinderten Menschen in dem jeweiligen Land. Entscheidend ist, das richtige Modell der Teilhabe an Bildung zu wählen, um langfristig Teilhabe an Arbeit und Gesellschaft sicher zu stellen.

Übersetzung: Marie Denninghaus, M. A.

Erstveröffentlichung: blind - sehbehindert, Zeitschrift des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V. (VBS), Ausgabe 4/2011

Der englischsprachige Originaltext kann auf der Homepage des VBS nachgelesen werden:www.vbs.eu/index.php?page=zeitschrift_beitraege

Zum Autor

Peter Rodney, M.A. (Angewandte Psychologie) ist Entwicklungs- und Forschungsbeauftragter am Dänischen Institut für Blinde und Sehbehinderte (IBOS), Dozent für Psychologie an der Dänischen Pädagogischen Hochschule, Fachbereich Sonderpädagogik und Vizepräsident des ICEVI-Europe, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.


Fernstudium als Chance und Herausforderung: Das aktuelle Semesterprogramm für Blinde und Sehbehinderte umfasst annähernd 100 Kurse

Als vorerst jüngste Universität des Landes Nordrhein-Westfalen wurde 1974 die Fernuniversität in Hagen gegründet. Sie steht unterschiedlichen Gruppen von Fernstudierenden offen. In ihren vier Fakultäten bietet sie zahlreiche Bachelor- und Masterstudiengänge sowie viele Weiterbildungs- oder Akademiestudiengänge an. Rund 70.000 Studierende sind aktuell eingeschrieben, darunter Wissensdurstige im Renten- und Pensionsalter, auch Blinde.

Das Prinzip des Fernstudiums ist leicht erklärt: Während an "Präsenz"-Universitäten die Studierenden zur Hochschule kommen, um hier zu lernen, kommt an einer "Fern"-Universität das Lehrmaterial nach Hause zum Studierenden, um sich dort aneignen/bearbeiten zu lassen. Die Fernstudierenden können wohnen oder sich aufhalten, wo es ihnen gefällt oder wo sie unentbehrlich sind.

Je nach individueller Voraussetzung und Studienabsicht können sich Interessierte an der Hagener Hochschule für ein:

  • Vollzeitstudium,
  • Teilzeitstudium oder
  • Akademiestudium

einschreiben lassen.

Schaut man sich die Altersstruktur der Menschen an, die an der FernUni in Hagen immatrikuliert sind, so fällt auf, dass ca. 4.000 der rund 70.000 Studierenden älter als 52 Jahre sind. Wir haben es hier sicherlich mit einem Alleinstellungsmerkmal der FernUniversität zu tun. Der typische Fernstudierende ist nicht der junge Mensch, der nach bestandenem Abitur ein Studium beginnt. Viele Fernstudierende stehen bereits im Berufsleben, oder es sind Menschen, die sich weiterbilden oder einfach nur Interessen vertiefen möchten. Daher verwundert es nicht, dass das durchschnittliche Alter der Fernstudierenden weit über dem der Studierenden an Präsenzuniversitäten liegt.

Sicherlich wird es in Deutschland keine Universität geben, die es wagt, einen Antrag auf Einschreibung eines älteren Bundesbürgers mit dem Verweis auf das hohe Alter des Antragstellers abzulehnen. Das wäre eindeutig eine Diskriminierung wegen Alters. Es wird aber niemand bezweifeln, dass die Zahl älterer immatrikulierter Bürger an deutschen Hochschulen sehr klein ist. Die absolute Größe dieser Zahl ist auch an der FernUni nicht Schwindel erregend hoch, aber sie ist relativ groß. Neben dem relativ hohen Alter der Fernstudierenden fällt als weiteres besonderes Merkmal der aktuell eingeschriebenen Fernstudierenden auf, dass sich unter ihnen eine große Zahl an so genannten Akademiestudierenden befindet: Studierende, die gar keinen Hochschulabschluss anstreben, sondern aus anderen Beweggründen heraus ein Studium aufgenommen haben. Sie möchten sich vielleicht beruflich weiterqualifizieren, ihr Wissen auf den aktuellen Stand der Wissenschaft bringen oder sich persönlich auf Hochschulniveau weiterbilden.

Akademiestudierende sind diejenigen Fernstudierenden, die keinen Hochschulabschluss erwerben wollen. Sie können jedoch durchaus für erfolgreich bearbeitete Kurse Zertifikate erwerben. Für den Status des Akademiestudierenden ist keine Hochschulzugangsberechtigung (Abitur oder ähnliches) erforderlich. In der Anfangsphase der FernUniversität wurde diese Gruppe der Fernstudierenden als "Gasthörer" bezeichnet.

Grundsätzlich brauchen sich Akademiestudierende nicht an curriculare Vorschriften zu halten. Sie legen selbst fest, mit welchen Kursen sie sich in welcher Reihenfolge und in welchem Tempo beschäftigen wollen. Zeitvorgaben gibt es für sie nicht.

Hierin sehen auch Blinde und sehbehinderte Menschen eine große Chance, sich auf universitärem Niveau weiterzubilden. Die FernUniversität in Hagen hat es sich im Laufe der vergangenen 30 Jahre zur Aufgabe gemacht, diesen Interessierten das Studienangebot zugänglich zu machen. Das aktuelle Semesterprogramm für Blinde und Sehbehinderte umfasst annähernd 100 Kurse, die in medialer Hinsicht speziell aufbereitet wurden, so dass sie Menschen zugänglich sind, die gedruckte Texte nicht mit ihren Augen lesen können.

Ziel der Auswahl war und ist es, Blinden und Sehbehinderten ein möglichst breit gefächertes Studienangebot zu unterbreiten.

Folgende Fächer sind vertreten:

  • 18 Kurse aus der Soziologie,
  • 6 Kurse aus der Psychologie,
  • 11 Kurse aus der Philosophie,
  • 5 Kurse aus der Geschichte,
  • 10 Kurse aus der Literaturwissenschaft,
  • 8 Kurse aus dem Bereich der Bildungswissenschaft,
  • 29 rechtswissenschaftliche Kurse,
  • 1 Kurs aus der Politikwissenschaft.

Jeder für Blinde und hochgradig Sehbehinderte aufbereitete Kurs wird mindestens in drei verschiedenen medialen Versionen angeboten:

  • als Druckausgabe in Punktschrift (mit Orientierungsspalte für wissenschaftliche Literatur),
  • als Audioausgabe (meist DAISY-CD),
  • als Dateiversion (MS Word-Dokument oder Textdatei in Blindenkurzschrift).

Für die speziell aufbereiteten Kurse werden die gleichen Gebühren wie für die der entsprechenden Schwarzschriftkurse in Rechnung gestellt. Wie bei Sehenden, so geht auch bei blinden Fernstudierenden das zur Verfügung gestellte Studienmaterial komplett in den Besitz des Fernstudierenden über.

Vom Alltagsleben eines Fernstudierenden aus betrachtet, sieht das Fernstudium dann so aus, dass er in seinem häuslichen oder elektronischen Briefkasten in unregelmäßigen Abständen diverse Lernunterlagen vorfindet, die ihn schweigend bitten, gelesen zu werden. Je nach bestellter Medienvariante heißt lesen für einen Blinden dann: fühlen oder hören und anschließend eventuell eine Einsendeaufgabe formulieren und schreiben und das Ergebnis zur Post transportieren bzw. per E-Mail verschicken!

Möchte ein blinder oder sehbehinderter Mensch einen Kurs der FernUniversität belegen, der (noch) nicht im speziellen Kursangebot für Blinde und Sehbehinderte enthalten ist, so greift eine Rektoratsempfehlung der FernUni, nach der dem Antragsteller ohne zusätzliche Gebühr die elektronischen Daten zur Verfügung zu stellen sind, mit denen die Schwarzdruckausgabe des Kurses erzeugt wurde. Der Arbeitsbereich Audiotaktile Medien bemüht sich in diesen Fällen, eine Dateiversion zur Verfügung zu stellen, von der man hoffen kann, dass sich ihr Inhalt mit Screenreader-Technologien möglichst vollständig erschließen lässt. Es soll aber nicht verschwiegen, sondern muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass dies nicht immer gelingt. Man denke beispielsweise an Kurse mit einem hohen Anteil an Grafiken und anderen Schaubildern oder auch an das Problem der Erzeugung und Darstellung beliebiger Formelinhalte in mathematisch-naturwissenschaftlichen Kursen. Auch sind von den Fakultäten zusammengestellte Reader mit Originaltexten oft als PDF-Dokumente problematisch, weil häufig keine Texterkennungssoftware eingesetzt, geschweige denn eine Korrekturlesung durchgeführt wurde.

Bei der Immatrikulation/Einschreibung und Rückmeldung bietet die FernUniversität den Blinden oder sehbehinderten Studierenden ihre Hilfe an: Verschiedene Gründe können die Ursache dafür sein, dass sie an dem geforderten Online-Bewerbungsverfahren nicht teilnehmen können. So kann der Computer nicht entsprechend eingerichtet sein oder das Screenreader-Programm bietet nicht die erforderliche Hilfestellung. Vielleicht ist ein Computer auch gar nicht vorhanden. Hier erledigt der Arbeitsbereich Audiotaktile Medien im Zentrum für Medien und IT sowohl Einschreibung als auch Rückmeldung für den Studierenden. In der Regel genügen ein Anruf oder eine kurze E-Mail. Eine Informationsbroschüre gibt detailliert Auskunft über Inhalt und Form des gegenwärtigen Kursangebots für blinde und sehbehinderte Menschen. Sie wird semesterweise aktualisiert und kann kostenlos in Punktschrift, in Schwarzschrift, als DAISY-CD oder als elektronische Datei angefordert werden bei: FernUniversität in Hagen, Zentrum für Medien und IT, Arbeitsbereich Audiotaktile Medien, Postfach 940, 58084 Hagen,Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

. Selbstverständlich ist die Broschüre auch im Internet abruf- und lesbar: www.fernuni-hagen.de/zmi/at-medien/start.html.

Zum Autor

Richard Heuer gen. Hallmann, Jahrgang 1955, ist Diplompolitologe und Diplompädagoge. Seit 1984 arbeitet er an der FernUniversität in Hagen und leitet dort den Arbeitsbereich "Audiotaktile Medien" im Zentrum für Medien und IT (ZMI). Seit 1998 ist Richard Heuer zugleich Vorsitzender des Brailleschriftkomitees der Deutschsprachigen Länder, in dem die Blindenselbsthilfe Österreichs, der Schweiz und Deutschlands sowie der VBS und MEDIBRAILLE vertreten sind. Kontakt: FernUniversität in Hagen, Zentrum für Medien und IT (ZMI), Arbeitsbereich Audiotaktile Medien, Feithstr. 150 b, 58084 Hagen, Tel.: +49-2331-9874218, Fax: +49-2331-9872720, E-Mail:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Internet:www.fernuni-hagen.de/zmi/at-medien/start.html

Das Autorenfoto in der Schwarzschriftausgabe zeigt Richard Heuer gen. Hallmann während einer Podiumsdiskussion beim Weltkongress Braille 21. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Mikrofon. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und schaut ernst in die Kamera. Sein kurzärmliges Hemd ist weiß mit gelb-blauem Karomuster.Foto: DVBS (itrol)


Ein überzeugendes Leben: Zum 90. Geburtstag von Dr. Hans-Eugen Schulze

Der Name Hans-Eugen Schulze begeg nete mir erstmals Anfang der 1960er Jahre. Mein Vater, selbst Justizbeamter, zuletzt beim Bundesarbeitsgericht in Kassel, las mir einen Arti kel über einen blin den Bundesrichter in Karls ruhe vor. Ob er mir damals insgeheim das gleiche wünschte, weiß ich nicht. Aber Hochachtung schwang in seiner Stimme mit, als wir dieses Porträt an uns vorüberziehen ließen.

Bis es zu unserer ersten und zwar literarischen Begegnung kam, sollten mehr als zehn weitere Jahre vergehen. Die Juristenfachgruppe hatte sich damals noch nicht getroffen und so erfuhr man über die großen Männer des Vereins eigentlich nur in der Vereinszeitschrift. Hier veröffentlichte ich 1973 einen Beitrag über meine Abenteuer während eines sechswöchigen Londonaufenthalts innerhalb und außerhalb dieser Metropole. Ich hatte meine Eindrücke teilweise mit Vokabeln beschrieben, wie sie ein Sehender verwenden würde. Das rief Hans-Eugen Schulzes Kritik auf den Plan und wir kreuzten literarisch ein wenig die Klingen. Doch gab es weder Tote noch Verletzte.

1975 trafen wir uns dann beim ersten Seminar der Fachgruppe Jura auf Schloss Westerburg, wo Hans Eugen Schulze uns aus seiner richterlichen Praxis am BGH berichtete und uns in seine Arbeitstechniken einführte. Große Heiterkeit löste damals seine Bemerkung aus: "Ich mache das dann mit meiner Vorlesekraft in dieser Art und Weise. Dann haben wir hinterher Zeit für andere Dinge ...". Noch größere Heiterkeit verursachte aber die Reaktion des Vortragenden, der erst nach und nach das ihm entgegenbrandende Gelächter zu deuten wusste und dann - man kann vielleicht sagen - etwas peinlich berührt war.

Vielfältige Aktivitäten entfaltete Hans-Eugen Schulze auf für uns wichtigen rechtspolitischen Gebieten, sei es nun bei der Abwehr einer Vor schrift in der Strafprozessordnung, wonach Blinden stets ein Pflichtverteidiger beizuordnen sei (was wir zu Recht als diskriminierend empfanden) oder bei der Frage des Einsatzes blinder Strafrichter (die der BGH in mehreren Entscheidungen in Frage stellte). Ein großes Arbeitsfeld hat Hans-Eugen Schulze ebenso bei Fragen der Gleichstellung behinderter Menschen beackert, als es nach 1994 galt, das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz mit Leben zu füllen.

Aus dieser Initiative entstand schließlich der heute noch sehr aktive Arbeitskreis Nachteilsausgleiche des DVBS (AKN), der maßgebliche Vorarbeiten zum Wegweiser Sozialpolitik unseres Vereins, aber auch zur Frage der Umsetzung der BRK und zu einem allgemeinen Teilhabegesetz für schwerbehinderte Menschen erbracht hat und dem Hans-Eugen Schulze immer noch angehört.

Ein weiteres vom Jubilar angeschobenes Projekt führte 1993 zu einer europaweiten Tagung in Loccum über die Möglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen in akademischen und verwandten Berufen. Leider ließ sich der Impetus dieser Veranstaltung im folgenden Tagesgeschäft nicht aufrecht erhalten. Gleichwohl war es eine wegweisende Veranstaltung ebenso wie das im Jahr 2000 in Heidelberg von ihm organisierte Symposium zu Fragen der Altersblindheit.

Auch auf sozialpolitischem Gebiet war Hans-Eugen Schulze insbesondere in den 1990er Jahren aktiv, beispielsweise als Baden-Württemberg 1996 einen ersten ernsthaften Versuch unternahm, das Blindengeld insgesamt abzuschaffen. Als Bürger, ehemaliger Bundesrichter und Beauftragter der evangelischen Landeskirche in Baden für Blinde und Sehbehinderte wandte sich Hans-Eugen Schulze an eine ganze Reihe Prominenter und versuchte, sie mit vielen Argumenten von der Notwendigkeit eines solchen Nachteilsausgleichs zu überzeugen. Diese Aktionen hat er unbeirrt auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts fortgesetzt.

Nicht vergessen sei schließlich die rege Arbeit, die Hans-Eugen Schulze seit 1988 in den Aufbau der Gruppe Ruhestand unseres Vereins hineingesteckt hat. Ihm ist es neben Dr. Anne liese Liebe und Dr. Johannes-Jürgen Meister maßgeblich zu verdanken, dass diese Gruppe schon lange eine der aktivsten unseres Vereins ist.

Hinter all dem steht ein Mensch, dem viel von protestantischer Ethik innewohnt: konsequente und zielgerichtete Arbeitsauffassung, gleichzeitig aber offen für Gegenargumente, die er gewichtet, sich dann aber auch zu einer Entscheidung durchringt, die er anschließend glasklar begründet und zu der er bedingungslos steht. Diese Konsequenz hat Hans-Eugen Schulze auch in einem Bereich umgesetzt, der mir persönlich am meisten Hochachtung abverlangt, bei der Betreuung seiner 2010 verstorbenen Ehefrau Marga. Wie oft hat er sich vorzeitig von unseren Tagungen und Zusammenkünften verabschieden müssen, um nach Karlsruhe zurückzukehren und sich um seine Ehefrau zu kümmern, sie auf ihren letzten Wegen zu begleiten, so wie sie früher ihn begleitet hatte - und doch ganz anders, aber immer respektvoll und einfühlsam.

Diese Zeilen (und der Platz in unserer Zeitschrift) reichen bei weitem nicht aus, um alle Aktivitäten des Jubilars ebenso wie die vielen Ehrun gen, die ihm zu Teil geworden sind, und alle Charakterzüge zu benennen, die ihn auszeichnen. Das möge man dem Gratulanten nachsehen. Ihm bleibt nur noch Dir, lieber Hans-Eugen, am Beginn Deines 10. Lebensjahrzehnts weiter Kraft, aber auch Ruhe und Zufriedenheit mit dem zu wünschen, was Du in 90 Jahren geplant, umgesetzt und erreicht hast. Wir haben von Deinen Vorarbeiten immens profitiert und tun das auch heute noch. Dafür sei Dir Dank und Anerkennung gesagt ebenso wie für Deine große Treue zu den Zielen dieses Vereins, dessen Schicksal Du - auch ohne je in seinen Vor stand eingetreten zu sein - in den vergangenen 50 Jahren maßgeblich mitgeprägt hast.

Der Schwarzschriftausgabe ist ein Foto von der Überreichung des Bundesverdienstkreuzes an Dr. Hans-Eugen Schulze beigefügt. Links im Bild steht Staatssekretär Dr. Frank Mentrup, der ein in goldenes Papier eingepacktes Geschenk an den neben ihn stehenden Dr. Schulze hält. Schulze ist rechts im Bild zu sehen, den Bundesverdienstkreuz-Orden hat er ans linke Revers seines schwarzen Sakkos geheftet. Die Urkunde hält er mit beiden Händen fest. Während der Staatssekretär zu ihm spricht, lächelt Schulze.


Ein Monopol für Blinde im Inneren Afrikas um 1900

In ihrem Wettlauf um Kolonien drangen deutsche, britische und französische Truppen um 1900 in den Westsudan vor und zerschlugen unter anderem das Reich Bornu. Dieses Reich, zum größten Teil westlich des Tschadsees gelegen, entsprach flächenmäßig ungefähr der heutigen Bundesrepublik. Es blickte auf eine Geschichte von mehr als 1.000 Jahren zurück. Die drei Kolonialmächte teilten Bornu unter sich auf. Seinen westlichen Teil nahm sich Großbritannien und schlug ihn "seiner" Kolonie Nigeria zu. Den südlichen Teil mit vier kleinen Vasallenstaaten gliederte Deutschland "seiner" Kolonie Kamerun an und ließ ihn durch einen Residenten verwalten. Frankreich formte aus seiner Beute das heutige Tschad.

In deutschen Quellen existieren einige Nachrichten aus vorkolonialer Zeit über das Leben der Blinden in Bornu. Diese müßten durch afrikanische, britische und französische Mitteilungen ergänzt werden, um mehr als eine Momentaufnahme zu erhalten. Die Zahl der Blinden im Westsudan war sehr groß. Augenkrankheiten, Hitze und Sand, Wassermangel und die daraus resultierenden hygienischen Zustände auf der einen und Sumpflandschaften am Benue und Logone auf der anderen Seite bildeten die Hauptursachen. Eine Zeitungsmeldung aus dem Jahre 1955 beschreibt nur eine Erblindungsursache, die auch in den Jahrhunderten davor bestanden haben muss: Der französische Gouverneur dieser Region teilt mit, dass in den Dörfern der sumpfigen Gebiete des Tschadsees mit unter mehr Blinde als Sehende leben. Die Erblindungen erfolgen durch ein Insekt, dessen Stich einen Schmarotzer überträgt, der nicht selten das Auge zerstört. Bereits befallene Dorfbewohner flohen zu Tausenden und bevölkerten die Städte Bornus.

In seiner Reisebeschreibung über den Westsudan in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts schreibt Gustav Nachtigal (Band 1, Seite 325): "Das bunte und im Ganzen so heitere Bild des täglichen Straßenlebens entbehrt aber auch der Schatten nicht, und der dunkelste ist sicherlich die unglaubliche Anzahl der Blinden, welche halbnackt und halb verhungert am Wege sitzen und von der Mildtätigkeit der Vorübergehenden in kreischenden Tönen ihren kümmerlichen Lebensunterhalt erflehen oder in langen Reihen von zehn und mehr Personen, einer hinter dem anderen, sich unter der Führung des Kundigsten unter ihnen durch die belebtesten Straßen tasten und durch klagen des Geheul die Herzen ihrer Mitbürger zu rühren suchen."

Etwa 40 Jahre später zeichnet Adolf von Duisburg, der leitende Beamte des Deutschen Kolonialamtes in Bornu, ein völlig anderes Bild. Die Ursachen, wie es zu diesem Wandel kam, liegen im Dunkeln. Adolf von Duisburg zählt sowohl in einer Schrift als auch in seinen Berichten an das Kolonialamt die Handwerke Bornus auf. Dabei hebt er die Qualität, die Zweckmäßigkeit und das gute Aussehen der Erzeugnisse hervor. "Bei dieser Gelegenheit sei als Eigentümlichkeit bemerkt, dass auf dem großen Bornu markte in Dikoa (Hauptstadt des deutschen Gebietes am Tschadsee - H. M.) die Herstellung und der Verkauf von Stricken ein Vorrecht der Blinden ist." Er unterstreicht, dass die Blinden Bornus durch dieses Monopol einen relativen Wohlstand durch ihrer Hände Arbeit erwarben.

Es mag bei diesen Berichten von Duisburgs der Hintergedanke eine Rolle gespielt haben, den deutschen Behörden ein Vorbild zu zeigen, wie beispielsweise die soziale Frage der Blinden in Deutschland gelöst werden könnte, denn diese forderten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer nachdrücklicher Arbeit, um sich die Mittel für ein menschenwürdiges Dasein durch ihrer Hände Arbeit zu erwerben. Vergessen wir nicht, dass in jenen Jahr - zehnten deutsche Sozialdarwinisten ernsthaft vorschlugen, die Blinden abseits der besiedelten Gebiete in klosterähnlichen Anlagen zu kasernieren. Hierzu zeichnete von Duisburg mit dem Monopol der Blinden in Bornu eine echte Alternative.

Von Duisburg überliefert auch Einzelheiten über die Seilerware, welche die Blinden in Bornu herstellten: Die Seiler erzeugten hervorragende Ware. Sie fertigten Stricke aus Gras, Hanf, Rinder-, Schaf- und Ziegenhaut an. Zu Jagdzwecken drehten sie aus Baum - wolle bzw. Wildleder feste Fangschnüre. "Das zur Verwendung kommende Pflanzenmaterial wird erforderlichenfalls von der äußeren Rinde befreit und einige Stunden in feuchten Sand gesteckt, ehe es entfasert und gedreht wird. Häute werden zunächst zu Riemen geschnitten und in Wasser gelegt, bevor man sie verarbeitet." Interessant ist die nächste Feststellung: "Der Beruf des Seilers wird nur von Männern ausgeübt." Mit dieser knappen Aussage bietet von Duisburg ein weites Feld für Spekulationen über das Leben der blinden Frauen. Aber auch in Deutschland gab es zu dieser Zeit erste Ansätze für produktive Betätigung von blinden Frauen. Die Stricke der Blinden fanden im Leben der Einwohner von Bornu eine vielfältige Verwendung. Die Seile aus Gras verwandten sie vor allem zum Hausbau, die aus Hanf zum Anbinden der Pferde und zum Verschnüren von Lasten. Die Lederseile dienten zur Herstellung von Fangnetzen und Schlingen zu Jagdzwecken. Am beliebtesten, weil am haltbarsten war das Wildleder. Die haltbarsten Schlingen zum Fangen von Großwild lieferten die Häute der Wildbüffel, die Nackenhaut des Wasserbocks und die Sehnen der Großantilopen. Alle Seile wurden aus zwei, seltener aus drei Strängen geflochten.

Es wäre äußerst interessant, mehr über die Entstehung dieses Monopols der Blinden in Bornu und über das Leben im Tschadseegebiet während des 20. Jahrhunderts zu erfahren. Was wurde aus den guten Ansätzen aus der vorkolonialen Zeit?

Zum Autor

Der blinde Historiker Dr. Hartmut Mehls, Jahrgang 1937, hat an der Humboldt-Universität in Berlin Geschichte und Germanistik studiert.


Hörtipp: Ein Stück Fußballgeschichte

Wenn im Herbst die Qualifikationsspiele zur nächsten Fußball-WM der Männer in Brasilien beginnen, haben Fußballfans nicht lange Zeit, sich von der Spannung der Europameisterschaft zu erholen. Bis zum WM-Endspiel am 13. Juni 2014 in Rio de Janeiro wird das Fußballfieber stetig steigen. Der fünffache Weltmeister Brasilien ist das zweite Mal in der Geschichte der WM Gastgeber - ein Anlass, auch einmal in die Vergangenheit zu schauen, Vergleiche zu ziehen, die Politik der FIFA zu verfolgen.

Zwar hatte sich die FIFA bereits 1904 gegründet. Doch der Fußball brauchte bis 1930, um seinem Schattendasein als "Showeinlage" bei den Olympischen Spielen zu entkommen. Ob Wettkampfsport oder Spiel - aus heutiger Sicht sind diese Unterschiede angesichts von Millionen Zuschauern und den Geldsummen, die im Fußball fließen, irrelevant. Das war nicht immer so. So machte sich die deutsche Mannschaft 1930 erst gar nicht auf den Weg nach Uruguay - wegen der Weltwirtschaftskrise war schlicht und einfach kein Geld dafür zu bekommen. Und 1950, als nach dem Krieg Brasilien den Wettkampf ausrichtete, war Deutschland ebenfalls nicht mit von der Partie.

Über die berühmten Spieler und legendären Tore, über die Geschichte der FIFA und ihr Verhältnis zum DFB und der Weltpolitik berichtet die WM-Bibliothek der Süddeutschen Zeitung unterhaltsam, verständlich, und vor allem: spannend. Manfred Duensing hat den ersten Band gelesen. Für Freunde des runden Leders oder Fußballmuffel: Dieses Buch zeigt ein Stück Welt- und Kulturgeschichte auf - Fußballgeschichte als Spiegelbild der Hoffnungen, Kämpfe und dem Miteinander von Menschen und Nationen.

Markus Schäflein, Thomas Hummel (Redaktion): Die Fußball-Weltmeisterschaften 1930 - 1950.München: Süddeutsche Zeitung, 2006. (Süddeutsche Zeitung WM-Bibliothek Bd. 1. Das Daisy-Buch ist beim DVBS-Textservice unter der Bestellnummer 6657 erhältlich. Kontakt: Textservice, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon 06421 94888-22, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: http://www.e-dig.de (Rund 7 Stunden, 48,50 Euro zuzüglich Versand).

Bestelladresse

Die vorgestellte DAISY-CD ist für Blinde und Sehbehinderte zum Sonderpreis von 45 € (inklusive Versand) erhältlich. Es gelten die üblichen Bedingungen: Textservice des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS), Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Tel.: 06421 94888-22, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.


Buchtipps aus der blista

In dieser Ausgabe stellen wir Ihnen Bücher vor, die allesamt eine globale Perspektive haben - jedes auf seine Weise.

Leggewie, Claus: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie

Frankfurt/M. : S. Fischer, 2009 - Marburg/L. : Deutsche Blindenstudienanstalt, 2011, Bestellnr.: 4628, reformierte Kurzschrift, 3 Bde., 452 S., 64,50 €

Die Autoren analysieren die Auswirkungen der sich auftürmenden Krisen des Kapitalismus und zeigen, wie die Demokratie in Gefahr gerät, wenn sie keinen Weg aus der Leitkultur der Verschwendung findet. Sie plädieren für eine Erneuerung der Demokratie von unten und ermuntern alle Initiativen, die andere Formen des Wirtschaftens und Lebens einüben und dabei nicht auf den Fetisch Wachstum, sondern auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit setzen.

Holzer, Andy: Balanceakt. Blind auf die Gipfel der Welt

Mannheim: Walter, 2010 - Marburg/L.: Deutsche Blindenstudienanstalt, 2010, Bestellnr.: 4662, reformierte Kurzschrift, 2 Bde., 348 S., 43 €. Auch erhältlich als DAISY-CD, Sprecher: Alois Frank, Laufzeit: 517 Min.

Andy Holzer sieht die Berge nicht. Dass der von Geburt an blinde Kletterer dennoch alles wahrnimmt, beweist er auf seinen Expeditionen auf die höchsten Gipfel der Erde. Ohren, Nase, Mund und Hände reichen ihm, um sich ein präzises Bild von der Welt zu machen. "Viele haben Holzer geschrieben, dass er sie motiviert habe, etwas Neues anzufangen mit ihrem Leben." (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

Popper, Karl Raimund: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren

München, Piper, 1984 - Marburg/L.: Deutsche Blindenstudienanstalt, 1986, Bestellnr.: 3108, reformierte Kurzschrift, 2 Bde., 43 €

Der 1902 geborene Autor zählt zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Sein "kritischer Rationalismus" und seine Konzeption der "offenen Gesellschaft" haben nachhaltigen Einfluss auf die Philosophie, die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und auf die Politik der westlichen Welt ausgeübt. Im Vorwort zu diesen gesammelten Vorträgen schreibt Popper: "Alles Lebendige sucht nach einer besseren Welt ... Jeder Organismus ist dauernd damit beschäftigt, Probleme zu lösen. Und die Probleme entstehen aus Bewertungen seines Zustandes und seiner Umwelt, die er zu verbessern sucht ..."

Mohr, Robert: Sex-mal um den ganzen Globus! Über das Liebesleben der Völker - ein Ethno-Bericht

Stuttgart, Gatzanis, 1996 - Marburg/L. : Deutsche Blindenstudienanstalt, 1997, Bestellnr.: 3894, reformierte Kurzschrift, 1 Bd., 176 S., 21,50 €

Der Umgang mit Sex ist von Kultur zu Kultur verschieden. Eine bestimmte Sexpraktik kann in der einen Gesellschaft bestraft, in der zweiten toleriert und in der dritten erwünscht sein. Selbst innerhalb einer Gesellschaft unterscheidet sich die öffentliche Moral oft enorm vom privaten Verhalten im Bett. Die Thesen des Autors zu diesem Thema, das noch nie so beleuchtet wurde, geben Anregungen zu Gesprächen und - wer weiß - vielleicht auch zum Handeln.

Kartensatz Afghanistan-Pakistan

Dieser taktile Kartensatz besteht aus folgenden Einzelfolien inkl. farbiger Ausdrucke im A3-Format:

Karte 1: Topografische Übersicht Afghanistan-Pakistan Bestell-Nr.: 62001

Karte 2: Politische Übersicht Afghanistan-Pakistan Bestell-Nr.: 62002

Karte 3: Völkergruppen und Sprachen Afghanistan-Pakistan Bestell-Nr.: 62003

Karte 4: Teilnehmende Staaten der ISAF-Truppen in Afghanistan Bestell-Nr.: 62004

Kompletter Karten-Satz inkl. Ausdrucke Bestell-Nr.: 62000 Einzelkarte + Ausdruck: 15,10 €, Kartensatz + Ausdruck: 54,40 €

Ihre Bestellung richten Sie bitte an: Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Postfach 1160, 35001 Marburg, Tel.: 06421 606-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Es gelten unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB).


"Hinter dem Horizont links" - die etwas andere Weltreise

Gehen Sie mit Christopher Many auf eine etwas andere Weltreise jenseits bekannter Wege. Nachdem ich den Autor bei einer Lesung auf der letzten Frankfurter Buchmesse kennenlernen und mit ihm reden konnte, haben wir uns für die Übertragung dieses Buches in Blindenschrift entschlossen und freuen uns, es nun als eine andere Sicht zum Thema "Globalisierte Blindenwelt" vorstellen zu können.

Christopher Many startet mit seinem alten Landrover, Mathilda, um "fremde, neue Welten zu erforschen und dort hin zu fahren, wo noch nie zuvor ein Landrover gewesen ist." Dabei lernt er die Länder und Menschen außerhalb der bekannten Darstellungen kennen und stellt sie uns vor. Daneben lernen wir die Verhältnisse aus der persönlichen Erfahrung des Autors, die nicht immer deckungsgleich zu den Meldungen in Presse und TV sind, kennen. Ein mal angefangen zu lesen, fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Nein, es ist spannend mit auf die acht Jahre dauernde Fahrt zu gehen, hinter dem Horizont links die Welt zu erkunden, sie aus der Sicht des Autors kennenzulernen und über Gegebenheiten nachzudenken. Gehen Sie mit auf diese, etwas andere Reise "Hinter dem Horizont links."

Bestellen Sie Ihr Buch noch heute bei der blista: Sie erhalten es zum Beispiel als Blindenkurzschriftfassung in 3 Bänden und 1 Halbband mit der Bestellnummer: 4713. Die Schutzgebühr beträgt 79 €. Eine Ausgabe des Buches als Blindenschrift- DAISYFassung mit synthetischer Stimme ist ebenfalls erhältlich.


"Woche des Sehens" findet vom 8. bis 15. Oktober statt!

Die "Woche des Sehens" findet - in diesem Jahr bereits zum elften Mal - von Montag, den 8. bis Montag, den 15. Oktober statt. Unter dem Motto: "Wir sehen uns!" machen die sieben Trägerorganisationen durch eine Vielzahl von Aktionen bundesweit auf die Bedeutung von gutem Sehvermögen, auf die Ursachen vermeidbarer Erblindung sowie auf die Situation sehbehinderter und blinder Menschen in Deutschland und in den sogenannten Entwicklungsländern aufmerksam.

Machen Sie mit, wir unterstützen Sie!

Wenn Sie sich als DVBS-Fach- oder Bezirksgruppe für die Kampagne interessieren und sich daran beteiligen möchten: Die Koordinatorinnen der Woche des Sehens begleiten Ihre Aktion. Auf Anfrage erhalten Sie kostenloses Informations- und Aktionsmaterial, Unterstützung bei der Suche nach Veranstaltungspartnern sowie bei der Finanzierung Ihrer Veranstaltung. Information und Kontakt:www.woche-des-sehens.de,Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


10. Deutscher Hörfilmpreis ging an "Bella Block - Stich ins Herz" und "Wer wenn nicht wir"

Viermal vergab der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband seinen begehrten Preis bei der Jubiläumsgala am 27. März 2012 in Berlin. Unter den Gästen war zahlreiche Prominenz aus Film und Fernsehen, Wirtschaft und Politik vertreten.

In der Kategorie TV gewann die ZDF-Produktion "Bella Block - Stich ins Herz", das Filmbeschreibungsteam vertraten Evelyn Sallam und Holger Stiesy. Sie nahmen den Preis gemeinsam mit Hannelore Hoger, Schauspielkollege Hansjürgen Hürrig, Regisseur Stephan Wagner sowie Dr. Eckart Gaddum vom ZDF aus den Händen von Schirmherrin Christine Neubauer entgegen. Die Hörfilmfassung des Dramas "Wer wenn nicht wir", eingereicht von zero one film, erhielt die Auszeichnung in der Kategorie Kino. Die Laudatio hielt Schauspielerin Jeanette Hain, die den Preis an Regisseur Andres Veiel überreichte. Ihm zur Seite standen dabei die Schauspielerinnen Lena Lauzemis und Maria-Victoria Dragus, die Filmbeschreiberinnen Katja Herzke und Evelyn Sallam sowie die Sprecherin Suzanne Vogdt. Ein Sonderpreis der Jury für die besondere Qualität der Filmbeschreibung wurde an den Dokumentarfilm "Chandani und ihr Elefant" verliehen. Der Publikumspreis ging an den Dokumentarfilm "Der mit den Fingern sieht".

Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) forderte in seiner Rede mehr barrierefreie Filme: "Filme sind zu einem festen Bestandteil unseres Lebens geworden, und mehr noch: Filme zeichnen immer auch ein Bild unseres Landes. Die 1,2 Millionen blinden und sehbehinderten Menschen in unserem Land haben ein Recht darauf, an diesem unverzichtbaren Teil unserer Kultur tilzuhaben." Die Kosten einer Audiodeskription betragen pro Film rund 5.000 Euro. Mit der Paralympics-Rekordgewinnerin Verena Bentele führte zum ersten Mal eine blinde Moderatorin - gemeinsam mit dem Kollegen Dieter Moor - durch den Abend. Für die musikalische Unterhaltung hatte man Schauspielerin und Sängerin Jasmin Tabatabai verpflichtet.

Das Foto in der Schwarzschriftausgabe zeigt Dieter Moor und Verena Bentele. Die beiden Moderatoren stehen neben einem großen, rot-weißen Ohr - dem als Modell repräsentativ in Szene gerückten Logo des Deutschen Hörfilmpreises. Dieter Moor scheint frohgemut zum Publikum zu sprechen, das graumelierte Haar ist zurückgekämmt, er trägt ein weißes Hemd zum grauen Anzug und lächelt. Rechts neben ihm steht lachend Verena Bentele. Ihr blondes Haar ist modisch hochgesteckt, eine Reihe silbern glitzernder Pailletten verzieren die Ausschnitte ihres ärmellosen, schwarzen Kleides.


Neuer Schwerbehindertenausweis kommt

Das Bundeskabinett hat am 28. März 2012 eine Änderung der Schwerbehindertenausweis-Verordnung beschlossen. Die Verordnung bedarf noch der Zustimmung des Bundesrates. Ab dem 1. Januar 2013 wird es möglich sein, den Schwerbehindertenausweis als Plastikkarte auszustellen. Entsprechend der Verordnung kann der neue Ausweis ab dem 1. Januar 2013 ausgestellt werden (Ausweisausgabe erfolgt durch die Länder). Den genauen Zeitpunkt der Umstellung kann jedes Bundesland für sich festlegen. Spätestens ab dem 1. Januar 2015 werden nur noch die neuen Ausweise ausgestellt. Die vorhandenen alten Ausweise bleiben gültig. Es müssen also nicht alle im Umlauf befindlichen SB-Ausweise umgetauscht werden.


Studium und dann? Absolvierendentag an der TU Dortmund

Auch in diesem Jahr veranstaltet das Dortmunder Zentrum Behinderung und Studium einen Absolvierendentag. Die Informationsveranstaltung mit dem Titel "Studium und dann? - Berufseinstieg mit Behinderung oder chronischer Krankheit" richtet sich an Studierende, Hochschulabsolventen und -absolventinnen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung.

Vertreter und Vertreterinnen der Arbeitsverwaltung, des Integrationsamtes sowie Berufseinsteiger und -einsteigerinnen mit Behinderung informieren über Unterstützungsmöglichkeiten und Herausforderungen rund um den Berufseinstieg.

Die Veranstaltung findet am Mittwoch, den 4. Juli 2012 von 10 bis ca. 15.30 Uhr in der Technischen Universität Dortmund, Emil-Figge-Str. 59 statt. Anmeldeschluss ist der 13. Juni 2012. Weitere Informationen sowie das Anmeldeformular finden Sie unter www.dobus.tu-dortmund.de.


Bündnis-Empfehlung zu Landesaktionsplänen

Welche Maßnahmen gehören in einen Landesaktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention? Was können die Länder tun, um die Situation von Studierenden mit Behinderungen zu verbessern? Diese Fragen beantwortet das Bündnis barrierefreies Studium in seiner Empfehlung zu den Landesaktionsplänen. Erforderlich wären z. B. zusätzliche Mittel, um die Barrierefreiheit oder das Beratungsangebot für Studierende mit Behinderungen in Hochschulen und Studentenwerken auszubauen. Aber auch Maßnahmen für eine barrierefreie Hochschullehre oder eine diskriminierungsfreie Hochschulfinanzierung wären geeignet, um die Teilhabe von Studierenden mit Behinderung an der Hochschulbildung zu befördern. Die "Empfehlung des Bündnisses barrierefreies Studium" finden Sie als PDF-Datei (157 KB) im Internet unter: www.studentenwerke.de/pdf/Empfehlung_UN-BRK_Landesaktionsplaene_Hochschule.pdf


Damals - das Magazin für Geschichte

Die Hörbücherei der Evangelischen Blindenarbeit in Frankfurt gibt ein neues Abonnement heraus: "Damals - das Magazin für Geschichte". Die Zeitschrift befasst sich mit Geschichte und Archäologie, sie erscheint monatlich. Die Hörfassung ist jeweils drei Monate nach der Printversion erhältlich, Sprecherin ist Nicole Abraham, in Hessen bekannt als "Wetterfee von hr1".

Das Abonnement ist kostenlos. Wer Interesse hat, bekommt auf Anfrage als Probenummer die Dezemberausgabe über Franz von Assisi geschickt. Wer sich dann für ein Abonnement entschließt, erhält nach Anruf die erste Nummer, die sich mit Friedrich dem Großen befasst. Abonnieren können alle, die der Hörbücherei ihre schwere Sehbehinderung oder Blindheit nachgewiesen haben (Blindenausweis oder Bescheinigung vom Augenarzt).

Telefon der Hörbücherei (Aurora Döring): 069 5302-244, Fax: 069 5302-266, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Betriebsvereinbarung der blista setzt Zeichen - Behindertenrechtskonvention bringt bares Geld

"Mist, wer hat denn den Putzeimer hier stehen lassen und warum steht die Glastür wieder ofen?" Wer, der schlecht sieht, kennt sie nicht, diese kleinen Schrecksekunden im Alltag, die im günstigeren Fall nur die Adrenalinausschüttung erhöhen und durch eine mehr oder weniger laut vorgetragene Unmutsbekundung erledigt sind, die aber auch zu echten Malheuren führen können. Und wie oft ärgert man sich im Arbeitsalltag über eine ausgedruckte E-Mail, die einem von einem Kollegen mit einer handschriftlichen Notiz versehen zugeht und damit unbearbeitbar ist, obwohl es ja die segensreiche Funktion "Weiterleiten" im E-Mail-Programm längst gibt. Wie schnell verhindert eine zu früh abgeschlossene Zwischentür den Zugang zum Aufzug und wird damit zu einer unüberwindbaren Barriere, die einem gehbehinderten Besucher die Teilnahme an einer Veranstaltung unmöglich macht. Ein achtlos, halb auf dem Bürgersteig abgestellter PKW, ein grußloses Aneinandervorbeilaufen, ein Schwarzschrift-Aushang im Miniformat - Inklusion verwirklicht sich im Zusammenleben. Oder auch nicht. "Behinderung", so heißt es, "entsteht aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren." Viel zu oft sind auch schlichtweg Gedankenlosigkeit oder Unkenntnis im Spiel: auf dem Weg zur Arbeit, in der Cafeteria, beim Planen von Schulausflügen und Feiern. Alles von Anfang an mit zu denken ist im Alltag gar nicht so einfach! Und das gilt selbst verständlich auch für die Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista), die sich als Einrichtung der Selbsthilfe natürlich der Selbstverpflichtungserklärung des "Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes" zur Umsetzung der UN-Konvention angeschlossen hat. Doch auch an der blista weiß man, dass Papier oft viel zu geduldig ist. Im Jahr 2010 wurde daher eine Stabsstelle beim blista-Vorstand geschaffen, um einen eigenen Aktionsplan aufzustellen. Hier wird seither das Sammeln von Ideen und Aktivitäten zur BRK koordiniert und der breite Diskussionsprozess unter Beteiligung der Schülerinnen und Schüler, Eltern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, "Ehemaliger" und Externer gestaltet.

Zu den Resultaten zählt jetzt eine neue, bis lang einmalige Betriebsvereinbarung zur BRK. Sie bindet alle blista-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter im Sinne der UN-Konvention gezielt und nachhaltig in die inklusionsorientierten Prozesse ein. Sie gibt Impulse für Partizipation und schafft konkrete Anreize, die Meinungen, Erfahrungen und Bedarfe der behinderten Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler, von Besuchen den Eltern, Großeltern und Freunden zu beachten. Zugleich motiviert sie dazu, stets neue Anstrengungen zu unternehmen.

Die sogenannte "Betriebsvereinbarung Leistungsent gelt" legt explizit fest, dass die Auszahlung des "Leistungsbezogenen Entgelts" an die Erreichung bestimmter, an der UN-Konvention ausgerichteter Ziele gekoppelt ist. Jahr für Jahr wer den Schwerpunkte gesetzt und die konkreten Ziele von einer sechsköpfigen Kommission definiert. Nach Jahresablauf befindet die Kommission über das Erreichen dieser Ziele. Bei der ersten Auszahlung geht es nach jetzigem Stand für blista-Beschäftigte mit einer vollen Stelle um mindestens 450 Euro brutto im Jahr. "Die Einführung eines "Leistungsbezogenen Entgeltes" ist im sozialen Bereich nicht unumstritten. Wir denken aber, dass gerade dieses Instrument helfen kann, die Ziele der UN-Konvention in der blista-Mitarbeiterschaft nachhaltig zu verankern", erklärt blista- Direktor Claus Duncker die Bedeutung des neuen Instruments. "Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter der blista ist direkt in den Prozess einbezogen. Die Ziele der BRK werden auf den Alltag herunter gebrochen und damit fassbar. Jeder, egal in welcher Position im Unternehmen, kann und soll seinen Beitrag leisten und am Ende zahlt es sich auch in barer Münze aus", betont Betriebsratsvorsitzender Thorsten Kelm. Besonders hebt Kelm hervor, dass die Vereinbarung - unabhängig vom Einkommen - für alle die gleiche Summe vorsieht: "Das ist ein Stück gelebte Solidarität, wie sie ja auch die BRK von uns verlangt. "Der Betriebsrat würde sich freuen, wenn Arbeitnehmervertretungen in anderen Betrieben und Organisationen die blista zum Vorbild nehmen und ähnliche Vereinbarungen treffen." Die Entstehungsgeschichte der "Betriebs vereinbarung Leistungsentgelt" ist zugleich ein positives Beispiel für Partizipaion: In zweijähriger, kontinuierlicher Zusammenarbeit mit Betriebsrat und Behindertenvertretung haben behinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sie aktiv mitgestaltet. Als Vertrauensfrau der Schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter formuliert Andrea Katemann einige konkrete Erwartungen an die Vereinbarung: "Regelmäßig stattfindende Sensibilisierungs- und Fortbildungsveranstaltungen, bei denen die Bewusstseinsbildung für die Bedürfnisse behinderter Menschen und die Ziele der BRK im Vordergrund stehen. Gezielte Förderung von Schülerinnen und Schülern, damit sie ihre Interessen als behinderte Menschen in der Gesellschaft selbst bewusst wahrzunehmen lernen. Verstärktes Einbinden behinderter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Besetzung von Arbeitsgruppen in sämtlichen Bereichen und die barrierefreie Kommunikation und Information im gesamten Betrieb sind für die Schwerbehindertenvertretung zentrale Ziele der nächsten Zeit."

Mehr Infos zum BRK-Aktionsplan der blista gibt"s im Internet unter www.brk.blista.de. Hier wird auch zukünftig regelmäßig über die konkrete Umsetzung der "Betriebsvereinbarung Leistungsentgelt" berichtet.


BRK-Allianz gegründet, um BRK-Schattenbericht für Deutschland zu erstellen - Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe misch kräftig mit

Deutschland hat 2009 die Konvention der Vereinten Nationen zu den Menschenrechten behinderter Menschen (BRK) ratifiziert. Damit geht die Bundesrepublik die Verpflichtung ein, einen Aktionsplan zu erstellen um nachzuweisen, wie Deutschland die BRK verwirklichen will. Zwei Jahre nach der Ratifizierung, sodann im vierjährigen Abstand, sind die Vertragsstaaten verpflichtet, den Vereinten Nationen einen Staatenbericht zur Lage behinderter Menschen vorzulegen. Beides ist mittlerweile geschehen.

Die BRK sieht weiter hin vor, dass die Betroffenen und ihre Interessenvertretungen einen sog. Parallel- oder Schattenbericht vorlegen können, in dem sie ihre Sicht der Dinge darlegen. Um dies zu verwirklichen, haben sich am 19. Januar 2012 in Berlin ca. 80 Vereinigungen zur sogenannten BRK-Allianz zusammengeschlossen und begonnen, den Parallel- oder Schattenbericht für Deutschland zu erarbeiten. Dieser wird, das ist das Ziel, noch im laufenden Jahr erstellt werden.

Die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe mischt bei diesem Projekt kräftig mit. Sie hat das Ziel, die Entwicklungsrichtungen der BRK-Realisierung im Sinne sehgeschädigter Menschen mitzugestalten. Sie wird auch ein Auge darauf haben, dass die Bemühungen nicht in eine Richtung laufen, die den berechtigten Interessen blinder und sehbehinderter Menschen zuwider laufen. Der DVBS konzentriert sich dabei auf seine Kernthemen "Bildung", "Arbeit" sowie auf die Belange behinderter Frauen.

Zehn Teilbe reichsgruppen installiert

Die Koordinierungsgruppe der BRK-Allianz, in der uns Hans Joachim Krahl vertritt, ist beauftragt mit Steuerung, Koordination und Finanzkontrolle sowie für die Querschnittsthemen zuständig. Krahl ist ebenfalls Kontaktperson für die Gremien, die nachfolgend behandelt werden. Es sind zehn Teilbereichsgruppen (TBG) gebildet worden, die sich mit jeweils speziellen Aspekten und Bereichen der BRK beschäftigen. Die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe ist in den meisten TBG vertreten und zwar in:

  • TBG 1: Gleichstellung, Antidiskrimi nierung, Bewusstseinsbildung, Statistik (Art. 1 - 5, 8, 31), Elke Runte
  • TBG 2: Frauen mit Behinderungen / Gender-Aspekte (Art. 6 et. al.), Dr. Petra Bungert
  • TBG 4: Barrierefreiheit - Teilhabe am politischen/öffentlichen Leben (Art. 9, 13, 30, 21, 29), Andreas Bethke
  • TBG 7: Selbstbestimmt Leben / Mobilität (Art. 18, 19, 20, 22, 23, 28), N.N.
  • TBG 8: Bildung, Schule, Hochschule, Erwachsenenbildung (Art. 7, 24), Angela Fischer, Dr. Michael Richter
  • TBG 9: Gesundheit, Rehabilitation, Pflege (Art. 25, 26), Klaus Hahn
  • TGB 10 Arbeit und Beschäftigung - Berufliche Teilhabe (Art. 26, 27), Dr. Heinz Willi Bach

Als ein Beispiel für die Arbeitsweise sei die der TBG 10 beschrieben. Der Leiter dieser TBG, Dr. Ulrich Spielmann, hat am 12. März eine Konferenz in Berlin einberufen. Dort wurde die weitere Arbeitsweise vereinbart und anschließend eine Stoffsammlung entlang der Aussagen des Artikels 27 BRK entwickelt sowie eine Liste mit zwölf Themenfeldern, zu denen sich Paten fanden. Der jeweilige Themenpate bzw. die jeweilige Themenpatin erstellt nun einen ersten Textentwurf. Den bekommen alle Mitglieder der TBG 10 zugeschickt, sie alle können dann aus ihrer Sicht Ergänzungen oder Änderungen einbringen. Aus den eingebrachten Änderungen und Ergänzungen macht dann jeder Themenpate bzw. jede Themenpatin eine zweite überarbeitete Fassung. Auch diese wird dann allen Mitgliedern der TBG 10 zugeschickt. Anschließend findet dann ein "TBG-10-Plenum" am 24. Juni 2012 statt, um diese zweite Fassung ab schließend zu diskutieren.

Die zwölf Themenfelder lauten:

  1. Nichtdiskriminierung
  2. auskömmliches Einkommen/Chancengleichheit
  3. Arbeitsmarkt (inklusiv, öffentlich, zugänglich, privat)
  4. Zugang sichern, Recht auf Arbeit für alle
  5. Qualifizierung/beruflicher Aufstieg/Werdegang (verb. m. TBG 8)
  6. angemessene Vorkehrungen/Barrierefreiheit (Assistenz/Kommunikation)
  7. Beratung/Vermittlung/Begleitung
  8. Interessenvertretungen (Schwerbehindertenvertretungen, Werkstatträte)
  9. berufliche Reha/Wiedereingliederung/Umschulung
  10. Berufliche Bildung/Ausbildung/Berufsbildung (WfbM)
  11. Übergang Schule Beruf/Berufsorientierung (n. Rücksprache mit TBG 8)
  12. Existenzgründung/Selbstständigkeit

Themenpate des fünften Themenfeldes ist der Verfasser dieses Beitrags.

Die BRK-Allianz hat übrigens einen interessanten Auftritt im Internet. Ein Besuch lohnt sich: www.brk-allianz.de


Braille21 ist vorbei - und nun?

Wenn schon im vergangenen Jahr ein "Braille-Weltkongress" stattgefunden hat, und der Themenschwerpunkt dieses Heftes die "Globalisierte Blindenwelt" heißt, liegt es nahe zu fragen, was hat der Kongress, für den sämtliche Institutionen viel gearbeitet haben und der von der Deutschen Zentralbücherei für Blinde in Leipzig ausgerichtet wurde, eigentlich bewirkt?

Sprach man mit Menschen, die sich während des deutschen "Brailletages" an der sogenannten "Meckerecke" beteiligt haben, hörte man durchaus das Statement: "Die Leute haben sich gar nicht so sehr über Dinge gewundert, mit denen wir uns als Korrekturlesende von Blindenschrifttexten oft lange aufhalten." So war beispielsweise das Kürzen von Fremdworten kein Thema, auch ging es wenig um eine in verschiedenen Gremien immer wieder diskutierte "Vereinfachung der Kurzschrift", weil sie - so die durchaus zu hörende Aussage - auch aufgrund ihrer Komplexität und ihrer Undurchsichtigkeit immer schwieriger zu erlernen sei, wodurch sich die Forderung an die Brailledruckereien nach mehr Literatur in Vollschrift erklären lässt. Die "Meckerecke" wurde eher zur interessanten "Frageecke" rund um die Blindenschrift.

Insgesamt gab es am Deutschen Tag weniger kontroverse politische Diskussionen, sondern eher die Suche nach Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten. Die Vernetzung von vor allem ehrenamtlichen Punktschriftlehrern wurde zwar angestoßen, doch bemerkt man kaum, dass sie für Menschen, die Unterstützung beim Erlernen der Brailleschrift suchen, Folgen hat. Dies liegt wohl auch daran, dass die Ergebnisse des Treffens der Ehrenamtler nicht weiter kommuniziert wurden. Gleiches lässt sich auch für die Abschlussdiskussion am Deutschen Tag feststellen. Politische Auseinandersetzungen über die Bedeutung der Braille schrift o.ä. hat es nach dem großen Event kaum gegeben.

Die durchaus interessante Abschlussdiskussion des internationalen Teils über das Thema Verpackungen und deren Beschriftungen hatte für Deutschland bisher wenige Neuerungen zur Folge. Dies mag allerdings daran liegen, dass, wie im Heft zum Thema Braille21 bereits erwähnt, Deutschland und Europa hier keine schlechten Standards (vor allem bei Arzneimittelverpackungen) bieten.

Nach diesen berechtigter Weise ernüchternd ausfallen den Bilanzierungen, kann und muss man sich fragen, ob das große Ereignis umsonst stattgefunden hat. Nach wie vor denke ich, dass dies nicht der Fall ist. Insbesondere auf internationaler Ebene gab es viele spannende pädagogische Ansätze zur Vermittlung von Braille schrift, die bisher von der deutschen Lehrerschaft, die im Grundschulbereich tätig ist, meiner Meinung nach kaum bis gar nicht ausgewertet werden konnten. Oft erlebt man hierzulande eine Auseinandersetzung darüber, ob und wann man einen Computer zum Erlernen der Brailleschrift einsetzen darf oder nicht. Die Spanier machen uns beispielsweise vor, dass hier weniger Berührungsängste durchaus sinnvoll wären. Wir hingegen landen im Moment wieder bei "alten" Streitigkeiten über das 8- bzw. 6-Punkte-Braille. Die Meinungsverschiedenheiten gehen darum, dass man über den Lernzeitpunkt des 8-punktigen Computerbrailles und über denjenigen des lange bekannten 6-Punkte-Brailles diskutiert, und damit einhergehend die generelle Notwendigkeit von Kurzschrift in Frage stellt. Diese Diskussion wird seit etwa zehn Jahren mit den gleichen Befürwortungs- bzw. Gegenargumenten für die eine bzw. andere Position geführt. Diese Zusammenhänge scheint man in vielen Ländern anders bzw. gar nicht zu bewerten. In meinen Vorbereitungen für den Kongress ist mir dieses Thema für den internationalen Teil jedenfalls nicht begegnet. Obwohl immer mehr Braille am Computer gelesen wird, ist es in England, Kanada, Neuseeland und Australien nach zähem Ringen gelungen, eine einheitliche Kurzschrift einzuführen, womit geklärt wäre, dass man hier die Kurzschrift erhalten möchte. Im Bereich der Informationsversorgung wird es in Deutschland, wie in sämtlichen anderen Nationen der Welt auch, um die Frage gehen, wie man Braille in einer einerseits akzeptablen Geschwindigkeit in praktischen Formaten und andererseits in guter Qualität zur Verfügung stellen kann.

Wenn die Dokumentation zum Kongress veröffentlicht wer den wird, wäre es sinn voll, die vielfältigen Ansätze im Bildungsbereich, in der Forschung und Weiterentwicklung sowie zur Informationsversorgung auf Folgeveranstaltungen gezielt auszuwerten um zu sehen, was man in Deutschland damit anfängt. Außerdem hat man durch den Kongress ein Netzwerk an Kontakten knüpfen können und somit die Gelegenheit, sich durch aus darüber zu informieren, was in anderen Ländern weltweit in Bezug auf die Brailleschrift passiert.

Fazit: Nun sind uns viele Ansätze über den Umgang mit der Brailleschrift, Netzwerke und Forschungsanregungen bekannt. Man muss nun endlich damit beginnen, von dem uns nun zum Glück reichhaltig zur Verfügung stehenden Wissen Gebrauch zu machen.


Ein exemplarischer Weg

Uwe Boysen, Redebeitrag anl. der BIK@work-Fachtagung am 2. Februar 2012

Schon verhältnismäßig früh erkannte die deutsche Blinden- und Aehbehindertenselbsthilfe die Potenziale der Informationstechnik. Bereits in den 1970er Jahren wurden in Ost und West blinde Menschen zu Programmierern ausgebildet. In den 1980er Jahren folgte die Gründung der Interessengemeinschaft sehgeschädigter Computerbenutzer (ISCB). Erste Computerzeitschriften erschienen in Blindenschrift, und schließlich wurde der gemeinsame Fachausschuss für Informationstechnologie FIT gegründet, den Karsten Warnke über lange Jahre leitete und inspirierte. Zu jener Zeit konnten sehbehinderte und blinde Menschen vieles über den Computer erledigen, wovon sie vorher nur geträumt hatten.

Mit dem Übergang zu grafischen Benutzeroberflächen entstand die Befürchtung, behinderte Menschen könnten in der Mediengesellschaft informationstechnisch wieder abgehängt werden. Damit begann die Diskussion in Blinden- und Sehbehindertenverbänden, wie das Grundrecht auf Information in Zukunft gesichert werden kann. Das war 1996. 1998 veröffentlichte Karsten Warnke sodann im "horus" einen geradezu visionären Aufsatz, in dem er bereits alle Themen benannte, die die spätere Diskussion beherrschen sollten. Neben auftretenden Informationsbarrieren thematisierte er schon damals die Anforderungen an eine Humanisierung der Arbeitsbedingungen, die auch in den späteren BIKProjekten einen Dreh- und Angelpunkt darstellten. Die wiederholt gestellten Fragen von Webdesignern und Medien schaffen den, wie das Web "blindengerecht" gestaltet werden kann, führten schließlich 2002 zum ersten BIK-Projekt. 2002 trat auch das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes in Kraft. Die äußerst gelungene Definition des Begriffs der Barrierefreiheit in seinem § 4 und die international anerkannten Zugänglichkeitsrichtlinien der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung (BITV) aus demselben Jahr bildeten für das erste BIK-Projekt eine gute Arbeitsgrundlage. Die ersten BIK-Beratungsstellen wurden eröffnet und das Projektteam begann mit der Sensibilisierung und Schulung in Bundesdienststellen und von Webagenturen. Außerdem wurde der Grundstock für das BITV-Testverfahren von BIK gelegt.

2002 bis 2012. Das heißt, wir feiern heute auch zehn Jahre BIK - ein rundes Jubiläum! Dazu meinen herzlichen Glückwunsch an unser engagiertes BIKTeam!

In zehn Jahren führten die Blinden- und Sehbehindertenverbände zusammen mit der Firma DIAS GmbH die Gemeinschaftsprojekte BIK I - III durch. In ihrem Rahmen wurden zuerst maßgeschneiderte Dienstleistungen zur Unterstützung bei der Umsetzung der BITV in Bundes- und Länderverwaltungen und für Webdesigner entwickelt. Mit gemeinsamen Kampagnen, unterstützt auch von den Sozialverbänden und dem Partner-Projekt AbI, haben wir immer wieder Druck gemacht, damit die BITV zügig umgesetzt werden konnte. Ein wichtiges Instrument, um den Grad der erreichten Barrierefreiheit messen zu können, ist der von der Entwicklungsabteilung der Firma DIAS entwickelte BITV-Test. Er wurde auch in zahlreichen Vergleichstests und bis heute als Test des Monats eingesetzt. Der BITV-Test ist bundesweit zu einem wichtigen Instrument der Qualitätssicherung von Webseiten und -anwendungen geworden und im 95plus-Kreis unterstützten namhafte Webagenturen die BIK-Testentwicklung.

Dass die von BIK entwickelten und erfolgreich angebotenen Dienstleistungen zur Förderung der Internetzugänglichkeit auch innerbetrieblich zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen schwerbehinderter Menschen umgesetzt werden könnten, stieß in den Verbänden zunächst teilweise auf große Skepsis. Das Experiment begann 2006 im Rahmen des Projektes BIK II in ausgewählten Betrieben. Das Ziel, die Zugänglichkeitsrichtlinien der BITV auch zur Grundlage für die barrierefreie Gestaltung von Intranets und innerbetrieblich genutzten Webanwendungen zu machen, wurde schließlich Hauptthema von BIK@work. Der Einstieg in Unternehmen und öffentliche Verwaltungen bedeutet für die meisten Mitglieder des Projektteams das Betreten eines bisher weitgehend unbekannten Terrains. Sie bewegten sich fortan auch im Spannungsfeld der betrieblichen Sozialparteien und übernahmen außerdem Aufgaben der Unternehmensberatung. Trotz der sich zum Teil nur sehr zögerlich einstellenden Fortschritte, ließ das Team sich nie entmutigen. Die zunehmende Nachfrage nach betrieblicher Beratung und Unterstützung zeigt, wie wichtig und richtig der Projektansatz von BIK@work ist.

Die Blinden- und Sehbehindertenverbände haben mit dem Projekt BIK@work ein neues Politikinstrument in die Hand bekom men. Sie stehen jetzt nicht mehr vor den Büros, sondern sie treffen nun in den Büros auf ihre Mitglieder mit ihren konkreten Problemlagen an konkreten Arbeitsplätzen. Und mit BIK@work ist es möglich, nicht nur die Barrierefreiheit in der Informationstechnik zu fordern, sondern sie auch kompetent und zielführend zu fördern.

Wie schon in BIK I 2002 standen Sensibilisierungs- und Schulungsmaßnahmen in Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen am Anfang einer ganzen Kette von maßgeschneiderten Dienstleistungen. Seit Septem ber 2008 sind im Rahmen von BIK@work ca. 140 Schulungen mit ca. 1.600 Teilnehmenden durchgeführt worden. So gesehen leistet BIK@work einen wichtigen Beitrag zur Bewusstseinsbildung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention! Wir sind angetreten, in Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen einen Prozess zu initiieren und zu begleiten, in dem möglichst Arbeitgeberverantwortliche und Interessenvertretungen gemeinsam an einem Strang ziehen. Barrierefreiheit, so unsere Vorstellung, soll auf Dauer in betrieblichen Strukturen verankert und selbstverständlicher Bestandteil von Planung, Entwicklung und beim Einkauf von Informationstechnik sein. Das setzt vor allem auch den Abbau von Barrieren in den Köpfen voraus. Nur so kann auch Unternehmenskultur sich ändern und Barrierefreiheit kein Tummelplatz für Exoten bleiben.

Unsere 15 "Leuchtturmprojekte" zeigen beispielhaft und eindrucksvoll, wie auf unterschiedliche Weise der Weg zur barrierefreien Informationstechnik beschritten werden kann. Barrierefreiheit, so lehrt uns die UN-Behindertenrechtskonvention, ist die Voraussetzung für inklusive Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben. Der Mensch, so die Idee, soll nicht an die Arbeitsbedingungen angepasst werden, sondern die Arbeitsbedingungen an den Menschen. Dazu leistet BIK@work einen wichtigen Beitrag; denn barrierefreie IT-Anwendungen sollen aufwendige und wiederkehrende Einzelplatzanpassungen weitgehend überflüssig machen.

Uns muss es gelingen, dass unzugängliche und für Menschen mit besonderen Computerhilfsmitteln wie Screenreadern kaum nutzbare IT-Anwendungen bald der Vergangenheit angehören! Dabei brauchen wir die ernst hafte Unterstützung der Politik auch in Form langfristiger Förderprogramme. Es besteht nämlich akut die Gefahr, dass neue IT-Anwendungen zum Jobkiller werden, insbesondere für blinde und sehbehinderte Menschen, obwohl moderne Informations- und Kommunikationstechnik gerade für sie neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen könnte! So sind aktuell viele traditionelle Telefonarbeitsplätze von blinden und sehbehinderten Menschen durch die Einführung der bundesweiten Service-Nummer 115 gefährdet. Hier besteht dringender Handlungsbedarf! Wir können heute noch nicht abschätzen, wie sich die Arbeitsbedingungen entwickeln und ob sie im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention inklusiv sein werden. Was wir aber konkret wissen, ist dass

  • ein Ausschluss von Information und Kommunikation,
  • ständige Arbeitsplatzunsicherheit,
  • Armut durch Arbeitslosigkeit und geringere Bildungs- und Fortbildungschancen

nichts mit inklusiver Teilhabe zu tun haben. Und wir wis sen, dass es noch zu wenig Bereitschaft gibt, dem Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention Folge zu leisten. So erwarten wir ernsthafte Anstrengungen, Sozial- und Arbeitsgesetze auf ihre BRK-Konformität hin zu überprüfen und anzupas sen, Behindertengleichstellungsgesetze fortzuentwickeln, Maßnahmen zur Entwicklung inklusiver Arbeitsbedingungen zu fördern. Und wir vermissen die Bereitschaft von Arbeitgebern, auf breiter Front ihre Arbeitsbedingungen zu humanisieren, um behinderten Menschen inklusive Teilhabe im Arbeitsleben zu ermöglichen, wie wir auch die Bereitschaft von Web-Dienstleistern vermissen, mit Verbänden behinderter Menschen Zielvereinbarungen zur Barrierefreiheit abzuschließen.

Umso mehr bin ich für das große Engagement dankbar, mit dem in Zusammenarbeit mit unserem BIK@work-Team in rund 50 Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen die barrierefreie IT auf den Weg gebracht worden ist. Mein besonderer Dank gilt dabei denjenigen Partnern von BIK@work, die heute - auch stellvertretend für viele hier Ungenannte - einen "Leuchtturm" überreicht bekommen!

Neben allen, die hier nicht genannt wer den konnten, muss aber die Leistung von Karsten Warnke noch einmal hervorgehoben werden. Er war über alle Fort- und Rückschritte hinweg stets sozusagen die Mutter der Kompa nie. Was ich hier gefordert habe, Engagement für die eigenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die Bereitschaft, auf sie zuzugehen, sie nicht bloß als Mittel zum Zweck zu begreifen, sie immer wieder zu motivieren, aber auch die Kunst, die Verbände stets auf"s Neue zu überzeu gen, wie wichtig die Arbeit von BIK war und ist, und das alles mit einer ungeheuren menschlichen Wärme, das ist das enorme Verdienst von Karsten Warnke, dem dafür auch ein - wenngleich nur - virtueller Leuchtturm gebührt!

In der Schwarzschriftausgabe sind an dieser Stelle zwei Fotos eingefügt. Zu sehen sind auf dem ersten Foto die Zuhörer im Saal, die auf in Reihen aufgestellten Stühlen sitzen. Alle schauen in Richtung Bühne und lächeln. Das zweite Foto zeigt den DVBS-Vorsitzenden Uwe Boysen. Er steht am Rednerpult und trägt sein Redemanuskript in Brailleschrift vor. Boysen trägt ein weißes Hemd zum schwarzen Anzug.


BIK-Projektreihe erfolgreich abgeschlossen - Fachtagung fordert konsequente Umsetzung der UN-Berhindertenrechtskovnetion (UN-BRK)

Das gemeinsame Ziel: inklusive Teilhabe am Arbeitsleben

"Wir wollen uns für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel hin zur Inklusion einsetzen." Dieses Bekenntnis von Ministerialdirektorin Brigitte Lampersbach vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hätten sicherlich alle rund 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fachtagung "Barrierefreie IT am Arbeitsplatz" unterschreiben können. Veranstaltet wurde die Tagung am 2. und 3. Februar in Hamburg im Rahmen des Projektes "BIK@work - Barrierefrei Informieren und Kommunizieren am Arbeitsplatz".

Von den Teilnehmenden positiv aufgenommen wurde auch die Ankündigung des BMAS, die Regelungen zur Gleichstellung und zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen zu überprüfen.

Jan Pörksen, Staatsratder Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration im Hamburger Senat betonte, dass Inklusion einen Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen Bewusstsein erfordere. Gerade die Informationstechnologie biete hervorragende Möglichkeiten, Behinderungen zu überwinden.

Die Projektziele wurden erreicht

Projektziel war es, 15 "Leuchttürme" zum Strahlen zu bringen. Sie sollen beispielhaft zeigen, wie auf unterschiedliche Weise Wege zur barrierefreien Informationstechnik in Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen beschritten werden können. Dieses Ziel wurde erreicht.

Die Auszeichnung von Projektpartnern mit einem "Leuchtturm" wurde zu einem Höhepunkt der Veranstaltung. Überreicht wurden sie von Melanie Berger (BMAS) und Projektleiter Karsten Warnke. Besonders wichtig war dem Projektteam die Verleihung eines "Leuchtturms" an den "Telefonischen HamburgService". "Während bundesweit durch die Einführung neuer IT-Anwendungen die Beschäftigung blinder und sehbehinderter Telefonistinnen und Telefonisten gefährdet ist, haben die Hamburger durch den Einsatz einer vorbildlichen Software zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen", lobte DBSV-Präsidiumsmitglied Hans-Joachim Krahl.

Workshop-Arbeit im Zeichen der UN-BRK

Die Grundlage für die Arbeit in acht Workshops wurde mit vier Referaten gelegt. Schwerpunktthemen waren das Recht auf inklusive Arbeitsbedingungen, die sozialrechtlichen Aspekte der IT-Barrierefreiheit, Barrierefreies Web 2.0 sowie der BITV-Test von BIK. An zwei Tagen wurden zu unterschiedlichen Aspekten und Fragestellungen der barrierefreien ITGestaltung Impulse für eine anregende Diskussion gegeben. Die Teilnehmenden konnten sich für Workshops mit folgenden Themenstellungen entscheiden:

  1. Probleme inklusiver Arbeitsplatzgestaltung,
  2. wie IT inklusiv zugänglich und nutzbar sein kann,
  3. die BRK-Konformität von SGB IX, BGG und Arbeitsschutzgesetzen,
  4. wie Barrierefreie IT verbindlich verankert werden kann,
  5. Mitwirkung der Schwerbehindertenvertretung an der betrieblichen IT-Entwicklung,
  6. wie Desktopanwendungen getestet werden können,
  7. Barrierefreiheit im Open Government,
  8. Java-Anwendungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung

Forderungen zur Umsetzung der UN-BRK

DVBS-Vorsitzender Uwe Boysen forderte in seiner Ansprache ernsthafte Maßnahmen zur Förderung inklusiver Arbeitsbedingungen. In den Workshops und im Plenum wurden die Forderungen konkretisiert: Die derzeitige Gesetzgebung reicht nicht aus, um die UN-BRK umzusetzen. Die barrierefreie IT-Gestaltung muss in allen Arbeitsstätten für Arbeitgeber verpflichtend sein. Anstelle nachträglicher Arbeitsplatzanpassungen muss Barrierefrei heit von vornherein berücksichtigt werden. Als gesetzliche Grundlage hierfür werden das Arbeitsschutzgesetz und für die Details die Bildschirmarbeitsplatzverordnung gesehen. In ihr sollten die Zugänglichkeitsanforderungen der BITV2 und beispielsweise die US-amerikanischen Zugänglichkeitsrichtlinien der "Section 508" für grafische Programmoberflächen (Graphical User Interface, GUI) aufgenommen werden. In Ausschreibungen muss - so ein weiteres Ergebnis der Fachtagung - die Barrierefreiheit gefordert und bei der Vergabe künftig zum K.o.-Kriterium werden. Außerdem vermissen die Teilnehmenden ein mit dem BITV-Test vergleichbares Verfahren zum Prüfen der Barrierefreiheit von grafischen Programmoberflächen. Denn die betriebliche Praxis zeigt, dass noch viel zu oft neu eingeführte, unzugängliche IT-Anwendungen die konkurrenzfähige Beschäftigung blinder und sehbehinderter Menschen stark gefährden oder sie dauerhaft unmöglich machen.

Trotz Projektende bleibt noch viel zu tun

Die Fachtagung war auch Anlass, auf das 10-jährige Jubiläum der BIK-Projektreihe hinzuweisen. Die Gemeinschaftsprojekte von DBSV, DVBS und der DIAS GmbH sind mit "BIK@work" nun erfolgreich abgeschlossen. Dabei hat das Projekt BIK@work einen wichtigen Beitrag zur qualifizierten Bewusstseinsbildung im Sinne der UN-BRK geleistet. Ihrem inklusiven Ansatz steht noch viel zu oft die Ansicht entgegen, dass IT-Barrieren ein individuelles Problem behinderter Menschen seien. Deshalb müssen noch deutlich mehr Arbeitgeber für eine inklusive IT-Gestaltung gewonnen werden. Die Integrationsämter und andere zuständige Kostenträger sollten ihren Beitrag hierzu leisten. Es gibt also noch viel zu tun!

Auch die Weiterentwicklung des BITV-Tests von BIK muss weiter betrieben werden. Die an diesem Verfahren laut gewordene Kritik soll dabei konstruktiv aufgegriffen werden. Im Sinne eines demokratischen und offenen Diskurses sollen Menschen mit Behinderungen künftig stärker in die BITV-Expertenteams inkludiert und die Fachkompetenz der Verbände für die Testentwicklung genutzt werden. Außerdem hat die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe dafür Sorge zu tragen, dass die kommerzielle Unabhängigkeit der Testentwicklung gewahrt bleibt.

Zur Information

  • Im Reader zur Fachtagung sind alle Referate und Workshop-Ergebnisse dokumentiert, er kann angefordert werden unter: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
  • Eine detaillierte Falldarstellung der 15 "BIK-Leuchttürme" finden Sie im Internet:www.bik-work.de/leuchttuerme.html
  • Den Artikel "Leuchtturm HamburgService: Vorbildliche Software schafft Arbeitsplätze für behinderte Menschen" finden Sie unter: www.bik-work.de/leuchttuerme/lesen/lt11.html
  • Seit März 2012 sind die BIK@work-Angebote für Arbeitgeber ebenso kostenpflichtig, wie die BIKDienstleistungen für Internetanbieter und Webagenturen. Informationen gibt es per Mail-Anfrage (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!) oder bei der BIK-Beratungs stelle des DVBS.

Mitgliederversammlung: Uwe Boysen wiedergewählt

Wiedersehensfreude beim Stelldichein, angeregte Diskussionen in den Fachgruppen, ein unterhaltsamer kultureller Abend und zum Abschluss die Mitgliederversammlung im Bürgerhaus Cappel - mehr als 100 DVBS-Mitglieder nahmen an den Selbsthilfetagen 2012 teil.

Zum Abschluss des dreitägigen Programms stand am Samstag, 19. Mai, die Mitgliederversammlung auf der Tagesordnung. Insgesamt 100 stimmberechtigte Mitglieder waren ins Bürgerhaus Cappel gekommen, um unter anderem einen neuen Vorstand zu wählen. Uwe Boysen wurde mit einer überwältigenden Mehrheit von 90 Ja-Stimmen in seinem Amt als erster Vorsitzender bestätigt. Unter dem Beifall der Anwesenden erklärte er: "Vertrauen verpflichtet, die bisherigen Wege weiterzugehen und auch neue Wege zu beschreiten. Es ist wichtig, diese gemeinsam zu gehen, um den Zielen in den nächsten vier Jahren näherzukommen."

Nach zwölf Jahren Vorstandsarbeit verabschiedete sich der bisherige zweite Vorsitzende Karsten Warnke aus dem DVBS-Vorstandsteam. "Karsten wird der Selbsthilfe, die ihn und die er mitgeprägt hat, Gott sei Dank nicht verloren gehen", so Uwe Boysen in seiner Laudatio, "wir hoffen, ab Juli 2012 unter seiner Ägide ein neues Projekt in Anlehnung an die BIK-Reihe starten zu können. Und auch in Hamburg wird Karsten sowohl in der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe wie absehbar auch im Blinden- und Sehbehindertenverein weiter an hervorgehobener Stelle mitmachen." Ab sofort übernimmt Dr. Heinz Willi Bach den Posten des zweiten Vorsitzenden. Die Beisitzer Andrea Katemann und Uwe Bruchmüller wurden von der Versammlung in ihrem Amt bestätigt. Neu gewählt wurde Ursula Weber.

Aktuell gehören dem DVBS 1.360 Mitglieder an. In den vergangenen zwei Jahren seit der letzten Mitgliederversammlung sind 126 neue Mitglieder hinzugekommen, wie DVBS-Geschäftsführer Michael Herbst berichtete. Uwe Boysen stellte seinen Tätigkeitsbericht unter das Motto "Was sollen wir wissen? Was können wir tun? Was dürfen wir hoffen?" Ein Kernbereich der Arbeit des DVBS ist die Beteiligung am Aktionsplan Deutschlands zur Umsetzung der UN-BRK. Zusätzlich soll ein Schattenbericht erstellt werden, an dem sich DVBS und DBSV beteiligen. Zu hoffen sei, so der Vorsitzende, dass die Umsetzung vieler Forderungen der UN-BRK gelingen möge und nicht zu harte soziale Einschnitte hingenommen werden müssen.

Als Gastredner begrüßte der DVBS in Cappel Martin Georgi, Vorstand der Aktion Mensch. Georgi sprach über die Arbeit der Aktion Mensch im Sinne der UN-BRK. "Alle sind aufgefordert, Barrieren in ihren Köpfen loszuwerden, um Inklusion zu ermöglichen", so Georgi. Dies sollte bereits im Kindesalter beginnen - im Idealfall ohne reine Förderschulen. Zurzeit besuchen in Deutschland etwa 20 Prozent der Kinder mit Förderbedarf eine Regelschule. Eine verbesserte Lehrerausbildung und entsprechende Umbauten der Schulen könnten dazu beitragen, Kindern mit Behinderungen den Besuch einer Regelschule zu ermöglichen. Ein geeigneter Weg sei es, "die Ziele der Förderschule mit Inklusion zu verbinden", so Georgi. Im Anschluss beantwortete Georgi Fragen der Zuhörer.


e-dig.de ist online!

Die erste Selbsthilfeplattform unterstützt Blinde und Sehbehinderte bei Literaturversorgung in Studium und Beruf. Commerzbank-Stiftung und Aktion Mensch fördern innovativen Zugang zu barrierefreier wissenschaftlicher Literatur

Nach mehrjähriger Entwicklungszeit startete am 16. März die Geschäftsführerin der Commerzbank-Stif- tung, Astrid Kießling-Taskin, das neue Internetangebot des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS). Mit e- dig.de bietet die bundesweit tätige Selbsthilfeorganisation eine einzigartige Selbsthilfeplattform. e-dig.de unterstützt Blinde und Sehbehinderte bei Literaturversorgung für Studium, Beruf und aktiven Ruhestand. "e-dig.de bietet Recherchemöglichkeiten, technische Hilfen und aktuelle Informationen", erklärte Projektleiter Andreas Wohnig. Auf e-dig.de finden sich Links zu Katalogen mit blind zugänglicher Fach- und Sachliteratur; seien es aufgesprochene Werke, solche in Blindenschrift oder in Textdateiformaten, die mit blindengerecht ausgestatteten PCs gelesen werden können. "Barrierefreie Literatur gibt es auch im Internet. Wenn sie dort unter einer sogenannten "Creative Commons"-Lizenz publiziert ist, dann listet sie das Team des DVBS-Textservice, in dem seit über 30 Jahren Fach- und Sachliteratur vertont wird, mithilfe sogenannter "Social Bookmarks" und spielt sie über einen RSS-Feed immer aktuell in edig.de ein", erläuterte Wohnig. Darüberhinaus bietet e-dig.de Zugang zu Software-Werkzeugen, die private Buchadaptionen erleichtern. "Wer e-dig.de nutzt, ist stets auf dem aktuellen Stand, was den Zugang zu Katalogen, Neuerscheinungen und aktuelle Entwicklungen betrifft."

Zukunftsorientierte Hilfe zur Selbsthilfe

"Wir haben ein ambitioniertes Projekt auf die Beine gestellt, jetzt geht es los", freute sich der selbst blinde DVBS-Geschäftsführer Michael Herbst. "Das nächste Ziel ist nun, mit der ,Verwertungsgesellschaft Wort" zu einer Übereinkunft zu gelangen, die es uns erlaubt, auch privat zugänglich gemachte Bücher in einer Literaturbörse unter Blinden und Sehbehinderten auszutauschen", erklärte Herbst. Derzeit kann dieser Austausch nur mit Werken stattfinden, die nicht urheberrechtlich geschützt sind.

Herbst dankte der Aktion Mensch und der Com merzbank-Stiftung für ihre Förderung bei der Entwicklung von e-dig.de und der Umstellung des DVBS-Textservice auf die digitale Audioproduktion. Er hob zudem die Unterstützung der Commerzbank-Stiftung hervor, die den redaktionellen Aufbau von e-dig.de fördert. Den symbolisch ersten Online-Klick kommentierte Astrid Kießling-Taskin: "e-dig ist lebensnah. Es steht beispielhaft für den Ansatz, Hilfe zur Selbsthilfe zeitgemäß zu gestalten. Die Plattform ermöglicht Sehbehinderten und Blinden einen eigenständigen und selbstbestimmten Umgang mit dem Internet. Mit e-dig.de hat der DVBS beeindruckende Pionierarbeit geleistet." Astrid Kießling-Taskin überreichte einen Förderscheck über 10.000 Euro zusammen mit dem Marburger Filialdirektor Gerd-Bernd Schulmeier. Die Commerzbank-Stiftung ist Ausdruck des gesellschaftlichen Engagements der Commerzbank. Sie wurde anlässlich des 100-jährigen Bestehens der heute zweitgrößten Bank in Deutschland gegründet und setzt sich seit mehr als 40 Jahren für gemeinnützige und mildtätige Einrichtungen sowie Initiativen ein.

Weiterhin bedankte sich der blinde DVBS-Geschäftsführer bei Ansgar Hein von der Düsseldorfer Agentur anatom5, die e-dig.de programmierte, und bei der selbstständigen Beraterin Kerstin Probiesch, die als technische Expertin mitwirkte und die Barrierefreiheit von e-dig.de sicherstellte. Das e-dig.de-Projektteam im DVBS hat sich ein besonderes "Bonbon" für all diejenigen blinden und sehbehinderten Menschen ausgedacht, die sich registrieren, um sich auf der neuen Plattform umzuschauen oder auch aktiv zu werden: Unter allen Registrierten der ersten 100 Tage verlosen wir drei Mal ein Werk der Wahl aus dem DVBS-Textservice-Katalog.


Terminvorschau

15. bis 17. Juni 2012 - "Qi Gong und die Selbstverteidigung mit dem weißen Stock"Seminar in Marburg

30. Juli bis 3. August 2012 - VBS-KongressOrganisiert durch den Verband der Sehbehindertenpädagogik in Chemnitz

31. August bis 2. September 2012 - "Singen für die Seele"Seminar für Blinde, Sehbehinderte und Sehende mit Petti West in Werningerode

28. bis 30. September 2012 - Bundesweites Treffen blinder und sehbehinderter Studierender in Hannover

6. bis 13. Oktober 2012 - "Altern und Blindheit"Seminar der Gruppe Ruhestand in Bad Meinberg

18. bis 21. Oktober 2012 - "Präsentieren vor größeren und kleineren Gruppen"Fortbildungsseminar der Fachgruppe Wirtschaft in Herrenberg

23. November 2012 - "DVBS hautnah"Interessierte Vereinsmitglieder werden in Marburg in Strukturen und Arbeit der Selbsthilfeorganisation eingeführt. Sie erfahren, welche Unterstützung ihnen in der ehrenamtlichen Arbeit für den DVBS zur Verfügung steht und wie sie sich einbringen können.

24. November 2012 DVBS-Arbeitsausschuss in Marburg

Weitere Informationen zu den Terminen finden Sie unterwww.dvbs-online.de/php/aktuell.php


Claus Duncker als blista Vorsitzender wiedergewählt

Ullrich: Herr Duncker, Sie schauen in diesen Tagen auf fünf Jahre als Vorsitzender der blista zurück und wurden in der letzten Verwaltungsratsitzung in ihrem Amt bis 2019 bestätigt. Das ist sicher ein guter Zeitpunkt, eine Zwischenbilanz zu ziehen und einen Blick nach vorne zu wagen. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus? Was sind aus Ihrer Sicht die gravierendsten Veränderungen seit ihrem Amtsantritt?

Duncker: Zuerst einmal wundert es mich, dass wir uns wieder zu einem Interview gegenübersitzen. Mir ist, als hätten wir erst gestern hier ein Interview zu meinem Amtsantritt geführt. Die letzten Jahre sind für mich wie im Fluge vergangen. Das liegt sicherlich daran, wie viel in den letzten Jahren passiert ist. Wir leben momentan in sehr bewegten bildungs- und sozialpolitischen Zeiten. Allein die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention stellt die blista vor große Aufgaben. Wir sind ja nicht nur eine Hilfsmittel- und Bildungseinrichtung für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung. Die blista beschäftigt auch viele Kolleginnen und Kollegen mit einer Behinderung. Auch für diese gilt es, die Forderungen der Konvention zu realisieren.

Ullrich: Hatten Sie sich Ihren Arbeitsalltag als blista-Chef so vorgestellt oder gab es etwas, mit dem sie so nicht gerechnet haben?

Duncker: Als ich zum Vorstandsvorsitzenden gewählt wurde, hatte ich bereits 14 Jahre an der Carl-Strehl-Schule unterrichtet. Ich dachte, ich würde den "Laden" blista kennen. Wie vielfältig aber unsere blista und damit die Aufgabe eines Vorstandsvorsitzenden ist, das hatte ich so nicht erwartet. Wenn ich alle meine Tätigkeitsfelder jetzt aufzählen würde, wäre horus-Ausgabe wahrscheinlich fast gefüllt.

Ullrich: Hatten Sie sich bei ihrem Amtsantritt bestimmte Ziele gesetzt und welche konnten Sie davon umsetzen?

Duncker: Sie kennen sicherlich das chinesische Sprichwort "auf den Schultern von Riesen stehen". Die blista ist eine alte Dame, die seit Jahrzehnten hervorragende Arbeit im Interesse der uns anvertrauten Menschen leistet. Diese hohe Qualität unserer Arbeit gilt es für mich, in der jetzigen Zeit des Generationswechsels in der Mitarbeiterschaft zu halten und wenn möglich zu verbessern. Besonders stolz bin ich darauf, dass es uns in relativ kurzer Zeit gelungen ist, einen berufsbegleitenden Weiterbildungsmaster zum Blinden- und Sehbehindertenpädagogen an der Marburger Universität zu etablieren.

Ullrich: Und welche Ziele wurden bisher nicht erreicht?

Duncker: Damit wir die Menschen, die sich uns anvertrauen, bei der Verwirklichung ihrer Lebensziele unterstützen können, müssen viele Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedensten Abteilungen der blista zusammenarbeiten. Da knirscht es manchmal noch und wir müssen uns hausintern in unseren Unterstützungsmaßnahmen noch besser verzahnen. Denn die blista bietet Komplexleistungen an, in der schulische Bildung, Rehabilitation, das Erlernen sozialer Kompetenz und die mediale Versorgung gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Ullrich: Die blista steht im Moment wirtschaftlich auf einem soliden Fundament und die Schülerzahl hat Rekordniveau. Geht das so weiter, oder wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die nahe Zukunft?

Duncker: Alle Zeichen stehen für das "Schiff" blista eigentlich auf Sturm. Änderungsvorstellungen in der Sozialhilfe, die Turbulenzen in der Bildungspolitik, der demographische Wandel, eigentlich können wir uns sehr glücklich schätzen, dass wir zurzeit so gut dastehen. Das ist sicherlich nicht nur Glück, sondern auch der qualitativ sehr guten Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen geschuldet. Unsere größte Herausforderung für die Zukunft wird es sein, all diejenigen Menschen zu erreichen, die die Unterstützung der blista zur Erreichung ihrer sozialen und beruflichen Lebensträume benötigen. Ullrich: Die blista feiert 2016 ihr hundertjähriges Bestehen. Welche Schlagzeile würden Sie bei diesem Anlass gerne lesen?

Duncker: Herzlichen Glückwunsch zum 100-Jährigen. Viel Glück und Erfolg für die kommenden 100 Jahre!

Ullrich: Wenn wir noch etwas weiterblicken, welche Rolle sehen Sie für die blista in der Zukunft. Wo sollte die blista 2019 stehen?

Duncker: Unser satzungsgemäßer Auftrag ist die berufliche und gesellschaftliche Eingliederung blinder und sehbehinderter Menschen. Hier können wir bisher nicht alle Altersgruppen unterstützen. Denken Sie nur an die große Zahl von Senioren, die im Alter eine Sehverschlechterung und damit einen massiven Eingriff in ihre Lebensqualität erfahren. Wir arbeiten also zurzeit intensiv daran, unsere Angebote für alle Altersgruppen in den verschiedensten Lebenslagen zu öffnen. Ich hoffe, dass diese Programme 2019 stehen werden.

Ullrich: Da Sie sich zur Wiederwahl bereiterklärt haben, darf man davon ausgehen, dass Ihnen die Aufgabe Spaß macht. Worin besteht dieser Spaß, was motiviert Sie?

Duncker: Kommen Sie mit mir in den Sportunterricht der Klasse 6. Wie dort die Kinder den Spaß am Sport entdecken. Mit Begeisterung balancieren, springen, laufen. Von einigen Kindern weiß ich, dass sie bisher vom Sportunterricht freigestellt wurden und gelangweit am Sportfeldrand das Ende der Stunde herbeisehnten. Oder denken Sie an die vielen Menschen, die durch Unfall oder Krankheit den Verlust ihres Sehvermögens erleiden mussten. Durch die blindentechnische Grundausbildung können sie wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Warum mir meine Arbeit Spaß macht? Schließlich sind wir keine Firma, die Armaturen für Waschbecken produziert. Wir unterstützen Menschen darin, ein glücklicheres und erfüllteres Leben führen zu können. Da muss ich morgens über meine Motivation für den kommenden Arbeitstag gar nicht nachdenken.

Ullrich: Gibt es im Rückblick auf die letzten fünf Jahre für Sie persönlich ein Ereignis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist oder das Sie besonders berührt hat?

Duncker: Ohne lange zu überlegen: der Einmarsch der Absolventinnen und Absolventen beim Abschlussball. Wenn dreihundert Menschen sich applaudierend erheben, um ihrer Anerkennung Ausdruck zu verleihen. Unsere dann ehemaligen Schülerinnen und Schüler in ihren Ballkleidern und dunklen Anzügen mit ihren glücklichen Gesichtern. Schüler, die ich noch mit Zahnspange aus der Klasse 7 kenne. Und der stolze Ausdruck der Eltern, die ja nun wirklich viel für ihre Kinder geleistet haben. Die Trennung vom Elternhaus, die vielen Fahrten. Da habe ich ein Gänsehautgefühl.

Ullrich: Haben Sie ein Wunsch für die Zukunft?

Duncker: Unsere Arbeit wäre ohne die Unterstützung der Eltern, der Selbsthilfe, der Politik, ehemaligen Schülerinnen und Schülern, und und und … nicht denkbar. Ich hoffe, dass all diese Menschen, Einrichtungen und Institutionen uns weiterhin treu bleiben und uns in unserer Arbeit im Interesse blinder und sehbehinderter Menschen weiterhin unterstützen.

Ullrich: Ich danke Ihnen für das Interview!


IMC 14 Neuseeland: "Mobility through the ages - up over and down under"

Unter diesem Motto stand die 14. Internationale Mobility conference (IMC), die vom 13. bis 16. Februar 2012 in Palmerston North in Neuseeland stattfand. Das gewählte Motto stellte dabei nicht nur eine Brücke zur außergewöhnlichen geographischen Lage des Konferenzortes her, sondern fasste die Themenauswahl der insgesamt 112 Vorträge und 12 Posterpräsentationen sehr gut zusammen.

An der von Prof. Steve la Grow (Massey University Palmerston North) und seinem Team hervorragend organisierten Konferenz nahmen 230 Experten aus insgesamt 30 Nationen teil. Auch wenn die meisten Teilnehmer verständlicherweise aus Neuseeland und Australien kamen, hatten sich auch immerhin ca. 30 Experten aus 12 europäischen Ländern auf die weite Reise gemacht.Das zentral in Palmerstone North gelegene Convention Centre war für die Teilnehmer, die in mehreren kleinen Hotels untergebracht waren, gut zu Fuß zu erreichen und bot mit seinen Räumlichkeiten beste Voraussetzungen für die ausschließlich in englischer Sprache präsentierten Beiträge.

Täglich hatten die Teilnehmer die Qual der Wahl und mussten sich zwischen drei jeweils parallel stattfindenden Veranstaltungsblöcken entscheiden. Während der kurzen Pausen zwischen den einzelnen Veranstaltungsblöcken konnte neben der Pflege kollegialen Austausches eine kleine Ausstellung verschiedener Anbieter von Hilfsmitteln für die Schulung im Bereich "Orientierung & Mobilität" (O&M) besucht werden. Das Programmheft bot mit Überschriften wie z. B. "Aus der Forschung", "Aus der Praxis" oder zu Spezialthemen wie "Verkehrsraumgestaltung", "Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel", "Echolokalisation", "O&M für Kin der", "Innovationen" eine gute Orientierung. In jeweils 90-minütigen Veranstaltungsblöcken wurden in der Regel drei Präsentationen dargeboten. Trotz vieler historischer und kultureller Unterschiede und verschiedener sozialer Systeme, ist festzustellen, dass sich die fachlichen Herausforderungen an die Experten grenzüberschreitend annähern. So ist zum Beispiel zu beobachten, dass die verkehrstechnische Lösung der Kreisverkehrs immer häufiger auch in städtischen Umgebungen realisiert wird und die Folgeprobleme für blinde und sehbehinderte Fußgänger bei der Straßenüberquerung weltweit identisch sind. Lösungsmöglichkeiten, z. B. durch den Einsatz von Zebrastreifen oder "Schlafampeln" oder durch eine räumlich größere Distanz der Fußgängerüberwege zu den Ein- und Ausfahrten der Kreisverkehre, haben noch nicht die optimale Lösung des Problems gebracht. Erwiesen ist, dass sich blinden und sehbehinderten Fußgängern deutlich weniger Überquerungsmöglichkeiten bieten als sehenden Fußgängern. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Ursache dafür im Verhalten der Autofahrer in dieser speziellen Verkehrssituation zu sehen ist. Insbesondere beim Verlassen des Kreisverkehrs scheint die Aufmerksamkeit der Fahrzeuglenker sich so sehr auf den Verkehrsfluss der Autos zu konzentrieren, dass eine Rücksichtnahme auf Fußgänger auch dann nicht gewährt wird, wenn besondere Regelungen dem Fußgänger die Vorfahrt einräumen.

Ein weiterer Schwerpunkt waren natürlich die besonderen Probleme, die für blinde und sehbehinderte Verkehrsteilnehmer dadurch entstehen, dass die Fahrzeugentwicklung immer geräuschärmere Autos hervorbringt. Die Schwierigkeiten sind gerade dann besonders gravierend, wenn ein abbiegender Verkehr, der mit verlangsamtem Tempo einhergeht, akustisch nicht mehr wahrnehmbar ist und die Straßenüberquerung zu einem großen Risiko wird. Von einer wirklichen Lösung kann zwar noch nicht gesprochen werden, aber die Aufgeschlossenheit der Autoindustrie scheint zu wachsen. Als ein positives Ergebnis der Tagung ist festzuhalten, dass die individuelle Förderung der "O&M" von blinden Kindern im Vorschulalter mit dem Blindenlangstock nicht mehr die große Ausnahme darstellt, sondern sich mehr und mehr als Standard der Förderung etabliert. Auch die Schulungsangebote zur Nutzung der Echolokalisation selbsterzeugter Geräusche finden immer häufiger Eingang in die Curricula der "O&M-Experten", wobei man sich darüber einig ist, dass diese Technik so frühzeitig wie möglich vermittelt werden sollte.

Die wachsende Bedeutung von GPS für die Orientierung, mit Hilfe der unterschiedlichen Hilfsmittel, wurde von Mike May sehr ein drucksvoll geschildert. Dabei wurde auch klar, dass schon in naher Zukunft eine "O&M-Schulung" die Nutzung von GPS und Smartphones selbstverständlich beinhalten wird. Einige Beiträge in dem umfangreichen Programm machten deutlich, dass die ständig größer werdende Gruppe der sehbehinderten Senioren nicht nur die "O&M-Experten" vor eine große Aufgabe stellt. Im Vergleich zu anderen spezifischen Gruppen, wie z. B. Vor- oder Schulkinder, haben sich die Versorgungssysteme auf die speziellen Bedürfnisse von Menschen, die eine Sehschädigung im Alter erleiden, noch nicht ausreichend eingestellt. Dabei ist eines ganz klar: Die ständig größerwerdende Anzahl älterer sehbehinderter Menschen stellt die sozialen Systeme aller Gesellschaften vor eine riesige Herausforderung.

Man kann gespannt sein, was sich auch auf diesem Feld bis zur IMC 15, die vom 6. bis 10. Juli 2015 in Montreal unter dem Motto "A World of Innovation" stattfindet, bewegen wird. Federführend für die Vorbereitung, Organisation und Durchführung in Kanada ist das Institut Nazareth & Louis Braille in Zusammenarbeit mit der Universität in Montreal. Interessierte sollten sich die Seite www.imc15.com schon jetzt notieren.


Impressum

Herausgeber: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

Redaktion: DVBS (Uwe Boysen, Michael Herbst, Andrea Katemann, Dr. Imke Troltenier und Christina Muth) und blista (Isabella Brawata, Thorsten Büchner, Rudi Ullrich und Marika Winkel)

Koordination: Christina Muth, Geschäftsstelle des DVBS, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon: 06421 94888-13, Fax: 06421 94888-10, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.dvbs-online.de

Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung der Redaktion.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.): Michael Herbst (DVBS) und Rudi Ullrich (blista)

Erscheinungsweise: Der "horus" erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und auf einer CD-ROM, die die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version und die Braille-, RTF- und PDF-Dateien enthält.

Jahresbezugspreis: 22 Euro (zuzüglich Versandkosten) für die Schwarzschriftausgabe, 35 Euro für alle übrigen Ausgaben. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres. Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

Bankkonten des DVBS: Sparkasse Marburg-Biedenkopf (BLZ 533 500 00), Konto 280 - Commerzbank AG Marburg (BLZ 533 400 24), Konto 3 922 945 - Postbank Frankfurt (BLZ 500 100 60), Konto 149 949 607

Verlag: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg, ISSN 0724-7389, Jahrgang 74

Punktschriftdruck: Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Marburg

Digitalisierung und Aufsprache: Geschäftsstelle des DVBS, Marburg

Schwarzschrift-Druck: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen

Die Herausgabe der Zeitschrift "horus" wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der "Glücksspirale" unterstützt.

Titelbild: Globalisierte Blindenwelt Foto: Christina Muth

Nächste Ausgabe (horus 3/2012): Schwerpunktthema: Blindheit und Gesundheit: Erscheinungstermin: 27. August 2012, Anzeigenannahmeschluss: 27. Juli 2012, Redaktionsschluss: 5. Juli 2012